1 Arendt und Adorno – (K)eine Rezeptionsgeschichte

Hannah Arendt und Theodor W. Adorno gelten als moderne Klassiker. Sie sind Klassiker, weil sie die politiktheoretischen und sozialphilosophischen Debatten des 20. Jahrhunderts geprägt haben, wie nur wenige andere (Benhabib 2006; Habermas 1988). Moderne Klassiker sind sie in zweierlei Hinsicht. Arendt und Adorno sind moderne Autor*innen im engeren Sinne: Ihr Denken reagiert auf eine spezifisch moderne Erfahrung und ihre Werke stellen Auseinandersetzungen mit der modernen Gesellschaft dar. Beide haben kritische Theorien der Moderne vorgelegt (Rensmann und Gandesha 2012a, S. 11–17). Modern sind Arendt und Adorno aber auch in einer umgangssprachlicheren Bedeutung: Die Relevanz ihres Denkens ist auch am Anfang des 21. Jahrhunderts unbestritten. Beider Denken wird fortwährend Neulektüren und Aneignungen unterzogen.Footnote 1 In jüngster Zeit werden Arendt und Adorno sogar wieder verstärkt für aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen fruchtbar gemacht.Footnote 2

Obwohl die Einzelrezeption Arendts oder Adornos buchstäblich kaum noch zu überblicken ist und ihre Aktualität – im Einzelnen – geradezu beschworen wird, werden Arendt und Adorno jedoch fast nie gemeinsam rezipiert. Im Gegenteil, die Rezeptionsgeschichte war lange – und sie ist es teilweise bis heute – von einer regelrechten Dichotomie gekennzeichnet: Autor*innen berufen sich entweder auf Arendts politisches Denken oder auf Adornos kritische Theorie (Auer et al. 2003, S. 10).

Man mag das für folgerichtig halten. So gelten beide doch gleich in doppelter Hinsicht als Antipoden. Einer vergleichenden, gemeinsamen oder gar versöhnenden Rezeption steht nicht nur die legendäre gegenseitige Antipathie der beiden Autor*innen auf der persönlichen Ebene entgegen; dass Arendt und Adorno sich nicht mochten und sich in der Folge nie aufeinander bezogen haben, ist eine oft referierte Anekdote.Footnote 3 Sondern es gibt, neben den persönlichen, auch theoretische Gründe für die auffällige gegenseitige Nicht-Beachtung, die bei den beiden Autor*innen angefangen und sich in der nachfolgenden Rezeption fortgesetzt hat. Denn in der Tat schöpfen Arendt und Adorno für ihre jeweilige Theoriebildung aus ganz unterschiedlichen philosophischen Quellen: Auf der einen Seite steht Arendts zunächst etwas idiosynkratrisch anmutendes Konglomerat aus antiker Philosophie (besonders Aristoteles), Existentialismus und Phänomenologie, gespickt mit einem politischem Republikanismus, für den sie sich auf Machiavelli, Tocqueville und nicht zuletzt die Autoren der Federalist Papers bezieht; kritisch gegenüber Marx und dem „Trick einer dialektischen Bewegung“ (Arendt 2012a, S. 33) sowie abweisend gegenüber dem „Unsinn des Unbewußten“ (Arendt 2002, S. 659). Auf der anderen Seite Adornos nicht minder eigenwillige Kombination aus Hegel, Marx, Psychoanalyse und Weber’schem Rationalitätskonzept, dem manchmal eine Prise Messianismus nachgesagt wird und oft eine gehörige Portion Verachtung für Theorien heideggerianischer Spielart (Adorno 2003c, S. 413–526). Aber nicht nur die Quellen, aus denen ihre jeweilige Theoriebildung schöpft, divergieren; Arendt und Adorno kommen nicht nur aus verschiedenen philosophischen Richtungen, auch wo sie damit hinwollen, unterscheidet sich fundamental. So wird beiden Denker*innen gemeinhin (und vollkommen zu Recht) attestiert, ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche theoriepolitische Ziele zu verfolgen. Arendt entwickelt eine dezidiert politische Theorie. Sie möchte ausdrücklich politische Theoretikerin – und nicht Philosophin – genannt werden (Arendt 2005, S. 46 f.). Sie misstraut der philosophischen Suche nach Wahrheit ebenso wie der „sozialen Frage“, d. h. der gesellschaftlichen Sphäre. In beidem sieht sie Gefahren für den Bereich des Politischen, der der Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens ist. Damit aber scheint Adorno – in dessen Werk gerade der Spagat zwischen Philosophie und Sozialkritik von zentraler Bedeutung ist (Lichtblau 2017, S. 395) – genau die beiden von Arendt abgelehnten Themenfelder in seiner Position zu vereinen. Ihm wiederum, der sich auf eine radikale Gesellschafts- und Kulturkritik konzentriert, wird oft gerade eine bewusste Abkehr vom politischen Denken nachgesagt (Adorno 2003e, S. 402–409).

Dass beider Werke in der Folge zum „Ausgangspunkt für voneinander getrennte Rezeptionskulturen“ (Auer et al. 2003, S. 10) geworden sind, wird vor diesem Hintergrund verständlich, ja erscheint zunächst einmal folgerichtig. Besonders in der vergangenen Dekade ist jedoch ein allmähliches Aufweichen dieser Dichotomie erkennbar. Den Aufschlag hierzu machte der Gießener Soziologe Jörn Ahrens bereits 1995 als er in einem für den Leviathan verfassten Aufsatz auf „die sonderbar starken Parallelen in der Faschismusanalyse Hannah Arendts und Theodor W. Adornos“ (Ahrens 1995, S. 29) hinwies. „Sonderbar“ seien diese Parallelen, so Ahrens derzeit, weil es – ungeachtet der eben beschriebenen persönlichen und theoretischen Gegensätze in den Diagnosen Arendts und Adornos – Gedanken gibt, „die sich teilweise aufs Haar, ja bis in die Formulierung hinein ähneln“ (Ahrens 1995, S. 29). Ahrens zeigte damals, „dass Arendt und Adorno in ihrer Faschismusanalyse trotz ihrer ganz unterschiedlichen theoretischen Herkunft und Interessen oft zu seltsam ähnlichen Ergebnissen kommen, die sich nicht auf beiläufige Parallelen beschränken“ (Ahrens 1995, S. 39). Mit seinem kurzen, aus dem Erstaunen heraus geschriebenen Text, der die Ähnlichkeiten zwischen Arendt und Adorno „grob und schlaglichtartig“ (Ahrens 1995, S. 29) beleuchtet, hat Ahrens den Aufschlag zur weiteren Forschung gemacht.

Denn seit Erscheinen dieses ersten „Streiflichts“ (Ahrens 1995, S. 29) ist – teilweise im expliziten Anschluss daran, teilweise unabhängig davon – einiges passiert: Arendt und Adorno zusammenzulesen stellt 25 Jahre später zwar immer noch eine Seltenheit, jedoch keine Kuriosität und keinen Affront mehr dar. So sind mittlerweile einige Sammelbände und Aufsätze erschienen, die die beiden in der einen oder anderen Weise miteinander vergleichen. Das dominante Erkenntnisinteresse, so werde ich im Folgenden darlegen, stellt dabei immer noch die ideengeschichtliche Versöhnung – die erstaunliche „Affinität wider Willen“ (Weissberg 2011) – Arendts und Adornos dar, von der ja auch Ahrens Debattenaufschlag ausgegangen war (2). Völlig unerforscht hingegen ist, was sich daraus systematisch – vor allem in Hinblick auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Nutzung oder gar Verbindung der beiden Ansätze – ergibt (3).

2 Affinitäten wider Willen

Nachdem die ostentative gegenseitige Nichtbeachtung, die Arendt und Adorno einander auf inhaltlicher Ebene entgegengebracht haben,Footnote 4 sich zunächst unter ihren direkten Schüler*innenFootnote 5 und dann auch in der späteren Rezeption fortgesetzt hatte,Footnote 6 kommt es seit Anfang der 2000er Jahre zu einer bedächtigen aber dennoch erkennbaren Aufweichung der strengen Dichotomie und vereinzelt gar zu vorsichtigen Annäherungen. Wegbereiterin hierfür war wahrscheinlich die sogenannte zweite Generation der Frankfurter Schule. Zwar haben Philosoph*innen wie Jürgen Habermas oder Seyla Benhabib keinen systematischen Dialog zwischen beiden Ansätzen initiiert, aber indem sie beide Ansätze zumindest nebeneinander benutzt haben, haben sie sicherlich ihren Anteil zur ersten Schwächung der Polarität beigetragen.

Anfang 2000 fand dann unter dem Titel Das Jahrhundert verstehen. Hannah Arendt – Theodor W. Adorno eine erste Konferenz am Hannah-Arendt-Zentrum in Oldenburg statt, die beide Denkrichtungen in einen Dialog bringen wollte; zunächst noch mit durchwachsenem Ergebnis: Dichotomien wurden hier teilweise eher noch erhärtet, denn aufgeweicht (Maffeis 2018, S. 390). Zwei weitere Konferenzen sollten folgen und erfolgreicher verlaufen: 2010 fand die von Lilina Weissberg und dem Fritz Bauer Institut organisierte Tagung Hannah Arendt und die Frankfurter Schule in Frankfurt am Main statt (Gallas 2010). 2017 trug die zweite Ausgabe der Istanbul Critical Theory Series (die aufgrund der anhaltend angespannten politischen Situation in der Türkei in Oldenburg stattfand) dann den Untertitel Arendt and Critical Theory Today.

Darüber hinaus sind mittlerweile drei Sammelbände erschienen, die versuchen Arendt und Adorno in einen Dialog treten zu lassen, den die beiden zu Lebzeiten nie geführt haben. Zwei davon sind deutschsprachig: Zum einen das von Dirk Auer, Lars Rensmann und Julia Schulze Wessel 2003 bei Suhrkamp herausgegebene Buch Arendt und Adorno (Auer et al. 2003), zum anderen der von Liliane Weissberg (2011) und dem Fritz Bauer Institut im Anschluss an ihre Konferenz zusammengestellte Band Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, dem auch der Zwischentitel dieses Abschnitts entlehnt ist. Ein weiterer englischsprachiger Sammelband ist vollkommen unabhängig vom Tagungsgeschehen erschienen: 2012 haben Lars Rensmann und Samir Gandesha Arendt and Adorno. Political and Philosophical Investigations herausgebracht; „the first book in English that takes a comparative look at both authors“ (Rensmann und Gandesha 2012b, S. vii). Wohlgemerkt handelt es sich dabei – trotz ähnlichen Titels und gleichem Mitherausgeber – keinesfalls um eine Übersetzung des deutschsprachigen Bandes von 2003. Es stellt zugleich den bisher tiefenanalytischsten Versuch dar, das Verhältnis Arendts und Adornos zu kartographieren (ausführlicher Albrecht 2015). Einer der beiden Herausgeber, Lars Rensmann, der sich wie kaum jemand sonst um eine gemeinsame Aktualisierung Arendts und Adornos verdient gemacht hat, stellt unter dem (Arbeits-)Titel After Arendt and Adorno: European-Jewish Thought and Global Politics zurzeit eine weitere Aufsatzsammlung zusammen.

Außerdem existiert mittlerweile eine Reihe von Aufsätzen, die Arendt und Adorno hinsichtlich spezifischer Fragestellungen in Bezug zueinander setzen und die unabhängig von diesen Bänden in Zeitschriften (oder thematisch anders gelagerten Sammelbänden) erschienenen sind. Obwohl die Aktenlage insgesamt immer noch dünn ist, lassen sich bei den bisherigen Versuchen die beiden miteinander ins Gespräch zu bringen drei thematische Gravitationszentren ausmachen. Alle drei resultieren mehr oder weniger direkt aus dem geteilten Erfahrungsraum der beiden Denker*innen. Denn auch wenn Arendt und Adorno ihre Theoriebildung in ganz unterschiedlichen Theoriesprachen und unter Berufung auf verschiedene Referenzen formulieren, wird in beiden doch eine ganz ähnliche Erfahrung verarbeitet: die Erfahrung totaler Herrschaft. Für Arendt wie für Adorno gilt: Totale Herrschaft und Auschwitz markieren „jene alles überschattende Katastrophe, der man innewerden muss, wenn man zu einem angemessenen Verständnis ihrer Philosophie […] kommen will“ (Meints-Stender 2011, S. 11). Für beide ist die totale Herrschaft sowohl als persönliche, wie auch als zeitgeschichtliche Erfahrung prägend. Arendt und Adorno, einem ähnlichen Milieu deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums entstammend (Brumlik 2003), teilen nicht nur die ganz persönliche und konkrete Erfahrung von Diskriminierung, Flucht und Exil (Benhabib 2018), sondern sie verarbeiten diese persönliche Erfahrung auch beide zu einer theoretischen Perspektive (Auer 2003; Gandesha 2012): Eine Perspektive die zwischen „Drinnen und Draußen“ (Adorno 2003b, S. 74), d. h. zwischen der Teilnehmer*innen- und der Beobachter*innenperspektive changiert. Mit diesem Changieren stehen Arendt und Adorno Verständnissen von Rolle und Standpunkt der Theoretiker*in nahe, wie sie auch im aktuellen sozialphilosophischen Diskurs – theoretisch wesentlich ausgearbeiteter (Celikates 2009) – zunehmend wieder an Bedeutung gewinnen.

Beider Theoriebildung nimmt ihren Ausgangspunkt zudem beim Versuch, das Geschehene zu verstehen – „to comprehend the incomprehensible“ (Villa 2008a, S. 216) was in ihren jeweiligen Analysen der totalen Herrschaft deutlich wird. Nicht nur werden von beiden ähnliche Fragen an das ‚Phänomen Totalitarismus‘ gestellt – die sich zudem von den Analyserahmen vieler ihrer Zeitgenossen unterscheiden – sondern für beide bilden diese Verstehensversuche auch die Ausgangspunkte und Rahmen, vor deren Hintergrund ihre jeweiligen Werke überhaupt erst verständlich werden. Sie werden zum „Schlüssel“ (Forst 2011, S. 198; Hetzel 2011, S. 389) zum Verständnis ihrer gesamten jeweiligen Werke.Footnote 7

Und schließlich braucht es für beide aufgrund dieser Analysen eine Neuausrichtung der Philosophie selbst. So geht beider Denken nicht nur von der unermüdlichen Anstrengung aus, das Unbegreifliche des Zivilisationsbruchs zu begreifen. Auch werden für beide in der Folge schonungslose Demontagen der philosophischen Tradition notwendig (Kisner 2013). Arendt und Adorno waren beide „zutiefst überzeugt, dass es galt, jenseits der traditionellen philosophischen Schulen und Methoden ‚neu zu denken‘“ (Benhabib 2011, S. 658). Daher legten sie nicht nur jeweils ausführliche Kritiken der philosophischen Tradition vor (Arendt 2012a, S. 23–5; Adorno 2003a, S. 325–344.), sondern stellen dem von ihnen kritisierten philosophischen Systemdenken auch eigene und eigenwillige (beide teilweise von Walter Benjamin inspirierteFootnote 8) methodische Neuausrichtungen entgegen. In beiden Fällen ist diese methodische Neuausrichtung von einer Vorliebe für den „Essay als Form“ (Adorno 2003f, S. 9–33) gekennzeichnet, die in eine „essayistische Haltung zur Welt“ (Hyvönen 2014) übersetzt, ihre Texte auch dort anleitet, wo es sich nicht um Essays im engeren Sinne der Literaturgattung handelt (Benhabib 2012; Robaszkiewicz 2017; Söllner 2005, 2018; Seel 2004).

Dass sich diese drei geteilten Schwerpunkte ausmachen lassen, bedeutet nicht, dass es sich um die einzigen Aspekte handelt, hinsichtlich derer Arendt und Adorno im Rahmen der vorsichtigen Annäherung der vergangenen Jahre verglichen worden wären. Um nur einen Eindruck zu geben: Jörn Ahrens (2001) hat auf den (ähnlichen) Umgang Arendts und Adornos mit literarischen Quellen verwiesen, Dieter Thomä (2012) einige Überschneidungen ihrer jeweiligen Subjekttheorien herausgearbeitet und Maike Weißpflug (2018) beide gemeinsam für „eine Naturgeschichte des 21. Jahrhunderts“, d. h. für ein Denken im und des Anthropozäns in Stellung gebracht.

Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass es hinsichtlich der ideen- und intellektuellengeschichtlichen Kartographie des vormaligen Nicht-Verhältnisses Arendts und Adornos erkennbare Fortschritte gibt. Das heißt nicht, dass diese Kartographie vollständig oder abschließend gezeichnet ist. So steht ein ausführlicher Vergleich der beiden nach wie vor aus. Bis heute existiert meines Wissens keine einzige Monographie, die Arendt und Adorno in komparativer Absicht in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Dennoch sind die in den vergangenen Jahren gemachten Fortschritte klar erkennbar. Ein völliges Desiderat stellt aber nach wie vor die Frage nach dem systematischen Nutzen (über die ideengeschichtlich interessante Diagnose hinaus) dieser Entdeckung dar. Dieser Nutzen, so meine These, liegt darin, dass die Entdeckung der „Affinitäten wider Willen“ eine verbindende Lesart ermöglichen.

3 Kritische Theorie und Politik: Die Möglichkeit(en) einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno

Es sind vor allem zwei Dinge, die an den wenigen bisher unternommenen Versuchen Arendts und Adornos Denken nebeneinanderzustellen, auffallen: Erstens, haben sie fast alle ein vorwiegend ideengeschichtliches Erkenntnisinteresse. Der Vergleich von Arendt und Adorno ist zunächst einmal Selbstzweck. Zweitens und eng damit zusammenhängend, sind sie in ihrer Anlage überwiegend versöhnlich; sie wollen zusammenführen. Das ist in der Fragestellung begründet. Es geht ihnen meistens darum „die sonderbar starken Parallelen“ (Ahrens 1995, S. 29), die bisher nicht gesehenen „Affinitäten wider Willen“ (Weissberg 2011) zwischen den beiden aufzuzeigen. Der Verweis auf verbleibende Differenzen dient dann bestenfalls noch dazu, dem jeweils anderen Ansatz schärfere Konturen zu geben und seine spezifischen Charakteristika besser zu verstehen – den Ansätzen wird nachgesagt, dass sie sich „gegenseitig illuminieren“ (Arendt 2012b, S. 254) könnten, wie es im Anschluss an den gemeinsamen Freund Walter Benjamin formuliert werden könnte. Gegen diese doppelte Vorgehensweise – das rekonstruktive und das versöhnende Lesen – ist überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Es ist wichtig und richtig, gerade nachdem die offensichtlicheren Unterschiede zwischen diesen Theorietraditionen eine gemeinsame Rezeption lange genug verhindert haben.

Vollkommen unbeantwortet ist nach wie vor die Frage, ob (und was) Arendt und Adorno in Kontrastierung voneinander lernen könnten. Hierfür, so meine These, müsste nicht nur auf die versteckten Gemeinsamkeiten, sondern auch auf die verbleibenden Divergenzen geguckt werden. Eine Gegenüberstellung Arendts und Adornos, so meine Vermutung, könnten sich gerade da als produktiv erweisen, wo ihre Positionen konträr bleiben. Die in den vergangenen Jahren vorangeschrittene ideengeschichtlich-versöhnende Annäherung könnte sich dabei als Ermöglichungsbedingung für diesen Vorschlag herausstellen. Weil Arendt und Adorno viele Grundannahmen ihrer Theoriebildung teilen, könnten sie sich gerade da, wo sie einander konträr gegenüberstehen, als komplementär erweisen. Ich schlage also vor, Arendt und Adorno in ein wechselseitig unterstützendes Verhältnis zueinander zu setzen.

3.1 Die Möglichkeit einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno

Obwohl Arendts und Adornos jeweilige Theoriebildung mit ihren vergleichbaren Analysen totaler Herrschaft einen Ausgangspunkt teilen und obwohl sie mit ihren jeweiligen kritischen Theorien der Moderne ähnliche Diagnosen vorgelegt haben, könnten ihre Therapievorschläge unterschiedlicher nicht sein. Während Arendts Entgegnung auf ihre eigene kritische Theorie der Moderne in einer Erinnerung und Neuerzählung dessen besteht, was das Politische (gegenüber dem Sozialen) einmal geheißen haben mag (und was es heute wieder heißen könnte), besteht Adornos ‚Antwort‘ auf die Dialektik der Aufklärung in einer fortlaufenden Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, die er ausdrücklich als nicht politisch verstanden wissen will. Bei beiden führen diese Auswege – das dürfte selbst oberflächlichen Kenner*innen der beiden bekannt sein – zu (eklatanten) Vereinseitigungen. Arendt ist heute bekannt als Verfechterin eines anspruchsvollen politischen Handlungsbegriffs, die sich über die gesellschaftlichen Vorrausetzungen ebendieses politischen Handlungsbegriffs aber keine Gedanken machen kann (Jaeggi 2008; Junger und Riescher 2013). Adorno, auf der anderen Seite, gilt als der Gesellschaftstheoretiker schlechthin, dem es wie kaum einem anderen an einem Politikbegriff mangelt (Chambers 2004; Freyenhagen 2014). Ich schlage vor, beide genau an dieser Stelle in ein Ergänzungsverhältnis zueinander zu bringen.

Ein solches Ergänzungsverhältnis zwischen Arendt und Adorno liegt nah und fern zugleich. Fern liegt es aus den eingangs genannten Gründen: Aufgrund der unterschiedlichen theoretisch-philosophischen Traditionsbeständen, aus denen sie ihre Theoriebildung jeweils aufbauen sowie aufgrund der Tatsache, dass die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen (Politik vs. Sozialkritik) nicht aus idiosynkratrischen Vorlieben und Priorisierungen entstanden sind, sondern weil es theorieimmanente Gründe für das jeweilige Vorgehen gibt. Adornos Gesellschaftsdiagnose ist die einer „total verwalteten Gesellschaft“, in der die Möglichkeit zur Politik „auf unabsehbare Zeit vertagt“ (Adorno 2003c, S. 15) ist. Arendts ontologisch anmutende (und hierarchisierende) Unterscheidung von Sphären und Tätigkeitsweisen (Politisch-Sozial oder Arbeiten, Herstellen, Handeln) priorisiert Politik sozusagen ‚notwendigerweise‘.

Das von mir vorgeschlagene Ergänzungsverhältnis liegt zugleich aber auch nah, eben weil Arendt bekanntermaßen eine politische Theoretikerin ist, die sich über die gesellschaftlichen Vorrausetzungen der von ihr anempfohlenen Politik keine Gedanken machen will. Adorno auf der anderen Seite gilt als Gesellschaftstheoretiker, dem es wie kaum einem anderen an einem Politikbegriff mangelt. Ein Baukastenmodell in dem der eine die „Leerstelle“Footnote 9 der anderen ausfüllt und vice versa scheint sich hier geradezu aufzudrängen: „Die politische Problematik der Moderne kann der ökonomischen nicht untergeordnet werden, anders als die kritische Theorie weithin annahm. Zugleich muss jedoch in Antwort auf diese Beobachtung ein schlichtes Hinübergleiten von einer soziökonomisch fundierten Gesellschaftstheorie zu einer politischen Philosophie, die das Politische vom Sozioökonomischen abtrennt, vermieden werden. Ein solches Hinübergleiten fand sowohl im individualistischen Liberalismus, dem Mainstream heutiger politischer Theorie, als auch bei einigen kritischen Denkern wie Hannah Arendt und in geringerem Ausmaß Claude Lefort statt […]. Eine angemessenere Antwort müsste das Politische mit dem Ökonomischen artikulieren“ (Wagner 2005, S. 224 f.).

Eine solche Vermittlung, so die hier zu Grunde liegende These, könnte gelingen, wenn die begrifflichen Werkzeugkästen Arendts und Adornos in ein wechselseitig unterstützendes Verhältnis zueinander gebracht würden. Meine These, um das einmal explizit zu machen, geht über das modulare Stecksatzmodell noch hinaus, das sich hier aufdrängt: Ich behaupte nicht nur, dass Arendt und Adorno gleichsam beliebig die Leerstelle des jeweils anderen ausfüllen, sondern ich vertrete die These, dass sie sie angemessen ausfüllen: Arendts Verständnis des Politischen (gerade wie es jüngst rezipiert wird) könnte einen Politikbegriff bereitstellen, der mit Adornos Einwänden, denen zufolge es keinen positiven Politikbegriff geben kann, kompatibel ist. Es könnte die nächstmögliche Annäherung an ein Politikverständnis darstellen, das Adornos kritischer Theorie angemessen ist. Umgekehrt könnte sich Adornos spezifisches Kritikverständnis als ein Instrument erweisen, mit dem sich über die (wiederum bei Arendt problematische) „soziale Frage“ in einer Weise nachdenken lässt, die Arendts Einwänden gegen eben diese standhält. In meiner im Sommer dieses Jahrs am Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt eingereichten Doktorarbeit habe ich versucht, genau diese These plausibel zu machen.Footnote 10 Das zentrale Argument soll an dieser Stelle nur angedeutet werden.

Wo Adorno (2000, S. 81) aufgrund seiner Diagnose einer verwalteten Welt die „objektive Ausweglosigkeit von Praxis“ sieht, beharrt Arendt auf die immer gegebene Möglichkeit eines (politischen) Neuanfangs (Arendt 2016, S. 214 ff.; Marchart 2005). Darüber hinaus entwickelt sie eine Theorie der Macht (Arendt 2016, S. 251 ff., 2013), die gerade von der Frage ausgeht, wann und unter welchen Umständen die Macht der Wenigen gegen die (vermeintliche) Übermacht der Gewalt, des Staats und/oder der Strukturen eine Chance hat. Damit ist keinesfalls die Aufforderung verbunden, einfach Arendts optimistischerer Einschätzung der Lage zu folgen. Im Gegenteil: Ihre Diagnose ist ähnlich düster, wie diejenige Adornos. Bezüglich der Möglichkeit genuiner Politik war Arendt genauso skeptisch wie er. Das ist der Sinn der in der Vita activa vorgetragenen Verfallsgeschichte des Politischen. Mit dem Neubeginns-Theorem und vor allem ihrem Machtbegriff stellt Arendt uns aber zumindest ein Instrument – ein „Vermögens‑/Unvermögens-Arrangement“ (Volk 2013, S. 511) – zur Verfügung, das die Adornitische Frage wann und unter welchen Bedingungen Verhältnisse übermächtig sind (und wann eben nicht) in einem politiktheoretischen Analyserahmen zu erfassen vermag.

Adorno begründete seine Politik-Aversion aber nicht nur objektiv, d. h. über die konstatierte Übermacht der Verhältnisse. Als wäre das nicht genug, sah er die Möglichkeit zu gesellschaftsverändernder Praxis zudem bis hinunter auf die Ebene des Individuums verstellt. Die monotonen Arbeitsabläufe im Spätkapitalismus und die auf Wiederholung des Immergleichen abzielende Kulturindustrie, so seine Analyse, trocknen im Individuum – „automatisch oder planvoll“ (Adorno 2003d, S. 364) – die Fähigkeit zur Spontaneität aus, die er, genau wie Arendt, als Grundvoraussetzung politischen Handelns ansieht. Auch an dieser Stelle kann Arendts Denken Adornos Theorieapparat informieren. Denn Arendt erinnert uns immer wieder daran, dass der öffentliche Raum selbst auch subjektermächtigend wirken kann. Nicht nur entsteht die Identität politisch Handelnder, Arendts (2016, S. 222) berüchtigtes „Wer-einer-ist“, in der Auseinandersetzung mit anderen im öffentlichen Raum, sondern auch versichert erst die „Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören […] uns der Realität der Welt und unserer selbst“ (Arendt 2016, S. 63).

Aber selbst für den Fall, dass „wahre Politik“ (Adorno 2003f, S. 430) in Zukunft wieder möglich sein sollte – Adornos Einwände bzgl. der objektiven Möglichkeit und den subjektiven Voraussetzungen politischen Handelns stellen ausdrücklich keine überhistorischen Konstanten sondern (potenziell wandelbare) Zeitdiagnosen dar – formuliert er ein Bedenken. Denn Adorno erachtet die von ihm stets befürchtete Gefahr einer „Repression des Einzelnen durchs Allgemeine“ (Adorno 2003e, S. 765) im politischen Bereich – d. h. in einem Bereich in dem kollektiv verbindliche Entscheidungen ausgehandelt und im Zweifelsfalls per Mehrheitsentscheid beschlossen werden – naheliegenderweise für besonders virulent. Nun kreist Arendts gesamtes Nachdenken über Politik – das haben vor allem jüngere institutionentheoretische Arendt-Lesarten herausgestellt (Schulze Wessel et al. 2013; Thiel und Volk 2016) – um die Frage, wie ein Partikulares, Einzelnes, in ihrer Terminologie: wie Pluralität vom Allgemeinen, das politische Institutionen darstellen, nicht nur nicht unterdrückt, sondern gerade ermöglicht und befördert werden kann.

Aber nicht nur Adorno kann etwas von Arendt lernen. Es gilt umgekehrt auch mit Adorno gegen Arendt zu denken. Während es Adorno an jeglichem theoretischen Handwerkszeug fehlt, um Fragen des Politischen zu konzeptualisieren, ist Arendt berüchtigt für ihre aktive und ausdrückliche Weigerung über das auch nur nachzudenken, was sie in einer etwas altmodischen Terminologie die „soziale Frage“ (Arendt 2011, S. 73) nennt. Nicht nur liefert sie uns kein Handwerkszeug, um gesellschaftstheoretische Analysen vorzunehmen, sondern ihre strikte Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen – anhand derer Arendt ihren zunächst so ansprechenden Politikbegriff überhaupt erst entwickeltFootnote 11 – verstellt geradezu die Möglichkeit zur Kritik sozialer Verhältnisse (Jaeggi 2008, S. 4).

„Der Streit ist alt“ (Weißpflug und Förster 2011, S. 67) und Leser*innen, die Arendts Denken sympathisch gegenüberstehen, haben über die Jahre verschiedene Angebote gemacht, wie damit umgegangen werden könnte. Eines der heute gängigsten stammt aus der Feder von Seyla Benhabib (2006, S. 223). Sie schlägt vor, die Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen bei Arendt nicht als ontologisch fixierte Sphären, sondern als Modi zu betrachten, in denen wir Fragen thematisieren. Rahel Jaeggi hat darauf aufbauend vorgeschlagen, Arendts Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen gar als Theorie der Politisierung zu verstehen: „Kein Bereich“, so Jaeggi (2008, S. 7), „wäre dann von sich aus politisch oder unpolitisch; alles hingegen kann, muss aber auch erst politisiert werden“. Ich stimme zu, dass es sich dabei um „die einzig produktive Methode zur Unterscheidung des Gesellschaftlichen vom Politischen“ (Benhabib 2006, S. 225) handelt. Ich denke jedoch auch, dass Arendt ein entscheidendes Puzzleteil für eine solche Politisierungstheorie fehlt. Während sich in ihrem Theorieapparat zwar fassen lässt, wie wir uns politisch über einen Gegenstand unterhalten sollen, kann sie kaum erklären, wie denn eine solche „Transformation“ einer vormals „sozialen Frage in einen politischen Faktor“ (Arendt 2011, S. 77) von statten gehen soll. Zumindest kann Arendts politische Handlungstheorie diesen Prozess nicht anstoßen. Denn dafür braucht es einen Kritikbegriff. Genauer: Ein Verständnis von Kritik, das helfen kann einen vormals als natürlich erachteten Zustand als menschengemacht (und daher: von Menschen auch wieder veränderbar) zu enthüllen. Genau dies aber leistet Adorno, dessen „Geschäft“, wie er einmal an Thomas Mann schrieb, „die Entmythologisierung ist“ (Adorno und Mann 2002, S. 62). Adornos Kritikbegriff zielt auf die Entnaturalisierung der „verselbstständigten Macht des Sozialen“ (Han 2016, S. 18), beschränkt sich jedoch zugleich – und das macht ihn aus einer Arendt’schen Perspektive so interessant – auf diese Entnaturalisierung. Denn eine von Arendts großen Sorgen ist, dass die politische Behandlung vermeintlich sozialer Fragen zu einem teleologischen Handlungsmodell führt. Adornos Kritikbegriff scheint so geeignet, um Arendts politische Theorie zu komplementieren, gerade weil er sich auf eine „Philosophie des Nein-Sagens“ (Han 2016, S. 27), d. h. des Nein-Sagens zum gesellschaftlichen Ist-Zustand, beschränkt. Adorno versteht seine kritische Theorie als rein negativistische Unternehmung, die jegliche Vorstellung davon, „wie es besser wäre“ (Bittner 2009, S. 134) dann aber ausdrücklich einem strengen „Bilderverbot“ (Adorno 2003c, S. 207) unterstellt. Etwas wohlwollend formuliert ließe sich sagen: Adorno möchte die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse dann der kollektiven Praxis überlassen wissen: der Politik.Footnote 12

Das Hauptanliegen meiner Dissertationsschrift ist es, diese potenzielle Kompatibilität von Arendts politischer Handlungstheorie und Adornos Kritikbegriff auszuweisen. Die Hoffnung war so – d. h. über den Ausweis der Möglichkeit dieses Ergänzungsverhältnisses – zu einem weiteren Vorschlag zu kommen, was eine kritische politische Theorie heute sein könnte und die Umrisse einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno zu skizzieren. Zum Schluss möchte ich noch andeuten, inwiefern die dabei vertretene These der Möglichkeit eines Ergänzungsverhältnisses von Arendt und Adorno, zugleich auch über Arendt und Adorno hinaus von Interesse sein könnte.

3.2 Die Möglichkeiten einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno

Arendt und Adorno in ein Ergänzungsverhältnis zu bringen, ist nicht nur theoriegeschichtlich interessant, sondern stellt auch eine mögliche Antwort auf eine Debatte dar, die über diese zwei Theoretiker*innen hinaus in der Politischen Theorie und Sozialphilosophie aktuell (wieder) geführt wird: Denn nicht nur Adorno, sondern der kritischen Theorie im Allgemeinen, wird oft ein problematisches Verhältnis zum Thema Politik nachgesagt.

In einem gewissen Sinne kann das Verhältnis Arendts (die eine ausführliche Konzeption politischen Handelns hat, ohne über die Grundlagen nachzudenken, die zu diesem Handeln überhaupt erst befähigen) und Adornos (der ausschließlich auf die Bedingungen fokussiert, die Handeln ermöglichen oder verstellen, sich um Politik als Modus der Veränderung eben dieser Bedingungen aber keine Gedanken mehr machen kann) als symptomatisch betrachtet werden für eine allgemeinere – d. h. hier über diese beiden Autor*innen hinausgehende – Tendenz. So ist in den vergangenen Jahren – insbesondere im deutschsprachigen Wissenschaftsraum – eine größer werdende Kluft zwischen Politischer Theorie und Sozialphilosophie zu beobachten (Jaeggi und Celikates 2017, S. 8–14; Loick 2017, S. 11 f.). Zugespitzt formuliert: Der bisher ausgebliebene Dialog zwischen Arendt und Adorno spiegelt sich in der im deutschen akademischen Betrieb auch institutionell beglaubigten Dichotomie zwischen Politischer Theorie und Sozialphilosophie wider.

Systematisch kann meine Arbeit daher auch als Plädoyer gegen diese Arbeitsteilung gelesen werden. Oder positiv formuliert: Als ein Plädoyer dafür, dass die Kritik sozialer Verhältnisse und ein Verständnis politischen Handelns als Modus der Veränderung eben dieser Verhältnisse von der kritischen Theorie stets zusammengedacht werden sollten. Eine kritische Theorie ohne die Fähigkeit, Politik – hier weit verstanden als all diejenigen (kollektiven) Prozesse, mit denen sich gesellschaftliche Verhältnisse transformieren lassen – begrifflich zu fassen, bleibt unvollständig. Gesellschaftskritik, die unabhängig von politischen und sozialen Kämpfen gedacht wird, unabhängig also von der Frage ihrer Realisierung, bleibt harmlos (Celikates 2019, S. 397). Auf der anderen Seite droht eine Theorie des Politischen ohne Gesellschaftstheorie von vorneherein zu scheitern. Das Unternehmen einer politischen Theorie, die ausschließlich auf das politische Handeln abstellt, die sozialen Bedingungen aber ignoriert, in denen alle politisch Handelnden immer schon eingewoben sind und aus denen heraus sie erst aktiv werden (können), – eine politische Theorie die, wenn man so will, also über ihre eigenen Voraussetzungen nicht nachdenken kann – ist vergeblich (Demirovic 2019).

Die Dringlichkeit dieses Plädoyers wird noch deutlicher, wenn nicht auf die Ebene der Fächertrennung – Politische Theorie vs. Sozialphilosophie – geschaut, sondern sozusagen eine Ebene tiefer angesetzt wird: Die jüngst wieder aufgeworfene Debatte um das Verhältnis von kritischer Theorie und Politik (Bohmann und Sörensen 2019; Ludovisi 2016) macht deutlich, dass insbesondere die kritische Theorie (hier verstanden als spezifische Variante der Sozialphilosophie) immer noch eine schwierige Beziehung zum Thema Politik hat. Denn diejenigen Theorierichtungen, die gemeinhin unter dem Etikett kritische Theorie zusammengefasst werden, zeichnen sich auffällig oft durch ein gespanntes Verhältnis zum Thema Politik aus (ausführlich Chambers 2004). Diese Feststellung gilt relativ unabhängig davon, wie man sich im „Streit über die Erbschaft der Kritischen Theorie“ (Dubiel 1995) positioniert. Das heißt, sie gilt unabhängig davon, ob man mit dem Begriff kritische Theorie die „historische ‚Frankfurter Schule‘ um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno“ (Bohmann und Sörensen 2019, S. 9) meint oder, ob man die Nachfolgegeneration(en) um und im Anschluss an Jürgen Habermas miteinbezieht. Ja, sie gilt sogar relativ unabhängig von der Frage, ob man kritische Theorie mit großem oder mit kleinem „k“ schreibt – unabhängig von der Frage also, ob man unter kritischer Theorie vor allem die in Frankfurt ansässige Theorietradition fasst oder ob man „das Kompositum kritische Theorie“ (Flügel-Martinsen 2019, S. 450) weit versteht und sich schulen- und ansatzübergreifend auf eine Vielfalt kritischer Ansätze bezieht. Die Diagnose einer gewissen Politikferne beansprucht – in verschiedenen Abstufungen – auch für eine möglichst breite Definition von kritischer Theorie Gültigkeit.Footnote 13

Schon ihrem wahrscheinlich wichtigsten ideengeschichtlichen Vorläufer Karl Marx ist ein Hang zum Ökonomismus nachgesagt worden, der gesellschaftliche Veränderung eher ökonomischen Pfadabhängigkeiten, denn dem politischen Handeln einzelner oder kollektiver Subjekte zuschrieb (Arendt 2011, S. 79). Ganz sicher lässt sich den oft als Begründern der Frankfurter Schule angesehenen Horkheimer und Adorno ein Politikdefizit attestieren. Besonders Letzterer – das war ein Thema dieses Textes – war nicht nur für die ihm eigene „politikwissenschaftliche Leerstelle“ (Bohmann und Sörensen 2019, S. 20) bekannt, sondern auch für eine regelrechte „Askese der politischen Theorie“ (Jebsen 2004) berüchtigt. Diejenigen Theoretiker*innen, die zuweilen unter dem Sammelbegriff der zweiten Generation der Frankfurter Schule zusammengefasst werden, haben unter anderem auf diesen Umstand reagiert. Denn Adornos Negativismus war einer der Gründe, warum Habermas und seine Schüler*innen die sogenannte diskurstheoretische Wende der kritischen Theorie betrieben haben. Einer ihrer Vorwürfe lautete, Adornos Konzeption von kritischer Theorie sei so total, dass über eine Veränderung der Verhältnisse – das heißt über politisches Handeln – gar nicht mehr nachgedacht werden könne. Die Nachfolgegenerationen der Frankfurter Schule haben die Sphäre der Politik in der Folge – mal mehr und mal weniger explizit – zumindest zum Thema gemacht. Jedoch wurde die Integration der Kritik gesellschaftlicher Bedingungen mit einem Verständnis von Politik teuer erkauft. Denn nicht nur haben die Mitglieder der zweiten Generation der Frankfurter Schule an kritischem Anspruch eingebüßt.Footnote 14 Auch ist ihr politisches Projekt einfach kein besonders radikales (Geuss 2013, S. 101; Marchart 2019, S. 153). Dass das Habermas’sche Theoriegebäude gerade aus einer Arendt’schen Perspektive politisch nicht besonders radikal anmutet, hat Peter Verovšek (2019) jüngst herausgestellt. Und selbst wenn wir über die Frankfurter Schule im engeren Sinne hinausblicken und kritische Theorie möglichst weit verstehen und etwa poststrukturalistische Ansätze, wie denjenigen Michel Foucaults miteinbeziehen, lässt sich die Diagnose der Politikferne zumindest nicht ohne Weiteres aus dem Weg räumen.Footnote 15

Dieser scheinbar nicht enden wollende Topos bezüglich des Verhältnisses von kritischer Theorie und Politik hat jüngst wieder an Fahrt aufgenommen. In ihrem Ende 2019 erschienenen voluminösen Band Kritische Theorie der Politik haben Ulf Bohmann und Paul Sörensen (2019, S. 10) erneut die Frage aufgeworfen, „ob und wie eine Kritische Theorie der Politik möglich ist“. Der Antwort auf die Frage, „ob und wie unter gegenwärtigen Umständen aus politiktheoretischer Perspektive an die ‚klassische‘ Programmatik der Kritischen Theorie angeknüpft werden kann“ keinesfalls gewiss, haben die beiden Herausgeber das internationale Who is Who der sich aktuell in der Tradition der kritischen Theorie verortenden Autor*innen versammelt und noch einmal zum Nachdenken darüber eingeladen, „wie eine Kritische Theorie der Politik heute aussehen bzw. betrieben werden sollte“.Footnote 16

Meine Doktorarbeit kann auch als (nachträglicher) Beitrag zu diesem Projekt verstanden werden. Damit ist keinesfalls die Behauptung verbunden, Arendt und Adorno seien die einzigen theoretischen Ressourcen, mit denen sinnvollerweise über politische kritische Theoriebildung nachgedacht werden könnte. Ausgangspunkt meines Nachdenkens über das Thema war ausdrücklich das Erstaunen darüber, dass Arendt und Adorno bisher nicht miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Deswegen ist meine Arbeit von diesen beiden Autor*innen ausgegangen und hat sich (nur) auf diese fokussiert. Bezüglich meines hier unterbreiteten systematischen Vorschlags haben Arendt und Adorno daher nicht das letzte Wort. Oder präziser: Sie haben es (wahrscheinlich) nicht alleine. Beim von mir vorgeschlagenen (und hier nur angedeuteten) Ergänzungsverhältnis handelt es sich um einen möglichen Vorschlag. Viele andere bleiben weiterhin denkbar. Es handelt sich jedoch um einen Vorschlag, der eine gewisse Umfänglichkeit für sich beanspruchen kann, da er die politische und die sozialkritische Seite des Projekts miteinander vermittelt. Anders gewendet: Es handelt sich zwar nur um einen Vorschlag, jedoch nicht um irgendeinen.

Wie das gemeint ist, lässt sich gut anhand eines Zitats zeigen. Der älteste mir bekannte Text, der ausdrücklich auf einige „sonderbare“ Affinitäten zwischen Arendt und Adorno hingewiesen hat, ist der zu Anfang zitierte Aufsatz „Zur Faschismusanalyse Hannah Arendts und Theodor W. Adornos. Erkundungen in ungeklärten Verwandtschaftsverhältnissen“ von Jörn Ahrens (1995). Eigentlich setzt sich Ahrens hier, wie der Titel ja auch unmissverständlich ankündigt, nur mit den Faschismusanalysen Arendts und Adornos auseinander. Sein Text endet jedoch etwas unvermittelt auf einer hoffnungsvollen Intuition: „Möglicherweise“, so schließt er, „liegt in der Wahrnehmung der Affinitäten zwischen Arendt und Adorno, unter Berücksichtigung ihrer Unterschiede, der Schlüssel zu eine sensiblen Theorie der zeitgenössischen Vergesellschaftung – einer Theorie, die das Faktum der hochgradig entfremdeten und verwalteten Welt illusionslos konstatiert, jedoch die Hoffnung auf ein autonomes Handeln mündiger Einzelner nicht aufgegeben hat“ (Ahrens 1995, S. 40).

Bei Ahrens bleibt dies Intuition im engeren Sinne der Wortbedeutung. Sie kommt abrupt daher und wird mit keinem Wort hergeleitet. Er ist ihr auch niemals nachgegangen – weder in diesem Aufsatz noch an irgendeiner anderen Stelle (Ahrens 2001, 2003). Es gilt diese Ahnung mit Argumenten zu unterfüttern und vom Status einer Intuition in den einer begründeten These zu überführen. Die in diesem Literaturbericht diskutierten Texte stellen erste Schritte auf dem Weg zur Einlösung dieses Forschungsprogramms dar.