Meinungsunterschiede zwischen sozialen Gruppen
Eine Voraussetzung für verzerrte politische Entscheidungen zu Ungunsten bestimmter sozialer Gruppen ist, dass diese sich substantiell in dem unterscheiden, was sie von der Politik erwarten beziehungsweise fordern. In einem ersten Schritt ermitteln wir deshalb, wie groß die Meinungsunterschiede in den von uns untersuchten Fragen sind. Im Folgenden betrachten wir vorwiegend Einstellungsunterschiede zwischen Einkommensgruppen, greifen aber für den Vergleich immer wieder auch auf andere Gruppen zurück. Für jede Frage im Datensatz wurde der Anteil der Befragten in unterschiedlichen Untergruppen ermittelt, der einer Politikänderung zustimmt. Vergleicht man die Zustimmungswerte miteinander, wird zunächst ein positiver Zusammenhang sichtbar: Wird die abgefragte Politikänderung von einer Gruppe positiv beurteilt, stimmt auch die Vergleichsgruppe in höherem Maße zu. Allerdings kann sich der Grad der Zustimmung deutlich unterscheiden, und wie weit die Antworten von zwei Gruppen voneinander abweichen, hängt davon ab, wie weit die Einkommen auseinanderliegen. Bei den Befragten der untersten beiden Einkommensgruppen sind die Einstellungen am ähnlichsten. Die Anzahl von Fragen mit größeren Meinungsunterschieden nimmt schrittweise zu, umso weiter die Einkommen voneinander abweichen. Obwohl in allen Fällen eine positive Korrelation zwischen den Antwortanteilen vorliegt, gibt es doch zahlreiche Sachfragen, in denen Einkommensgruppen unterschiedlicher Meinung sind.
Um einen systematischen Eindruck zu bekommen, wie groß die Meinungsunterschiede zwischen Einkommensgruppen sind, wird für jede Frage die absolute Differenz zwischen den Antwortanteilen von zwei Gruppen errechnet. Abb. 1 zeigt den Mittelwert, die Standardabweichungen vom Mittelwert sowie die Spannbreite der Meinungsunterschiede für unterschiedliche Einkommensgruppen. Verglichen werden die Einstellungen von vier Einkommensperzentilen mit denen von Befragten, deren Haushaltseinkommen im untersten Perzentil liegt. Mit wachsendem Einkommensabstand nehmen auch die Meinungsunterschiede zu, was sowohl höhere Mittelwerte als auch größere Maximalwerte zeigen. Während durchschnittlich nur wenige Prozentpunkte die Antworten der unteren beiden Einkommensgruppen trennen, steigt dieser Wert auf mehr als 16 Prozentpunkte, wenn die niedrigste mit der höchsten Gruppe verglichen wird. In manchen Fragen liegen zwischen den beiden Enden der Einkommensverteilung 50 Prozentpunkte.
Mit Blick auf das Antwortverhalten von Befragten mit unterschiedlich hohem Einkommen alleine lässt sich nicht abschließend beantworten, ob die dargestellten Abweichungen groß sind. Dies wird erst im Vergleich mit den Unterschieden zwischen anderen sozialen Gruppen deutlich. Um eine direkte Gegenüberstellung der Meinungsunterschiede zu ermöglichen, stellt Abb. 2 die durchschnittlichen Unterschiede zwischen Einkommensgruppen denen anderer Vergleichsgruppen gegenüber. Die linke Teilgrafik enthält neben den Einkommensgruppen auch die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen, Männern und Frauen, Unter-30- und Über-60-Jährigen sowie von Befragten mit hohem oder niedrigem Bildungsabschluss. Befragte aus unterschiedlichen Einkommensperzentilen, so lässt sich aus dieser Abbildung entnehmen, unterscheiden sich in ihren Einstellungen stärker als andere Vergleichsgruppen.
In der rechten Teilgrafik von Abb. 2 werden Meinungsunterschiede zwischen Berufsgruppen denen der Einkommensgruppen gegenübergestellt. Bei den Berufsgruppen dienen die un- und angelernten Arbeiter_innen als Referenzgruppe. Dargestellt werden die Meinungsunterschiede zwischen den auf der vertikalen Achse abgetragenen Berufsgruppen und dieser Referenzgruppe. Drei Punkte verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens bestätigt sich in der Tendenz, dass mit der sozialen Distanz zweier Vergleichsgruppen auch die Größe der Meinungsunterschiede zunimmt. Zweitens sind die Einstellungsunterschiede zwischen Facharbeiter_innen und einfachen Angestellten einerseits und un- und angelernten Arbeiter_innen andererseits größer als die zwischen Befragten des 1. und des 10. Perzentils. Die Unterschiede zu den Bessergestellten mit entweder hohem Einkommen oder aus höheren Berufsgruppen sind dagegen ähnlich groß. Drittens verdeutlicht der Vergleich mit der linken Teilgrafik, dass die Meinungsunterschiede zwischen sozioökonomischen Gruppen größer als die zwischen anderen sozialen Gruppen sind.
Bis hierher haben wir alle Frage zusammen analysiert, doch es ist möglich, dass Meinungsunterschiede in manchen Politikfeldern besonders groß, in anderen geringer sind. Wo Meinungsunterschiede stärker ausgeprägt sind, ist der Spielraum für eine selektive Responsivität der politischen Entscheidungsträger besonders groß. Die linke Teilgrafik in Abb. 3 stellt für sechs Politikfelder dar, wie stark das Antwortverhalten von Befragten mit unterschiedlichem Einkommen voneinander abweicht. Die Grafik verdeutlicht, dass es keine Politikfelder gibt, in denen Einkommensgruppen identische Einstellungen haben. In allen sechs Bereichen weichen die Meinungen so stark voneinander ab, dass politische Entscheidungen einseitig die Präfenzen einzelner Gruppen reflektieren können.
In der rechten Teilgrafik von Abb. 3 wird erneut für sechs Politikfelder die Größe der Meinungsunterschiede dargestellt. Doch diesmal werden nicht nur Einkommensgruppen, sondern auch Befragte aus anderen Kategorien berücksichtigt. Drei Beobachtungen stechen ins Auge. Erstens sind die Unterschiede zwischen Berufs- und Einkommensgruppen in allen Politikbereichen größer als zwischen Ost- und Westdeutschen oder Männern und Frauen. Auch die Meinungsunterschiede von Befragten mit unterschiedlichem Bildungsabschluss fallen mit Ausnahme der Migrationspolitik geringer aus. Zweitens fallen die Unterschiede in der Gesellschaftspolitik kleiner als in anderen Politikfeldern aus, während dies gleichzeitig das Politikfeld ist, in dem Jung und Alt besonders stark voneinander abweichende Antworten geben. Dies könnte ein Anzeichen für einen gesellschaftlichen Wertewandel sein, der in anderen Politikbereichen nicht zu beobachten ist.
Die bisher vorgenommenen Auswertungen belegen, dass das Einkommen die politischen Einstellungen beeinflusst und die Positionen umso weiter voneinander abweichen, je höher die soziale Distanz ist. Da die zugrundeliegenden Kategorien nicht immer trennscharf zwischen verschiedenen Gruppen unterscheiden und insbesondere das Einkommen der Befragten nur näherungsweise bestimmt wird, kann von einer zurückhaltenden Schätzung der Meinungsunterschiede ausgegangen werden, die die tatsächlichen Differenzen eher unter- als überschätzt. Im nächsten Abschnitt wird untersucht, ob politische Entscheidungen die Präferenzen der Bürger_innen widerspiegeln.
Responsivität
In diesem Abschnitt gehen wir erstens der Frage nach, ob sich die öffentliche Meinung generell in den Entscheidungen des Bundestages widerspiegelt, und untersuchen zweitens, ob die Meinungen finanziell besser gestellter Gruppen stärker berücksichtigt werden als die schlechter gestellter Gruppen. Um zu untersuchen, inwieweit öffentliche Meinung und politische Entscheidungen übereinstimmen, wurde für jede einzelne Sachfrage erhoben, ob die in der Frage vorgestellte Politikänderung tatsächlich eingetreten ist oder nicht. In der Datenbank ist erfasst, ob die Politikänderung bis zu zwei Jahre oder bis zu vier Jahre nach der Umfrage eingetreten ist. Die folgende Analyse verwendet nur die Information des Zweijahreszeitraumes, da für die Umfragen aus den Jahren 2012 und 2013 noch nicht abschließend erhoben werden konnte, welche politische Entscheidung vier Jahre nach der Umfrage getroffen wurde. Für die restlichen Jahre wurden alle Analysen mit den Variablen zu beiden Zeiträumen durchgeführt, um zu überprüfen, ob die Ergebnisse durch die Wahl des Zeitraumes verändert werden. Die Ergebnisse unterscheiden sich kaum, da fast 90 % der politischen Änderungen, wenn sie durchgeführt wurden, innerhalb von zwei Jahren nach der Umfrage umgesetzt wurden.
In einem ersten Schritt wird mithilfe einer logistischen Regression der Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Zustimmung aller Befragten zur jeweils vorgeschlagenen Politikänderung und dem Eintritt der Politikänderung untersucht. Das Ergebnis ist in Tab. 1 in der ersten Spalte abgetragen. Der Koeffizient hat zwar ein positives Vorzeichen, der Zusammenhang ist aber in dem geschätzten Modell nicht statistisch signifikant. Dies könnte entweder bedeuten, dass die Politik sich generell nur wenig an den Meinungen der Bevölkerung orientiert, oder aber, dass sie die Interessen einiger Gruppen berücksichtigt, die anderer aber nicht, was sich dann über alle Befragten hinweg ausgleichen würde.
Tab. 1 Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und Politikänderung, nach Einkommensgruppen
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, wird in einem zweiten Schritt der Zusammenhang zwischen der Meinung einzelner Einkommensperzentile und Politikveränderungen untersucht. Es wird geschätzt, welchen Effekt die Zustimmung derjenigen in der Mitte der Einkommensverteilung (50tes Perzentil), derjenigen an den unteren 10 % und derjenigen an den oberen 90 % der Einkommensverteilung auf die Umsetzung von Politikänderung hat.Footnote 6 Die Ergebnisse der jeweiligen logistischen Regressionen sind in den Spalten 2 bis 4 von Tab. 1 angegeben und in Abb. 4 grafisch dargestellt. Sie zeigen ein klares Bild: Je höher das Einkommen, desto stärker stimmen politische Entscheidungen mit den Meinungen der Befragten überein. Wenn beispielsweise nur 20 % der obersten Einkommensgruppe eine Politikänderung befürworten, dann liegt die Wahrscheinlichkeit für deren Umsetzung bei 39 %. Stimmen allerdings 80 % der Befragten aus der oberen Einkommensgruppe einer Politikänderung zu, so liegen deren Chancen auf Umsetzung bei fast 65 %. Dieser deutlich positive und statistisch signifikante Zusammenhang gilt nur für die oberste Einkommensgruppe. Zwar ist der Zusammenhang zwischen Befürwortung und Umsetzung auch für die mittlere Einkommensgruppe leicht positiv, aber nur sehr schwach. Für die unterste Gruppe zeigt sich sogar ein leicht negativer Zusammenhang. Für mittlere und niedrige Einkommen besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Grad der Zustimmung zu einer Politikänderung einerseits und der Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung andererseits. Gegenüber diesen beiden Gruppen ist die Politik nicht responsiv.
Die bisherigen Befunde zeigen eine Schieflage der Responsivität zugunsten oberer Einkommensschichten. Allerdings gibt es viele Themen bzw. Fragen, bei denen die Meinung zwischen verschiedenen Einkommensgruppen nicht weit auseinanderliegt (siehe oben). In diesen Fällen kann nicht festgestellt werden, ob die Politik ihre Entscheidungen stärker an den höheren Einkommensschichten orientiert oder nicht, weil alle dasselbe wollen.
Wie aber entscheidet die Politik, wenn Einkommensgruppen widerstreitende Interessen haben? Diese Frage wird im nächsten Schritt untersucht, in dem wir nur jene Fragen betrachten, in denen die Meinungsunterschiede zwischen den jeweils verglichenen Einkommensgruppen mehr als zehn Prozentpunkte betragen.Footnote 7 Verglichen werden zum einen das unterste mit dem obersten Perzentil und zum anderen der Median mit dem obersten Perzentil. Die Ergebnisse der logistischen Regressionen sind in Tab. 2 dargestellt. Erstens fällt auf, dass es zwischen der obersten und der untersten Einkommensgruppe deutlich häufiger große Meinungsunterschiede gibt, als dies zwischen dem Median und dem obersten Perzentil der Fall ist. Aus diesem Grund variiert die Fallzahl abhängig davon, welche Gruppen miteinander verglichen werden. Zweitens wird deutlich, dass der oben gefundene Zusammenhang stärker ist, wenn wir uns nur Fragen anschauen, bei denen die Meinungen zwischen den Einkommensgruppen stark auseinandergehen. Für Fragen, bei denen sich die unterste und die oberste Einkommensgruppe stark in ihren Meinungen unterscheiden (Spalten 1 und 2 in Tab. 2), zeigt sich ein klarer Zusammenhang: In der obersten Einkommensgruppe ist die Zustimmung zu Politikänderungen stark positiv mit deren Umsetzung korreliert, in der untersten Einkommensgruppe negativ. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung sogar sinkt, wenn mehr Menschen aus der untersten Einkommensgruppe eine bestimmte politische Entscheidung befürworten. Allerdings ist der gefundene Zusammenhang nur für die oberste Einkommensgruppe statistisch signifikant. In jedem Fall zeigen diese Ergebnisse aber, dass die Politik in ihren Entscheidungen systematisch die Meinungen oberer Einkommensschichten reflektiert, wenn große Meinungsunterschiede bestehen. Dieser Befund gilt auch dann, wenn die oberste mit der mittleren Einkommensgruppe verglichen wird. In Spalte 3 und 4 von Tab. 2 sehen wir, dass hier ein ganz ähnlicher Zusammenhang besteht.
Tab. 2 Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und Politikänderung bei Meinungsunterschieden
Die beschriebenen Ergebnisse sind grafisch in Abb. 5 dargestellt, in der wieder die geschätzte Wahrscheinlichkeit einer Politikänderung in Abhängigkeit von dem Anteil der Befürworter_innen abgetragen ist. Im linken Teil der Abbildung ist diese Wahrscheinlichkeit für die unterste und die oberste Einkommensgruppe abgebildet, wenn diese nicht einer Meinung sind. Der rechte Teil der Abbildung zeigt die Ergebnisse für die mittlere und die oberste Einkommensgruppe. Sie sind fast identisch mit dem Vergleich zwischen unterster und oberster Gruppe, was das Gesamtergebnis dieses Abschnitts noch schwerwiegender erscheinen lässt. Denn insgesamt können wir nun feststellen, dass die Politik des Bundestages häufiger auf die Ansichten und Anliegen der obersten Einkommensschicht reagiert, die Meinungen der unteren und mittleren Einkommensschichten dagegen kaum beachtet oder sogar missachtet werden. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn wir uns Fälle anschauen, in denen die oberste Einkommensgruppe andere politische Entscheidungen befürwortet als die anderen Einkommensgruppen.
Um systematisch zu erfassen, wie Responsivität mit der Größe der Meinungsunterschiede zusammenhängt, schätzen wir im dritten Schritt erneut dieselben Modelle, fügen jedoch eine Interaktion zwischen der Meinung der untersten und mittleren Einkommensgruppen einerseits und der jeweiligen Differenz zur obersten Gruppen andererseits ein. Durch diese Vorgehensweise lässt sich erfassen, ab welchem Grad von Meinungsunterschieden signifikante Responsivitätsunterschiede vorliegen. Die Ergebnisse sind in Tab. 3 enthalten und zur einfacheren Interpretation in Abb. 6 grafisch dargestellt.
Tab. 3 Interaktion von Meinungen und Meinungsunterschieden
In der linken Teilgrafik von Abb. 6 wird der marginale Effekt der untersten Einkommensgruppe in Abhängigkeit von den Meinungsunterschieden zur obersten Einkommensgruppen dargestellt. Ein signifikant positiver Effekt liegt nur dann vor, wenn die Einstellungen nur minimal voneinander abweichen. Weichen die Einstellungen zwischen Arm und Reich jedoch um mehr als 15 Prozentpunkte voneinander ab, besteht für die unterste Gruppe ein negativer, für die oberste jedoch ein signifikant positiver Effekt. Auf eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Präferenzen und politischen Entscheidungen können untere Einkommensgruppen nur hoffen, wenn diejenigen mit hohen Einkommen dasselbe wollen. Weichen sie jedoch voneinander ab, spiegeln politische Entscheidungen die Präferenzen einkommensstarker Gruppen wider. Ein sehr ähnliches Muster zeigt sich beim Vergleich der mittleren mit der obersten Einkommensgruppen, weshalb wir auf eine gesonderte grafische Darstellung verzichten.
Schließlich ließe sich vermuten, dass unterschiedliche Regierungskoalitionen in unterschiedlichem Maß responsiv gegenüber den von uns untersuchten Einkommensgruppen sind. In den Jahren von 1998 bis 2013 gab es drei Koalitionen, die bis 2005 von der SPD, danach durch die CDU geführt wurden. Um die Fallzahlen nicht zu stark zu reduzieren, unterteilen wird die Gesamtperiode nur in zwei Zeiträume, die die Schröder- und Merkel-Regierungen umfassen. Für diese beiden Vergleichszeiträume führen wir die gleichen Analysen wie zuvor durch. Auch bei dieser getrennten Analyse weicht das Muster nicht von den vorherigen Ergebnissen ab, wenngleich die Schätzung aufgrund der geringen Fallzahlen etwas ungenauer ausfällt. Aber sowohl bei den SPD- als auch den CDU-geführten Regierungen können einkommensschwache Gruppen nur dann hoffen, dass ihre Anliegen umgesetzt werden, wenn die Meinungsunterschiede zu der höchsten Einkommensgruppe gering sind. Weichen die Präferenzen stark voneinander ab, folgen die Regierungen den Bürger_innen mit hohem Einkommen (Abb. 7).