Ziel dieses Kapitels ist es, die Diskussion über die Antipandemiepolitik darzustellen, die darin verwandten Argumentationsmuster herauszuarbeiten und deren sachliche, vor allem aber ethische Implikationen zu analysieren. Das konkrete Vorgehen folgt der Logik eines ethischen Urteils. Ähnlich einem allgemeinen syllogistischen Schluss beruhen praktisch-ethische Urteile auf zwei Komponenten: einem ethischen Prinzip und der Berücksichtigung aller relevanten Fakten (Tännsjö 2013, S. 4). Eine Analyse des ethischen Diskurses über die Antipandemiepolitik muss daher, um dieser Doppelstruktur gerecht zu werden, sowohl die relevanten Fakten der realen Situation als auch die ethischen Prinzipien, wie sie in der Argumentation zum Ausdruck kommen, betrachten.
Positionen in der Debatte
In Deutschland wurden die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, Eingriffe ins Wirtschaftsleben, Kontaktverbote und andere Beschneidungen von Freiheitsrechten innerhalb kürzester Zeit verfügt. Insofern konnte diesen Maßnahmen keine breite Debatte vorausgehen, eine solche entwickelte und entwickelt sich vielmehr weitgehend parallel zu ihrem Gegenstand. Wie angesichts von Umfang und Schwere der Maßnahmen nicht anders zu erwarten, wird der Kurs des weitgehenden Lockdowns sehr kontrovers diskutiert. Gleichwohl war und ist, vermutlich angesichts der gefühlten Größe der Bedrohung, in vielen Medien ein durchaus verständnisvoll-befürwortender Tenor auszumachen. Umfragen zufolge hält auch ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland diese Politik für richtig, wenngleich die Zustimmung im Zeitverlauf zurückgeht. (COVID-19 Tracker 2020; Blom et al. 2020).
Kritische und vermittelnde Stimmen, die die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nicht ohne weiteres als gegeben ansehen, nehmen allerdings zu. Einige fragen grundsätzlich nach der Zulässigkeit, zumindest aber der Verhältnismäßigkeit so tiefgehender Freiheitseingriffe (Lüpke 2020). Andere weisen auf die negativen Begleiterscheinungen hin, etwa die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns. Immer zahlreicher werden die Hinweise auf Gruppen, die in besonderer Form unter der Suspendierung des bisherigen Lebens leiden. Dazu zählen u. a. psychisch Kranke (Stalinski 2020), von häuslicher Gewalt Betroffene (Neurologen und Psychiater im Netz 2020), Kinder aus Familien, die ausfallenden Schulunterricht nicht kompensieren können (Hurrelmann und Dohmen 2020) oder Sterbende und ihre Lieben, denen die Möglichkeit des Abschiednehmens genommen wird (Fleischhauer 2020).
Betrachtet man abstrakt, also unabhängig vom konkreten Argument, die Struktur der Beiträge, fällt auf, dass die Argumentation in aller Regel der Logik der Abwägung folgt. Abwägen bedeutet, die Vor- und Nachteile möglicher Optionen genau zu bedenken, oder die Ergebnisse alternativer Handlungsweisen sorgfältig miteinander zu vergleichen. In der Grundrechtsdogmatik ist die Abwägung für die Frage nach der Verfassungswidrigkeit von Grundrechtseingriffen von zentraler Bedeutung. Dabei muss die Wertigkeit des Zwecks der Schwere des Eingriffs und dem Grad der Zielerreichung gegenübergestellt werden. Letztendlich gilt es, verschiedene Handlungsoptionen miteinander zu vergleichen und die Variante mit dem geringsten Schaden zu wählen. Schaden ist dabei als weit gefasster Begriff zu verstehen, der gesundheitliche, ökonomische, soziale, kulturelle und rechtliche Aspekte, mithin negative Folgen aller Art, beinhaltet. Eine Abwägung bedeutet also mitnichten, dass der Wert eines Lebens in Geld ausgedrückt werden soll. Was allerdings bei einer Abwägung geleistet werden muss, und darin besteht die Herausforderung, ist, Schäden ganz unterschiedlicher Natur kommensurabel zu machen.
Explizit lässt sich dies der ad-hoc Stellungnahme des Deutschen Ethikrats entnehmen (Deutscher Ethikrat 2020). Laut dem Ethikrat besteht der ethische Kernkonflikt zwischen dem Ziel, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu sichern, und den schwerwiegenden Nebenfolgen der Maßnahmen, die der Zielerreichung dienen sollen (Deutscher Ethikrat 2020, S. 2). Seine Lösung „erfordert eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter“ (Deutscher Ethikrat 2020, S. 2 vgl. auch S. 5). Hier wird die Abwägung also explizit als Lösungsstrategie des bestehenden Konflikts identifiziert.
In einem Kommentar fordert Anna Klöpper in der taz vom 22. März 2020, also parallel zum Inkrafttreten der bisher höchsten Stufe der Einschränkungen: „Es ist jetzt Zeit, dass die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen mit ein wenig mehr Nachdruck gestellt wird, als bisher.“ (Klöpper 2020) Der Hinweis auf die Verhältnismäßigkeit beinhaltet die Erkenntnis, dass Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie nicht kosten- und folgenlos sind. Daher gilt es, verschiedene Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen. Unabhängig davon, was sich letztlich als beste Lösung darstellen wird, ist der Text eine Warnung, dass der vorhandene Konflikt zumindest nicht ohne Diskussion, ohne genaue Prüfung der Verhältnismäßigkeit, nach einer Seite hin aufgelöst werden darf. „Die Politik sollte sich jetzt sehr genau überlegen, ob sie die Daumenschrauben weiter anzieht und die Grundrechte etwa auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit noch massiver einschränken will.“ (Klöpper 2020).
Parallele Überlegungen stellt Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an (Altenbockum 2020). Neben einer übermäßigen Einschränkung von Freiheitsrechten benennt der Kommentar den Konflikt zwischen Gesundheit und der Gefahr einer zerstörten Gesellschaft, und ganz allgemein das Problem, dass „die Linderung der Not auf der einen Seite eine neue Not auf der anderen Seite schaffen kann“ (Altenbockum 2020). Damit findet sich hier ebenso wie in Klöppers taz-Kommentar als unhinterfragte Grundlage der Argumentation die Abwägung. Allerdings kommt von Altenbockum zu einem anderen Ergebnis. Für ihn ist ein möglichst rigider Lockdown einschließlich allgemeiner Ausgangssperren richtig, denn der „Hammer“ ist nach seiner Ansicht der schnellste Weg durch die Pandemie und damit auch durch die Einschränkungen hindurch.
Im Ergebnis nicht unähnlich, aber mit einer anderen Akzentuierung der Beweggründe argumentiert der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Er beruft sich darauf, dass es eine Wertehierarchie gäbe, in der Leben und Gesundheit an oberster Stelle stünden (SWR Aktuell 2020). Eine Abwägung muss also zugunsten solcher Maßnahmen ausfallen, die Leben und Gesundheit schützen, woraus sich Kretschmanns befürwortende Haltung für strikte Schutzmaßnahmen und seine Skepsis gegenüber Lockerungen erklären.
Kretschmanns Parteikollege, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, mahnt hingegen öffentlich, die Folgen der gewählten Antipandemiemaßnahmen nicht zu übersehen. Der Preis für die Rettung von Menschen, die möglicherweise „in einem halben Jahr wegen ihres Alters oder wegen schwerer Vorerkrankungen sowieso tot wären“ sei den UN zufolge weltweit verschärfte Armut sowie der Tod von einer Millionen Kindern (Frühstücksfernsehen 2020, Abschn. 3:10–3:28). Diese Äußerung löste öffentliche Empörung aus. Palmer lehnte eine Entschuldigung zunächst ab, stellte aber später klar, dass er niemals das Lebensrecht älterer oder kranker Menschen in Frage stellen würde (Hüsgen 2020).
Sieht man von der Auseinandersetzung über Palmers Wortwahl ab, so zeigt sich auch hier wieder deutlich die Argumentationsfigur der Abwägung. Wenn mehr Menschen an den Nebenwirkungen eines Medikaments sterben als das Medikament Menschen retten kann, dann muss laut Palmer die Abwägungsfolge sein, das Medikament abzusetzen oder geringer zu dosieren – übersetzt in politisches Handeln bedeutet das, passgenauere Maßnahmen zu entwickeln, die ebenfalls Infektionen verhindern, aber weniger gravierende Nebenfolgen haben (Frühstücksfernsehen 2020).
Die umstrittene Äußerung Palmers fiel in einer Sendung, deren Thema ein Interview war, das Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble dem Tagesspiegel gegeben hatte (Birnbaum und Ismar 2020). Schäuble spricht darin explizit von einem Abwägungsprozess zwischen Einschränkungen und Lockerungen. Die Auffassung, dass das menschliche Leben einen unantastbaren Höchstwert darstelle, sei so nicht richtig. Der Jurist argumentiert mit dem grundgesetzlichen System der Grundrechte, die sich gegenseitig beschränken. Das bedeutet nichts anderes, als dass Grundrechte sich relativ zueinander verhalten und folglich im Konfliktfall eine Abwägung stattfinden muss. „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen.“ (Birnbaum und Ismar 2020).
Auf die Menschenwürde als „unverrechenbaren“ Wert beruft sich auch ein Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau. Anders als der Titel suggerieren mag, ist die Berufung auf die Menschenwürde jedoch keine grundsätzliche Absage an jegliches Abwägen, sondern vielmehr ein Plädoyer für eine Differenzierung innerhalb der Gesamtbetrachtung einer Situation. „Abwägen kann man dabei entweder zwischen den wirtschaftlichen Kosten des einen und denen des anderen Bereichs; oder zwischen deren ethischer Zulässigkeit und Gebotenheit (Entsprechendes gilt auch für die anderen Bereiche); nicht aber zwischen Ethik und Wirtschaft.“ (Schmid Noerr 2020). Unabhängig von der Frage, ob sich diese Sphären in der Realität immer klar abgrenzen lassen, kommt hier auf normativer Ebene wiederum die Vorstellung einer Wertehierarchie zum Tragen, insofern im Ergebnis dem Schutz des Lebens eine alle anderen moralischen Güter überragende Position eingeräumt wird.
Die Struktur der Debatte
Die Struktur der bisherigen Diskussion, das hat dieser kleine Querschnitt von Beiträgen gezeigt, geht davon aus, dass zwischen Bündeln von Gütern abgewogen werden muss. Während keine Zweifel an der Wertigkeit des Ziels bestehen – immerhin geht es um Gesundheit und Leben – gibt es unterschiedliche Einschätzungen der Gefahrenlage, der Schwere der Freiheitseingriffe sowie der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Aus der unterschiedlichen Gewichtung dieser Aspekte erklären sich unterschiedliche Meinungen.
Alle Beiträge gehen davon aus, dass unterschiedliche Güter bedroht sind, etwa Gesundheit, Versammlungsfreiheit, die Möglichkeit zu sozialer Interaktion und Nähe, Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen, Wohlstand oder gar die wirtschaftliche Existenz und andere mehr. Grundsätzlich sind alle diese Güter schützenswert. Daher korrespondiert mit ihnen eine moralische (und oft auch eine rechtliche) Pflicht, sie nicht zu verletzen. Die Herausforderung der gegenwärtigen Situation, das stellt etwa die Empfehlung des Ethikrates explizit klar, ist die Unmöglichkeit, allen diesen Pflichten zugleich gerecht zu werden. Es kommt mithin zu einer Pflichtenkollision (Deutscher Ethikrat 2020). Welches konkrete Maßnahmenbündel die geringstmögliche Pflichtverletzung nach sich zieht, wird höchst unterschiedlich beurteilt.
Einige Beiträge gehen davon aus, dass unterschiedliche Güter und damit unterschiedliche moralische Pflichten betroffen sind, es aber keine situationsunabhängige und objektive Hierarchie dieser Güter und Pflichten gibt. Diese mögen zwar tendenziell von höherem oder geringerem Wert sein – vor die Wahl gestellt, ob man einmal ihr Recht auf Leben oder ihr Briefgeheimnis verletzen solle, dürften die meisten Menschen eine eindeutige Präferenz haben. Sie sind aber immer auch situationsabhängig – vielleicht verzichtet eine Sterbende lieber auf einige Lebensminuten, als ein lebenslang gehütetes Geheimnis enthüllt zu sehen. Daher müssen immer alle Umstände betrachtet werden, einschließlich solcher Aspekte wie der erhofften Wirkung, der Dauer des Eingriffs, der Schwere des zu erwartenden Schadens oder dessen Reversibilität. Nach gebührlicher Berücksichtigung aller Faktoren ist gewissermaßen eine geistige Gesamtsumme zu bilden, die Aufschluss darüber gibt, welche Handlungsalternative die weniger schwerwiegende Verletzung moralischer Güter impliziert.
Andere Stimmen postulieren dagegen eine Güterhierarchie. Das führt dazu, dass Verletzungen von Leben und Gesundheit prinzipiell schwerer wiegen als Schäden anderer Art und somit einen größeren Einfluss auf das Abwägungsergebnis haben, das Ergebnis also in gewissem Maß präjudizieren.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, dass es sich bei dieser Variante der Argumentation gar nicht um eine Abwägung handelt.Footnote 6 Die etwa vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann explizit angerufene Hierarchie suggeriert vielmehr, dass es eine klare Rangfolge moralischer Pflichten gibt. Aufgabe der Politik wäre es dann lediglich, diese vorgegebene Wertentscheidung umzusetzen. Doch gegen diese Auffassung sprechen zwei Gründe. Erstens ist die angeführte Hierarchie eine subjektive Präferenz, und nicht die verbindliche Vorgabe einer moralischen oder rechtlichen Autorität. Zweitens würde eine solche Hierarchie, wenn es sie tatsächlich gäbe, eine konsequente Anwendung über alle Lebensbereiche hinweg verlangen. In Anbetracht der Gesundheitsrisiken, die von Alkohol- und Tabakkonsum ausgehen, müsste im ganzen Bundesland Rauch- und Trinkverbot herrschen, die Staatsweingüter Baden-Württembergs dürften allenfalls noch alkoholfreien Wein herstellen. Dass es keine ernsthaften Versuche gibt, solche Regelungen zu implementieren, zeigt, dass eine Güterhierarchie, die einer Abwägung nicht zugänglich ist und aus der sich daher schematisch das richtige Verhalten ableiten ließe, nicht existiert.
Blinder Fleck
Die Unterschiede sollten nicht über die grundlegende Gemeinsamkeit nahezu aller Debattenbeiträge hinwegtäuschen. Durchweg wird eine Abwägung als notwendig empfunden. Will man dies nicht als unumwundenen Utilitarismus interpretieren (das würde m. E. der Intention der Beiträge widersprechen), dann impliziert die Verwendung dieses ethischen Prinzips, dass es eine Kollision moralischer Pflichten gibt, die nicht in einer eindeutigen Rangfolge stehen bzw. nicht absolut gelten. Es ist jedoch fraglich, ob die gegenwärtige Situation damit zureichend beschrieben ist. Ich argumentiere, dass die bisher in die Debatte einbezogenen Fakten durchweg einen Aspekt nicht angemessen würdigen. Sie stellen also keineswegs eine Bewertung aller relevanten Fakten dar, und können allein aus diesem Grund weder zu einem zutreffenden noch zu einem gültigen Urteil kommen.
Bei einer umfassenderen Betrachtung der Situation, einschließlich der unerwünschten Folgen der Corona-Verordnungen, drängt sich eine bittere Erkenntnis auf. Nicht nur Covid-19 kann Menschenleben fordern, auch die Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie können tödliche Konsequenzen haben.Footnote 7 Diese Realität klingt in vielen Beiträgen an. Dennoch wird sie bislang nicht explizit thematisiert, sondern ist ein blinder Fleck der Debatte.Footnote 8 Ihr Ausblenden führt dazu, dass die ethischen Überlegungen am Kern des Problems vorbeigehen. Werden diese nicht intendierten Folgen der Antipandemiepolitik mit berücksichtigt, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die Situation stellt sich nunmehr als Dilemma dar, bei dem die Frage zu beantworten ist, ob es moralisch legitim oder sogar geboten ist, Menschenleben zu opfern, um andere Menschen zu retten. Dieses Dilemma tritt klar zutage, wenn man sich die negativen gesundheitlichen Folgen der Eindämmungsmaßnahmen vor Augen führt, die bis zum Tod reichen können. Die folgenden Beispiele wollen keine detaillierte Folgenabschätzung leisten. Vielmehr sollen sie die jeweiligen Mechanismen, ihre gesundheitsschädlichen und tödlichen Folgen verdeutlichen.
Der Aufruf, zu Hause zu bleiben, das Herunterfahren des öffentlichen Lebens und die Kontaktbeschränkungen führen zur deutlichen Reduktion von Bewegung im Alltag. Die Möglichkeit, dies durch Individualsport auszugleichen, ist nicht immer gegeben. Nicht nur Personen, die in häuslicher Quarantäne leben, leiden daher unter Bewegungsmangel. Als Mangel gilt bei Erwachsenen, wenn sie sich pro Woche weniger als zweieinhalb Stunden mit mittlerer Intensität bewegen. Kinder sollten sogar täglich mindestens eine Stunde toben, turnen oder laufen (WHO 2010, S. 7–8).
Bewegungsmangel gilt als einer der führenden Risikofaktoren für nicht ansteckende Krankheiten (Guthold et al. 2018). Ganz allgemein erhöht er das Risiko eines vorzeitigen Todes, insbesondere auf Grund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Bluthochdruck, Brust- und Darmkrebs, Typ-2-Diabetes und Osteoporose (Warburton et al. 2010). Neuere Studien weisen überdies darauf hin, dass Bewegungsmangel für 3–8 % der Demenzfälle verantwortlich zeichnet (Sallis et al. 2016). Parallel muss man sich vor Augen führen, dass selbst Patientinnen und Patienten ohne Vorerkrankungen, die temporär mobilitätseingeschränkt sind (etwa durch die Verletzung einer Extremität und Angewiesensein auf Gehstützen), häufig präventiv mit Antikoagulantien behandelt werden, da die mit der Mobilitätseinschränkung einhergehende Verringerung der Muskelaktivität das Thromboserisiko erhöht (Encke et al. 2015). Somit lässt sich ermessen, dass diese Politik sowohl langfristig lebensverkürzend als auch unmittelbar lebensbedrohlich ist.
Auch die Eingriffe in die Wirtschaft, die bereits nach kurzer Zeit zu höherer Arbeitslosigkeit und Rezession geführt haben (Bundesagentur für Arbeit 2020), wirken sich auf die Gesundheit aus. So ist Arbeitslosigkeit mit einem schlechteren Gesundheitszustand und kürzerer Lebenserwartung assoziiert (Scholz und Schulz 2007), zwischen Rezession und Suizid besteht ein positiver Zusammenhang (Hawton und Haw 2013; Chang et al. 2013). Während diese Folgen weit überwiegend auf die ergriffenen politischen Maßnahmen zurückzuführen sind, stellt sich die weltweite Gesamtsituation komplexer dar. So ist die Zunahme der weltweiten Armut – die Weltbank geht in einer Schätzung davon aus, dass 40–60 Mio. Menschen in die extreme Armut abrutschen werden, womit ihre physische Existenz unmittelbar bedroht ist (Gerszon Mahler et al. 2020) – sowohl als Folge der Pandemie wie auch der ergriffenen Gegenmaßnahmen zu erklären.
Eine umfassende Folgenabschätzung hätte viele weitere Faktoren zu berücksichtigen. Dazu zählen etwa psychosoziale Folgen, wie Stress, Vereinsamung, Alkoholabhängigkeit oder häusliche Gewalt, ebenso wie die befürchtete Zunahme bzw. Verschlimmerung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen. In welchem Umfang sich dauerhafte Entwicklungs- und Bildungsdefizite bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere solchen mit spezifischem Förderbedarf, zeigen werden, ist eine noch offene Frage (Redaktionsnetzwerk Deutschland 2020).
Die Erkenntnis, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Infektionen selbst negative gesundheitliche Folgen haben, die bis zum Tod reichen können, verändert die Struktur der Situation und damit das ethische Problem, mit dem die Pandemie ganz zweifelsohne konfrontiert. Abstrakt beschrieben haben wir es mitnichten mit einer Gemengelage von Werten oder Gütern zu tun, aus der die unter den gegebenen Umständen bestmögliche Kombination zu wählen ist. Sondern es geht um die Frage, ob die Rettung von Menschenleben ein Handeln rechtfertigt, das andere Menschen, aber hoffentlich eine geringere Zahl, das Leben kostet.
In der bundesrepublikanischen Normenordnung ist diese Frage zu verneinen. Ein solches Vorgehen ist unvereinbar mit der Menschenwürde. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2006 für eine analoge Situation, die Erlaubnis zum Abschießen von als Waffen missbrauchten Flugzeugen, klargestellt (1 BvR 357/05). In der ethischen Literatur werden dagegen unterschiedliche Auffassungen vertreten, und auch die moralische Intuition von Menschen kommt zu unterschiedlichen Antworten.