100 Jahre nach der Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte hadert die Zeitschrift mit ihrem Titel, weil das »Lexem Geistesgeschichte« inzwischen einer »anachronistischen Semantik« angehört.Footnote 1 In ihrer Neigung zu raumgreifenden und synthetisierenden Fragestellungen wurde die Methode der Geistesgeschichte seit Mitte des letzten Jahrhunderts in der Tat als spekulativ und unwissenschaftlich kritisiert, in ihrer Annahme einer eigenständigen Entwicklung ideeller Gebilde als zu idealistisch oder schlicht naiv, und in ihrer Reduktion von Kunstwerken auf den Ausdruck eines ›Zeitgeists‹ oder gar eines bestimmten ›Nationaltypus‹ als ästhetisch blind und weltanschaulich anfällig abgelehnt.Footnote 2

Für die Zusammenarbeit von Literaturwissenschaft und Philosophie, wie sie den Gründern der DVjs vorschwebte, bieten sich heute andere Möglichkeiten an. Sie ergeben sich über gemeinsame Gegenstände auf den Feldern der Ästhetik, Erkenntnis‑, Sprach- und Fiktionstheorie, sowie aus der gemeinsamen Partizipation an Forschungsfeldern, die aus dem ehemaligen Feld der Geistesgeschichte hervorgegangen sind, zum Beispiel Begriffsgeschichte, Ideengeschichte oder historische Metaphorologie – Synergien, die sowohl das Profil der DVjs als auch die Arbeit vieler Literaturwissenschaftler:innen in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Man könnte sich also auf diese etablierten Möglichkeiten berufen, wenn die DVjs nun nach einer neuen Ausrichtung sucht. Doch kommt dabei der emphatische Zeitbezug, die Frage, in welche Richtung die Zukunft der DVjs heute, 2023, entworfen werden könnte, zu kurz, so wichtig diese Felder auch sind und bleiben werden.

Ich möchte darum für diesen programmatischen Kontext eine andere Möglichkeit in den Blick nehmen, die, wie ich unten näher ausführen werde, auf aktuelle gesellschaftliche Problemlagen reagiert und zugleich bereits in der Frühgeschichte der DVjs verankert ist: einen soziologischen turn der Literaturwissenschaft.Footnote 3 Dabei habe ich kein bestimmtes Programm, sondern ein exploratives Vorgehen vor Augen, das die Möglichkeit von Literaturwissenschaft als einer Hermeneutik des Sozialen auslotet. Mich interessieren insbesondere folgende Perspektiven: im Zusammenspiel ästhetischer und sozialer Formen Literatur als Soziologie zu lesen, d.h. literarische Texte in ihrer Fähigkeit zur Beobachtung, Darstellung und Analyse, aber auch zur Gestaltung der sozialen Welt ernst zu nehmen;Footnote 4 literaturwissenschaftliche Methoden zu nutzen, um politische Diskurse, soziale Mythen und andere Erzählungen von Gesellschaft zu analysieren; und disziplinäre Zwischenformen zwischen Literatur(wissenschaft) und Soziologie zu erkunden. Die erste und dritte Perspektive möchte ich im Folgenden veranschaulichen, indem ich – ausgehend von zwei Beispielen für solche Zwischenformen – deutschsprachige Kriminalromane aus der Gründungszeit der DVjs, d.h. den frühen 1920er-Jahren, als Testfall für die Produktivität der vorgeschlagenen Ausrichtung nutze.

I.

Der Philosoph Erich Rothacker und der Literaturhistoriker Paul Kluckhohn gaben der DVjs im programmatischen Vorwort von 1923 die »geistesgeschichtliche« Orientierung vor: Die Zeitschrift wolle der »Geschichte deutschen Geisteslebens, […] im besonderen der deutschen Literatur [dienen]« und als methodische Grundlage eine Vereinigung der »geistesgeschichtlichen Richtung, vornehmlich Diltheyscher Schule« und einer »form- und stilanalytischen« Richtung anstreben.Footnote 5 Weniger bekannt ist jedoch, dass im selben Gründungsdokument auch eine Orientierung an der Literatursoziologie gefordert wird: »Auch andere Richtungen, so die literarsoziologische, sollen zu Worte kommen« (V).

Dass es den Herausgebern damit ernst war, zeigen die literatursoziologisch ausgerichteten Artikel, die in den ersten 10 Jahrgängen der DVjs erschienen,Footnote 6 ebenso wie Vorträge und Publikationen der Herausgeber selbst.Footnote 7 Kluckhohn schlug Rothacker 1932 sogar eine noch »stärkere Betonung der soziologischen Fragen« vor; dabei stützte er sich auf eine Prognose des in der Weimarer Republik einflussreichen Pädagogen und Philosophen Eduard Spranger: »die Zeit der Geistesgeschichte sei […] schon bald vorbei […], die Soziologie trete an ihre Stelle; wir sollten darüber einmal einen programmatischen Aufsatz bringen«.Footnote 8

Die Forderung nach einer Einbeziehung der Literatursoziologie lag für die Gründer der DVjs auch deswegen nahe, weil es sich dabei um ein seit den 1910er-Jahren stetig wachsendes Forschungsfeld handelte, wie jüngst durch Andrea Albrecht, Carlos Spoerhase und Tilman Venzl wieder in Erinnerung gerufen wurde.Footnote 9 Thematisch und methodisch sehr divers, öffnete es sich auch bereits der Trivialliteraturforschung.Footnote 10 Als ein Beispiel dafür sei hier nur die Studie von Hans Epstein über den Detektivroman der Unterschicht genannt, die durch ein Geleitwort von Ernst Krieck, Professor für Erziehungswissenschaften,Footnote 11 geadelt wird, das gleich zu Beginn klarstellt: »[w]issenschaftliche Erforschung der ›Schundliteratur‹ bedarf keiner Rechtfertigung […] man [muss] sich höchstens wundern, daß die Wissenschaft dieses Gebiet nicht längst in Angriff genommen hat«.Footnote 12

Ihre Motivation konnten die ersten Literatursoziolog:innen dabei auch aus der Nähe der frühen europäischen Soziologie zu einer »aus Kritikern und Autoren bestehenden literarischen Intelligenz« ziehen, die im Gesellschaftsroman ebenso wie im Feuilleton danach strebte, »die Industriegesellschaft angemessen zu interpretieren und dem modernen Menschen eine Art Lebenslehre zu bieten«.Footnote 13 Ähnlich sah es für die Philosophie aus, der mit der Soziologie ebenfalls eine ernsthafte Konkurrentin erwachsen war, die – zumal in ihrer dem Historismus, den Geisteswissenschaften und der Lebensphilosophie eng verbundenen deutschen Variante – manchen gar »als Philosophie-Ersatz für den philosophisch ungläubig Gewordenen« diente.Footnote 14 Aus diesem reichen Panorama kann ich an dieser Stelle nur ein Beispiel herausgreifen, das die Produktivität der Überschneidungen von Literatur(wissenschaft), Soziologie und Philosophie in den Zwischenkriegsjahren in besonderer Weise demonstriert.Footnote 15

Die Rede ist von Siegfried Kracauers Studie zum Detektivroman, an der er von 1922 bis 1925 arbeitete. Er war zu dieser Zeit für das Feuilleton der FAZ tätig und hatte bereits seinen ersten Roman, Ginster, geschrieben. 1922 verfasste er die Studie Soziologie als Wissenschaft, als deren Probe aufs Exempel Der Detektivroman gelten kann.Footnote 16 Grundlegend für Kracauers Soziologie als Wissenschaft ist die Unterscheidung einer »›sinnerfüllten Epoche‹«, in der »alle Dinge auf den göttlichen Sinn bezogen« waren (12), und einer Gegenwart, der – in Aufnahme von Lukàcs’ These der »transzendentalen Obdachlosigkeit« – jeder höhere Sinn verloren gegangen sei: »Erst wenn sich die Welt in eine sinnentleerte Realität und das Subjekt spaltet, fällt es diesem anheim, die Realität zu werten oder ihre Seinszusammenhänge zu erforschen« (13). Der Soziologie kommt in dieser Situation die Aufgabe zu, die soziale Welt und ihre kulturellen Produkte wissenschaftlich zu erschließen. Ihr Paradox liegt jedoch darin, dass sie dafür notwendig auf Kategorien zurückgreifen muss, die aus der »Sphäre der Immanenz« stammen, zugleich aber auf die Erkenntnis einer holistischen Wirklichkeit zielt, die sich nur den »vollgehaltigen, durch einen höchsten transzendenten ›Sinn‹ gebannten und geeinten Menschen erschließt«: »die Soziologie [ist] zu dem […] nur uneigentlich zu verwirklichenden Versuch genötigt, von der Immanenz- zur Transzendenzsphäre […] zu gelangen, ohne bei solchem Übergang das sie konstituierende Wissenschaftsprinzip preiszugeben.« (10) Kracauers Soziologie als Wissenschaft formuliert so zugleich die Grundlagen wie die Kritik einer Wissenschaft, die aufgrund ihrer notwendigen Verhaftung in der Immanenz nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit als Ganze in ihrer konkreten Erscheinungsfülle zu erfassen.Footnote 17

Von dieser Problematik ausgehend, wendet sich Kracauer dem Detektivroman zu, den er zunächst als Soziologe liest: d.h. es ist nicht die literarische Qualität, sondern die internationale Popularität, nicht ein bestimmtes Werk, sondern ein ganzes Genre, das ihn reizt, weil er sich von ihm Rückschlüsse nicht auf die Literaturgeschichte, sondern auf die soziale Gegenwart erhofft. In seiner Lektüre achtet er nicht auf Besonderheiten einzelner Texte, sondern arbeitet stark generalisierend, folgt nicht der Eigenlogik der Handlungen, sondern unterwirft diese anhand bestimmter Figuren und Formen (wie z. B. Sphäre, Wandlung, Prozess) seiner eigenen Strukturierung, behält nicht essayistisch sein schreibendes Selbst und konkrete Einzelbeobachtungen im Blick, sondern spricht mit großer Geste übers große Ganze.

Entsprechend versteht er den Detektivroman auch als Soziologie. Der Roman spielt für ihn nicht einfach in der »sinnentleerten Realität«, sondern arbeitet ihre wesentlichen Merkmale heraus, indem er Figuren entindividualisiert und fragmentiert, Handlungen schematisiert und an stereotypen Orten spielen lässt, Zusammenhänge auflöst und auf diese Weise über Verfahren der Abstrahierung, Verdichtung und Stilisierung die sozialen Verhältnisse in einer vollständig durchrationalisierten Gesellschaft erkennbar macht. Eine Figur im Roman verkörpert dieses analytische Verfahren wie keine andere: der Detektiv, dessen Methode in Kracauers Augen ganz derjenigen des Soziologen entspricht. In Soziologie als Wissenschaft ist das forschende Ich durch eine radikale »Entselbstung« (SW41) gekennzeichnet, in der es sich Kants transzendentalem Subjekt annähert (SW44). Das gilt auch für den Detektiv, der in Der Detektivroman ebenfalls mit dem Transzendentalsubjekt verglichen wird (D181). Als personifizierte »ratio« verfügt er über einen überlegenen Durchblick, der allerdings rein immanent bleiben muss; er »[enträtselt] das Gestaltete, ohne es gefaßt zu haben« (D143).

Die Nähe zu Soziologie als Wissenschaft ist also offenkundig, und doch geht Kracauer durch seinen literarischen Korpus, der einen zeichenlesenden und -deutenden Zugang fordert, über das dort Entworfene hinaus. In einem Brief an Leo Löwenthal spricht Kracauer in Bezug auf Der Detektivroman von einem »Beispiel soziologischer Projektionslehre«.Footnote 18 Kracauer skelettiert den Kriminalroman nämlich nicht nur, sondern er deutet ihn auch, indem er die fiktive Welt auf die reale Welt und zugleich die »Sphäre der Immanenz«, in der der Kriminalroman spielt, auf die »Sphäre der Transzendenz« projiziert bzw. die Erstere als Inversion der Letzteren liest. Die formale Soziologie muss für Kracauer den transzendenten Sinn der sozialen Welt notwendig verfehlen; nicht so seine Deutung des Detektivromans. Denn beim Detektivroman handelt es sich um ein »ästhetisches Gebilde« (110), das aus den »Elementen einer zerfallenen Welt« (118) eine »ästhetische Totalität« (118, 163) formt. Anders als in der »sinnentleerten Realität« ist im Roman alles aufeinander bezogen, jede Figur an ihrem Platz, jede Handlung Teil eines größeren Zusammenhangs – und diese Bedeutungshaftigkeit weist auch über die romanimmanente Welt hinaus: »Die Einheit des ästhetischen Gebildes […] bringt die nichtssagende Welt zum Reden, verleiht den in ihr angeschlagenen Themen Bedeutung; was sie jeweils bedeuten, bleibt freilich zu verdolmetschen« (117). Kracauer fungiert als solch ein »Dolmetscher«, seine Soziologie der Projektion ist eine »Übersetzungskunst« (110).

II.

Heute, 100 Jahre nach der Gründung der DVjs, spricht vieles für eine erneute Annäherung von Literatur(wissenschaft) und Soziologie. Die ökonomischen, ökologischen und politischen Krisen der letzten Jahre fordern die Literatur ebenso wie die Literaturwissenschaft heraus. Die Gegenwartsliteratur antwortet darauf unter anderem mit einem Erstarken des Gesellschaftsromans, mit dystopischen Entwürfen (z. B. in der Climate Fiction) und mit einem Boom der Autosoziobiographie, die »die Pathologien des Kapitalismus, […] die Gewalt der Klassengesellschaft« erzählt.Footnote 19 Was die Soziologie auf dem Feld der Wissenschaft unternimmt – die Beobachtung, Beschreibung und ggf. Kritik sozialer Verhältnisse –, unternehmen diese Texte im Feld der Literatur und werden von der Literaturwissenschaft dabei beobachtet, die ihr Augenmerk freilich zugleich auf Prozesse ästhetischer Verdichtung, Fragen der Darstellbarkeit sowie den sozialen Mehrwert von Polyvalenz und Opazität lenkt.Footnote 20

Zugleich haben Literaturwissenschaftler:innen – sei es in Bezug auf populistische Bewegungen oder auf den ›postfaktischen‹ politischen Diskurs, auf Verschwörungstheorien im Kontext der Corona-Krise oder auf die Klimakatastrophe – ihre Theorien und Methoden (z. B. der Narratologie, der Fiktionstheorie, der Rhetorik, der Digital Literary Studies) in den letzten Jahren verstärkt dafür eingesetzt, etwas zum Verständnis sozialer Krisen beizutragen, indem sie sich mit Diskursen ganz unterschiedlicher Provenienz und auch mit der Frage auseinandergesetzt haben, welches Potenzial der Fiktion in solchen Zeiten zukommt.Footnote 21

Umgekehrt ist auch unter Soziolog:innen derzeit ein wachsendes Interesse an Literatur und literaturwissenschaftlicher Terminologie zu beobachten. Das gilt nicht nur für die Selbstbefragung soziologischer Schreibweisen, wie sie u.a. der Erfolg des autobiographisch geprägten politischen Essays des Soziologen Didier Eribon oder auch die Popularität soziologischer Gegenwartsdiagnosen hervorgerufen haben,Footnote 22 sondern auch für die Besinnung auf die ursprüngliche Nähe und zugleich produktive Differenz von Soziologie und Literatur.Footnote 23 So betont der Soziologe Oliver Nachtwey etwa, »Literatur und Soziologie [teilen] einen ähnlichen Anspruch: die soziale Welt zu verstehen«,Footnote 24 und die Soziologin Sina Farzin denkt über »Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose« nach.Footnote 25

Ein anregendes Beispiel für eine solche Annäherung stellt das bereits vor zehn Jahren erschienene Buch Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia und moderne Gesellschaft des französischen Soziologen Luc Boltanski dar, das weder als streng soziologische noch als literaturwissenschaftliche Studie gelten kann, sondern die »Wiederbelebung der Verbindungen«Footnote 26 zwischen Soziologie und Literaturwissenschaft produktiv macht. Abermals handelt es sich um ein Buch über den Kriminalroman, und auch ihm geht eine soziologietheoretische Studie voraus, in der Boltanski das Verhältnis von Soziologie und Sozialkritik (2010) zu klären versucht. Mit Rätsel und Komplotte verfolgt er dann das Ziel, das im Vorgängerbuch »vorgelegte Begriffssystem mit Fleisch zu versehen« (19).

Boltanskis Entwurf von Soziologie als Sozialkritik arbeitet unter anderem mit einem Modell von Kritik, das auf der Infragestellung der »Realität der Realität« (16) vor dem Hintergrund einer begrifflichen Unterscheidung von »Realität« und »Welt« basiert: die Welt ist »›alles, was der Fall ist‹«, die Realität wird »dagegen durch vorab festgelegte Formate stabilisiert, die von Institutionen getragen werden« (24–25). In Rätsel und Komplotte kommt er auf diese Unterscheidung zurück, die er als eine ontologische Prämisse der Soziologie beschreibt und deren symbolische Formen er dort aufsucht, wo sie sich am ehesten uneingeschränkt äußern und verbreiten konnten: im literarischen Feld, in dem die auf die realitätsskeptischen Figuren der Untersuchung, des Rätsels und des Komplotts ausgerichteten Erzählungen inzwischen, so Boltanski, zu den »verbreitetsten narrativen Formen« (17) zählen. Da diese heute eine »herausragende Rolle« für unsere »Vorstellung von der Realität« spielen, stellen sie für Boltanski »bevorzugte Gegenstände für einen soziologischen Ansatz« dar, der versucht, »bestimmte symbolische Formen und besonders politische Fragestellungen wieder aufzugreifen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt haben« (17) und auch »in unserem jetzigen weiter herumspuken« (19).

Offenbar besitzt das Genre der Kriminalerzählung für Soziolog:innen, die sich mit den Grundlagen ihrer eigenen Disziplin beschäftigen wollen, heute ebenso wie vor 100 Jahren eine große Anziehungskraft.Footnote 27 Boltanski und Kracauer interessieren sich für Detektivgeschichten, weil sie im Detektiv einen engen Verwandten des Soziologen erkennen, der mit seinen Untersuchungen die Strukturgesetze der Gesellschaft offenlegt. Zugleich ermöglicht die Zuwendung zum Kriminalroman beiden eine Kritik der eigenen Disziplin. Kracauer gewinnt aus der ästhetischen Totalität des literarischen Textes ein utopisches Moment, das die ratio der Kriminalerzählung ebenso wie die formale Soziologie transzendiert und dem Soziologen den Weg zu einer Metaphysik des Sozialen weist. Boltanski ermöglicht die Auseinandersetzung mit der frühen Kriminalerzählung die historische Relativierung der eigenen politischen Ontologie sowie die Einsicht in die Bedeutsamkeit populärer Erzählformen für das Selbstbild einer Gesellschaft. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht entgeht Kracauer und Boltanski in den Kriminalerzählungen zwar vieles, das sich erst aus der Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten einzelner Texte, einer Analyse ihrer ästhetischen Formen und der Wertschätzung von Leerstellen und Mehrdeutigkeiten ergäbe. Zugleich bietet ihr Zugang aber auch wichtige Anregungen: den literarischen Text als Soziologie zu lesen, d.h. ihn in seiner Analyse des Sozialen ernst zu nehmen; und die performative Kraft des populären Erzählgenres zu erkennen, d.h. diese Texte nicht einfach als ›Widerspiegelung‹ einer sozialen Realität zu lesen, sondern als Eingriff in diese und als wesentlichen Teil eines sozialen Imaginären, das die Wirklichkeit nicht nur vorstellt, sondern diese zugleich auch formt.

III.

An diese Überlegungen anschließend möchte ich im letzten Teil auf einen blinden Fleck von Boltanskis Theorie eingehen: Kriminalromane der frühen Weimarer Republik und deren metaphysisches Moment, auf das wir schon in Kracauers Deutung des Kriminalromans aufmerksam geworden sind.Footnote 28 Meine These ist, dass diese Romane im Unterschied zu den von Boltanski behandelten englischen und französischen Kriminalromanen ein soziales Imaginäres thematisieren, dem sie zugleich selbst zuarbeiten, und dass sie dabei einen Begriff des Imaginären entwerfen, der von archaischen bzw. mythisch-religiösen Vorstellungen geprägt ist.

Nach Boltanski behandelt der Kriminalroman des frühen 20. Jahrhunderts – ebenso wie die zur gleichen Zeit entstehende Wissenschaft der Soziologie und die Psychopathologie der Paranoia – einen fundamentalen Zweifel an der Realität der Realität, den Boltanski auf einen Zusammenhang »zwischen dem Aufbau des Nationalstaats«, der mit seinen Institutionen in das Leben der Bevölkerung zunehmend gestaltend und kontrollierend eingreift, und einer dadurch bedingten »Determinierung und Stabilisierung der Realität« (50–51) zurückführt. Die frühe Kriminalerzählung verfolge nun nicht das Ziel, diese Realität als »konstruierte« zu enthüllen, sondern sich stabilisierend der »Verunsicherungen« anzunehmen, die durch deren stetes »Risiko des [öffentlichen] Scheiterns« hervorgerufen werden (145–146). Die Kriminalerzählung verstärke einerseits diese Verunsicherungen, indem sie mit dem Verbrechen ein »Rätsel« inszeniert, das das »nahtlose Gewebe der Realität« verletzt (24); andererseits führe sie anhand der systematischen Aufklärung des Rätsels und der Festnahme der Täter aber »die Möglichkeit […] einer Rückkehr zur Ordnung« vor: »Die im ersten Moment erschütterte Realität geht daraus gestärkt hervor.« (146)

Für deutschsprachige Kriminalromane der frühen Zwischenkriegsjahre – im Folgenden vertreten durch zwei damals sehr erfolgreiche Romane: Leo Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages (1923) und Norbert Jacques’ Dr. Mabuse, der Spieler (1921) – gilt das jedoch gerade nicht. Die Lösung des Falls geht hier nicht mit einer Stärkung, sondern mit einer nachhaltigen Verunsicherung der vordergründigen Realität einher. Denn sie fördert dahinter ein Monster zutage, das sich der rationalen Kontrolle selbst des Detektivs entzieht und jederzeit wieder zum Leben erwachen kann. In Perutz’ Roman wird dieses »Monstrum« (104), das hinter einer Reihe unerklärlicher Selbstmorde steckt, identifiziert als ein »unsichtbare[r] Feind[…]«, »nicht von Fleisch und Blut«, ein »furchtbarer Revenant aus vergangenen Jahrhunderten«.Footnote 29 Diese Beschreibung bezieht sich zum einen auf ein rätselhaftes Buch aus dem 15. Jahrhundert, das seinen Entdecker:innen grauenhafte Visionen beschert; vor allem aber bezieht sie sich auf das Vorstellungsvermögen: »Furcht und Phantasie sind unlösbar miteinander verknüpft« (191). Über sie ist der moderne Mensch mit seiner individuellen ebenso wie mit der menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit verbunden: »Die Schreckbilder, die Sie gesehen haben, stammen aus Ihrem Unterbewußtsein« (193). »Die wahre Furcht, […] die den Urmenschen überfiel, […] – keiner von uns lebenden Menschen […] wäre fähig, sie zu ertragen. Aber der Nerv, der sie in uns hervorzurufen vermag, ist nicht tot, er lebt« (192). Bei dem »Monstrum«, das die Menschen in den Selbstmord getrieben hat, handelt es sich also um Manifestationen eines archaischen Imaginären: Visionen vom »Jüngsten Tag« (182), jeweils gespeist durch die Angst- und Schuldkomplexe der Opfer, die zwar individuell verschieden ausfallen, jedoch durch dieselben sozialen Rahmenbedingungen geprägt sind: traumatische Kriegserfahrungen, Angst vor Ruin und sozialem Abstieg in Folge der Inflation.

Die Erzählung wird gerahmt durch das Nachwort eines anonymen Herausgebers und das Vorwort des Ich-Erzählers. Das Vorwort lässt zweifeln, ob das »Monstrum« ein für alle Mal besiegt werden konnte. Denn dort heißt es, dass wir nach wie vor »einen furchtbaren Feind in uns [tragen] […]. Er regt sich nicht, er schläft, er liegt wie tot. Wehe, wenn er zum Leben erwacht!« (10) Und dass es durchaus möglich sei »daß in irgendeinem vergessenen Winkel der Welt ein zweiter Bericht des florentinischen Orgelspielers liegt […], bereit zur Auferstehung und lüstern nach neuen Opfern« (9). Der Riss in der Realität wird also nicht gekittet, sondern offengehalten. Die daraus resultierende Verunsicherung wird durch die »Schlußbemerkungen des Herausgebers« noch gesteigert, die über den Verweis auf einen Wachtraum des Ich-Erzählers unvermutet eine phantastische Deutung der Ereignisse nahelegen. Was man also bislang für einen Fehlschluss hielt – dass nämlich der Ich-Erzähler den Selbstmord seines Freundes und Rivalen verursacht habe –, soll nun der Wirklichkeit entsprechen; und was man bislang für die Wirklichkeit hielt – die Entlarvung des »Monstrums« –, soll bloße »Erfindung« sein, geboren aus dem Wunsch des Ich-Erzählers, sich von aller Schuld frei zu erzählen. Zugleich wird als typisches Merkmal einer solchen Erfindung das kunstvolle »›Spiel mit den Indizien‹« genannt – also eben das, was bis dahin als Kennzeichen des guten Detektivs und seiner Fähigkeit der Wahrheitsfindung galt (196–197).

So resultiert der Zweifel an der Realität der Realität am Ende aus einer Konkurrenz der Erzählungen: je nachdem, welcher man folgt bzw. welchem Erzähler man Glauben schenken möchte, stellt sich die binnenfiktionale Wirklichkeit anders dar. Entweder lauert hinter der Realität das Monstrum des Imaginären, das jederzeit wieder hervorbrechen und die harmonische Gesellschaft – hier vertreten durch die miteinander musizierende Kleingruppe der Freunde und späteren Opfer bzw. Detektive – in Misstrauen und Chaos stürzen kann; oder aber es handelt sich bei diesem Blick auf die Welt um nichts als die Imagination eines schuldbewussten Einzelnen, dessen Niederschrift, wie das Nachwort betont, im Umfeld ihres Verfassers »von Hand zu Hand« (195) weitergereicht wurde, d.h. ihrerseits ein Nachleben bei einem rätselaffinen Lesepublikum fand.Footnote 30

Was bei Perutz eher individuell gedacht ist, wird bei Jacques kollektiviert. Der Roman zeichnet das Bild eines jungen demokratischen Staates, der sich nach Krieg, Revolution und inmitten der Inflation in einer schweren Krise befindet. Sichtbar wird diese in Form von Verbrechen, deren Kontext eine in der Bevölkerung um sich greifende Spielsucht bildet. Sie beginnen in Form von kleinen »Rätsel[n]«Footnote 31 – einige Spieler fühlen sich gegen ihren Willen zu bestimmten Handlungen gedrängt – und weiten sich aus zu unheimlichen Morden, deren Kunde sich in der Stadt verbreitet und die Menschen in Angst versetzt oder zur Nachahmung animiert. Zur Aufklärung der Verbrechen ist der »Staatsanwalt und Beamte«, »Spitzel und Detektiv« Wenk bestellt – abweichend vom klassischen Modell kein Mann der rationalen Kombinatorik, sondern der Intuition (»gefühlsmäßig[e]« »Eindrücke«, »gewitterte« »Schlüssel«) und der Tat: »Alles tat er selber« (27-28). Wenk ist ebenfalls dem Spiel verfallen und anfällig für die Hypnose; beides schränkt seine Fähigkeit der genauen Beobachtung weiter ein: »Er spielte nicht mehr, um zu beobachten und zu entdecken. Er war dem Spiel unterlegen« (34).

Wenk versucht zwar, die soziale (Un)ordnung der neuen Gesellschaft zu durchschauen, doch läuft das nicht auf deren nüchterne Analyse, sondern auf eine Dramatisierung, Pathologisierung und schließlich metaphysische Deutung der Krise hinaus. Hinter der instabilen Realität meint Wenk einen archaischen Kampf zwischen Gut und Böse zu erkennen. In Reaktion auf die Verbrechen entwickelt er ein manichäisches Weltbild, in deren Kontext er seine Arbeit zum Endzeitkampf hochstilisiert: »Er kämpfte mit dem Bösen. […] [S]ein Gegner war mehr als Falschspieler, Verbrecher … war die ganze Zeit, die von der Kriegskatastrophe losgerissen worden war aus dem Höllenschoß der Schöpfung« (75). Dabei sind die Rollen klar verteilt: potenziell auf der Seite des Guten stehen die alten Eliten, von denen sich Wenk eine geistige Erneuerung Deutschlands erhofft, und die Staatsgewalten, beide repräsentiert durch Wenk; auf der Seite des Bösen steht das organisierte Verbrechen, das in Mabuse als einem imperialistischen Raubtier-KapitalistenFootnote 32 und zugleich dämonischen Tyrannen personifiziert wird, der Angehörige der unteren Gesellschaftsschichten für seine Zwecke einspannt.Footnote 33 Maßgeblich für Wenks Imagination des Gegners ist dabei die Erzählform des Komplotts: »Deshalb hatte [Mabuse] unterhalb der Organisation des Staates einen Staat für sich gegründet mit Gesetzen, die er allein ausgab, mit Macht über Leben und Tod von Menschen.« (59)

Wenk ist also weder ein guter Semiologe noch ein guter Soziologe. Dafür aber befeuert seine Sehnsucht nach Größe, Sinn und Orientierung seine Phantasie und lässt ihn zu einem gewinnenden Interpreten werden, der auch widerstrebende Personen (z. B. den Reporter, den Minister, die Gräfin) von seiner dramatischen Sicht der Dinge überzeugen kann. Erst durch Wenks metaphysische Deutung wird der Verbrecher zu dem dämonischen Bösen, als den er ihn imaginiert. Das zeigt sich nicht nur daran, dass sich der Erzähler mit ironischem Unterton von dieser Deutung distanziert und sie Wenks Schwärmertum und einem latenten Vaterkomplex zuschreibt.Footnote 34 Sondern auch daran, dass der Einblick, den der Erzähler in Mabuses Gedankengänge gibt, diesen nicht als Ungeheuer, sondern schlicht als einen geld- und machtgierigen, triebgesteuerten Egomanen mit gelegentlichen Selbstzweifeln präsentiert. Wenk ist mit der Phantasie vom dämonischen Bösen jedoch nicht allein. Vielmehr gehorcht er einem Trend, den der Erzähler schon früh bemerkt: Der Falschspieler »war immer ein anderer, aber die Phantasie legte die verschiedenen Bilder übereinander und machte eines daraus.« (22) Die »Kulissenleute« waren bedacht, den verbreiteten Spielbetrug »ins große Phantastische, aus unheimlichen Kräften sich Nährende abzuschieben« (23). Mit seinen Phantasien bestätigt Wenk zugleich eine Beobachtung, die er zuvor selbst angestellt hatte: »Das Auslaufen des Krieges […] hatte die Phantasie nicht beruhigt, sondern hielt sie angestachelt« (25).

Der Roman legt also nahe, die dämonische Macht Mabuses als das Produkt einer erregungssüchtigen, nach dem Großen und Bedeutsamen lechzenden (Kollektiv‑)Phantasie zu beschreiben. Es ist letztlich nicht der Egomane Mabuse, sondern ein versprachlichtes Imaginäres, das die Menschen in Angst-Lust versetzt und weitere Verbrechen nach sich zieht. Das macht der Roman explizit, indem er »das Böse« mit einem »Gerücht« identifiziert, das sich nach einem Mord Mabuses in der Stadt verbreitet: »Es kamen Menschen, seine Geburtsstelle [d.h. die des Gerüchts] zu sehen, und tranken an der Quelle von den Schauern der Tat. Sie sahen das Ungeheuer aufstreben. […] Es stampfte zwischen ihnen durch, durch sie hindurch wie durch einen Nebel, körperlos … eiskalter, flüssiger Geist. […] Sein dumpfer, feuchtheißer Geruch von Auflösung ließ Angst in die Menschenporen dampfen, oder riß eine Kraft […] nach dem Bösen hin.« (112) Oder indem er, noch expliziter, »Mabuse, de[n] Spieler« – d.h. die Figur, aber auch den Roman selbst – mit einer »Ballade« vergleicht, die von Ort zu Ort wandert und »alle Dämonie des tiefsten Widerstandes der Menschheit gegen Gesetz und Ordnung in die Phantasien« der Menschen einbrennt (226). Darum lebt die bedrohliche Macht Mabuses auch nach dessen Absturz aus dem Flugzeug weiter: sein Tod wird vom Roman nie verifiziert, und es dauert nur wenige Jahre, bis Jacques ihn im Testament des Dr. Mabuse als unheimlichen Revenant wieder auferstehen lässt.

Der Zweifel an der Realität der Realität wird in den Romanen von Perutz und Jacques anders als in den von Boltanski untersuchten englischen und französischen Kriminalromanen also nicht abgebaut, sondern bestätigt, indem hinter der offiziellen Realität eine unsichtbare, immaterielle Ebene ausgemacht wird, die die Monster der Wirklichkeit allererst erzeugt. In ihrer Beobachtung und Darstellung von Gesellschaft fokussieren die beiden Romane auf eine Analyse des sozialen Imaginären bzw. der sozialen Effekte bestimmter Kollektivvorstellungen, an deren Gestaltung sie sich zugleich selbst beteiligt wissen. Sie streben weniger danach, durch die Lösung des Rätsels die soziale Ordnung zu stabilisieren, als danach, die performative Kraft des sozialen Imaginären offenzulegen. Wollte man diesen Befund kontextualisieren und wie Boltanski nach Affinitäten zur zeitgenössischen Psychologie und Soziologie fragen, läge der Hinweis auf psychoanalytische Konzepte eines »kollektiven Unbewussten« (Jung), sozialpsychologische Modelle einer »Gemeinschafts-« oder »Massenseele« (Le Bon, Freud) und soziologische Konzepte eines »Kollektivbewusstseins« (Durkheim) oder »kollektiver Denkformen« (Mannheim) nahe.

Darüber hinaus ist aber auch die Affinität zur Methode der Geistesgeschichte bzw. zur geistesgeschichtlichen Grundüberzeugung interessant, dass man zur Erfassung einer Kultur, einer Gesellschaft, einer Epoche deren »Geist« ergründen und nicht etwa nur deren materielle Bedingungen in den Blick nehmen oder empirische Datenerhebungen veranlassen müsse. Die Kriminalromane der frühen Weimarer Republik teilen diese Überzeugung, indem sie sich auf die Suche nach einem geisterhaften Etwas hinter dem Verbrechen machen, das sich in einem alten Buch, einem Gerücht, den Romanen selbst materialisiert und das Wesen einer »ganzen Zeit«, so Wenk, offenlegt – mit dem gravierenden Unterschied allerdings, dass der »Geist« hinter der Geschichte hier nichts mehr mit Vernunft oder historischer Notwendigkeit zu tun hat.

In seinen Überlegungen zu »Gesellschaft als imaginärer Institution« unterscheidet Cornelius Castoriadis ein »aktuales Imaginäres« von einem »radikalen Imaginären«, das in politischen und sozialen Umbruchsmomenten auftritt und eine Kraft zur Produktion von Vorstellungen und Ideen meint, durch die gesellschaftliche Ordnungen allererst imaginiert und ermöglicht werden.Footnote 35 Auch die Zwischenkriegsjahre lassen sich als ein solcher Umbruchsmoment verstehen, der Wenk zufolge die Phantasie allererst »angestachelt« (25) hat. Doch ist das soziale Imaginäre, das sich hier manifestiert, nicht an der Instituierung der neuen demokratischen Ordnung beteiligt, sondern im Gegenteil an deren Destruktion. Denn das Imaginäre wird hier als eine archaische Triebkraft konzipiert, die ebenso archaische Vorstellungen einer sozialen Ordnung produziert. Die Politik dieses sozialen Imaginären ist also keine revolutionäre, sondern eine regressive – entsprechend eng verbunden ist sie auch dem primitivistischen Diskurs der Zeit.Footnote 36

Von einer »time of monsters« hat Slavoj Žižek in Bezug auf historische Momente gesprochen, in denen eine alte Ordnung verschwunden und eine neue noch nicht etabliert ist, trotz der daraus resultierenden Orientierungslosigkeit aber bereits gehandelt werden muss.Footnote 37 Dabei bezieht er sich, leicht irreführend übersetzt, auf Antonio Gramsci, der konkret die Zwischenkriegszeit im Sinn hatte, in der »die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann«.Footnote 38 Wenn solche Zeiten also »Monster« gebären, dann lassen sich möglicherweise auch die Monstren der beiden Kriminalromane als solche verstehen: als ein soziales Imaginäres, das auf die »Autoritätskrise« (Gramsci) mit der Autorität des Mythos antwortet.

Die Kriminalromane der frühen Weimarer Republik begeben sich auf die Suche nach dem Geist der Gesellschaft, finden aber deren Gespenster. Was noch nicht auf den Begriff gebracht ist, bearbeiten sie in der Fiktion: die Tätigkeit eines sozialen Imaginären, das auch die soziologische Recherche des Detektivs bestimmt und an dessen Produktion sich die Texte zugleich selbst beteiligt wissen. Sie führen vor, wie das Latente, Vorbegriffliche, Affektive Gestalt gewinnt, und stellen zugleich der archaisierenden Konzeption des sozialen Imaginären ihre eigene kritische Imagination zur Seite, indem sie dessen doppelte soziale Funktion beschreiben: entlastend, insofern an die Stelle einer überkomplexen Moderne der ent-sozialisierende Verweis auf mythische Strukturen rückt; und belastend, insofern dadurch neue Monster geschaffen werden, die die instabile politische Ordnung bedrohen. Literatur erweist sich so als in der Lage, die gesellschaftliche Verarbeitung von Umbruchszeiten und sozialen Krisen und Wandlungsprozessen anschaulich und einer Analyse zugänglich zu machen. Ihr Potenzial, dem sozialen Imaginären unterschiedlicher Zeiten Gestalt zu geben, zeigen die selbstreflexiven Kriminalromane der Weimarer Republik ebenso wie krisenbewusste Gesellschaftsentwürfe der Gegenwartsliteratur. Literatur als Soziologie zu lesen, meint in diesem Sinn, die Texte auf ihre Verarbeitung und Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit zu befragen – unter Berücksichtigung ihrer formalen und ästhetischen Merkmale und in einem Dialog mit soziologischen Erkenntnissen, von dem die Literaturwissenschaft auch im 21. Jahrhundert nur profitieren kann.