I.

Am 20. Februar 1764 schreibt der 25-jährige Philosophie- und Mathematikprofessor Thomas Abbt aus der kleinen Universitätsstadt Rinteln in der Grafschaft Schaumburg-Lippe an Moses Mendelssohn: »Mein Leben wird nicht leicht so merkwürdig werden, daß es je im Druck erschiene, aber bey den Zeitpunkten meines Glücks, meines Fortgangs, und meiner Fehler, die ich für mich selbst niedergeschrieben, steht es angemerkt, daß meine erste Schrift [Vom Tode für das Vaterland] mir die gewogene Bekanntschaft des Herrn Nicolai und Hrn. Moses, und mein nachmahliger Aufenthalt in Berlin beider Freundschaft erworben habe«.Footnote 1 Abbts Ahnung sollte sich erfüllen: Sein Leben und Werk werden bis heute primär im Zusammenhang der Freundschaft zu Nicolai und Mendelssohn wahrgenommen. Seiner tatsächlichen Bedeutung wird das nicht gerecht, blickt man auf das gewichtige philosophische Werk, das Abbt in den wenigen Jahren bis zu seinem frühen Tod mit 27 Jahren hinterlassen hat. Zudem war er einer der produktivsten und meistgelesenen Literaturkritiker seiner Zeit und prägte die Berliner Literaturbriefe über einen längeren Zeitraum und mit mehr Beiträgen als Lessing; die Anzahl von Abbts 64 Briefen wird nur von Mendelssohns 83 Rezensionen übertroffen. Schließlich war Abbt ein bedeutender Vorläufer der deutschen Klassik, etwa hinsichtlich der Idee und Praxis klassizistischer Spracherneuerung und seiner Geschichtstheorie. Beides hat Johann Gottfried Herder starke Impulse gegeben. Im Folgenden aber geht es um einen zentralen, bislang wenig beachtetenFootnote 2 Werkaspekt: Polemik begleitete Abbts Wirken zeitlebens, sowohl als Praxis als auch in der theoretischen Reflexion. Das machte ihn nicht nur zum idealen Nachfolger Lessings bei den Literaturbriefen, sondern hat in Hinblick auf die polemischen Verfahren der Aufklärungsepoche paradigmatische Relevanz.

Idealtypisch kann man unter ›Polemik‹ Sprech- bzw. Schreibweisen verstehen, die sich – als Kunst der diskursiven Kriegführung – durch eine doppelte Zwecksetzung auszeichnen.Footnote 3 Zum einen geht es um die Schwächung bzw. Vernichtung eines polemischen Objekts, zum anderen um die Differenzierung des – simultan anwesenden oder raumzeitlich versetzten – Publikums in eine Pro- und Contra-Fraktion (im Sinne einer ›Polarisierung‹).Footnote 4 Beide Zwecke sind gegenseitig aufeinander verwiesen: Eine soziale Schwächung kann wirksam nur vor Publikum erfolgen; umgekehrt bedarf die Polemik zur Publikumsdifferenzierung eines (personalen) Objekts, um die affektiven Energien im Publikum effizient zu bündeln. Und beide Zwecke realisieren sich jeweils in spezifischen Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen, ein trivial erscheinender Umstand, aus dem sich aber wichtige Konsequenzen ergeben: Erstens ist die Zweckrationalität von Polemik weitgehend unabhängig von den Intentionen des polemisierenden Subjekts, das keine polemischen Absichten haben muss, um erfolgreich Polemik zu betreiben. Zweitens erklärt sich daraus die beträchtliche historische und situative Variabilität polemischer Verfahren: Je nach pragmatischem Kontext wird sich Polemik zur Realisierung ihrer Zwecke sehr unterschiedlicher Mittel bedienen. Allgemein sind diese Mittel sowohl rationaler als auch ästhetischer Natur, weil Polemik zur Überzeugung der relevanten Publikumsfraktionen auf epistemische Begründungszusammenhänge rekurrieren und zugleich zu deren affektiver Überredung ästhetische, etwa rhetorische und narratologische Techniken einsetzen muss. Drittens wird hier der idealtypische Charakter der Begriffsbildung von ›Polemik‹ deutlich: In der kommunikativen Praxis, d. h. in der konkreten Streitpraxis herrscht nicht jene begriffliche Reinheit, wie sie die Definition notwendig erfordert; verschiedene Streitformen vermischen sich, gehen ineinander über und die Hauptzwecke werden von den mannigfaltigen Zwecken in einer konkreten Kommunikationssituation verdrängt. So ist Polemik ihrem Begriff nach konstitutiv einseitig, weil sie zur Realisierung ihrer Hauptzwecke keiner Replik von Seiten des polemischen Objekts bedarf, und sie ist, aufgrund ihres Vernichtungszwecks vor Publikum, nicht-dialogisch; gleichwohl kann sie innerhalb der komplexen sozialen Konstellationen gelebter Streitpraxis nicht im strengen Sinn einseitig bleiben, sondern muss etwa auf die gegnerischen Züge flexibel reagieren oder diese antizipieren, ebenso wird sie häufig in dialogische Formate (etwa in die Kontroverse, die Diskussion oder in die Kritik, s. Abschn. V) übergehen oder damit vielfältige Verbindungen eingehen.Footnote 5 Entsprechend ist Polemik keine Gattung, sondern eine ubiquitäre zweckbestimmte Sprech- und Schreibweise, ein ›Argumentationstyp‹Footnote 6, der in (quasi-)literarischen Gattungen bzw. Formen wie Satire, Pamphlet, Manifest, Libell, Diatribe, Invektive oder in der Technik des wissenschaftlichen Streitgesprächs, der Eristik,Footnote 7 konzentriert Verwendung findet. Ein besonderer Fall ist die Form der Karikatur, bei der es sich, in Anlehnung an die entsprechenden Verfahren der bildenden Kunst, um eine spezielle Technik der polemischen Objekt-Imagination handelt, worin das Objekt ästhetisch derart zugerüstet wird, dass die Publikumsaffekte wirkungsvoll dagegen bzw. gegen die bekämpfte Sache mobilisiert werden können.

Aufgrund dieses Publikumsbezugs sind polemische Verfahren für die historische Genese und Differenzierung von Öffentlichkeit konstitutiv, wobei das Publikum vom polemischen Subjekt als gemäß einer bestimmten Öffentlichkeitsstruktur prä-differenziertes vorgefunden wird. Freilich konstituiert sich Öffentlichkeit nicht nur über polemische Praxis, sondern auch über dialogische, auf (wie immer prekären) ›Konsens‹ hin orientierte Verfahren und über nichtöffentliche, etwa sozioökonomische Produktionsbedingungen. Dennoch ist Polemik entscheidend, vor allem wenn man bedenkt, dass Öffentlichkeit kein homogener Kommunikationsraum ist, sondern in sich in unterschiedliche Partikularöffentlichkeiten gegliedert ist, die sich zwar intern auch wesentlich über dialogische Verfahren reproduzieren,Footnote 8 sich aber gegeneinander in polemischer Abgrenzung konstituieren. Im deutschsprachigen Raum Mitte des 18. Jahrhunderts sah sich die akademische Gelehrtenöffentlichkeit metaphysisch-theologischer, vor allem lutherisch-orthodoxer Provenienz einer neu entstehenden bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit gegenüber und reagiert auf die Bedrohung ihres hegemonialen Status mit heftigen polemischen Mitteln, diskursiven Ausschlussversuchen und Zensurforderungen, während sich umgekehrt auch die neue Öffentlichkeit nur unter Anwendung von Polemik gegen die hergebrachten Öffentlichkeitsstrukturen zu behaupten vermochte. Doch bildete die frühe bürgerlich-literarische Öffentlichkeit selbst keinen homogenen Block, sondern war in heterogene, netzwerkartige, untereinander rivalisierende und fluktuierende Partikularöffentlichkeiten zersplittert, die sich gegenseitig bekämpften, was sich etwa in der polemischen Literaturkritik Abbts oder in dessen Privatkorrespondenz gut ablesen lässt. Im Zusammenhang mit medientechnischen Umbrüchen, etwa der Expansion des Kommunikationswesens, des Zeitschriftenmarktes und der Rezensionskultur,Footnote 9 entstand eine regelrechte »Kultur der Polemik«Footnote 10, was insofern gegenüber früheren Epochen eine quantitative und qualitative Steigerung bedeutete, als Polemik eine erhöhte öffentliche Sichtbarkeit jenseits der begrenzteren akademischen Partikularöffentlichkeiten erfuhr. Dabei ist die Aufklärungspolemik gegenüber modernen oder ›postmodernen‹ FormatenFootnote 11 einem relativ hohen argumentativen Anspruch verpflichtet, weil sich die polemisierende Kultur des aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert gegen die dominierenden traditionellen, theologisch-metaphysischen Gelehrtenkulturen durchsetzen und sich auf deren wissenschaftlichen Gebieten und Methoden profilieren musste. Dieser Logizitätszwang war um 1900 mit der festen Etablierung der bürgerlichen und massendemokratischen Publizistik nicht mehr gegeben. Andere Differenzen hängen mit den medialen Verhältnissen der Schriftkultur des 18. Jahrhunderts zusammen, denen sich Polemik um ihrer Effektivität willen anpassen muss, mit unterschiedlichen Begründungszusammenhängen, Wissensfeldern, kollektiven Stilarten sowie den historisch gepflegten ästhetischen Praktiken, mit denen sich polemische Verfahren oft verbinden.

Am Werk und Wirken Thomas Abbts lassen sich solche Prozesse der polemischen Öffentlichkeitsbildung Mitte des 18. Jahrhunderts exemplarisch nachverfolgen, insofern er als Hauptrezensent des wohl wichtigsten literaturkritischen Organs in Deutschland um 1760 an diesen Prozessen einen nicht unbedeutenden Anteil nahm. Das betrifft zunächst die polemische Praxis. Die antiorthodoxe Stoßrichtung etwa ist bei Abbt wesentlich schärfer ausgeprägt als bei Nicolai und Mendelssohn, weil er hierbei kaum strategische Vorsicht walten ließ und nach Bündnispartnern im offenen Kampf gegen die Orthodoxen suchte. Zugleich richtete sich die Polemik besonders in den Literaturbriefen oft gegen bürgerliche Kollegen, die ihrerseits zur Orthodoxie in einem polemischen Verhältnis standen. Am Beispiel Abbts lässt sich auch zeigen, dass Öffentlichkeitskonzepte als theoretische Einsätze im Prozess polemischer Öffentlichkeitsbildung fungieren konnten: Die späte Schrift Vom Verdienste enthält eine Hierarchie der öffentlichen »Schriftsteller«, deren Rang sich gemäß ihrer Nützlichkeit für den bürgerlich-absolutistischen Staat bestimmt – und worin weder der akademisch-metaphysische noch der theologische Gelehrtentypus einen rechten Platz haben.Footnote 12 Freilich sind es nicht nur solche in engerem Sinn politischen Konzepte, die als polemische Mittel fungierten, sondern etwa auch geschichtstheoretische, metaphysische, theologische oder ästhetisch-klassizistische, wobei hier ebenso die anti-orthodoxe Frontstellung das entscheidende, obschon nicht – entsprechend der internen Heterogenität der bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit – das einzige strukturbildende Moment darstellt; vielmehr sind es komplexe polemische Konstellationen, welche die Logik eines theoretischen Konzepts bis ins Detail bestimmen.

Im begrenzten Rahmen der vorliegenden Studie können solche Konstellationen nur am Rande behandelt werden, stattdessen liegt der Fokus auch auf den reflexiven Aspekten von Polemik bei Abbt und den Literaturbriefschreibern. Polemischen Verfahren eignet eine reflexive Tendenz, zum einen, weil ihr strategischer Charakter selbst dazu drängt: Das Nachdenken über Polemik, über deren Wirkung und Effektivität, gehört zum Geschäft verbaler Kriegskunst konstitutiv dazu und ergibt sich gleichsam organisch aus den Polemiken selbst. Zum andern ist Polemik aufgrund ihres Vernichtungszwecks ethisch verstärkt legitimierungspflichtig, zumal sie selbst oft auf Moral rekurriert: Die Gleichzeitigkeit von moralischem Anspruch und amoralischem Zweck führt zum legitimatorischen Rekurs auf ethische (Streit‑)Normen, der nicht selten selbst polemisch funktional ist, indem etwa eigene polemische Absichten dementiert und nur der gegnerischen Seite unterstellt werden. Kann Polemik somit prinzipiell jederzeit in ihre Reflexion umschlagen, entweder im Rahmen und in Funktion der Polemik selbst oder außerhalb etwa im geschützten Raum der Privatkorrespondenz, so gilt es, die konzeptuellen Rahmen zu betrachten, innerhalb derer sich solche Reflexion entfaltet – und zwar noch bevor Polemik als solche in den reflexiven Blick tritt. Das soll im Folgenden anhand von drei Themenkreisen geschehen, an Abbts theologischer Polemik, seinem polemischen Klassizismus und an seinen Überlegungen zur Öffentlichkeit. Abbts (reform-)theologische Ideen sind nicht intrinsisch, auf der konzeptuellen Ebene polemisch, doch treibt die Aggressivität, mit der sie gegen die Orthodoxie in Stellung gebracht werden, polemologische Reflexion allenthalben hervor (Abschn. II). Dagegen ist Abbts Klassizismus nicht nur polemisch funktional, vielmehr ist Polemik damit schon konzeptuell verbunden, etwa in der Übersetzungstheorie (Abschn. III). Einen noch engeren konzeptuellen Polemik-Bezug weisen die öffentlichkeitstheoretischen Ausführungen auf, ohne dass Polemik in ihrer inneren Verfassung reflektiert würde (Abschn. IV). Der ausdrücklichen Reflexion polemischer Verfahren – wenn auch, dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entsprechend, selten unter dem Stichwort ›Polemik‹,Footnote 13 wohl aber der Sache nach – unter strategischen, ethischen, politischen, epistemologischen und ästhetischen Gesichtspunkten wendet sich Abschn. V zu.

II.

Polemische Verfahren sind variable, funktional bestimmte diskursive Praktiken, die auf gewisse Begründungszusammenhänge rekurrieren müssen, um effektiv zu sein. Bei Abbt sind dies zu einem beträchtlichen Anteil theologische Begründungsstrukturen, weil die anti-orthodoxe Frontstellung die polemische Basiskonstellation darstellt, die sein Denken und Wirken weithin konstituiert. Abbt hatte den Erkenntnisbereich der Metaphysik empfindlich eingeschränkt, ihr die Möglichkeit vernünftiger Einsicht in den göttlichen Weltzusammenhang abgesprochen und sie im Grunde, im Anschluss u. a. an Baumgartens Metaphysica, auf eine erkenntnistheoretisch umgedeutete »Ontologie« beschränkt.Footnote 14 Diese Position mündete in die Debatte mit Mendelssohn über die ›Bestimmung des Menschen‹, bezugnehmend auf das gleichnamige Werk von Johann Joachim Spalding aus dem Jahr 1748 und gebündelt in einer Publikation der Kontroverse im 287. Literaturbrief.Footnote 15 Die Auseinandersetzung hatte eine moralphilosophische Dimension, denn um im Kampf gegen die lutherische Orthodoxie und deren Moralbegriffe eine strategisch günstige Position zu gewinnen, war es nötig, Tugend nicht nur politisch, sondern auch transzendent im Sinn einer umfassenden menschlichen Selbstbestimmung innerhalb des Weltganzen zu fundieren. Abbts Theologie musste somit verschiedenen polemischen Erfordernissen Rechnung tragen. Gegen die orthodoxe Buchstabengläubigkeit musste er die Möglichkeiten der natürlichen Theologie zur Geltung bringen, ohne einem Wolff’schen IntellektualismusFootnote 16 zu verfallen. Entsprechend einer Aufwertung von Sinnlichkeit auf verschiedenen Ebenen musste er die sinnlichen Aspekte des Glaubens im Sinne einer gefühlsmäßig-intuitiven Gotteserkenntnis betonen, ohne sich dem gleichfalls abgelehnten Pietismus anzunähern. Schließlich musste er einen fideistischen Begriff von Offenbarung entwickeln, deren intuitive Gewissheitskriterien eine weitere Prüfung der biblischen Zeugnisse neben der historisch-kritischen erlaubte.Footnote 17

Der Konflikt mit der Orthodoxie entfaltete sich erst im Frühsommer 1764 zur polemisch ausgetragenen Feindschaft. Nicolai hat im 286. Brief einen Beitrag aus den ›Schwarzen Zeitungen‹, den von Christian Ziegra herausgegebenen Hamburgischen Nachrichten aus dem Kreise der Gelehrsamkeit, vom 12. März 1763 polemisch-sarkastisch kommentiert.Footnote 18 Ziegra hatte dort Klotz und Abbt der Blasphemie bezichtigt und ihnen Tod und Verderben gewünscht.Footnote 19 Grund dafür war Abbts positive Rezension von Klotz’ lateinischer, gegen die gelehrte Welt Leipzigs gerichteter und die orthodoxen Methoden des Bibelstudiums verspottender Satire Mores eruditorum im 148. Literaturbrief, Abbts erster Besprechung in den Literaturbriefen.Footnote 20 Ziegra bezieht sich in seinem Beitrag ausschließlich auf Abbts Rezension und auf die darin vorgenommenen Übersetzungen, nicht auf Klotz’ Original, was die Vermutung stützt, dass mehr noch als der ›gottlose Verfasser‹ KlotzFootnote 21 die Literaturbriefschreiber das Ziel von Ziegras Angriff darstellten. Klotz reagierte auf die Attacke mit einem Bündnisangebot an Abbt, den er im November 1764 um die Mitarbeit an seiner neuen Zeitschrift Acta litteraria ersuchte. Abbt gab sich mit Blick auf seine arbeitsintensive Rezensionstätigkeit zurückhaltend, nahm aber das Angebot an: Es werde nämlich »immer nöthiger, dem Ketzergeschrey einiger Leute mit vereinigten Kräften zu widerstehen«.Footnote 22 Die anti-orthodoxe Allianz mit Klotz vertiefte sich in den folgenden Monaten, wovon die private Korrespondenz zeugt, etwa über die Verfolgung Johann Bernhard Basedows oder den zensierenden Eingriff in Abbts Baumgarten-Schrift.Footnote 23 Bei Abbt zeigte sich in der Folge zunehmende Angriffslust und Unversöhnlichkeit, so in einem Brief an Nicolai im Juli 1765: »Eigentlich verdienen die Hamburger Bursche und die ganze Kyrielle der verdammenden und verfolgenden Dummköpfe eine derbe Züchtigung«.Footnote 24 Dagegen fuhr Nicolai eine defensive Strategie gegenüber der »gefährlichen Rotte« der OrthodoxenFootnote 25, auch deshalb, weil er seine neue Allgemeine Deutsche Bibliothek nicht gefährden wollte. Diese sollte möglichst unparteilich ein Abbild der zeitgenössischen deutschen Schriftproduktion liefern: »Die theologischen Bücher begreifen wenigstens das Drittel der neuen Litteratur; und Theologen und die ihnen ähnlich sehen machen einen so wichtigen Theil des Publikums aus, daß ich überzeugt bin, daß die deutsche Bibliothek ihren Beifall hauptsächlich den theologischen Recensionen zu danken hat«, so Nicolai an Abbt am 12. November 1765.Footnote 26 Den neutralen Anspruch wollte Abbt nicht billigen, weil er im Kampf gegen die Orthodoxie eine politische und existenzielle Notwendigkeit erblickte, im Verzicht darauf ein fatales Zeichen von Schwäche und einen Verrat am polemischen Geist der Literaturbriefe. Auch Mendelssohn ist vorsichtig und lehnt Abbts Vorschlag, zum Ende der Zeitschrift ihre Identität offenzulegen, vehement ab.Footnote 27 Die Vorsicht erklärt sich vor allem aus seiner als Jude unsicheren sozialen Position: Als Folge von Abbts polemischen Briefen gegen Justi wurde Mendelssohn aufgrund von Justis Anzeige wegen ›unchristlicher Gesinnung‹ im März 1762 fast des Landes verwiesen.Footnote 28 Und drei Jahre später erhob der junge Karl Friedrich Bahrdt die »liebreiche Beschuldigung«, die Preußische Akademie habe, indem sie Mendelssohns Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften (1763) mit dem ersten Preis würdigte, durch ihn »die christliche Religion bestreiten lassen«.Footnote 29 Weshalb Mendelssohn eine offene Auseinandersetzung mit den Lutheranern scheute, wird vor diesem Hintergrund verständlich.

Der historisch häufige Fall anonymer bzw. pseudoanonymer Polemik ist polemologisch überhaupt interessant, weil das polemische Subjekt dabei – nach einer Formulierung Walter Benjamins – einen Teil seiner »polemischen Autorität« einbüßt und auf polemische ›Prestigeübertragung‹ verzichten muss.Footnote 30 Daran lässt sich ermessen, dass es wichtig ist, zu unterscheiden zwischen real polemisierendem Subjekt und polemischem Subjekt, das sich in der polemischen Performanz gleichsam selbst erschafft und theatralisch als übermächtig inszeniert (s. Anm. 9). Freilich ist Letzteres mit Ersterem vermittelt und bezieht, je nach dessen gesellschaftlicher Stellung, daraus ein beträchtliches Maß an polemischer Schlagkraft. Gleichwohl kann Polemik auch unter Bedingungen gänzlicher oder teilweiser Anonymität effizient sein und greift zum Zweck der Repressionsvermeidung oft auf dieses Mittel zurück. Im Fall der Literaturbriefe handelt es sich eher um Pseudoanonymität, da durchaus allgemein bekannt war, wer zum Kreis um Nicolai gehörte, dennoch bot das System der intransparenten, variablen Autorenkürzel den Rezensenten einen gewissen Schutz, den Mendelssohn nicht leichtfertig preisgeben wollte, auch nicht nach Ende der Publikation der Literaturbriefe: »Unter der Maske erlaubt man sich kleine Thorheiten, die man in der natürlichen Gestalt unanständig finden kann. Ich dächte also, wie liessen den Findling immer ohne Vater unter den Menschenkindern herumwandeln. Wollen die Herrn Pauli, Bergmann, Ziegra u.s.w. so böse seyn, ihm die Augen auszukratzen, oder gar das junge Gehirn auszuschlagen?«.Footnote 31 Nicht nur von den Lutheranern geht für Mendelssohn die Bedrohung aus: Das »junge Gehirn«, der polemische Geist der Literaturbriefe, kann nur dann wachsen und sich in der neuen bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit entfalten, wenn es vor den Angriffen seiner älteren, mächtigeren Gegenspieler einstweilen durch eine gewisse Anonymität geschützt ist.

Trotz seiner Bedenken ließ Nicolai im September 1765 eine antiorthodoxe Streitschrift Abbts drucken, eine Satire mit dem Titel Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effigie zu haltenden erwünschten Evangelisch-Lutherischen Auto da Fe. Auch dieser Druck erfolgte unter Bedingungen der Pseudoanonymität, denn obwohl es weder Verfasser noch Verleger nennt, konnte das Werk aufgrund textueller und paratextueller Signale unschwer auf Nicolai und dessen Kreis zurückgeführt werden, wie es denn auch in der bald erscheinenden Besprechung in den Hamburgischen Nachrichten am 11. Oktober 1765 mit Verweis auf Mendelssohn (!) und die Literaturbriefschreiber geschah.Footnote 32 Nicolai entschloss sich zu dem Wagnis wohl nicht nur, um seinen hochgeschätzten Mitarbeiter Abbt nicht zu kränken, sondern auch deswegen, weil ihn der Inhalt der Schrift offensichtlich überzeugt und er den unparteiischen Anspruch des neuen Rezensionsorgans als illusionär erkannt hat. Die »deutsche Bibliothek« mache, so Nicolai an Abbt, »in der orthodoxen Welt eben so viel Redens […], als die Br. der neuen Litteratur in der witzigen Welt«.Footnote 33 Das fiktive Impressum »Hamburg 1766« ist hier Moment der satirischen Erzählsituation, wonach das Ziel der Polemik, die Hamburger Orthodoxie, selbst den anonymen Erzähler stellt: Die (extradiegetische) Anonymität der Publikation wird intradiegetisch nutzbar gemacht. Der Erzähler berichtet als Leser der Hamburgischen Nachrichten und Vertrauter Ziegras – der ihm Hoffnung auf die »Stelle eines Familiaris bey der neuen Inquisition« gemacht hat – von den Plänen für ein lutherisches Inquisitionsgericht, das aber, weil die Angeklagten in Fürstengunst stünden, vorläufig nur in effigie abgehalten werden könne.Footnote 34 Die antiorthodoxe Polemik wird damit aus einer imaginären Innensicht entwickelt, was die Realisierung einer doppelten polemischen Absicht erlaubt. Erstens erneuert Abbt den Vorwurf der inquisitorischen, bösartigen, irrationalen, dogmatischen, intoleranten und scheinheiligen Gesinnung der Orthodoxen, deren verdecktes Ziel die theokratische Herrschaft und Versklavung des Volkes im Namen des Christentums sei. Zweitens klärt er die Fronten, indem er die einzelnen gegnerischen Fraktionen und deren Hauptvertreter auflistet und als potenzielle Bündnispartner im anti-orthodoxen Kampf behandelt, nämlich die antiorthodoxe Reform- und Aufklärungstheologie (Christian Tobias Damm, Johann Bernhard Basedow, Wilhelm Abraham Teller), die neologische Bibelkritik (Johann David Michaelis, Johann August Ernesti, Johann Salomo Semler und Johann Joachim Spalding), Deismus und natürliche Theologie (u. a. Mendelssohn), sowie die antiorthodoxe Satire und Literaturkritik, der er sich unter Nennung seines Autorenkürzels »B.« selbst zurechnet.Footnote 35 Die doppelte polemische Zwecksetzung, die Schwächung des polemischen Objekts und die Publikumsdifferenzierung (s. Abschn. I), wird hier sehr deutlich, durch die Nennung jener Publikumsfraktionen, die es einzunehmen gilt – im Grunde alle wichtigen zeitgenössischen nicht-orthodoxen theologischen Hauptströmungen –, und durch den impliziten Aufruf, gemeinsam den Kampf aufzunehmen.

Die Satire enthält auch eine reflexiv-poetologische Dimension, sofern am Beispiel der orthodoxen, ›inquisitorischen‹ Polemik einige Grundzüge polemischer Verfahren metaphorisch in den Blick treten. So findet die geschilderte Prozession einer Bildnis-Verbrennung vor wohlgesonnenem Publikum, vor einer ihren »Seelenhirten« Ziegra und Goeze, den reflexiv-polemischen Subjekten, »zujauchzenden« frommen Gemeinde statt.Footnote 36 Dabei werden die Beschuldigten nicht als reale Personen vernichtet, sondern nur deren Bildnisse, entsprechend dem imaginären Charakter des polemischen Objekts, das sich gegenüber den physisch existierenden, innerhalb der symbolischen Prozession jedoch nur als Abwesende gegenwärtigen Individuen oder Gruppen gleichsam verselbstständigt. Auch die theatralischen Momente geraten in den reflexiven Blick: Inszeniert wird auf einer Schaubühne und in einem Schauprozess der Kampf eines überlegenen polemischen Subjekts gegen grotesk entstellte polemische Objekte – ein Kampf, aus dem Ersteres siegreich hervorgeht und der mit dem nicht-tragischen Untergang von Letzteren endet. Somit gleicht Polemik als pseudo-dramatische Form eher der Komödie oder HarlekinadeFootnote 37 als der Tragödie.

III.

Trotz der reflexiven Aspekte ist Abbts theologische Polemik primär eine Praxis. Die theologischen Konzeptionen, die Abbt gegen die Orthodoxie ins Feld führt, sind nicht, wie Abbts Öffentlichkeitskonzept, intrinsisch, ihrem Begriff nach polemisch. Beim Klassizismus ist das anders; auch dieses Konzept ist polemisch funktional, doch das Polemische ist hier Teil des Klassizismus-Konzepts selbst. Die neue bürgerliche Öffentlichkeit und künftige deutsche Nation bedarf einer neuen ästhetischen Kultur, einer neuen Sprache und eines neuen Sprachbewusstseins. Vorbild und positiver Bezugspunkt ist die Antike, bei Abbt insbesondere die römischen Historiker (wie Sallust oder Tacitus) und (Satiren‑)Dichter (Horaz und Juvenal), sowie die lateinische Sprache der Philosophie, Dichtung und Geschichtsschreibung. Ziel ist es, dem gegenwärtigen deutschen Geistesleben eine eigene Klassizität zu verschaffen, die es auch kommenden Epochen zum Vorbild macht.Footnote 38 Dazu gehört entscheidend die Vervollkommnung der deutschen Sprache durch die pflegende Hinwendung zur deutschen Prosa nach dem »Muster« des Lateinischen.Footnote 39

Polemisch ist das Konzept in mehrerlei Hinsicht.Footnote 40 Auch hier muss sich die sprachlich-ästhetisch erneuerte bürgerliche Kulturnation als Ganze gegen außen behaupten, wozu es einer hinreichenden inneren Einheit und Disziplin bedarf. Abbt verwendet das Gleichnis eines Kriegsbataillons, das dem Individuum die Richtung vorgibt, dafür aber einen »Befehlshaber« braucht, der als einziger sieht, wenn »das Ganze seinen Zweck verfehle«.Footnote 41 Gemeint sind jene Intellektuellen, die innere ideologische Einheit erzeugen, indem sie die Öffentlichkeit kontrollieren wie der Feldherr seine Armee (s. Abschn. IV). Die wichtigste Technik, den eigenen Sprachgeist des Deutschen vermittels der Beschäftigung mit den antiken Mustern zu entfalten, ist Übersetzung, die ihrerseits polemische Züge hat. Denn zum einen dient der übersetzende Rückgang auf die alten Sprachen und auf das ›Original‹ dazu, sich gegen ›verfälschende‹ Übersetzungen in Stellung zu bringen. Das zeigt sich schon in Abbts erster Publikation, die 1757 im Rückgriff auf den Tanach die Frage zu beantworten versucht, »ob Gott selbst Mosen begraben habe« und zur Rechtfertigung seiner Übersetzung dem Leser »den ganzen Vertheidigungsplan kurz vor Augen« legt.Footnote 42 Es zeigt sich auch später im Herbst 1765, als sich Abbt mit zwei neuen Tacitus-Übersetzungen beschäftigt, die in seinen Augen dem klassischen Anspruch nicht gerecht werden.Footnote 43 Beide Übersetzungen würden, so Abbts brieflich vorgetragene Kritik, den subtilen lateinischen Sprachgeist bei Tacitus, dessen »Kürze«, »Schreibart« und »Denkungsart« verfehlen.Footnote 44 Dagegen soll eine sich an Tacitus’ Latein anschmiegende Übersetzung erst die eigentümliche »Macht der deutschen Sprache« entfalten, die durch den zeitgenössischen defizitären Sprachgebrauch gehemmt wird.Footnote 45 Zum anderen dient das klassizistische Übersetzungskonzept dazu, sich polemisch gegen prinzipiell fehlgeleitete Übersetzungspraktiken zu wenden, wie die Übersetzung zeitgenössischer lateinischer Schriften. Im 213. Literaturbrief polemisiert Abbt gegen eine anonyme Übertragung von Klotz’ Mores eruditorum. Letztere, so Abbt, seien »mit Vorsatze lateinisch geschrieben« und was den Unbekannten auf den »unseligen Einfal gebracht« habe, sie zu verdeutschen, »würde schwer zu rathen seyn, wenn nicht bey gewissen Köpfen alles wiedersinnische leichter zu erklären wäre, als das Vernünftige«.Footnote 46 Das Problem ist nicht allein die mangelnde Qualität der Übersetzung, sondern vor allem die Verkennung und Verkehrung des klassizistischen Zwecks zeitgenössischer lateinischer Schriften durch deren Verdeutschung. Das Verfertigen solcher Werke in der Gegenwart erachtet Abbt, virtuose Beherrschung des Lateinischen vorausgesetzt, als legitimes klassizistisches Verfahren, um den Deutschen die alten Sprachen als »Muster« nahezubringen, ebenso wie die originalgetreue Übersetzung der antiken Literatur. Die Übersetzung von Ersteren aber neutralisiert und pervertiert die klassizistische Idee.

Hat Abbts Klassizismus in dieser Hinsicht spezielle polemische Objekte, sind drei allgemeine polemische Hauptobjekte zu nennen. Da ist erstens die unvollkommene deutsche Sprachkultur der Gegenwart, wie sie Abbt in den Klotz-Rezensionen (in den Briefen 148, 159 und 212) zum Thema macht. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Meiers Betrachtung über die Natur der gelehrten Sprache (1763), wendet sich Abbt, zweitens, gegen die neuere deutsche Gelehrtenkultur, mit ihrer Tendenz zur Vernachlässigung des Studiums der antiken Muster zulasten wahrer Gelehrsamkeit und Sprachästhetik.Footnote 47 Drittens richtet sich der Klassizismus erneut gegen die lutherische Orthodoxie, was sich in Abbts Winckelmann-Verehrung zeigt. Winckelmann ist – neben Baumgarten, Mendelssohn, Edward Young, Justus Möser und Nicolas Boileau – nicht nur ein entscheidender Impulsgeber für Abbts theoretische Ästhetik, besonders im Hinblick auf die Ideale lebendiger Harmonie, edler Einfalt und schöner Ordnung,Footnote 48 sondern ist ihm auch eine persönlich-existenzielle Chiffre. Winckelmanns Leben verkörpert die radikale Abkehr von provinziellen, beengten und beengenden Verhältnissen: »Mein Aufenthalt in Rinteln wird immer länger, und mir immer verdrieslicher. Wenns noch länger dauert, so gehe ich zu Winkelmann, nach Rom«,Footnote 49 wie Abbt an Nicolai an Pfingsten 1764 schreibt. Man darf das – jenseits der Vision leibhaftiger Flucht aus der deutschen Provinz – auch im übertragenen Sinn verstehen: Anschaulicher ließe sich die Opposition zur akademischen Gelehrsamkeit und zur lutherischen Orthodoxie nicht ins Bild setzen.

IV.

Abbts umfangreichere Werke Vom Tode für das Vaterland (1761) und Vom Verdienste (1765) enthalten einige Überlegungen über die sich bildende bürgerliche Öffentlichkeit. Prinzipiell ist Abbts Konzeption von Öffentlichkeit universal-konsensueller Art, mit dem Ideal einer »informal public sphere«, eines inklusiven, klassenübergreifenden sozialen Ganzen »based on natural, human impulses«.Footnote 50 Zwar warnt Redekop davor, die »emancipatory aspects« überzubetonen, und unterschlägt auch nicht die autoritären Tendenzen eines das Gemeinwohl über die individuellen Rechte stellenden Staatsverständnisses.Footnote 51 Dennoch ist es wichtig, die polemischen Aspekte von Abbts Öffentlichkeitsbegriff – als Ideal und konstatierte Wirklichkeit im preußischen Absolutismus – zu erkennen, sowohl in der Theorie als auch in der schriftstellerischen Praxis. Auf theoretischer Ebene kann sich Öffentlichkeit, wie Abbt sie denkt, nur in Abgrenzung gegen äußere Feinde formieren, etwa gegen die Kriegsgegner im Siebenjährigen Krieg: Erst der Kriegszustand schafft Bedingungen, die eine Aufopferung des Individuums für die nationale Gemeinschaft notwendig machen und die Bande des sozialen Ganzen sowie der politischen Öffentlichkeit stärken. Und auch die real praktizierten polemischen Verfahren in Gestalt von Literaturkritik oder anti-orthodoxer Satire stehen in Spannung zu den konsensuellen Elementen jener idealen »public sphere«. Dabei richtet sich Abbt in den Literaturbriefen nicht nur gegen äußere Feinde wie die lutherische Orthodoxie, sondern auch und vor allem gegen Angehörige seines eigenen Standes, z. B. gegen den politischen Schriftsteller Justi oder den Historiker und Rechtswissenschaftler Philipp Ernst Bertram. Letzterer hatte sich als Übersetzer eines häretischen Werks des niederländischen Humanisten Hadriaan BeverlandFootnote 52 als Student Ärger mit der Orthodoxie eingehandelt, was einen Verweis von der Universität Halle zur Folge hatte. Die geteilte anti-orthodoxe Frontstellung garantierte keineswegs eine konsensorientierte bürgerliche Öffentlichkeit, vielmehr wurden heftige interne Kämpfe ausgetragen, die sich polemischer, auf die existenzielle Vernichtung des Gegners abzielender Mittel bedienten.

Als Polemiker agierte Abbt im Raum einer sich transformierenden Kommunikationsstruktur. Die Institutionalisierung des Presse- und Zeitschriftenwesens sowie der Ausbau brieflicher KommunikationswegeFootnote 53 ermöglichten die Neuformation und zunehmend auch offen politische Organisation des (literarischen) Bürgertums als aufstrebender, gegen die etablierten Machtblöcke wie die Orthodoxie gerichteten gesellschaftlichen Kraft.Footnote 54 Zugleich führte dieser Prozess zu verstärkten Spannungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, insofern die direkteren und schnelleren Kommunikationsmöglichkeiten auch polemischen Verfahren ein neues Wirkungsfeld eröffneten. Abbt reflektiert solche Umbruchsprozesse bürgerlicher Schriftöffentlichkeit, indem er, wie Redekop feststellt, ein »Ciceronian ideal of public oratory« in das »available medium of the day – the written word« übersetzt.Footnote 55 In einer Rezension von Johann Michael Heinzes Cicero-Übersetzung schreibt Abbt, Ciceros Lehren ließen sich »auf alle Schreibart anwenden, wo hier und da rednerische Kraft muß angebracht werden, und wenn wir nicht mit ihm siegen, so können wir doch mit ihm angreifen«.Footnote 56 Polemische Momente in der Erneuerung des antiken Redeforums im Medium der Schrift sind für Abbt normativ zentral: Wie im Gericht müsse der Redner beim Publikum die »Leidenschaften« im »höchsten Grad erregen«, dessen »Zorn« zum Kochen bringen und »zur Wuth ausbrechen« lassen, »kurz er macht nicht, daß der Zuhörer anfängt zu überlegen, sondern daß er sich auf der Stelle entschließt« (1762d, 109).Footnote 57 Die polemische, affektive Publikumsmobilisierung vergleicht Abbt mit der Organisation einzelner Soldaten zu einer Kampfarmee durch einen geschickten Feldherrn, der »ein ganzes Heer […] gegen einen Feind in Bewegung setzt«.Footnote 58 Was Abbt hier als Ideal öffentlicher Rede im schriftlichen Medium formuliert, entspricht weithin der Realität polemischer Praxis in ihrem konstitutiven Bezug zum Publikum, dessen Affekte es im Rekurs auf eine bestimmte »Materie«Footnote 59, vermittels spezifischer diskursiver Techniken, unter Einsatz ästhetischer Mittel, gerichtet gegen einen »Feind«, das polemische Objekt, zu mobilisieren gilt.

Handelt es sich bei polemischen Verfahren um die entscheidenden öffentlichen Mechanismen der Selbstreproduktion von Öffentlichkeit, d. h. der rivalisierenden Partikularöffentlichkeiten, sind auch die nicht-öffentlichen Produktionsbedingungen von Öffentlichkeit zu beachten.Footnote 60 Abbt thematisiert Prozesse staatlich-autoritärer Herstellung von Öffentlichkeit unter Einsatz von Mitteln wie Furchterzeugung, Täuschung oder Propaganda und erachtet sie als legitim und notwendig zur Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung im Interesse des Gemeinwohls. Zwar ist emanzipierte Bürgerlichkeit in Abbts Staatsphilosophie ein Zentralprinzip, insofern in der bürgerlichen Gesellschaft nicht Geburt, sondern »Verdienst« den gesellschaftlichen Rang festlegt; ein Prinzip mit universalistischen Implikationen in Bezug auf politische Freiheit: »Ein Land, wo nicht jeder Mensch in seiner Menschenfreyheit durch die Bürgerfreyheit gesichert ist, kann nicht frey heißen«.Footnote 61 Damit ist freilich keinerlei politische Partizipation verbunden. Die monarchische Staatsform des ›aufgeklärten‹ Absolutismus ist für Abbt das Milieu, in dem sich bürgerliche Öffentlichkeit solcherart entfalten soll, dass sie vermittels der Vaterlandsliebe, die das republikanische Prinzip der »Tugend« im Sinne Montesquieus ersetzt, affektiv an die politische Herrschaft und an die Person des Monarchen zurückgebunden ist und so Gemeinwesen und Öffentlichkeit vor innerem Zerfall bewahrt.Footnote 62 Allerdings ist der Monarch, seinerseits Staatsbürger, verpflichtet, im Sinne der »politischen Tugend«, d. h. im Interesse des Gemeinwohls zu handeln.Footnote 63 Für das monarchische Staatsoberhaupt mit dem besten Überblick über das Staats- und Gemeinwesen bedeutet das zum einen die alleinige Definitionsmacht darüber, was jeweils im Interesse des Gemeinwohls sei. Es bedeutet zum anderen, dass das Gemeinwohl von der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung abhängig ist. So interessiert sich Abbt in seiner Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsstatistik Johann Peter Süßmilchs (in den Briefen 245 bis 250) insbesondere für deren von Süßmilch selbst erwähnten ›bio-politischen‹ Nutzen für die Regenten.Footnote 64 Die Sicherstellung gemeinwohlorientierter staatlicher Stabilität rechtfertigt auch die Anwendung ideologischer Herrschaftstechniken. Nicht am Kriterium der Wahrheit wird das Denken der Staatsbürger gemessen, sondern daran, ob es die staatliche Ordnung stützt oder stört, denn auch für die bürgerliche Vorstellungswelt gilt, dass »gut« sei, »was die beste Ordnung nicht störet«.Footnote 65 Um diese Ordnung zu fördern, kann die Herrschaft den Bürgern auch falsche Vorstellungen eingeben, sofern sie sich als dem Gemeinwohl nützlich erweisen, etwa durch das Mittel politischer Erzeugung von Angst und Hoffnung.Footnote 66 Und sofern ein »nothwendiger gewordener Irrtum« einen »guten Zweck erhalten hilft«, soll ihm gegenüber einer Wahrheit »ohne Würkung zum Handeln« der Vorzug gegeben werden.Footnote 67 Die Utopie eines vollständigen Abbaus von Vorurteilen ist zudem nur unter der Bedingung hinlänglicher äußerer Sicherheit möglich: Muss sich der Staat gegebenenfalls mit kriegerischen Mitteln behaupten, kann er sich den Luxus freien öffentlichen Verstandesgebrauchs nicht leisten, sondern muss mithilfe dienstbarer Intellektueller innere ideologische Einheit erzeugen und die öffentliche Meinung entsprechend lenken, zugunsten der unter Krisenbedingungen bestmöglichen Erhaltung des staatlichen Gemeinwohls.

Polemik spielt in der sich bildenden bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit Mitte des 18. Jahrhunderts in einer weiteren Hinsicht eine Rolle. Die neue öffentliche Sphäre – genauer: der Komplex aus rivalisierenden bürgerlichen Partikularöffentlichkeiten – formiert sich in polemischer Abgrenzung zu bestehenden Öffentlichkeitskomplexen, zur traditionellen Gelehrtenöffentlichkeit vor allem orthodox-theologischer und metaphysischer Provenienz. Letztere reagiert auf die Herausforderung durch die neuen, sich in neuartigen medialen Strukturen organisierenden Öffentlichkeiten mit heftiger Polemik, moralischer und intellektueller Abwertung sowie verschärften Zensurforderungen. Als Professor und Literaturkritiker war Abbt sowohl Teil der alten akademischen Öffentlichkeit als auch der neuen bürgerlichen Gelehrtenrepublik, was zu beträchtlichen inneren Konflikten führte. Gegenüber Nicolai und Mendelssohn distanzierte er sich stets scharf von der provinziellen akademischen Welt der kleinen Universitätsstadt Rinteln, vom traditionellen Gelehrtentypus und der akademischen Standeskultur.Footnote 68 Dabei war gerade Abbts akademische Kompetenz für die Literaturbriefe von großem Nutzen, weil sich die neuen bürgerlichen Öffentlichkeiten nur dann gegen die alten behaupten konnten, wenn sie sich auf deren diskursivem Terrain zu profilieren vermochten, wenn sie also zu orthodox-theologisch oder metaphysisch fundierten Moralvorstellungen einen überzeugenden, wohlbegründeten Ersatz anbieten konnten.

V.

Die Literaturbriefschreiber denken über polemische Verfahren prinzipiell in vier Hinsichten nach, strategisch, ethisch, epistemologisch und ästhetisch. Bei der strategischen Reflexion handelt es sich um das planende oder retrospektive Erwägen des Einsatzes und der voraussichtlichen Wirkung polemischer Verfahren. Sie findet zumeist im Diskursraum privater Korrespondenz statt, gehört aber zur Kunst der diskursiven Kriegsführung mit dazu und ergibt sich oft direkt aus den konkreten Polemiken und Streitfällen. Die strategische Reflexion kann allgemeiner Natur sein, so, wenn Abbt den Stil der Literaturbriefe im 263. Brief vom März 1763 als zwar kämpferisch doch spielerisch beschreibt, als »Spiegelfechten« bloß im Vergleich zu den »Kriegszügen« eines Christian Adolph Klotz.Footnote 69 Gleichwohl seien sie, die Literaturbriefschreiber, inzwischen »so sehr verschrieen«, dass auch vereinzelte »Courtoisie«, wie sie Mendelssohn gegenüber Anna Louisa Karsch in den Briefen 272 bis 276 übe, nichts helfe.Footnote 70 Und nach den beleidigten Reaktionen Gottfried Ploucquets und Philipp Ernst Bertrams auf Abbts Rezensionen in den Briefen 268 bis 270 bzw. 296 bis 298 meint Abbt, man müsse wohl bald noch ein »Supplementchen von Streitschriften zu den Litteraturbriefen drucken lassen«.Footnote 71 Sie seien eben »grobe Kerle«, die aber – im Sinne des theatralischen Charakters von Polemik (s. Abschn. II) – bevor sie »nach Hause schlendern«, also vor dem baldigen Ende des Periodikums, immerhin ›den Hut ziehen‹ sollten.Footnote 72 Die strategische Reflexion kann auch spezifischer ausfallen, etwa wenn Abbt sich auf das Problem von Zensur, den Ketzereivorwurf und die angemessene Reaktion darauf bezieht. So bemerkt er im 180. Literaturbrief, Friedrich Karl von Moser besitze das Talent jener Herren, in ihren Schriften alles Tadelnswerte auf eine Weise mit der Religion zu verknüpfen, dass jede Kritik daran »allemal ein Angriff auf die Religion« werde.Footnote 73 Tatsächlich wird Moser aus Abbts Polemik gegen eine christliche Fundierung des StaatsFootnote 74 später eine unchristliche Gesinnung der Literaturbriefschreiber ableiten.Footnote 75 Die Beschuldigten reagieren darauf in Form zweier Besprechungen, Nicolai mit einer vernichtenden Rezension zweier Werke Mosers im 299. Literaturbrief, Abbt mit einer, wie von Nicolai gefordert,Footnote 76 im Ton maßvollen, sachlich aber fundamentalen Polemik gegen Mosers denunzierende Schrift in der neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek.Footnote 77 Zwar ist Abbt, dessen metaphysische Skepsis mit einer undogmatischen Hinwendung zur Offenbarung einhergeht (s. Abschn. II), bemüht, den Ketzer-Vorwurf sachlich zu widerlegen, gleichzeitig macht er ihn sich ironisch-polemisch zu eigen.Footnote 78 Auch erkennt er in der Verketzerung eine reale existenzielle Bedrohung, der es gemeinsam zu begegnen gelte, so Abbt im November 1764 an Klotz,Footnote 79 den er als Bundesgenosse im antiorthodoxen Kampf anwerben konnte. Der »Gegenpart« müsse dann unterliegen, »wenn das Recht auf der einen Seite mit Heftigkeit und Witz verfochten« werde.Footnote 80 Zur erfolgreichen Polemik gehören demnach gute Gründe, nämlich das »Recht« der Wahrheit, verbale Schlagkraft und »Witz« als Fähigkeit, diese Gründe kunstvoll als Waffen ins polemische Feld zu führen.

Nebst der strategischen Reflexion zwecks bestmöglicher Navigation in der »Streitbahn der Autoren«Footnote 81 tritt Polemik auch als ethisches Problem in den Blick. Denn trotz Nicolais öffentlicher Empfehlung auf »freymüthige Kritik« vernünftig zu reagieren, ohne »Empfindlichkeit«, mit Humor, bei nachdrücklicher Verteidigung und durch »beherzte Gegenangriffe«Footnote 82, waren sich die Literaturbriefschreiber des existenziellen Ernstes und der moralisch problematischen Dimension polemischer Literaturkritik in reichweitestarken Organen bewusst und daher bemüht, deren ethisch-sittliche Funktion genau zu definieren. Wie die Intellektuellen, Dichter und Literaten wichtig für die Bildung des nationalen Geschmacks und der sittlichen Verbesserung der Nation sind,Footnote 83 hilft polemische Literaturkritik, die Mendelssohn explizit mit »Krieg« vergleicht,Footnote 84 dem Lesepublikum, gute von schlechter Literatur zu unterscheiden, womit sie zur sittlichen Vervollkommnung der bürgerlichen Gesellschaft beiträgt. Nicolai ergänzt dies um das Ziel der Selbstverbesserung: »Wir urtheilten über neue Bücher, um uns selbst zu bessern, wir machten unser Urtheil bekannt, weil wir glaubten, daß es dem Publicum nützlich seyn könnte«.Footnote 85 Freilich hat diese sittliche Norm und Absicht, dem Publikum eine literarisch-moralische Navigationshilfe anzubieten, Auswirkungen auf die Praxis polemischer Literaturkritik, sie verklärt aber die realen polemischen Prozesse der Öffentlichkeitsbildung. Die schlechte Literatur als solche zu kennzeichnen und sie damit vom Publikum in erzieherischer Absicht fernzuhalten, teilt das Publikum virtuell in zwei Lager, in ein freundschaftliches, der Polemik folgendes und in ein feindliches, sich auf die Seite der Angegriffenen stellendes. Abbt fasst denn auch die Rolle von Literaturkritik um einiges schärfer – und realistischer – als Nicolai. Um sittlichen Schaden vom Publikum abzuwenden, müsse man »elende« Schriftsteller, die Nicolai zu ignorieren empfohlen hatte,Footnote 86 wie Johann Friedrich Lebrecht Reupsch »an den Pranger« stellenFootnote 87 und ihn »brandmarken«, nicht »um ihn zu bessern, sondern um seine Leser zu beschämen«.Footnote 88 Das Publikum wird in gut und schlecht geteilt, im Rahmen eines Strafgerichts, das auf abschreckende Außenwirkung abzielt und sich – Abbt erwägt, eine »Quarantaine« zu halten, ehe er »wieder einen guten Schriftsteller in die Hand« nehmen könneFootnote 89 – als geistige Gesundheitspolizei versteht, die die Verbreitung intellektueller Erkrankungen der Öffentlichkeit verhindert. Dennoch war Abbt in Bezug auf den für die Betroffenen entstehenden Schaden nicht frei von Skrupeln: »Ueberhaupt habe ich öfters bey mir mit der Frage Bedenken gehabt: ob es einem ehrlichen Manne anständig sey, scharfe Kritiken zu machen? Denn wie, wenn sie schaden?«.Footnote 90 Die Antwort gibt er selbst. Die »Funktion des Schriftstellers« im bürgerlichen Staat sei nämlich so edel, der durch schlechte Autoren angerichtete Schaden derart groß, dass untalentierte oder nachlässige Schreiber, die keine allzu großen Nachteile zu gewärtigen hätten, guten Gewissens niedergemacht werden dürften.Footnote 91 Trotz der Versuche, die existenziellen Konsequenzen für die Betroffenen herunterzuspielen: Zurück bleibt auch bei Abbt wohl ein ethisches Unbehagen angesichts der vernichtenden diskursiven Gewaltsamkeit, die keine sittliche Zielsetzung aufzuheben vermochte.

Noch verwickelter verhält es sich, wenn über die epistemische Funktion von Polemik bzw. von Kritik reflektiert wird. So wird die wechselseitige Kritik in der Privatkorrespondenz – insbesondere die scharfe Kritik Mendelssohns an Abbts SchreibstilFootnote 92 – von Nicolai in den Zusammenhang eines gemeinschaftlichen Wahrheitsstrebens gestellt.Footnote 93 Ihre Freundschaft wird als ›Wahrheitsbund‹ betrachtet, operierend im Modus wechselseitiger, mitunter eben polemischer Kritik. Auch hier sollte man Nicolais Ausführungen nicht umstandslos als adäquate Beschreibungen der kritischen Verfahren in freundschaftlichen Relationen nehmen, sondern eher als reflexiv-ethische Norm, die zur Festigung der Freundschaftsbande beitragen und einer faktischen Gefährdung oder gar Auflösung des Freundschaftsbundes infolge zu polemischer Kritik vorbeugen sollte. Dabei handelt es sich nicht um Polemik im strengen Sinn, weil der Publikumsbezug fehlt und weil der Kommunikationsraum der Privatkorrespondenz einer der wechselseitigen, eben auch kritischen Verständigung ist. Gleichwohl tendiert solche Kritik aufgrund der Polemizität ihrer Mittel und Verfahren (s. Anm. 5) zur faktischen Gefährdung des Freundschaftsbunds und damit zur Auflösung des konsensuellen Raums, was sich etwa an Abbts teils erbitterter und verzweifelter Reaktion auf die Stilkritik zeigte.Footnote 94 Nicht nur wird Polemik in der konkreten Streitpraxis ständig in dialogische Streitformen überführt (s. Abschn. I), auch umgekehrt tendieren ursprünglich nicht-polemische, dialogische Formate wie die Kritik je nach Schärfe der Mittel zur Polemik und damit zur performativen Änderung der Zwecksetzung. Überdies kann die epistemologische Reflexion selbst polemische Züge annehmen, z. B. dann, wenn dem polemischen Objekt öffentlich illegitime, epistemisch unfruchtbare Polemik vorgeworfen wird. So richtet sich Abbt im 263. Literaturbrief gegen die pauschale Metaphysik-Kritik in Klotz’ Ridicula litteraria (1762): Polemische Literaturkritik solle nicht, wie die Klotz’sche Polemik, total vernichten, sondern »das Lächerliche« einer Sache ins Licht setzen, um daran heuristisch das Schlechte vom Guten zu trennen.Footnote 95 Die differenzierende Reflexion von Polemik als Unterscheidung verschiedener polemischer Verfahren nach dem Grad ihrer epistemischen Produktivität hat insofern polemischen Charakter, als sie Klotz’ antimetaphysische Satire in ihrem Vernichtungswillen bloßstellt und dem Autor unlautere polemische Absichten unterstellt.Footnote 96

Nebst der Betonung der epistemisch-rationalen Momente von Polemik würdigen die Literaturbriefschreiber auch deren ästhetische Produktivität. Polemische Literaturkritik, wie sie in den Briefen praktiziert wird, soll heiter, freimütig, sinnlich und – wie Mendelssohn in Anlehnung an Baumgartens vividitas sagtFootnote 97 – »lebhaft« sein.Footnote 98 Auch hier gilt, dass Polemik – in moralischer Verkennung ihres eigentlichen Zwecks – nicht aggressiv und vernichtend, sondern friedliebend und maßvoll sein soll, ein Ideal, das Abbt besonders bei Horaz verkörpert fand,Footnote 99 das er allerdings mit seinen oft vernichtenden Rezensionen praktisch konterkarierte. Gegenüber Nicolai äußerte Abbt im Februar 1762 den Wunsch, es möge »das nützlichere mit dem blos komischen […] auch gut genug abwechseln«, um den Literaturbriefen »wieder neue Munterkeit« zu geben und »zu zeigen, daß wir noch nicht erschöpft sind« (Br 3, 47).Footnote 100 Zwar wird stets auch die »nützlichere« Seite der Polemik in strategischer, ethischer oder epistemologischer Hinsicht reflektiert, zugleich steht die »Munterkeit« für einen ästhetischen Eigenwert und ist Zeichen für den ungebrochenen Kampfgeist der Literaturbriefe. Lustvoll-lebhafte, nicht nur die oberen Erkenntnisvermögen ansprechende, sondern das ganze Gemüt, die sinnlichen Vermögen, die emotional-affektiven Seiten, den »characterem felicis aesthetici« im Sinne BaumgartensFootnote 101 anrührende Polemik – das war es, was der Herausgeber Nicolai von seinen Rezensenten erwartete und was Abbt nach Lessings Abgang jederzeit leisten konnte, dokumentiert etwa in den Rezensionen 196 bis 198 zu Johann Heinrich Gottlob von Justis historischem Roman Psammitichus oder in den Briefen 160 bis 164 zu Karl Friedrich Paulis Heldenbeschreibungen. An einem anderen Rezensenten, Friedrich Gabriel Resewitz, hat Nicolai beanstandet, dass ihn »der lustige Styl der Briefe«, d. h. der sinnlich-ästhetische, polemische Ton »niemals recht kleiden« wolle. Abbt kommentiert spöttisch, Resewitz’ friedfertiges Temperament werde ihm neben dem ketzerischen »Legionsteufel« – wie der Kritiker »B.«, nämlich Abbt, von Christian Ziegra einst tituliert worden warFootnote 102 – am Tage des lutherischen Inquisitionsgerichts nicht viel helfen: »Mit gelaufen, mit gefangen!«.Footnote 103

VI.

Sicherlich ist es problematisch, von einem »polemischen Wesen des Denkens«Footnote 104 zu sprechen, schon deshalb, weil menschliche Konflikte nicht notwendig in polemischem, d. h. nicht-dialogischem Modus, sondern auch in dialogischen Formen (wie Diskussion, Kontroverse oder Kritik) ausgetragen werden. Dennoch ist Polemik ubiquitär und durchzieht menschliche Kommunikation in vielen Bereichen; Dialog kann prinzipiell jederzeit in Polemik umschlagen, umgekehrt wird Polemik beständig in dialogische Formen überführt und damit in ihrem Vernichtungspotenzial gleichsam gebändigt. Polemik ist auch, so muss man gegen den späten FoucaultFootnote 105 konstatieren, hochgradig produktiv, in dreifacher Hinsicht: Indem sie auf Begründungszusammenhänge rekurriert, je nach Qualität auf mehr oder minder innovative Art, ist sie epistemisch produktiv und kann durchaus die Konzept- und Begriffsbildung vorantreiben.Footnote 106 Indem sie sich dabei, zum Zweck der Affektmobilisierung im Publikum, ästhetischer Verfahren bedient, einen eigenen sinnlich-polemischen Stil generiert und, sofern sie ins literarische Feld einwandert, die Entwicklung neuer Formvokabulare motiviert, ist sie ästhetisch produktiv. Und sie ist politisch-sozial produktiv, indem sie entscheidend an der Konstituierung, Umstrukturierung und Stabilisierung von Öffentlichkeit beteiligt ist, im Zusammenspiel mit dialogischen Verfahren, in die Polemik beständig überführt werden muss, damit sich die jeweiligen Partikularöffentlichkeiten nicht auflösen. Diese Dimensionen polemischer Produktivität gelangen bei den Literaturbriefschreibern in den reflexiven Blick (Abschn. V). Zugleich lassen sich anhand der polemischen Praxis bei Abbt Prozesse der polemischen Öffentlichkeitsbildung im 18. Jahrhundert nachzeichnen, insbesondere die Konstitution einer bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit in polemischer Abgrenzung zur akademischen Gelehrtenöffentlichkeit metaphysisch-theologischer Provenienz. Dabei fungieren, im Rekurs auf bestehende Begründungszusammenhänge und Wissensfelder, unterschiedliche Konzepte als polemische Mittel, etwa (reform-)theologische, klassizistische und öffentlichkeitstheoretische. Innerhalb dieser konzeptuellen Rahmen schlägt Polemik immer wieder in deren Reflexion um, weil polemischer Praxis eine immanente Tendenz zur Reflexion eignet; eine Reflexion indes, die nicht selten selbst polemisch funktional ist und sich in verschiedenen Graden der Explizitheit vollzieht: In der Autodafé-Schrift wird über Polemik in metaphorisch-poetologischem Modus reflektiert (Abschn. II); in Abbts Klassizismus sind polemische Momente Teil des Konzepts selbst (Abschn. III), während polemische Verfahren in Abbts Überlegungen zur bürgerlichen Öffentlichkeit in ihrem konstitutiven Publikums- und Öffentlichkeitsbezug in den Blick treten (Abschn. IV), noch bevor Polemik als solche, in ihrer inneren Konstitution Gegenstand der Reflexion wird (Abschn. V).

Es bleibt abzuwarten, ob sich, wie es Bremer und Spoerhase 2015 als Desiderat formulierten, eine disziplinübergreifende Polemikforschung zur Untersuchung netzwerkartiger Streitstrukturen mit erweiterter Quellenbasis in kooperativen Forschungsformaten dauerhaft institutionell etablieren kann.Footnote 107 Die vorliegende exemplarische Analyse versteht sich als bescheidener Beitrag zu diesem Projekt sowie als Vorschlag einer terminologischen Verständigung, die sich am Material zu bewähren hat.