Zusammenfassung
Mit Blick auf biblische, politische und literarische Intertexte (Las Casas, Shakespeare, Marino/Brockes, Schiller) zum ideologischen Zusammenhang von Geschlecht, Gewalt, Herrschaft und Heil liest der Beitrag Kleists Erdbeben in Chili als subversive Passions- und Heilsgeschichte, deren marianische Matrix die koloniale Toponymie Chiles vorgibt: St. Jago nach dem ersten Marienseher Sankt Jakobus, La Concepción nach der unbefleckten Empfängnis Mariens und das im Text namentlich nicht genannte, aber in Szene gesetzte Valparaíso im trügerischen utopischen Zeichen der Heiligen und der Menschheitsfamilie. Ausgehend von diesem toponomastischen Inspirationskern wird der Versuch unternommen, den kolonialen Schauplatz beim Wort zu nehmen und die soziale und politische Gemengelage um Hauslehrerliebe, Strafverfolgung, Erdbeben, Gemeinschaftsutopie und Lynchmord vor dem Hintergrund der chilenischen Kolonialgeschichte schärfer zu konturieren. Protagonistin dieser anderen Heilsgeschichte, die Kleist in ein spezifisch kolonialherrschaftliches Machtgerangel von Erzbischof, Vizekönig, örtlichem Adel und spanischem Bürgertum versetzt und nach ikonographischen Vorbildern inszeniert, ist Josephe Asteron, die als Novizin den Leib Christi in einem Kind der Sünde inkarniert, als femina sacra nach dem Erdbeben zur heilsträchtigen Stillmutter avanciert und als sexuell begehrenswerte Frau einem Massaker der Beherrschten zum Opfer fällt, das die kolonialherrschaftliche Gewalt im Sinne René Girards mimetisch verkehrt, ohne deren ideologischen Horizont, die christliche Eschatologie, zu durchbrechen. Kleists Novelle wird noch in der radikalen Subversion des christlichen Heilsversprechens von dessen persuasiver Kraft befeuert.
Abstract
Considering biblical, political, and literary intertexts (Las Casas, Shakespeare, Marino/Brockes, Schiller) with regard to the ideological correlation of sex, rule, and salvation, the paper reads Kleist’s Erdbeben in Chili as a subversive Passion narrative and salvation history following the Marian matrix of Chile’s colonial toponymy: St. Jago after the first visionary of Mary, St. Jacob, La Concepción according to the immaculate conception of Mary, and Valparaíso, Kleist’s »Tal von Eden« in the illusive utopian spirit of the Holy and the whole human family. Starting from this toponomastic key inspiration of the novella, the paper tries to take the colonial setting literally in order to contour more sharply, against the background of Chile’s colonial history, the social and political conflicts around the tutor’s liaison with his pupil, their prosecution, the earthquake, the utopian communitarisation, and the lynchings. Located within the colonial power tussle between the archbishop, the vice-king, the local gentry, and the Spanish bourgeoisie, and staged according to iconographic models, Kleist’s salvation history features Josephe Asteron who, as a novice, incarnates the Body of Christ in an illegitimate child, and, after the earthquake, advances from a femina sacra to a (sexually attractive) Marian nursing mother. The massacre by the ruled, that she finally falls victim to, mimetically inverts, in René Girard’s terms, the colonial rulers’ force without giving up their ideological framework, Christian eschatology. As radical a subversion as it may be, Kleist’s novella itself proves fueled by the persuasive energies of the Christian promise of salvation.
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Ein »Schuhflicker«Footnote 1 empfiehlt sich eingangs von Shakespeares Julius Caesar, wieder heil zu machen, was beschädigt ist: »Wenn aber ja was reißt, so gebt Euch nur in meine Hand!«Footnote 2 Als Spezialist für »Flickwerk« bessert der »Wundarzt für alte Schuhe« schlechte Sohlen ausFootnote 3 (die im Englischen mit schlechten Seelen gleichlauten)Footnote 4 und hält damit auch die große Welt am Laufen: »So hübsche Leute, als jemals auf Rindsleder getreten, sind auf meiner Hände Werk einhergegangen.«Footnote 5 Ihre Morde und Opfer verrichten die Oberen aber ohne sein Zutun – sein komischer Auftritt, der dem elisabethanischen Publikum die (eigentlich Sandalen tragenden) alten Römer näher bringen soll, ist der Tragödie vorgelagert. Anders in Kleists Erstlingsnovelle: Hier wird ein »Schuhflicker«,Footnote 6 intim vertraut mit den Füßen auch von Adelstöchtern, zum wütenden Organ einer aus Rivalität und Rache gespeisten ›mimetischen Gewalt‹,Footnote 7 die ins Gemetzel treibt. Mit anderen Mitteln und eigenem Motiv führt er dabei auch zu Ende, was die Oberen zu tun versäumt haben. Shakespeares Brutus mahnt noch, den Tyrannenmord um des republikanischen Gemeinwesens willen als »Opferer«, »nicht Schlächter«, »Reiniger, nicht Mörder«, »kühnlich«, »doch nicht zornig« zu begehen,Footnote 8 um keinen Zirkel der Rache zu entfesseln.Footnote 9 Kleists Meister Pedrillo dagegen eskaliert die vom Erdbeben suspendierte Strafung der gefallenen Frau, die das unerreichbare Objekt seiner Begierde war, im aufgewiegelten Mob zum blindwütigen Massaker – einem Massaker auf kolonisiertem Boden,Footnote 10 das die Brutalität der Conquista nachahmend verkehrt.
Gegenüber Shakespeare ›radikalisiert‹Footnote 11 Kleists Novelle die mimetische Struktur der Gewalt in einer Kolonialgesellschaft, deren innere Konflikte anlässlich eines Falls nicht-lizenzierter Sexualität aufbrechen. Es ist der unterdrückte Eros, der hier die mimetische Gewalt der Männer, aber auch der »Matronen und Jungfrauen« (191) als weiblicher Stützen des Patriarchats stimuliert und die klerikale wie die päpstlich abgesegnete kolonialstaatliche Macht an einem Kernelement ihrer ideologischen Legitimation herausfordert: dem christlichen Heilsversprechen der Inkarnation als Eintritt Gottes in die Menschheitsgeschichte,Footnote 12 und das heißt physisch-konkret: in das unberührte leibliche Medium einer Jungfrau, deren Reinheit die wahre Göttlichkeit des Menschensohnes verbürgt.Footnote 13
Ausgehend von der Zeugung eines unehelichen Kindes im Klostergarten, dem genretypischen ›sexuellen Faktum‹ dieser Novelle,Footnote 14 entspinnt Kleist eine subversive Heils- und Passionsgeschichte, deren marianische Matrix die koloniale Toponymie Chiles vorgibt. Das leitende Phantasma, das Kleist gezielt aufgreift, um es im Klostergarten, einer traditionellen Marienallegorie, auszuhebeln, ist das der ›unbefleckten Empfängnis‹, der Immaculata Conceptio, die als Ortsname auf der kolonialen Landkarte Chiles den Machtanspruch der katholischen Eroberer und ihrer missionarischen Heilsbotschaft markiert: »La Conception« (203).Footnote 15 Gemeint ist La Concepción de María Purísima del Nuevo Extremo (›die Empfängnis der allerreinsten Maria des neuen äußersten Westens‹), eine mehrfach von den Mapuche überrannte und von Erdbeben zerstörte Gründung des spanischen Eroberers Pedro de Valdívia von 1550,Footnote 16 die in mariologischer Hinsicht ein potenziertes, genealogisch verlagertes Reinheitsideal im Namen trägt: nicht erst die unbefleckte Empfängnis des göttlichen Kindes durch Maria, sondern schon die der späteren Gottesmutter selbst durch ihre Mutter Anna nach dem apokryphen Protoevangelium des Jakobus (ProtevJac 4,1).Footnote 17 Lange vor Erhebung zum päpstlichen Dogma 1854 geht die Vorstellung von der Immaculata Conceptio schon der Maria also toponomastisch in die chilenische Kolonialgeschichte ein.Footnote 18
In dieser Anregung, in der sich Heils- und Kolonialgeschichte verbinden, insofern die Konquistadoren antreten, auf amerikanischem Boden die Heilsgeschichte fortzuschreiben, liegt der Schlüssel für die Konstruktion der Novelle in ihrer radikalen Subversion des marianischen Paradigmas. Kleist greift die Kerninspiration aus dem ideologischen Selbstverständnis der Eroberer in seinen Figurennamen aus der neutestamentlichen Heils- und der frühen Kirchengeschichte wie auch der Kolonialgeschichte auf, um den heilsgeschichtlichen Hypotext signifikant zu verschieben und durch Verkörperung zu verfremden. Im Namen der gefallenen Frau, der maculata, zielt er auf die Kernverheißung der christlichen Religion: die Überwindung menschlicher Sündenverfallenheit im endgültigen Sühneopfer Christi. Nach der Inkarnationslehre bricht das Göttliche – ein religionshistorisches Novum – gewaltlos in die menschliche Geschichte respektive den weiblichen Körper ein, um die kreatürliche, geschlechtliche Existenz an sich von Gewalt zu erlösen. Die skandalöse Fleischwerdung der christlichen Mysterien und Sakramente in der anderen Maria Josephe und ihrem unehelichen Kind per-vertiert dieses zentrale Theologumenon. Der christlichen Verheißung der Gewaltfreiheit, die im Zentrum der Novelle als gefährliches Trugbild aufscheint, hält Kleist als unhintergehbare Erbsünde die mimetische Rivalität im sozialen Raum entgegen, deren Energien die Tat-Sache des Lebens sich erst verdankt. Mit der schmerzvollen Entbindung und dem Erdbeben, das deren Wehen, zeitlich verschoben, in seismische Dimensionen steigert, insistiert Kleist gegen den platonischen Geist-Körper-Dualismus des Christentums auf der elementaren Gewalt des Physischen. Die Katastrophe, buchstäblich ein Umsturz aller Verhältnisse von oben herab (kata-strophé), wird auf der Folie der christlichen Heilsgeschichte als gewaltsamer Einbruch des Göttlichen, als fundamentale Erschütterung des Irdischen im Zuge der Synkatabasis, des göttlichen Abstiegs aus der Transzendenz in die Körperwelt, lesbar.Footnote 19 In biblisch gegründeter Engführung von Beben und Wehen erprobt die Novelle die Belastbarkeit der Anfänge, die aus beiden hervorgehen und Gewalt und Heil,Footnote 20 Untergang und Rettung unlöslich aneinander binden.
Die folgende Lektüre des Erdbebens in Chili gilt dem Zusammenhang von Geschlecht, Gewalt, Herrschaft und Heil auf der subvertierten Folie eines doppelten Intertextes, der hier beim Wort genommen werden soll: der kolonialherrschaftlichen Toponymie und ihrer marianischen, biblischen und legendarischen Matrix, an die Kleist sowohl in der auktorialen Namengebung der Figuren anschließt als auch in energetisch aufgeladenen Tableaux vivants, die überwiegend ikonische Marien- und Heiligendarstellungen aus der Dresdner Bildergalerie szenisch animieren.Footnote 21 Die Novelle erschließt sich damit als gleichermaßen toponomastisch und ikonographisch inspirierte Auseinandersetzung sowohl mit dem Katholizismus, der Marienfrömmigkeit, der christlichen Inkarnationslehre und dem katholischen EucharistieverständnisFootnote 22 als auch mit der spanischen Kolonialherrschaft in Südamerika, der die christliche Heilslehre in katholischer Prägung zur ideologischen Legitimation diente.
Nicht zwangsläufig mit der Dogmatik der katholischen Mariologie, die zudem erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung kam, wohl aber mit der reichen ikonographischen Ausprägung der Marientopik in der neuzeitlichen Malerei hat Kleist sich in den Jahren 1800 und 1801 intensiv beschäftigt: nach dem Würzburger Erlebnis katholischer Riten, Sakralkunst und Frömmigkeit auch in Dresden, in der Bildergalerie und der örtlichen katholischen Kirche.Footnote 23 Nahe liegt daher eine frühe Textgenese der 1807 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände erstveröffentlichten Novelle bereits in den Jahren 1801/02Footnote 24 und damit zugleich im Umkreis des ersten Dramas Die Familie Ghonorez bzw. Schroffenstein, aus dem spanische Figurennamen übernommen wurden.Footnote 25 Wichtige Prätexte auch für die Erstlingsnovelle sind Dramen: Shakespeares Römertragödie Julius Caesar von 1599 mit den Schlüsselmotiven Opfer oder Mord und Rache sowie Schillers Dom Karlos von 1787, die dramatische Kritik der Spanischen Inquisition und des politischen Katholizismus als Bund von »Schwert« und ›Kreuz‹ bis hin zum Sohnesmord.Footnote 26
Die Novelle selbst geht der ideologischen Legitimation von Herrschaft dort nach, wo sich dieses Problem in besonderer Schärfe stellt: an einem kolonialen Schauplatz, dessen Relevanz sich sicherlich nicht in seiner Spiegelfunktion für die europäische Aufklärung, die Französische Revolution und das Erdbeben von Lissabon erschöpft.Footnote 27 Vielmehr nutzt Kleist sehr gezielt die Optionen zur Potenzierung und Eskalation des gewalttätigen mimetischen Begehrens, welche die vielfältigen, konfligierenden Machtansprüche der kirchlich gestützten Kolonialherrschaft bieten, und verwickelt seine Figuren durchaus explizit in deren spezifische Strukturen.Footnote 28 Versteht sich der Kolonialismus als ein »Herrschaftsverhältnis«, »bei dem eine gesamte Gesellschaft ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die – vornehmlich wirtschaftlichen – Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren hin umgepolt wird«,Footnote 29 so ist er zugleich als eine ›ideologische Formation‹ zu begreifen,Footnote 30 die sich im Falle Spanisch-Amerikas auf einen »göttlichen Heilsplan der Heidenmission« berief, sodass gerade der Klerus »zum vermutlich wirkungsvollsten Instrument der spanischen Durchdringung Amerikas« avancierte.Footnote 31 Neben der Dominanz der katholischen Kirchenoberen als der Strafverfolger der unkeuschen Novizin entspricht der genuin soziale Kern des Skandalons bei Kleist – die Liaison eines neu eingewanderten bürgerlichen Spaniers mit der Tochter eines in Amerika schon eingesessenen spanischen Adligen – einer zweiten Besonderheit der spanischen Kolonien Amerikas und ihrer städtischen »Mischgesellschaft[en]«: dem lokalen Machtanspruch der in Amerika geborenen Spanier, der sogenannten ›Kreolen‹ (span. criollos),Footnote 32 die neben der spanischen Kolonialbürokratie durchaus eigene »städtische Oligarchien« ausprägten.Footnote 33 Um (mindestens) eine Komplikation reicher legt Kleists koloniale Variante der Hauslehrerliebe nach Abaelard bzw. Rousseau sowie der novellentypischen Engführung von Vaterhaus und Tochterleib (der Vater trägt hier den Namen Henrico nach ahd. Heimrich, dem ›Herrscher im heimischen Besitz‹) in der Paarung des bürgerlichen Spaniers Jeronimo Rugera mit der kreolischen Adelstochter Donna Josephe Asteron Stand und Herkunft über KreuzFootnote 34 – hierin besteht die spezifisch koloniale Ausgangslage eines Konflikts, den Kleist zur Sondierung komplexer Herrschaftsverhältnisse mit Kalkül inmitten der für Spanisch-Amerika charakteristischen Rivalitäten um die Kompetenzen der Kirche und der Krone, des kolonialen »Vizekönigs« und des »Erzbischofs« (191), des weltlichen Klerus und der monastischen Orden (die Äbtissin der Karmelitinnen vermag Josephe nicht zu retten), des kanonischen und des staatlichen Rechts platziert.Footnote 35 Wie eingehend sich Kleist auch immer mit Rechtsfragen in Spanisch-Amerika beschäftigt haben mag, ist es ihm in der Auffächerung konkurrierender Instanzen doch sichtlich um die in kolonialen Herrschaftsstrukturen noch verschärfte Rivalität von Machtansprüchen und mimetischen Energien zu tun.
Die ursprünglich zur Abgrenzung von Altchristen gegen jüdische und maurische Konvertiten aufgestellte, nach Kolonialamerika übertragene Doktrin von der zu erhaltenden ›Reinheit des Blutes‹ (limpieza de sangre) ist durch die heimliche Verbindung Jeronimos und Josephes – die in der Journalfassung titelgebenden, zumal gleich anlautenden Vornamen nivellieren den Standesunterschied – nicht berührt; Kleists Chiasmus der hierarchischen Faktoren soziale Klasse und Ethnie bzw. Geburtsort und die von Jeronimo beanspruchte persönliche ›Gunst‹ des kolonialen VizekönigsFootnote 36 tangieren aber die pyramidale Stufenordnung der kolonialen Gesellschaft, die spanische Kronbeamte und hohe spanische Kleriker an erster, Kreolen prinzipiell erst an zweiter Stelle vorsah.Footnote 37 Der Konflikt ist hier mithin vorrangig sozial, nicht ethnisch-rassistisch motiviert wie in der späteren Novelle Die Verlobung von St. Domingo, wie sich auch die entsprechenden Kolonietypen – südamerikanische »Beherrschungskolonie«Footnote 38 hier, karibische »Siedlungskolonie«Footnote 39 dort – grundsätzlich voneinander unterscheiden.Footnote 40 Die frühere Novelle fokussiert mithin Herrschafts- und Machtstrukturen im besonderen Spannungsverhältnis von kolonialem Staatswesen und katholischer Kirche, die spätere zielt auf die Sklaverei und das rassistische Kastensystem in der Karibik. Führt die von Misstrauen vergiftete Liebesgeschichte von Gustav/August und Toni im dreifach segmentierten Spannungsgefüge von Ethnie, Stand und Geschlecht die für die karibische Sklavenhaltung charakteristische »›Pigmentokratie‹«,Footnote 41 die Hierarchisierung der Hautfarben, noch in ihrer revolutionären Umkehrung vor, so stellt die Chili-Novelle ihre Liebenden ins doppelte Fadenkreuz des kolonialideologisch funktionalisierten Katholizismus und der fein abgestuften Machtordnung einer kolonialspanischen Stadtgesellschaft, deren beider Herrschaftsanspruch und Heilsversprechen durch die illegitime Zeugung eines Kindes herausgefordert werden.
In diesen kolonialherrschaftlichen Verhältnissen also situiert sich Kleists verkehrte, buchstäblich per-verse Aktualisierung des marianischen Paradigmas,Footnote 42 wenn die im Klostergarten geschwängerte Novizin kirchenrechtlich zum Tod verurteilt wird, als femina sacraFootnote 43 im katastrophischen Ausnahmezustand aber eine eigene marianische Karriere und karitative Imitatio Christi antritt, die auf Pedrillos Keule zuläuft. Die koloniale Toponymie – ein Hypotext, der die militärische Eroberung und die folgende koloniale Gewaltherrschaft Südamerikas ins Zeichen biblischer Heilsversprechen setzt – liefert das choreographische Muster, das Kleists erzählte Tragödie ohne Katharsis in Verschiebungen anspielt und qua Verkörperung durchkreuzt. Entlang der Ortsnamen, die sich auf der kolonialen Landkarte Chiles um die 1647 von einem schweren Erdbeben heimgesuchte Hauptstadt gruppieren, entlarvt die Novelle diesen von mimetischer Gewalt gestützten und bedrohten ideologischen Nexus und zielt im subversiven re-enactment von Empfängnis, Geburt und Passion des christlichen Erlösers auf den weiblichen Körper als erstes Objekt von Heils- und Herrschaftsphantasien,Footnote 44 die zuletzt in der heiklen Strukturanalogie von Messopfer und Menschenopfer übereinkommen.
I. Toponymie des Heils
Dass ›alles mit der Namengebung beginne‹,Footnote 45 gilt, nach dem Muster des göttlichen Benennungsakts, der zugleich einen absoluten Besitzanspruch markiert,Footnote 46 für die DichtungFootnote 47 wie für die koloniale Inbesitznahme fremden Landes, die sich im Fall der Conquista durch die weltweite Verbreitung des christlichen Glaubens gerechtfertigt sah und zur Bezeichnung der eigenen Stützpunkte entsprechend Hagionyme bevorzugte.Footnote 48 Wie dem südamerikanischen Erdboden sind die biblische Schöpfungs- und die christliche Heilsgeschichte auch Kleists Novelle schon in den kolonialen Ortsnamen eingeschrieben, die von der »geographischen Gewalt« der ›Entdecker‹ im herrschaftlichen Benennungsakt zeugen;Footnote 49 die um die Gegenwart des Göttlichen kreisenden Erzählungen, die in diesen Namen aufgerufen sind, werden im Novellengeschehen konkret.Footnote 50 Heilige Namen, hieroi nomoi, bringt mithin nicht erst die auktoriale Setzungsmacht ins Spiel, welche die biblischen (und historischen) Vorbilder ihrer Figuren jeweils in signifikanter Verschiebung der »verkörperten Namen«Footnote 51 aufruft: die sündige Josephe an der Stelle der Jungfrau Maria und zugleich des Nährvaters Jesu, Meister Pedrillo (in spannungsvoller Verschränkung von handwerklicher Meisterschaft und dem durch den Diminutiv indizierten niederen sozialen Rang)Footnote 52 an der des Petrus, der liebende Hauslehrer Jeronimo an der des Hl. Hieronymus, des Kirchenvaters, Bibelübersetzers und Theoretikers von Ehe und Jungfräulichkeit, der den ›heiligen Namen‹ (hieros nomos) selbst im Namen trägt.Footnote 53 Der intrikaten narrativen »Vollstreckung«Footnote 54 der ominösen Figurennamen noch vorgelagert, gibt hier vielmehr die toponyme Gewalt der spanischen Eroberer in den südamerikanischen Ortsnamen die Phantasmen der kolonialen Gesellschaft vor, die bei Kleist handlungsleitend werden: Santiago, La Concepción und das namentlich nicht genannte, aber in Szene gesetzte Valparaíso.
Der Schauplatz der beiden Rahmenstücke der Novelle, 1541 von Pedro de Valdívia neben indigenen Siedlungen im fruchtbaren Mapocho-Tal gegründet und im herrschaftlichen Schachbrettmuster angelegt,Footnote 55 ist (wie das galizische Santiago de Compostela) dem Patronat von »St. Jago« unterstellt,Footnote 56 d.h. dem Apostel Jakobus dem Älteren, erster Missionar der römischen Provinz Hispania, späterer Nationalheiliger Spaniens und Schutzpatron von Reconquista und Conquista mit den entsprechenden Ehrentiteln Matamauros und Mataindios (›Mauren‹- und ›Indiosmörder‹).Footnote 57 Der Legende nach war dem Jakobus im Jahr 40 bei Saragossa Jesu (damals noch in Judäa lebende) Mutter Maria auf einer Marmorsäule erschienen, als er die Mission auf der iberischen Halbinsel wegen Erfolglosigkeit gerade aufgeben wollte, und forderte ihn auf, eine Kirche zu errichten: die erste Marienerscheinung und die erste Marienkirche der Christenheit. Da der Festtag dieser Hierophanie am 12. Oktober begangen wurde, avancierte Maria del Pilár (›Unsere liebe Frau auf dem Pfeiler‹) nach jenem anderen 12. Oktober anno domini 1492, an dem Kolumbus an den ›westindischen‹ Inseln anlandete, zur Schutzpatronin der weltweiten Hispanidad.
Kongenial zu diesem Legendarium ist es ein »Wandpfeiler«, an dem sich Kleists Jeronimo nach seinem Gebet »vor dem Bildnisse der heiligen Mutter Gottes« (191) selbst retten kann. Im Zeichen der Marienverehrung kehrt der visionäre Pfeiler des Hl. Jakobus hier als architektonisches Element der staatlichen Gewalt wieder, die den »junge[n] Spanier« unspezifisch »auf ein Verbrechen« (189) angeklagt hat. In Kleists dramatischer Verschränkung von Katastrophe und Rettung mutiert das Selbstmordinstrument zum Rettungsanker,Footnote 58 als die Pfeiler der Erde und des Himmels erbeben.Footnote 59 »Santiago« mag für Kleist auch »ein nach Südamerika verlegtes Würzburg« sein,Footnote 60 an dem sich der Anspruch der Inquisition realisiert und die kirchliche Rechtsprechung über die staatliche dominiert; zugleich markiert schon der Name des Ortes (in Reverenz an den Marienseher und ›Indiomörder‹) jene kolonialgeschichtlich unlösliche Verquickung von Marienverehrung und kriegerischer Eroberung, welcher sich auch seine eigene Gründung verdankt. Kleist treibt unter diesem ambivalenten Patronat die Dialektik von Heil und Gewalt hervor: Ist mit dem Heiligen Tiago im spanischen Toponym auch der zugrunde liegende hebräische Name Ja’aqob aufgerufen, ›Gott beschütze‹, so spielt der Text in der älteren Schreibweise der Stadt als »St. Jago« unter dem Deckmantel des Heiligen zugleich den Jago aus Shakespeares Othello ein, der für das Vertrauen heischende Böse steht.Footnote 61 Auch die Option auf Glück, welche die katastrophische »Wendung der Dinge« (191) als wunderbare Rettung aus der Ausweglosigkeit und »Unumkehrbarkeit«Footnote 62 der irdischen Zeitläufe für Jeronimo und Josephe freisprengt und im Tal außerhalb der Stadt zu verwirklichen scheint, ist just insofern ins Trügerische gesetzt, als dieser Andersort in narrativer Mythenbildung und Schicksalshermeneutik der Davongekommenen unweigerlich auf St. Jago, die Stadt, die Kolonialherrschaft und die Kirche, bezogen bleibt.
Die sich in einem »Tal von Eden« (201) wiederzufinden glauben, sind weder der Geschichte von Gewalt und Rache noch der Ideologie, die diese legitimiert und noch die vermeintlichen Fluchträume besetzt hält, je entkommen. Auch das idyllische Kernelement einer Erzählung, die sich zumal in ihrer dreigliedrigen Buchfassung als pessimistischer Gegenentwurf zum triadischen Geschichtskonzept der Aufklärung liest, entspricht (oder entspringt) der heilsgeschichtlich-eschatologischen Toponymie der Konquistadoren, deren Zugriff auf das fremde Land im paradoxen Zeichen eines zivilisatorisch erst zum Blühen zu bringenden, im Sinne Rousseaus damit korrumpierten Paradieses steht. Ein solches meinten die Eroberer 1544 in einer vom Stamm der Chango bevölkerten Bucht an der Pazifikküste nordwestlich der gerade erst befestigten Siedlung von Santiago zu entdecken bzw. als Hafenstadt neu zu begründen: Valparaíso. Kleist gestaltet diese Verheißung der kolonialen Landkarte Chiles zur idyllischen Fiktion, »wie nur ein Dichter davon träumen mag«, und zur Glücksempfindung des postkatastrophischen, ›traumatisierten‹ Bewusstseins Josephes,Footnote 63 die sich – Schöpfungsgeschichte und Eschatologie, den Paradiesgarten und die nach der Apokalypse anstehende künftige Ewigkeit überblendend – nach der abgewendeten Hinrichtung mit der »Seligkeit« (201) eines neuen, unversehrbaren Lebens beschenkt glaubt.
Im spanischen Mutterland der amerikanischen Kolonien, wo Jeronimo »mütterliche Verwandte[]« (203) hat, soll dieses neue Leben sein (aufgeschobenes) irdisches Ende finden – so verstrebt Kleist die Heils- und Glücksprojektionen auf beiden Seiten des Atlantik miteinander.Footnote 64 Als Tor zur alten Welt, an dem sich das Schicksal der Liebenden – in der Obhut altspanischer mütterlicher Verwandter oder in der Gunst einer neuspanischen Vaterfigur – entscheiden soll, fungiert jene andere (einstmalige) Hafenstadt, deren Toponym als »incident name«Footnote 65 eines heilsgeschichtlichen Ereignisses dem Andenken an die unbefleckte Empfängnis Mariens durch ihre Mutter Anna gewidmet ist: La Concepción. Aufgerufen ist damit das mariologische Schlüsselparadox respektive Mysterium des ewig reinen, jungfräulich-mütterlichen Leibes, dessen allein gotteswürdige Integrität sowohl die wahre Menschlichkeit Jesu verbürgt als auch die wahre Göttlichkeit des Menschensohnes und die Kraft seines Erlösungswerks vermittelt. Nach dem Bericht des Südsee-Reisenden Amédée François Frézier hatte die Immaculata Conceptio als Empfängnis »ohne Makel und Erbsünde«, neben dem »allerheiligste[n] Sacrament des Altars« und als dessen Bedingungsmöglichkeit, gerade im Katholizismus der spanischen Kreolen eine herausragende Bedeutung, die auch bei alltäglichen Handlungen in Lobessprüchen bekräftigt wurde.Footnote 66
II. Hortus conclusus und Corpus Christi
Der Name des als Brückenkopf in ein neues Leben auserkorenen Ortes mahnt mithin, dass es die Frage der Empfängnis sei, die über Glück und Seelenheil entscheidet (wie gerade die antiken Kirchenväter darzulegen wussten).Footnote 67 Als Phantasie künftigen Glücks der Liebenden weist »La Conception« (203)Footnote 68 auf der Achse der individuellen Glücks- bzw. Heilsorte der Novelle damit vor das postkatastrophische Paradies auf den Ort zurück, der den marianischen Leib in der paradoxen Einheit von Lebendigkeit und Reinheit selbst repräsentiert: auf den »Klostergarten« (189) der Karmelitinnen. Als Garten symbolisiert dieser das irdische Paradies;Footnote 69 nach dem Vorbild der im Hohelied als ›verschlossener Garten‹ (hortus conclusus) gepriesenen weiblichen GeliebtenFootnote 70 ist der Klostergarten zugleich Allegorie des unberührbar-integren Marienleibs, durch den das verlorene Paradies von Christus wieder aufgeschlossen wird. Symbolisch steht der Klostergarten also für das uranfängliche und das wiederzuerlangende Heil, allegorisch für die jungfräuliche Gottesmutter, die durch die Gleichsetzung mit der geliebten Braut des Hoheliedes auch als keusche Geliebte ihres Sohnes verehrt wirdFootnote 71 und als heilsträchtige Braut Christi (Maria sponsa) die ganze ecclesia, die Gemeinschaft der von Jesus aus der Welt zum Gottes- und Nächstendienst ›Herausgerufenen‹,Footnote 72 figuriert. Es ist dieser Brautstand der erlösungsbedürftigen Christenheit, der im klösterlichen Garten verbildlicht und verteidigt – und bei Kleist durch den Liebesakt gebrochen wird.Footnote 73
Als nächtlicher Eindringling »macht« Jeronimo (wie es aktivisch und einseitig heißt)Footnote 74 den Klostergarten zum Liebesgarten (hortus amoenus), »zum Schauplatze seines vollen Glückes« (189), und profaniert durch das betont ›volle‹ Maß seiner sexuellen Befriedigung die Fülle himmlischer Gnade, welcher die Jungfrau, gratia plena, als Gefäß dient.Footnote 75 Seine rein mediale Rolle behält der Frauenleib hier bei: Gilt den Mariologen die »unbefleckte« Jungfräulichkeit Mariens als »Brautgemach« für das »Wort Gottes« und als »das geistige Paradies des zweiten Adam«Footnote 76 Christus, der die Erbsünde für immer sühnt, so ›macht‹ der ›junge Spanier‹ mit dem Namen des asketisch-eremitischen Bibel-Übersetzers und Kirchenvaters Hieronymus den Körper Josephes an geweihtem Ort zu seinem irdischen Paradies und re-sexualisiert damit auch die in der Annunziata-Ikonographie verbildlichte spirituelle Begattung der im Garten sitzenden Maria durch den Heiligen Geist.Footnote 77
Während Christus »geistig in den Schoß der Jungfrau hinab[gestiegen]« ist, um an diesem »Mittelpunkt der Erde« die »alte Wunde« – »die Fortpflanzung durch den Koitus« – zu reinigen und ›endgültig‹ zu ›heilen‹,Footnote 78 reißt der von Kleist in die Allegorie des Marienleibs versetzte Geschlechtsakt die Wunde des lapsus von Neuem auf. An der Stelle der dem Sexus ›verschlossenen‹ marianischen »Pforte zum Heil«, empfänglich nur für den Zustrom der Transzendenz, klafft das Tabu,Footnote 79 der biologische Riss des in Mensis, Zeugungsakt, Geburt und Kindbett eröffneten weiblichen Körpers der Josephe als der anderen Eva.Footnote 80 Bei Kleist wird dieser Riss in Josephes öffentlichen »Mutterwehen« (189) an Corpus Christi, dem katholischen Hochfest des ›allerheiligsten Leibes und Blutes Christi‹ (Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi), offenbar, da die unter der goldenen Monstranz der Hostie versammelte Gemeinde im Gedenken an das agonale Erlösungsgeschehen im Kreuzestod Christi auch ihren Sieg über die lust- und todesverfallene Körperlichkeit feiert. Noch der von der Erbsünde untangierte Leib des Erlösers selbst, der Brot und Wein an die Seinen ausgeteilt und sich in Fleisch und Blut für sie geopfert hat, wird hier in der GottestrachtFootnote 81 des Fronleichnamszuges, als Triumphzug der Zeichen über die Körper, des Geistes über das Fleisch, nur noch in einer sublimen Grenzform des Materiellen sichtbar: als hauchdünne, glatt gepresste, von spektakulären Rahmungen überstrahlte Oblate, die in der Monstranz auch der Einverleibung im eucharistischen Mahl entzogen ist.Footnote 82
Die niederkommende Josephe wirft die Anbetung dieses allerheiligsten Leibes im konsekrierten Brot auf genau jene »krude« und »eruptive«Footnote 83 weiblich-mütterliche Körperlichkeit zurück, welche das Phantasma der entsexualisierten Frau namens ›Jungfrau Maria‹ negiert und die Theologie für die Geburt Christi ausschließt: Durch die eigene unbefleckte Empfängnis der Erbsünde entzogen, erleidet Maria keine Wehen,Footnote 84 wie sie Eva und damit ›der Frau‹ als Strafe für den Sündenfall und Bedingung für eine Existenz jenseits von Eden auferlegt wurden (Gen 3,16).Footnote 85 Wie die Entbindung des Heilands aus dem (der Lehre nach) vor, während und nach der Geburt jungfräulichen Marienleib stattdessen vorzustellen sei, bleibt der blinde Fleck schon der Evangelien des Lukas und des Matthäus, welche die Jungfrauengeburt propagieren.Footnote 86 Just die »Mutterwehen« also, die in der Novelle das gesamte Geburtsgeschehen anzeigen, stellen Josephe vor versammelter Gemeinde als »junge Sünderin« bloß, niedergeworfen »auf den Stufen der Kathedrale« (189) wie die in der Immaculata-Ikonographie von Maria niedergetretene Schlange, und weisen ihr Kind als »heillos eingefleischte[n] Sohn«Footnote 87 der Sünde aus.
In der öffentlichen Niederkunft einer für die mystische Christus-Ehe vorgesehenen Novizin bricht das factum brutum sexueller Reproduktion, das immer schon einen »Riß in der kulturellen Ordnung« markiert,Footnote 88 in die (theologisch komplexe) Feier realpräsentischer Anwesenheit des Unsichtbaren in der eucharistischen Substanz ein und rührt dabei an die Grundpfeiler der ecclesia mit der Muttergottes als Maria mediatrix, Mittlerin der Gnaden und Fürsprecherin der Gläubigen an ihrer pyramidalen Spitze – der »Riß« (215), den das Erdbeben, Josephes Wehen ins Seismische potenzierend, in der Mauer der letzten noch stehenden Kirche Santiagos eröffnet, macht insofern die latente Bedrohung des christlich-platonischen Vergeistigungsstrebens durch den weiblichen Körper selbst sichtbar, der nur als de-sexualisierter zum Zentrum der Heilsgeschichte und zum »Mittelpunkt der Erde«Footnote 89 erklärt werden konnte.
Die skandalöse Koinzidenz und Konkurrenz von blutiger Geburt und eucharistischem Leib Christi – Kleists ingeniöser dramaturgischer Coup – wirft das anzubetende Messopfer, in dem des Gipfelpunkts der Heilsgeschichte auf Golgatha, der Umkehrung des Sündenfalls, gedacht wird, auf einen kontingenten Anfang zurück. Wohlkalkuliert wird damit nicht nur das theologische Bedingungsverhältnis von Transsubstantiation und Inkarnation freigelegt;Footnote 90 der eklatante Kontrast von biologisch-unreiner Körperlichkeit und enthoben umstrahlter Hostie verweist zugleich auf die Funktionsstelle der Jungfrau in der heiklen mariologischen Lösung für die Aporien der christlichen Synkatabasis, der Einkehr des Heils in die Welt des Fleisches. Die Entbindung eines biologisch gezeugten Kindes am Hochfest des heilbringenden Leibs des Erlösers bietet demgegenüber die Option auf eine (Lesart als) apokryphe Heilsgeschichte nicht aus der göttlichen Insemination der virgo inviolata, sondern aus dem (von der Urmutter Eva sich herleitenden)Footnote 91 Soma lebendiger und damit todgeweihter Geschlechtlichkeit.Footnote 92 Die Frage hinter dieser buchstäblichen Makulatur des Sakralen und des eucharistischen Sakraments ist die nach einer möglichen Verbindung von Heil und Geschlecht nicht jenseits, sondern inmitten einer »jammervollen Welt« (193) und ihrer (vom Sexus angetriebenen) mimetischen Gewalt.Footnote 93
Auf den sexuellen Akt, der der Geburt nach Maßgabe des Irdischen vorangegangen sein muss, richtet sich auch die allgemeine Empörung, die das doppelte Sakrileg, die Schändung des Klostergartens und der Hostie, zum öffentlichen Ärgernis und mithin zum Politikum macht. Für die anonymen »Zungen«, die in kaum verhohlener sexueller Rage und aggressiver »Erbitterung« verbal »über das ganze [!] Kloster her[fallen]« und den Begattungsakt damit symbolisch en gros wiederholen, besteht der »Skandal« (191) in dem Bruch einer – noch gar nicht geschlossenen – heiligen Ehe: in dem Verrat an dem einzigen, dem göttlichen Bräutigam, dem die Novizin als Nachfolgerin Mariens und angehende sponsa Christi versprochen war, auch wenn sie noch kein Keuschheitsgelübde abgelegt hat.Footnote 94 Im Sinne dieser rigorosen Antizipation des heiligen Ehestandes in der öffentlichen Meinung muss folglich der Erzbischof als irdischer Statthalter des himmlischen BräutigamsFootnote 95 den Fehdehandschuh aufnehmen und der jungen ›Sünderin‹, die mit dem jungfräulich-marianischen Leib zugleich das zu empfangende Heil preisgegeben hat, einen Prozess machen, der mit der »geschärfteste[n]« Gewalt der »scharf« zielenden »Zungen« (191) auf der Straße mithalten kann.Footnote 96 Entsprechend korrespondiert dem Bruch des Eheversprechens am nächtlich-»verschwiegenen […] Schauplatze« (189), den (nur) das göttliche Auge gesehen haben wird,Footnote 97 das »Schauspiel[]«, das, als Massenspektakel zur Beschwichtigung der allgemeinen Empörung, der Hinrichtungszug nunmehr »der göttlichen Rache« (191) geben soll. Um stellvertretend ausgeführte Rache des Verratenen, in seinem Stolz und Besitzanspruch Gekränkten geht es hier (wie das Verhalten des irdischen Vaters Asteron deutlich macht), nicht um Recht und das berufene »Gesetz« (191). Rache aber will Vernichtung, weshalb die Intervention des staatlichen Souveräns, hier des kolonialen Statthalters des spanischen Königs, der sich zugleich als weltweit agierender defensor ecclesiae versteht, zugunsten einer milderen Hinrichtungsart neue »Entrüstung« (191) hervorruft und ein energetisches Potenzial neuer Rachegelüste freisetzt.
Schon hier »lauert« mithin »nackte Gewalt« hinter der »rituellen Strafinszenierung«,Footnote 98 die der öffentliche Hinrichtungszug als kathartisches Spektakel zur Aufführung bringen soll – mit dem ins Groteske getriebenen Schauwert von Semana Santa-Prozessionen in der spanischsprachigen Welt und als analoge Darbringung eines Opfers. Es ist der von Jesu Kreuzestod erfüllte und zugleich überwundene Sündenbock-Mechanismus,Footnote 99 den Kleist in der Überführung der Fronleichnamsprozession in den Hinrichtungszug als performatives Grundmuster des katholischen Ritus freilegt. Indem die den Kreuzestod memorierende Hostie zu Corpus Christi öffentlich angebetet wird, kehrt sich jene »Energie« nach außen, welche die Kirche aus der rituellen Wiederholung des Opfers zieht, um als »politische Institution« historisch zu überdauernFootnote 100 und im globalen Ausgriff zu wachsen. Der Hinrichtungszug als anderer Hochzeitszug verschiebt das im Messopfer gefeierte Selbstopfer Christi – die historisch radikal neue christologische Variante des OpfersFootnote 101 – zum Frauenopfer, das die gefallene Braut ihrem rechtmäßigen Ehegatten doch noch übereignet. Wie das »abendmaal des lammes« nach Offb 19,9 zugleich als ›Hochzeitsmahl‹ zur Verbindung mit der jungfräulichen Braut, der Kirche, gilt,Footnote 102 so sieht die nach »klösterliche[m] Gesetz« (191) verfahrende kirchliche Strafjustiz an der nicht mehr jungfräulichen Mutter Josephe den Vollzug dessen vor, wozu die Novizin bestimmt war: die »Weihe« für den Tod, auf den »die Opfergabe der Frau in der Hochzeitsnacht vor allem hinweist«, insofern »man sich Gott ja nur im Opfer darbringen kann«.Footnote 103
An dieser Stelle interveniert Kleists Dramaturgie von augenblicklicher Wendung und Umkehr in Katastrophe und Rettung, um der potenzierten Dynamik überstürzter Ereignisse neue Erlebnismomente von Heil zu entreizen: Wie die öffentliche Entbindung die Gottestracht zur Feier des von Sexualität und Schuld erlösenden Fleisches und Blutes Christi sprengt, so sprengt das Erdbeben den Hinrichtungszug, der den Einbruch des Sexuellen in die commemoratio der Heilstat Christi strafen und sühnen soll: Die Rettung der ›Sünderin‹ kehrt deren Fallgeschichte um und setzt für deren Familie – von der katastrophischen höheren Gewalt in ein außergesellschaftliches, außergeschichtliches zweites Paradies katapultiert – alles noch einmal auf Anfang.
III. Wehen/Beben
Das Erdbeben steigert nicht nur Josephes Wehen auf den Stufen der Kathedrale zur tellurisch-kosmischen Katastrophe, in deren »Gekrache« auch »das Firmament« einzustürzen scheint, mithin der Himmel selbst herabkommt;Footnote 104 es zeitigt zugleich eine zweite Sturzgeburt, wenn nun der gefangene Jeronimo – »[z]itternd, mit sträubenden Haaren, und Knien, die unter ihm brechen wollten« – »über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu[gleitet]«, die der »Zusammenschlag« zweier Gebäudeteile »in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen« hat (193). Wenn die Novelle hier die Reperkussionen des Bebens einen entscheidenden, gedehnten Augenblick lang in der Schwebe hält, um die Ereignisse und mit diesen auch das Bewusstsein der Figuren zu ›suspendieren‹,Footnote 105 so öffnet sich mit diesem Moment der gesamte Mittelteil des Textes als ein Fluchtraum in Idylle und Utopie. Dass sich dieses Zeitfenster unwiderruflich auch wieder schließen werde, lehren die – im Unterschied zum Würzburger TorbogenFootnote 106 – nur an-, aber nicht aufgehaltenen Zusammenstürze, die auf die Rettung Jeronimos aus dem Gefängnis und Philipps aus dem Kloster folgen.
Jeronimos Befreiung – eine Piranesis Carceri dramatisierende Szene, die das Zusammen-Stürzen der Gebäudeteile als metaphorisches Geburtsgeschehen entfaltetFootnote 107 – ergänzt Josephes Entbindung um die Innensicht auf ein buchstäblich geworfenes, heteronomes subiectum, das, »starr vor Entsetzen«, auf dem Spielfeld physikalischer Kräfte zur Ausflucht ins »Freie[]« gestoßen bzw. in surrealer Zeitlupe geschoben wird.Footnote 108 Eine »zufällige Wölbung« (193) in der erschütterten Architektur der Macht bildet dabei einen »Hohlraum der Kontingenz«,Footnote 109 dem das Individuum seine Existenz verdankt. Anders als in Euripides’ Bakchen und in der Apostelgeschichte (Agp 16,26), da Petrus durch ein Erdbeben aus dem Gefängnis in Philippi befreit wird,Footnote 110 ist die Szene bei Kleist gerade nicht als ein Wunder codiert: Santiagos Kerker wirft vielmehr kurz vor seinem völligen Zusammenfall ein nacktes Leben aus, das »[b]esinnungslos« (193) aus der Apokalypse der Stadt flieht, um außerhalb derer in Ohnmacht zu fallen.
Jenseits dieser doppelten Grenzscheide, beim Erwachen aus der »tiefsten Bewußtlosigkeit«, empfindet sich Jeronimo, »halb auf dem Erdboden« aufgerichtet und »unwissend« über die Zusammenhänge seines »Zustande[s]«, im »unsägliche[n] Wonnegefühl« eines erinnerungslosen, rein sinnlichen Hier und Jetzt in schierer Kreatürlichkeit, wenn »ein Westwind, vom Meere her«, »sein wiederkehrendes Leben anweht[]« (195) wie der schöpfergöttliche Geist den ›Erdling‹ namens Adam.Footnote 111 Der Befreiung aus der ambivalenten mutterräumlichen »Einsperrung« (191) folgt damit am Nullpunkt des Bewusstseins die Neubelebung durch den vatergöttlichen Odem im ›Freien‹, die ein vom Wissen um fatale Verstrickungen noch ungetrübtes Glücksgefühl des bloßen körperlichen Daseins gewährt. Für einen ekstatischen Moment scheint hier ein prälapsarisches Heil-Sein auf, das von der wiederkehrenden Erinnerung an die eigene Vorgeschichte schrittweise eingeholt und schließlich überrollt wird.Footnote 112 Die Szene leitet dieses Zeitbewusstsein anthropologisch aus dem aufrechten Gang und der visuellen Frontalausrichtung her: Erst als Jeronimo »sich umkehrt[], und die Stadt hinter sich versunken [sieht], erinnert[] er sich des schrecklichen Augenblicks, den er erlebt hat[]«, und dankt Gott als nunmehr auch der Prekarität seiner Existenz bewusstes Geschöpf mit bis zum Boden gesenkter Stirn »für seine wunderbare Errettung« (195) – dieser ›zweite Adam‹ ist ein geretteter, kein Retter, ein seiner selbst Vergessener, kein Überwinder, einer, der die »ungeheure Wendung der Dinge« (191) als körperlich-konkrete Kehrtwende erfährt.Footnote 113
Wie biblisch die Abkehr von dem »im Osten« (Gen 2,8) angelegten Garten Eden und »die Blickrichtung nach Westen« Folgen des Sündenfalls sind,Footnote 114 so erlebt Jeronimo sein »Paradies freier Selbstgeburt«Footnote 115 in Abwendung von der (im Westen an den Pazifik grenzenden) zerstörten Stadt auf den Hügeln außerhalb derer. Sein an Lots Frau mahnender Rückblick markiert eine neuerliche »körperliche Wendung« auf der heilsgeschichtlichen »West-Ost-Achse«;Footnote 116 dabei verliert er kurzfristig das Paradies des Nicht-Wissens, um mittelfristig ein trügerisches familiales Idyll zu gewinnen. Nicht den Fluchtweg weiter nach Osten, in das Heil verheißende spanische Mutterland der Kolonien, tritt die Familie von dort aus an,Footnote 117 sondern den Rückweg in die Stadt, die den Liebenden nun erst zur Apokalypse gerät.
Josephe, an die ihn erst sein Fingerring, ein konkretes, am Körper getragenes Ding, erinnert,Footnote 118 wird Jeronimos sprunghaften Wechsel von der Vergessenheit zur Wiedererinnerung, der die ›Wendung der Dinge‹ auch zur Ansichtssache vor dem jeweiligen Erwartungshorizont macht, ihrerseits umkehren: ›Verführt‹Footnote 119 von Don Fernandos Angebot, sich an eine neue Gemeinschaft anzuschließen, verwirft sie, die marianische Mediologin, die gegenüber dem Souverän angeratene Vorsicht körperlicher Distanzierung bei medialer Vermittlung,Footnote 120 um in derselben Gegenwartsemphase wie Jeronimo dem empfundenen »Drang« nachzugeben, »ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen« (211).Footnote 121 Ihr kreatürlicher Gottesbezug in der Anbetung jener »erhabene[n] Macht«, welche sich, herrlichkeitstheologisch, gerade in Zeit und Raum »entwickle« (211),Footnote 122 bleibt dabei gekoppelt an die Institution Kirche und die Gemeinschaft der Gläubigen, »die ganze im Tempel Jesu versammelte Christenheit« (217), als sakramental gestützte Medien des Heils und Orte schon der diesseitigen Heilserfahrung. Ihr Begehren – ein ›Gottesbegehren‹,Footnote 123 für das Mann und Kind (nur) irdische Stellvertreter sindFootnote 124 – richtet sich auf genau jene energetisch-charismatische Bündelung und Potenzierung gläubiger »Inbrunst«,Footnote 125 deren »Flamme« am Ende aus dem atmosphärischen Kessel des Doms »gen Himmel« (213) schlagen wird.
Während im Neuen Testament die Erdbeben beim Kreuzestod Jesu (Mt 27,51–54)Footnote 126 und bei der Eröffnung seines Grabes (Mt 28,2) die Göttlichkeit des Gekreuzigten bzw. Auferstandenen anzeigen, will Josephe durch die Intervention der Naturgewalt gezielt vom Tod gerettet worden sein. Ihr Erdbeben bekräftigt nicht die Göttlichkeit des Opfers, verhindert vielmehr die Opferung, indem es den »Hinrichtungszug aus einander []sprengt« (197) und die Stadt und »alles, was Leben atmet[]« (193), vernichtet, wie es die Johannesapokalypse unter dem sechsten Siegel für den ›Tag des Zorns‹ (Offb 6,17) und für den endzeitlichen Untergang der ›großen Stadt‹ (Offb 11,13; 16,18 f.) ankündigt. Unter den biblisch gegründeten Deutungsoptionen für ein Geschehen, das im Als-ob-Einsturz des Firmaments auch die Löschung der Sinnhorizonte figuriert, um der Geburt des Subjekts aus dem Zu-Fall stattzugeben, steht also Rettung durch zerstörerische Intervention (wie Jeronimo und Josephe aufrechnen)Footnote 127 versus apokalyptisches Strafgericht (wie der Chorherr zur Abwendung weiteren Übels mahnt).
Die bei Kleist strukturbildende Verschränkung von Beben und Wehen ließe sich kongenial auf den Wortlaut der Endzeit-Rede Jesu in der synoptischen Apokalypse zurückführen,Footnote 128 welche die Zerstörung des Tempels – »nicht ein stein wird auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde« (Mk 13,2) – und die Verfolgung der Jünger ankündigt,Footnote 129 denn laut dem neutestamentlichen Urtext in Mk 13,8 sind Erdbeben in diesem Schreckensszenario nur »die Anfänge der Wehen« bzw. der »Geburtsschmerzen« (griech. ὠδίνων, ōdinōn, ›Geburtsschmerzen‹, ›Wehen‹).Footnote 130 Luther übersetzt aber – und so behalten es, im Unterschied zu späteren Revisionen, die lutherischen Bibelausgaben bis ins 19. Jahrhundert bei – der »noht anfang« und rekurriert damit seinerseits auf die alttestamentliche Vorstellung mütterlicher Wehen als Inbegriff menschlicher Drangsal.Footnote 131 Wenn bei Luther weiterhin die Offenbarung des Johannes für die Endzeit ein erstes, ein zweites und ein drittes apokalyptisches »wehe« (griech. οΰαί, ouaí, gleichfalls ein Wehruf)Footnote 132 im Sinne äußerster Bedrängnis der Menschheit prophezeit, so lässt noch die substantivierte Interjektion ›das Wehe‹ in dem Schmerzensruf auch die Synekdoche anklingen, die den Geburtsschmerz zum Schmerz schlechthin bestimmt. Insofern sich alttestamentlich Gewaltexzesse im Kampf Israels mit seinen Feinden vorzüglich im ›Zerhauen‹, ›Zerreißen‹ und ›Zerschmettern‹Footnote 133 von Schwangeren und Säuglingen Bahn brechen (was Kleist zum infernalischen Finale seiner Novelle aufgreift), gilt diesen besonders volatilen Exponenten der Prokreation, mit dem nun zur Drohung gewendeten Ruf, auch die besondere Unheilsankündigung in der synoptischen Endzeitrede Jesu: »Wehe aber den schwangern und säugern zu der zeit.« (Mk 13,17)
Bei Kleist ist es der Chorherr, der Wehen und Beben explizit eng führt, wenn er dieses auf jene zurückführt und das Erdbeben »im Flusse priesterlicher Beredsamkeit« (und wider die Chronologie der Ereignisse) als Strafe sowohl für das in Josephes Wehen eklatant werdende »Sittenverderbnis« der Stadt als auch für die (durch die Katastrophe bedingte) »Schonung« (215) desselben wertet. Nach diesem ›Anfang der Not‹, einem »Vorboten« der Endzeit, gilt es für den Prediger, deren irreversiblen Anbruch selbst und damit in letzter Konsequenz das gefürchtete »Weltgericht« (213) zu verhindern. Nach dem alttestamentlichen Vorbild der Zerstörung Sodoms,Footnote 134 welches auch eine Endzeitrede Jesu als Modell des Weltgerichts anführt (Lk 17,28–32), hat sich dieses für den Chorherrn im Erdbeben bereits angekündigt. Zur Begnadigung vor diesem Gericht sind die Gläubigen, ist die Kirche auf die Fürsprache ihrer allegorischen Repräsentantin angewiesen, der zwischen Gottes- und Menschensphäre vermittelnden Heiligen Jungfrau, deren Kloster und hortus conclusus – darin liegt ja vermeintlich der Anfang allen Übels – in der dem Marienseher Jago gewidmeten Stadt geschändet wurde. Aufschub des Weltgerichts ist mithin das Gebot der Stunde, Aufschub durch Ausmerzen des Übels.
Was der Chorherr nicht in seine apokalyptische Hermeneutik von Geburt und Endzeitgericht einbezieht, was Kleist aber in der siderischen Lesart des Nachnamens Josephes, Asteron,Footnote 135 und im Als-ob-Einsturz des Firmaments beim Erdbeben anspielt, ist des Apokalyptikers Johannes Vision einer Gebärenden als »ein groß zeichen am himmel« (Offb 12,1). Dürer setzt diese Schwangere im neunten Holzschnitt seiner Apocalipsis cum figuris 1498 im Nonnenhabit und mit gefalteten Händen ins Bild und im Frontispiz der Neuauflage 1511 mit Maria gleich:Footnote 136 »Ein weib mit der sonnen bekleidet, und der mond zu ihren füssen, und auf ihrem haupte eine krone von zwölf sternen. / Und sie war schwanger und schrye, und war in kindes=nöhten, und hatte grosse quaal zur gebuhrt.« (Offb 12,1 f.)Footnote 137 Als ihr Gegenspieler erscheint ein siebenköpfiger, feuerroter Drache am Himmel, der mit seinem Schwanz »den dritten theil der sternen des himmels« (Offb 12,4) herabfegt (Abb. 1). Der messianische Sohn, den die Frau gebiert, entkommt dem lauernden Drachen durch Entrückung auf den göttlichen Thron, während der Drache selbst, »die alte schlange, die da heisset der teufel und der satanas, der die ganze welt verführet«, mit seinen (bösen) Engeln aus dem Himmel »ausgeworffen« wird (Offb 12,9) und in »grosse[m] zorn« auf die Erde herabkommt, wohl wissend, daß er hienieden nur »wenig zeit hat« (Offb 12,12). Wenn demnach Zeitnot die Wurzel alles Bösen ist, wie Hans Blumenberg schließt,Footnote 138 so führen Kleists Dramen und Novellen dieses Grundprinzip in strengster Konsequenz durch, um das apokalyptische Modell einander überstürzender Ereignisse zugleich – und nirgendwo persuasiver und fataler als im Erdbeben in Chili – auf idyllische Schonzeiten hin zu öffnen, die das eschatologische Telos des endgültigen Siegs über das Böse schon vor der Zeit als erreicht suggerieren.
IV. Kleists Valparaíso: stummes Stillen
Wähnt sich der Chorherr mit Berufung auf das letzte Buch der Bibel in den Trümmern der Stadt im Vorhof der noch abzuwendenden Apokalypse, so sehen sich die Geretteten außerhalb in einem postapokalyptischen Paradies, mit dem eine neue Zeit schon angebrochen ist. Inspiriert durch das koloniale Toponym auf der Landkarte des eroberten Chile, dessen indigener Name, chilli (in der Sprache der Aymara ›das Land am Ende der Welt‹),Footnote 139 für europäische Ohren den chiliastischen Glauben an die Wiederkunft Christi und dessen 1000-jähriges Friedensreich (nach Offb 20,3 f.) anklingen lässt,Footnote 140 schiebt sich Kleists »Tal von Eden« (Valparaíso) als idyllisch-utopische »Enklave«Footnote 141 ins Mittelstück der Katastrophennovelle ein und öffnet den idyllenspezifischen Raum für reflexive Einholung der Ereignisse und heitere Visionen der Zukunft. Am Ende wird dieses Intermezzo nur der Aufschub der vom Beben suspendierten, vorübergehend in der Schwebe belassenen Exekution gewesen sein, die ihrerseits das Weltende aufhalten soll.
Gründet das Selbstverständnis der Überlebenden im Tal auf der Erfahrung der Katastrophe, so ist das für die Idylle hier konstitutive Trauma allerdings ein doppeltes bzw. gespaltenes, das den verbliebenen Besitz »mitzuteilen« (203) gebietet, über die Vorgeschichte des Bebens aber Schweigen verhängt. Auch die vom Text betonte Analogie zwischen dem gewaltigen »Schlag[]« – der, lautlich markant, »versöhnt«, weil er »durchdröhnt« (205) – und dessen Vorläufern in den Glockenschlägen zu Josephes Entbindung und zu ihrer Hinrichtung bleibt damit innerdiegetisch ungehört. Die Liebenden holen nächtens unter dem Granatapfelbaum das im Klostergarten, aber auch in den »Gefängnissen« (201) Erlebte emotional-diskursiv ein und transformieren es im Liebesgeflüster zum idyllenspezifischen »Glück[] des Erzählens«;Footnote 142 die Überlebenden der Katastrophe erzählen einander wiederum »Beispiele von ungeheuern Taten« (207) – und konturieren damit, gegen Goethe, Kleists Novellenpoetik.Footnote 143 Dagegen ist der engere neue Familienverband, der sich im Tal um Josephe bildet, für drohendes Unheil so ›blind‹,Footnote 144 wie man von vergangener Unbill stumm bleibt. Mit Gewalt ›reißt‹ stattdessen der Absolutismus des postkatastrophischen Hier und Jetzt, den die narrative Verarbeitung des Bebens und die Sorge ums Weiterleben diktieren,Footnote 145 noch jede »der Gegenwart kaum entflohene Seele […] in dieselbe zurück« und degradiert, in Umkehrung von Realität und Utopie, alles Bedenken von Vorgeschichte und Zukunft zur »träumerische[n]« Ausflucht (205).
Josephe selbst initiiert das ihr mit zärtlichen Gesten bedeutete Schweigegebot,Footnote 146 in dem das Stillen lautlich konkret wird, als sie ihre Irritation über Don Fernandos Annäherung nicht aufklärt; stattdessen verweist der Gedankenstrich, der die paradoxe Rede von ihrem Schweigen graphisch unterbricht (»ich schwieg – aus einem andern Grunde«; 203), wie in Die Marquise von O… auch hier auf das sexuelle Faktum, das ihre Sache erst zum ›Skandal‹ hat werden lassen.Footnote 147 Markiert ist damit zugleich die für Josephe irritierend unvermittelte Wende ihrer typologischen Wahrnehmung von der femina sacra zur Maria lactans, die nun kraft ihrer zuvor inkriminierten biologischen Mutterschaft Leben rettet.Footnote 148 Ihrem Namen nach dem biblischen Nährvater Jesu wird Kleists Josephe erst und gerade als Stillmutter Juans gerecht – messianisch konnotiert sind damit beide Kinder, Philipp als Leibesfrucht der Maria maculata und Juan als dessen Milchbruder.Footnote 149
Die »schöne Blume«, als welche »der menschliche Geist« in Kleists Eden aufzugehen scheint,Footnote 150 da die Überlebenden einander stände- und geschlechterübergreifend »Hülfe reichen«,Footnote 151 ist eine Frucht des Mitleids,Footnote 152 der Caritas. Den »kleinen Fremdling […] an ihre Brust« legend wird Josephe zu deren Sinnbild: eine Caritas Chilena,Footnote 153 die durch die Gabe ihres Leibes zum gemeinsamen »Morgenbrot« der idyllisch kleinen »Gesellschaft« (203) beider FamilienFootnote 154 ein Liebesmahl, eine Agape mit dem marianischen als eucharistischem Leib, begründet.Footnote 155 Kreuzesopfer und Theophagie von Fleisch und Blut ChristiFootnote 156 sind damit zugleich zur mütterlichen Liebesgabe gemildert und, übers Kreuz der verdoppelten Kernfamilie gelegt, zuletzt zum Gemetzel entfesselt.
V. Mutterschaft/Vaterschaft
Die ikonische Inszenierung Josephes zur Marienfigur mit dem Jesuskind bzw. dem JohannesknabenFootnote 157 setzt ein, wenn sie, in ihrer Feuerprobe, mit dem geretteten Philipp auf dem Arm heil aus dem »Portal« des gerade zusammenstürzenden Klosters tritt, »als ob alle Engel des Himmels sie umschirmten« (199) – ein Bild, das chronologisch Jeronimos Apostrophe »O Mutter Gottes, du Heilige!« (197) bei der Wiederbegegnung an Quelle bzw. Bach antizipiert.Footnote 158 Die Reinwaschung Philipps markiert damit als Taufakt der Mutter, nicht des KindesFootnote 159 den Eintritt in das nächtliche Interimsidyll der Heiligen Familie, die der Text nach den Bildmotiven der ›Rast auf der Flucht nach Ägypten‹Footnote 160 und der ›Anna Selbdritt‹,Footnote 161 eines im »Schoß« (201) des anderen, unter dem Granatapfelbaum, im doppelten ikonischen Zeichen von Fruchtbarkeit und Passion, konfiguriert.Footnote 162
Mit dem Modell der Heiligen Familie stellt die Novelle die mit Zeugung und Geburt verbundene doppelte Leitfrage nach der Dualität der Geschlechter und dem Einbruch des Göttlichen ins Irdische, um gerade in dieser typologischen Referenz die Gendergrenzen ins Fließen zu bringen. Die Mutter-Kind-Dyade öffnet sich hier für einen leiblichen Vater in der Position jenes (irdischen) Dritten, welcher in der Bibel Joseph heißt und Mariens göttlichen Sohn adoptiert: Der Stammbaum Jesu bei Matthäus (Mt, 1–17) unterbricht die patrilineare Genealogie, um Joseph als »mann Mariä« auszuweisen, »von welcher ist gebohren JEsus, der da heisst Christus« (Mt 1,16). Gegenüber der heiklen Vaterschaftsfrage (hier zudem an der Nahtstelle von Göttlichem und Menschlichem) exponiert Kleist die lebenspendende Mutterschaft in der Fähigkeit zur Laktation, die zudem die Grenzen der biologischen Filiation überschreitet und sich just darin der körperlich uneingeschränkten spirituellen, mithin göttlichen Vaterschaft annähert.
Jeronimo beglaubigt seine Vaterschaft, wie im römischen Recht üblich, durch einen Kuss: Da er seinen Sohn nicht stillen kann, ›verschließt‹ er ihm, der »das fremde Antlitz« bei der Erstbegegnung an der Quelle »anweint[]«, mit »Liebkosungen ohne Ende den Mund« (201),Footnote 163 wie er es auch mit Josephe tun wird, als er ihr am nächsten Tag seinen Meinungswechsel zugunsten eines Verbleibs in Chili unterbreitet und Widerrede befürchtet.Footnote 164 Nach dem Bildtypus der ›Anna Selbdritt‹ besetzt Jeronimo unter dem Granatapfelbaum die matriarchale Position der Marienmutter Anna und kittet an dieser nun väterlich besetzten Stelle den in Jesu Stammbaum bei Matthäus markierten »Schnitt in der agnatischen Filiation«, die Beschneidung Josephs um seine »Männlichkeit«.Footnote 165 Im Gegenzug wird Kleists Josephe, »die Frau Joseph(s)«,Footnote 166 gerade als entsexualisierte, karitative Maria lactans über das Bindeglied des gestillten fremden Kindes zur Stifterin eines neuen Familienverbands, in dem der Muttermilch die Funktion zukommt, die in der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen das in Eucharistie bzw. Herrenmahl geteilte Fleisch und Blut Christi hat. Und wie nach Paulus von Christus gilt, dass in ihm lebt, wer mit ihm stirbt (Röm 6,8; Gal 2,19), so findet der kleine Juan den Tod, weil ihn die milchgebende Brust an Josephe, den marianischen Christus, bindet.
Die Ersetzung des eigenen Säuglings durch einen bedürftigen fremden – und damit das zuletzt fatale chiastische Prinzip – könnte durch ein Dresdner Gemälde des Polidoro da Lanciano von der Heiligen Familie inspiriert sein, auf dem Maria das Jesuskind der Hl. Magdalena übergibt, um statt seiner einen von einem Patrizier – wie Don Fernando ein »wohlgekleideter Mann« (203) – dem Joseph überreichten anderen Knaben entgegenzunehmen (Abb. 2).Footnote 167 Dass es um die Achse der »idealen Mutter«Footnote 168 Josephe überhaupt zu einer neuen Familienaufstellung kommt, ist tragische Folge der ›Beschädigung‹ einer anderen Mutter: Donna Elvire liegt »schwer an den Füßen verwundet auf der Erde« und vermag – zumindest nach dem Zeugnis ihres Gatten – ihr Kind nicht zu stillen. Als die (ob ihres Alters unwahrscheinliche, von Gott aber begnadete) Mutter des Johannes alias Juan weist der neutestamentliche Subtext bei Lukas (Lk 1,5–24) eigentlich ihre Schwester, Donna Elisabeth, aus, der »abgehärmte[] Knabe[]« liegt aber an Elvires Brust (205), deren Insuffizienz mit Josephe eine dritte, physiologisch qualifizierte Mutterfigur zu kompensieren antritt.Footnote 169 Nun können traumatische Erlebnisse den Milchfluss unterbrechen (oder vorzeitige Geburten initiieren); in symbolischer Hinsicht überblendet diese Szene, da Elvire, in den Worten ihres Gatten, »unter den Bäumen beschädigt« (203) liegt, aber ein genderspezifisches Bild des Erbschadens, die niedergeworfene Frau, mit der Verbildlichung der biblisch-lutherischen Verkündigung Mariens, wonach »die kraft des Höchsten« die Jungfrau »überschatten« werde (Lk 1,35).Footnote 170 Elvire, die den Mann (vir) im Namen trägt,Footnote 171 erscheint hier ›unter den Bäumen‹ mithin als die von der »sexuelle[n] Potenz des Mannes beim Koitus«Footnote 172 ›überschattete‹ Frau, an der sich, verschoben auf die Extremitäten, die Gewalt der Begattung selbst zeigt.Footnote 173 So sind die Füße in Mythos und Aberglaube Sitz von Lebenskraft und Fruchtbarkeit, was sie auch zu Organen der Empfängnis macht;Footnote 174 Meister Pedrillos intime Vertrautheit mit Josephes Füßen – er kennt, wie es vieldeutig heißt, Josephe »wenigstens so genau [!] […] als ihre kleinen Füße« (215) – hat daher eine eminent sexuelle Note.Footnote 175 Die »Verletzungen« (205) an den Füßen treffen Donna Elvire mithin in ihrer Weiblichkeit und Mutterschaft,Footnote 176 die nach marienikonischer Logik keine ganze ist, solange sie ihr Kind nicht selbst nähren kann.
Anregung für das mit dem Stillmotiv enggeführte Motiv der Füße mag wiederum das Tagespendant zu Correggios Heiliger Nacht in Dresden sein,Footnote 177Die Madonna des Hl. Hieronymus, das Madonna und Kind mit dem Hl. Hieronymus, der Maria Magdalena und einem die aufgeschlagene Bibel zur Lektüre darbietenden lachenden Engel zeigt.Footnote 178 Die gesamte strukturbildende Zweiteilung des Geschehens im Tal in das bewusst à part gelagerte intime Nachtstück bei idyllischem Mondschein und die Bildung einer neuen, erweiterten Familie am nächsten Morgen ließe sich auf dieses Gemälde-Doppel Correggios zurückführen. Auf dem auch als Der Tag bekannten Gemälde der Madonna des Hieronymus schmiegt sich die (wie alle anderen Figuren barfüßige) ›Sünderin‹ Maria Magdalena vom Boden her mit dem Kopf an den kleinen Körper des kindlichen Erlösers an (Abb. 3) und streichelt mit versonnenem Blick auf die ihr vom Engel gewiesene Bibelstelle Jesu Fuß, den sie nach Mt 26,7 und Lk 7,38 kurz vor dessen Kreuzigung unter Tränen küssen und mit kostbarem Öl salben wird. Zwischen gegenwärtiger physischer Berührung und Schriftlektüre in Aussicht auf das Erlösungsgeschehen verbinden sich mit dem Fußmotiv hier Sünde, karitative Liebe und Vergebung,Footnote 179 die bei Kleist, nach dem Furor von Eros, Rache und Vergeltung, erst zwischen den Eheleuten Fernando und Elvire wieder eine – ironisch gebrochene – Option sind.
VI. Riss und Schlag
Auf die rehabilitierende, renobilitierende Einladung Don Fernandos, der die Ausgestoßene feudal verbindlich als »Donna« (203) adressiert,Footnote 180 übernimmt Josephe die in dessen Familie vakante Position der Leben und Kraft spendenden symbolischen Mutter, indem sie Juan stillt und zudem symbolisch adoptiert, wenn sie den gegen seine Rückgabe protestierenden Säugling bei sich behält: Wie zuvor Jeronimo den eigenen Sohn »küßt[]« sie »ihn wieder still«. Es ist diese erotisch getönte »Würdigkeit und Anmut ihres Betragens« (211), die Don Fernando so gut gefällt, dass er Josephe als »seine Dame« (213) zur Kirche führen will wie in einem »›Hochzeitszug[]‹«,Footnote 181 der nun als zweiter Hinrichtungszug zu Mord bzw. Opfer führt.
Die vormals unfreiwillige Novizin vom »Karmeliter-Kloster unsrer lieben Frauen vom Berge« (189) kehrt so in den Schoß der Kirche zurück, deren mariologisch-christologische Fundamente ihre öffentliche Entbindung an Fronleichnam erschüttert hat. An keiner Stelle indiziert der Text für sie ein Bewusstsein von Schuld: Am Geschehen im Klostergarten ist sie grammatisch unbeteiligt, was die Option eines reinen Gewissens offenhält und ihre unbewusste der unbefleckten Empfängnis annähert;Footnote 182 durch das zerstörte Santiago schreitet sie in der prälapsarischen Sicherheit des Käthchen bei der Feuerprobe und der Selbstgewissheit der aus dem Vaterhaus verstoßenen, auf das eigene Muttersein zurückgeworfenen Marquise von O…; ihren möglicherweise noch lebenden Vater will sie (aktivisch-transitiv) »versöhnen« (209), nicht um Vergebung anflehen. Dabei speist sich ihre »Heilsgewißheit«Footnote 183 aus jener »Vergessenheit«, die Kleist selbst zur »Wollust« des katholischen Glaubens fehlt.Footnote 184
Dagegen erinnert Donna Elisabeth vieldeutig daran, »was für ein Unheil gestern in der Kirche vorgefallen sei« (211), und antizipiert damit die Mahnung des Chorherrn, der »Riß« (215) im Gemäuer des Doms – die eindrückliche Vergegenständlichung des lapsus im Klostergarten – werde nur der Anfang vom Ende gewesen sein. Mit (fatal fehlgehendem) psychologischem Kalkül nimmt Elvire zugleich eine Umwidmung des Gottesdienstes vor, die Josephe erst zu ihrer unbeirrbaren »Begeisterung« (211) treibt: Während die »feierliche Messe« nach der sich verbreitenden »Nachricht« bestimmt ist, »den Himmel um Verhütung ferneren Unglücks anzuflehen« (209), ihre Funktion mithin in der Abwendung akuter Not hat, stellt Elisabeth die Wiederholung »solche[r] Dankesfeste« bei »desto größerer Heiterkeit und Ruhe« der Gemüter in Aussicht. Josephe reißt diese Verheißung in die absolut gesetzte Gegenwart ihrer Empfindung hinein und drängt auf unmittelbaren Vollzug »eben jetzt« (211).Footnote 185 Hatte ihre kluge »Maßregel« (209) Jeronimo noch von dem geplanten Fußfall vor dem Vizekönig abhalten können, beharrt sie jetzt auf dem eigenen Kniefall in einer voll besetzten Kirche: Die wissende Jos-Eve ist zur unbewussten Maria regrediert, für die sich die Wunde des lapsus geschlossen hat.Footnote 186 Gespeist aus dem Wissen um das vergangene verbleibt die »Ahndung« (211) von künftigem »Unglück« (213) bei den beiden Frauen, die auch namentlich als Schwestern der postlapsarischen Eva ausgewiesen sind: bei Elisabeth und, nach Zwiesprache mit dieser, bei Elvire, die Josephes Absicht zunächst noch unterstützt und ihrerseits, von ihrer immobilen Position am Boden aus, Don Fernando beordert hat, »die Gesellschaft zu führen« (211).
Der von Kleist in allen ›Wendungen‹ szenisch minutiös ausgestaltete Abschied vor dem Zug in die Kirche ist erneut auch biblisch und ikonographisch anspielungsreich: Im Kontext der Sodom-Referenz, die der Chorherr für »das Sittenverderbnis« (215) der geschlagenen Stadt anführt, entsprechen Elisabeth und Elvire, mutterlose Töchter Don Pedros, den aus Sodom geflüchteten Töchtern Lots,Footnote 187 dessen (biblisch namenlose) Frau sich beim Rückblick (über die Schulter) zur zerstörten Stadt in eine Salzsäule verwandelt hat. Die Schulterverletzung des Vaters markiert die Fehlstelle der Mutter auch in diesem Familienverbund. Don Fernando aktualisiert die sprichwörtliche Bewegungsfigur von Lots Frau, wenn er, von Elisabeth gerufen, Halt macht, sich ›umkehrt‹ und ihrer ›harrt‹.Footnote 188 Als Mahnerinnen, nicht nach St. Jago zurückzukehren, übernehmen die beiden Schwestern zugleich das Amt der Engel (in der Ikonographie sind es jeweils zwei), welche die noch Zögernden in der biblischen Lot-Episode zur Eile antreiben und bei der Hand aus der Stadt führen (Gen 19,15).Footnote 189 Josephe, die Elisabeths ›Raunen‹ auf Abstand gar »nicht hören« kann (213), bleibt für diese Mahnungen taub; hatte sie nach ihrer Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Überlebenden nicht mehr gewusst, »was sie von der Vergangenheit denken sollte[]« (205), so traumwandelt sie nun als durch die Hölle gegangene ›Selige‹, die nicht (mehr) wissen will.
Ihrem Begehren nach absoluter, göttlicher Gegenwart arbeitet die Szenographie in der Dominikanerkirche zu, wenn die musikalische Prachtentfaltung der Orgel die »unermeßliche Menschenmenge« zu einer ›Woge‹ zusammenfasst, in den Gemälderahmen anstelle der gemalten die Leiber echter Knaben ›hängen‹Footnote 190 und die Fensterrose »wie die Abendsonne selbst« aufscheint.Footnote 191 In diesem ontosemiologischen Theater, das die mit »Inbrunst« (213) aufgeladenen Zeichen zu den Körpern umschmilzt,Footnote 192 vollführt die Predigt vom drohenden Weltgericht dieses bereits selbst, indem sie Gut und Böse voneinander scheidetFootnote 193 und mit dem Fluch über die »Seelen der Täter«, »wörtlich genannt«, ein nunmehr zweifaches Todesurteil ausspricht, das schon als gesprochenes »wie dem Dolche gleich« in die »Herzen« (215) der Genannten fährt, mithin auf Realisation im Fleisch drängt. Den Bannspruch pariert der Mob prompt mit einem physischen Bannkreis um die Entdeckten, die als »gottlose[] Menschen« (215) zum apokalyptischen Agon gegen den Antichrist anstacheln. Dass diese dabei aber in irritierender Dopplung (und unerkannter Kreuzung) auftreten, lässt eine Sistierung ihrer im Wortgefecht flottierenden Namen an den zweideutigen Körpern nur mit Keulenschlägen zu.
VII. Massaker und Opfer
Vollstrecker des Urteils, das dieselbe Eindeutigkeit ersehnt wie Josephe selbst, ist der Schuhflicker. Anders als in Shakespeares Römertragödie trägt er bei Kleist die archaische Keule, nicht die Ahle, um totzuschlagen, nicht um zu flicken, was gerissen sein mag. Dem apokalyptischen Drachen gleich, der in der Vision des Johannes am Himmel neben der gebärenden Frau erscheint und vom Erzengel Michael überwältigt wird (Offb 12, 7–9),Footnote 194 inkarniert Pedrillo als Führer einer »satanischen Rotte« (221) einen jener »Fürsten der Hölle« (215), denen die Verwünschungen des Chorherrn die Sittenfrevler namentlich überantworten. Unerwartet schwingt er sich damit zu dem Gegenspieler auf, an dessen Widerstand der zunächst verlegene Don Fernando seinerseits »Römergröße« (207) gewinnt.Footnote 195
Den vermeintlich »göttliche[n] Held[en]« (221) setzt Kleist nach dem Vorbild des mythischen Herakles bzw. Herkules in Szene, und zwar schon vor dem Kampf in der Auseinandersetzung mit der ›zischelnden‹ Elisabeth, die, als Schlange post festum, im vollen Bewusstsein des Falls, zur Vorsicht mahnt, worauf Fernando mit unwilliger, nicht wissen wollender »Röte« (213) reagiert. Die szenische Konfiguration zitiert das ikonographisch prominente Motiv von Herkules am Scheideweg zwischen Genuss verheißender Lasterhaftigkeit und wehrhafter, entbehrungsreicher Tugend, wie es etwa 1779 Johann Heinrich Tischbein gestaltet hat (Abb. 4). Entgegen dem Augenschein – die ›anmutige‹ Josephe am Arm, die ›beschädigte‹ Elvire zurückgelassen, die aufgeregte Elisabeth als deren Sprachrohr am Ohr – wird Fernando, deren Warnungen in den Wind schlagend, am Ende den schwierigeren Weg gewählt, das eigene Kind verloren, ein fremdes mitgebracht und rechte Not haben, sich vor seiner Gattin zu erklären.
Der marianischen Josephe tritt mit der Herakles- eine zweite, männliche Grenzfigur zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre an die Seite, die in christianisierter Form auch Aufnahme in die Fronleichnamsspiele der spanischsprachigen Welt, die autos sacramentales, fand. Kleist hat den Heros im Amphitryon-Drama selbst einer »verfremdeten Christologie«Footnote 196 unterworfen, insofern Jupiter der Alkmene dort höchstselbst verkündigt: »Es sei. Dir wird ein Sohn geboren werden, / Dess’ Name Herkules […].«Footnote 197 Im Finale der Chili-Novelle spaltet Kleist die Herkules-Figur im Zweikampf buchstäblich auf: Nach seiner Entscheidung für den verlustreichen Weg trifft der aristokratische Held Don Fernando auf den mit der Herkuleskeule bewaffneten bürgerlichen Meister Pedrillo, der die Arena als eigentlicher Hercules invictus verlässt, nachdem er die gefallene Adelstochter eigenhändig erschlagen hat. Der Schuhflicker ermächtigt sich damit zum grotesk unheiligen Stellvertreter des Petrus,Footnote 198 der in Dantes Paradiesesvision im 32. Gesang der Göttlichen Komödie die »Schlüssel« zum paradiesischen »Garten« jener »Rose« in der Hand hält, welche Maria selbst ist.Footnote 199 Während die Herkulesfigur im revolutionären Europa nach 1789 auch die auf das Volk übergegangene Gewalt symbolisiert,Footnote 200 macht Pedrillo sich im unerfüllten sexuellen Begehren Josephes und im mimetischen Begehren ihm vorbehaltener Privilegien zum ausführenden Komplizen der klerikalen Macht und gefährdet damit die staatliche.Footnote 201 Mit dem Totschlag Josephes und des von ihr gestillten Kindes subvertiert Kleist nun auch gezielt die Passionsgeschichte, deren historische Konstellation ihrerseits durch die Besatzung der Römer und den Machtanspruch des jüdischen Klientelkönigs Herodes geprägt ist. Der von diesem befohlene Kindermord in Bethlehem (Mt 2,16–18), ein kunsthistorisch reich tradiertes Bildthema, ist Modell der brutalen Ermordung Juans.
Kleists virtuoses Spiel mit dem biblischen Hypotext zeigt sich um einige Verwicklungen komplexer, wenn man den kolonialspanischen Schauplatz der Novelle berücksichtigt: Unter Führung Pedrillos richtet sich die potenziell revolutionäre Anmaßung des Mobs hier gegen einen Repräsentanten der spanischen Kolonialmacht, den selbsternannten »Sohn des Commendanten der Stadt« (215), der seine aristokratische »Gesellschaft« (219) – als Kindsvater von »Donna Josephe[s]« (203) Sohn ist auch Jeronimo in diese aufgenommen und als Begleiter Donna Constanzes statthaft – vergeblich zu schützen versucht. Der einzige, durch seinen Degen ausgewiesene Vertreter der militärischen Macht, der Marineoffizier Don Alonzo Onoreja, dem Don Fernando mit der Aufforderung zur Sicherheitsverwahrung seiner bedrängten Begleiter Polizeigewalt überträgt,Footnote 202 reagiert derweil auf Pedrillos Gewissensfrage nach Josephes Identität mit ›Zaudern‹ (vgl. 219) und glänzt während des Gemetzels durch Abwesenheit.Footnote 203 Der Lynchmord aber wächst sich nicht zum Aufstand aus, weil der vom Chorherrn vorgegebene moralisch-theologische Deutungsrahmen nicht durchbrochen wird. Vielmehr kann sich Pedrillo durchaus als Racheengel in göttlicher Mission gerieren, dessen Keule der renitenten Sünderin die Irreversibilität ihres Falls zu verstehen gibt und darin durchaus der »Kleist’schen aller Blankwaffen«,Footnote 204 dem Flammenschwert des Cherubs am versperrten Vordereingang des Paradieses, entspricht.Footnote 205
Die brutale Ermordung ihren Eltern entrissener Kinder war nun aber auch eine berüchtigte Gräueltat der Konquistadoren, die für die Leidtragenden deren Menschlichkeit und deren Gott grundsätzlich in Zweifel zog: Der Mord an Juan entspricht genau der Ikonographie nicht nur des biblischen bethlehemitischen, sondern auch jener Kindermorde, welche die berühmte Anklageschrift des spanischen Dominikanermönchs Bartolomé de Las Casas über die Schandtaten der Eroberer bezeugt und die als Illustrationen beigegebenen Stiche Theodor de Brys – in der Bildtradition der Passion Christi – zu einem einzigen Theater der Grausamkeit entfalten (Abb. 5).Footnote 206 Nach Las Casas’ Bericht an den spanischen Kronprinzen Philipp, den Sohn Karls V.,Footnote 207 »rissen« die »Hispanier« neugeborene Kinder »von irer Mutter Brüsten« und »schmissen sie wider die Felsen / dass das Hirn daran kleben blieb«, als wären sie »ein Werckzeug des Zorns Gottes«;Footnote 208 tatsächlich aber hätten diese »Teuffel in Menschen Gestallt« sich »unmitleidlicher und grawsamer« geriert »als die wilden Tigerthier / oder reissende Löwen und Wölfe«.Footnote 209 Die ersten Übersetzungen von Las Casas’ Anklageschrift fallen Ende des 16. Jahrhunderts in die Hochphase intermedial und interkonfessional einflussreicher Darstellungen des bethlehemitischen Kindermords in der Malerei der Niederlande unter spanischer Fremdherrschaft.Footnote 210 Dem barocken Panoptikum drastischer Gewaltszenen in Giambattista Marinos Kindermord-Epos Le strage degli innocenti von 1633 und dessen deutscher Übersetzung durch Barthold Heinrich Brockes von 1715 – sicherlich eine maßgebliche Anregung für Kleists Poetik der Gewalt – gehen sie damit noch voraus.Footnote 211
Darf Kleist nicht nur Kenntnis der südamerikanischen Kolonialgeschichte, sondern auch der bei Las Casas/De Bry auch ikonographisch wirkmächtig verfochtenen neuzeitlichen Kolonialismuskritik unterstellt werden, so lässt sich konstatieren, dass die Novelle deren moralische Wertungen gezielt unterläuft. Dieselbe Rhetorik fanatischer, dehumanisierender Grausamkeit, mit der Las Casas die Untaten der Eroberer anprangert, findet sich bei Kleist für den Mob der Beherrschten: Ihre Lynchmörder, die sie »heiliger Ruchlosigkeit voll« (215) an den Haaren niedergerissen haben, apostrophiert Josephe, bevor sie sich unter sie stürzt, als »blutdürstende[] Tiger« (219), während Don Fernando wie ein »Löwe« gegen Pedrillo kämpft und dessen Kombattanten als »Bluthunde« (221) tötet.Footnote 212 In Gestalt des Predigers treten die Dominikaner, profilierte historische Kritiker der Conquista (und der Vergöttlichung Mariens), bei Kleist als Anstachler der Morde auf, um die Schändung des Klostergartens und des Leibs Christi zu rächen. Priesen die Kirchenväter die kindlichen Märtyrer von Bethlehem selig, weil sie stellvertretend für Jesus ihr Leben ließen,Footnote 213 so stirbt Kleists Juan, benannt nach dem Vorläufer und Täufer Christi, anstelle des anderen messianischen Kindes, das den Namen des historischen Adressaten von Las Casas’ Anklageschrift trägt: den Namen jenes »span’schen Philipp«, der auf dem weggeschlagenen Teil von Frau Marthes zerbrochenem Krug die »niederländischen Provinzen« empfängt,Footnote 214 in Schillers Dom Karlos den eigenen Sohn der Inquisition überantwortet und im 16. Jahrhundert das spanische Kolonialreich seiner größten globalen Expansion zuführte (und dabei auch den südostasiatischen Philippinen seinen Namen verlieh).
Die gefasste Stille, die dem Kindsmord auf Täterseite folgt, legt weniger das Erschrecken über einen verübten Tabubruch nahe als vielmehr ein rituell erprobtes Verhalten. Das Massaker, das sich zu einem grundstürzenden Aufstand der Beherrschten gegen Adel und Klerus hätte auswachsen können, mündet in einen ultimativen Gewaltakt, der die Gemeinschaft als ein Opfer im Sinne GirardsFootnote 215 wieder befriedet: »Hierauf ward es still, und Alles entfernte sich.« (221)Footnote 216 Kleist unterstreicht die rituelle Anmutung des Mords – welches und wessen Kind hier getötet worden ist, spielt für die Täter keine Rolle mehr – noch durch dessen Situierung an der liturgischen Stelle des eucharistischen Messopfers: nach der PredigtFootnote 217 und erneut auf dem Vorplatz einer Kirche, wo zuvor, an Corpus Christi, das andere Kind geboren worden war. Die Milchbrüder tauschen damit abermals ihre Positionen: Eine Imitatio Christi als unschuldiges Opfer fällt dem Kind mit dem biblischen Namen Juan/JohannesFootnote 218 zu, während jenes mit dem spanischen Königsnamen Philipp/Felipe nunmehr als dessen Stellvertreter überlebt.
VIII. Name, Herrschaft, Mord
Während Kleists subversive Arbeit am biblischen Hypotext wie an der kolonialspanischen Ideologie vorzüglich im auktorialen Spiel der literarischen Onomastik markant wird, erodiert das Prinzip der nominellen Beglaubigung auf der Ebene der histoire. So zeigt sich das anarchistische Sprengpotenzial der sozialen Entdifferenzierung nach dem ErdbebenFootnote 219 schon in der extremen Verlegenheit, in die Don Fernandos Legitimierungsversuche im Namen des Vaters geraten, nachdem die Choreographie des geordneten Rückzugs aus der Kirche durch Performanz dessen zu überzeugen versucht hat, was offensichtlich schon untergraben ist:Footnote 220 »›[I]ch bin Don Fernando Ormez, Sohn des Commendanten der Stadt, den ihr alle kennt.‹« (215) Während alle Männer Josephe zu kennen scheinen wie sonst nur die andere von allen in Anspruch genommene Frau, die Madonna, erzielt Fernando in seiner Berufung auf den Vater kein Echo.Footnote 221
Die Reklamation von Autorität und Legitimität in einem – hier fehlgehenden – Sprechakt hat ein berüchtigtes ›Pendant‹Footnote 222 in der spanischen Kolonialgeschichte Amerikas, welches die politische Brisanz der Situation auch bei Kleist schärfer zu konturieren erlaubt: Jeweils bei Erstkontakt mit der autochthonen Bevölkerung verlautbarten die eingeschifften kastilischen Truppen den Herrschaftsanspruch der spanischen Krone über das dieser vom Stuhl Petri zugebilligte fremde Land. Den des Spanischen und Lateinischen unkundigen Einwohnern wurde ein Requerimiento (dt. ›Aufforderung‹, ›Mahnung‹) genanntes Dokument verlesen, das sie – in der meistgebrauchten, von 1513 datierenden Version des Kronjuristen am Hof des kastilischen Königs Fernando (mit dem Beinamen El Católico), der für seine Tochter Juana la Loca (›Johanna die Wahnsinnige‹) die Regierungsgeschäfte führte – aufforderte, die Oberherrschaft des Papstes und der kastilischen Könige anzuerkennen und die christliche Religion anzunehmen. Im Falle der Ablehnung dieses ›Friedensangebots‹ war ein ›gerechter Krieg‹, de facto der »Völkermord«, legitimiert.Footnote 223 1493 durch päpstliche Bullen abgesegnet, von Las Casas heftig kritisiert, war dieser pseudo-legitimatorische AktFootnote 224 ein Kernmoment in jenem kolonialen »Komplex« von »Macht, Recht und christlicher Verkündigung«,Footnote 225 den Kleist in der kolonialen Toponymie Chiles subversiv aufgreift.
Ein Indiz für Kleists mögliche Anspielung auf das juristisch fadenscheinige Requerimiento mag der Name sein, den sein Fernando (seinerseits Vater eines Juan) mit dem federführenden kastilischen König teilt – ein weiterer ›verkörperter‹ Name in der Novelle, die ihre biblischen und historischen Referenzen in signifikanten Verschiebungen und Verkehrungen vorführt, um grundlegende Handlungs- und Denkmuster bloßzulegen. Don Fernandos Sprechakt zur Reklamation von Autorität im Andrang des Mobs scheitert nicht am Sprachverständnis, sondern an der Evidenz des Augenscheins und der unbeirrbaren Ein-Deutigkeit der verbalen Deixis. Auf den Diminutiv degradiert, trägt sein Gegenspieler nun gerade den Namen dessen, der zum Zweck der weltweiten Christianisierung koloniale Herrschaft legitimiert. Pedrillo kehrt die von Fernando unter Berufung auf seinen Vater, einen kolonialen Militär, vorgebrachte Machtanmaßung prompt gegen den Sprecher selbst, indem er ihn seinerseits ins Verhör nimmtFootnote 226 und die Wahrheitsfrage von der legitimatorischen Instanz des Vaters auf die des Sohnes verschiebt, der sich für das Kind der Frau an seiner Seite zu rechtfertigen hat: »Don Fernando Ormez? […] Wer ist der Vater zu diesem Kinde?« (215–7)Footnote 227
In Gang gesetzt von Momenten verlegenen und angsterfüllten Zögerns auf Seiten der Beschuldigten legen die in der Folge sich überstürzenden Zuschreibungen um die fixe, für ausgemacht geltende Position der Mutter herum auch die Positionen von Vater und Kind fest, ohne dabei die volle Wahrheit jener furchtsamen Bewegung des »kleine[n] Juan […] von Josephens Brust [!] weg« seinem Vater »in die Arme« (217) zu ermessen. Subversiv umspielt dieses öffentliche Verhör den römischen Rechtsgrundsatz von der Gewissheit der Mutterschaft gegenüber der ungewissen, kulturell erst festzuschreibenden Vaterschaft, der gerade dem Schutz des Kindes vor nachteiligen Zeugenaussagen der Eltern diente.Footnote 228 Eben diesen Schutz aber hebelt in der Folge, nachdem Jeronimo sich gestellt hat, die Gegenfigur zu dem verlegenen Fernando aus: Während der herrschaftliche Name von dessen Vater schon nicht mehr trumpft, um kritische Nachfragen nach dem Kind seiner Gefährtin abzuwiegeln, genügt im Furor der bewegten Masse »eine« – wohlgemerkt anonyme – »Stimme« (219), die unbeglaubigt die eigene Vaterschaft an dem als ›junger Spanier‹ eingeführten Jeronimo Rugera behauptet, um ihn in unmittelbarer Folge des Sprechakts, in performativer Einheit von verbaler Identifikation und Mord, mit postulierter patria potestas eigenhändig zu erschlagenFootnote 229 – Subjekt dieses Akts ist in Kleists komplexer Hypotaxe in der Tat »eine Stimme«, wie eingangs auch »Zungen« über das Kloster ›herfallen‹ (191).
Die (vermeintliche) Selbstoffenbarung eines Vaters zur Tötung seines (vorgeblichen) Sohnes verkehrt jene himmlische Stimme, welche bei Jesu Taufe im Jordan vom Himmel her spricht: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich wohlgefallen habe« (Mk 1,11)Footnote 230 und damit die Göttlichkeit des Menschensohnes in inkarnationschristologischer Sicht beglaubigt, in adoptionistischer Sicht – gegen die mariologische Lehre der Gottesgebärerin – erst herstellt.Footnote 231 Revidiert ist zugleich der im zweiten Psalm zitierte göttliche Sprechakt, der die eigene Zeugung des Sohnes aufruft und dessen brutale Gewalt gegen die Feinde beschwört, die Kleist mit dem Vaterwort gegen den Sohn selbst kehrt: »[…] Du bist mein sohn, heute habe ich dich gezeuget. / Heische von mir, so wil ich dir die heyden zum erbe geben, und der welt ende zum eigenthum. / Du solt sie mit einem eisern scepter zerschlagen, wie töpffen solt du sie zerschmeissen.« (Ps 2,7–9) Mit den verkehrten Gottesworten an den Sohn aber werden in den vorgeführten kommunikativen Aushandlungsprozessen von Herrschaft und Autorität die patriarchale Ordnung und ihre »patronyme[] Gewalt«Footnote 232 insgesamt willkürlich und prekär.
IX. Mimetische Liebe
Nach dem Totschlag des Kindsvaters und ihres Doubles ConstanzeFootnote 233 wird die echte ›Sünderin‹ Josephe zum Zielobjekt einer multiplen Ersatzhandlung, welche die eigene soziale Unterwerfung des Täters durch misogyne Gewalt, die eigene Triebfrustration in der sozial hierarchisierten sexuellen Konkurrenz durch »Mordlust« (221) kompensiert. Im Sinne des alttestamentlichen Sündenbockrituals stellt die straflose Tötung der schon zum Tode Verurteilten und ihres illegitimen Kindes just jene (durch dessen Zeugung gestörte) gesellschaftliche Ordnung wieder her, welche den ausführenden Handlanger der Oberen selbst eminent benachteiligt. In dem von der Predigt vorgegebenen Sinn des Jüngsten Gerichts und seines agonalen Erlösungsgeschehens versteht sich der Totschläger, nach der mahnenden Unterscheidung von Shakespeares Brutus, noch in seiner Rage als »Opferer«, »nicht Schlächter«, »Reiniger, nicht Mörder«.Footnote 234 Als verschobene Vaterfigur – wie alle übrigen Strafinstanzen scheint Josephes leiblicher Vater Don Henrico Asteron dem Erdbeben zum Opfer gefallen zu sein, wie die Hölle selbst »kocht[]« der an die Stelle des »väterliche[n] Haus[es]« getretene See »rötliche Dämpfe aus« (199) – verübt Pedrillo in der Tötung zugleich »die brutalste sexuelle Herrschaft über seine Tochter«.Footnote 235
Das mütterliche Gegenprinzip zur Gewalt der Väter behauptet sich, abgründig ironisch, in einer Mimesis der karitativen Liebe nach dem Vorbild Josephes, deren gute Gabe erst zur Ermordung Juans geführt hat. Bevor sie sich unter die Lynchmörder »stürzt[]« (219) und das leitmotivische Stürzen damit zuletzt zum intentionalen Akt macht, stiftet Josephe eine neue heilige, da nicht-biologische Familie, indem sie ihre Mutterschaft verleugnet und beide Kinder, um sie zu retten, an Don Fernando delegiert.Footnote 236 Ist ihre nur bedingt »freiwillig[e]« (219) Kapitulation ein Selbstopfer zur Verhinderung weiteren Blutvergießens,Footnote 237 so folgt sie mehr noch in dieser Familienzusammenführung Christus, der sterbend am Kreuz seine Mutter der Fürsorge des geliebten Jüngers Johannes überantwortet hat.Footnote 238 Don Fernando, der mit beiden Kindern vor der Brust weiterkämpft wie die Mütter auf den Bildern des bethlehemitischen und des kolonialspanischen Kindermords, folgt seinerseits Josephes Beispiel und nimmt, wie sie zuvor den seinen, nach dessen Verlust ihren Sohn zum Kinde an; in gut aufklärerischer Überwindung des »Zufall[s] der Geburt« durch eigenes VerdienstFootnote 239 wie auch im Sinn des Phantasmas autarker Vaterschaft will er ihn sich mit herkulischem Heldenmut »erworben« (221) haben.Footnote 240
Diesseits messianischer Heilsanmutung liegt die Zukunft von Katastrophe und Massaker damit in einer traumatisierten Adoptivfamilie, die sich, wie die Menschheitsfamilie in Kleists Valparaíso, über empfindsame, stumm-verschwiegene Gesten konstituiert.Footnote 241 Dabei ent-deckt sich in der mimetischen Caritas Fernandos erneut ein erotisches Motiv, dasselbe, das ihn beim Zug in die Kirche zu dem Beharren auf ›seiner Dame‹ (mit der Folge der Preisgabe des eigenen Sohnes) bewegt hat: Am Ende verdankt sich das paradoxe Freudengebot im Konjunktiv Irrealis – »so war es ihm fast, als müßt er sich freuen« – Fernandos heimlicher genealogischer Phantasie, als der »göttliche Held« (221), der er im Kampf auch um Josephes Sohn war,Footnote 242 könne er zugleich auch der göttliche Gatte der sündig-marianischen Mutter geworden sein. Mit dem Eros, der Josephes Schicksal besiegelt, ist auch der Zyklus der mimetischen Gewalt – Der Findling erzählt davon – neu in Gang gesetzt.
Notes
»Julius Caesar«, in: Shakspeare’s dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, zweyter Theil, Berlin 1797, 3–152, hier: 8. ›Schuhflicker‹ sind nach Adelung »eine Art Schuster, welche nur allein zerrissene Schuhe ausbessern, und höchstens aus altem Leder neue Schuhe verfertigen; Altmeister, in einigen Gegenden Altmacher, Altflicker, Altreiß, Schuhblätzer«. »Schuhflicker«, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/Adelung (16.10.2022), Bd. 3, Sp. 1675.
»Julius Caesar« (Anm. 1), 8. Engl.: »[I]f you be out, sir, I can mend you.« (I.1, V. 17) Die Originalzitate folgen der Arden-Ausgabe: Julius Caesar, ed. T.S. Dorsch, The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, Cambridge 1955.
»Julius Caesar« (Anm. 1), 8. »[I]ch bin ein Wundarzt für alte Schuhe: wenn’s gefährlich mit ihnen steht, so mache ich sie wieder heil.« Ebd. Engl.: »I am […] a surgeon to old shoes: when they are in great danger I recover them.« (I.1, V. 22–24).
Der Schuster stellt sich als »a mender of bad soles« (I.1, V. 14) vor. In Schlegels Übersetzung besteht sein »Gewerbe« mehrdeutig »darin, einen schlechten Wandel zu verbessern«. »Julius Caesar« (Anm. 1), 8.
Ebd., 8 f.
Heinrich von Kleist, »Jeronimo und Josephe. Das Erdbeben in Chili. Paralleldruck der Erstfassung im ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ und der Buchfassung«, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hrsg. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns, Hinrich C. Seeba, Bd. 3, hrsg. Klaus Müller-Salget, Frankfurt a. M. 1990, 188–221, hier: 191. Zitate aus der Buchfassung werden künftig nur durch Seitenzahlen im Fließtext belegt; weitere Kleist-Zitate werden nach dieser Ausgabe mit Sigle DKV, Band- und Seitenzahl angegeben. Zur Journalfassung der Novelle siehe Astrid Dröse, Jörg Robert, »Journalpoetik. Kleists Erdbeben in Chili in Cottas Morgenblatt«, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 63 (2019), 197–216.
René Girard legt der Gewalt als anthropologischer Konstante ein agonales mimetisches Begehren des konkreten oder symbolischen Besitzes eines Anderen zugrunde. Siehe dens., Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Freiburg i.Br. 2009, sowie dens., »Mythos und Gegenmythos: Zu Kleists Das Erdbeben in Chili«, in: David E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, 4. Aufl., München 2001 [1985], 130–148.
»Julius Caesar« (Anm. 1), 46 f. Engl.: »Let’s be sacrificers, but not butchers […].« (II.1, V. 166); »We shall be call’d purgers, not murderers.« (II.1, V. 180); »Let’s kill him boldly, but not wrathfully« (II.1, V. 172).
Freilich erreicht er das Gegenteil, siehe hierzu Edward M. Test, »›A dish fit for the gods‹. Mexica Sacrifice in De Bry, Las Casas, and Shakespeare’s Julius Caesar«, The Journal of medieval and early modern studies 41 (2011), 94–117.
Als Inversion der für die Peripherie eines kolonialen Weltreichs typischen »Massaker« qualifiziert die finalen Morde, mit Todorov, Dieter Heimböckel, »Von Locarno bis St. Jago oder: alles relativ? Heinrich von Kleists Neuigkeiten aus der Provinz«, in: Stefan Hermes, Sebastian Kaufmann (Hrsg.), Der ganze Mensch – die ganze Menschheit: Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800, Berlin, Boston 2014, 265–286, hier: 278. Vgl. Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, aus dem Französischen von Wilfried Böhringer, Frankfurt a. M. 1985, 175. Der koloniale Schauplatz schon der Erstlingsnovelle wird in der Kleist-Forschung noch kaum berücksichtigt. Siehe hierzu unten.
David E. Wellbery sieht »die Leittendenz der Kleist’schen Shakespeare-Rezeption« in einer »Radikalisierung der mimetischen Grundstruktur«. Ders., »Kleist, Shakespeare, Girard. Eine Glosse zur ›Familie Schroffenstein‹«, Kleist-Jahrbuch 2017, 37–46, hier: 40.
In der christlichen Theologie besagt der Begriff der Heilsgeschichte, dass die Geburt Jesu der Mittelpunkt aller Geschichte, die »Mitte der Zeit« (nach Lk 16,16), bilde. Siehe Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, 3., überarb. Aufl., Tübingen 1960. Wird Heil alttestamentlich im geschichtlichen Handeln Gottes erfahrbar, sodass Geschichte als göttliche Führung zum Heil begriffen werden kann, versucht der erst Mitte des 19. Jahrhunderts geprägte Begriff der Heilsgeschichte, religiöse Erfahrung mit dem neuzeitlich-modernen Geschichtsverständnis eines zielgerichteten Gesamtzusammenhangs zu vermitteln. Zu den Aporien dieses Versuchs, die Kleists Novelle in jedem neuen providentiellen Deutungsakt vorführt, siehe Friedrich Mildenberger, »Heilsgeschichte«, Religion in Geschichte und Gegenwart. https://doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_09533 (16.10.2022).
Gestützt auf die neutestamentliche Rolle Marias vorzüglich in Lk 1,26–38 und Mt 1,18–25 gehört das theologische Interesse an der Mutter Jesu zum Kern des christlichen Glaubens an die Menschwerdung Gottes, auch wenn die Bezeichnung Mariologie nach ihrer Prägung im 17. Jahrhundert erst im 19. Jahrhundert wieder Konjunktur hat. Schon das ökumenische Konzil von Ephesos 431 bestimmt die Gottesmutterschaft Mariens als Voraussetzung des inkarnatorischen Christusgeheimnisses und sanktioniert den Begriff der ›Gottesgebärerin‹ (theotókos); das Konzil von Konstantinopel erklärt 553 ihre Jungfräulichkeit vor, bei und nach der Geburt, mithin immerwährend (semper Virgo). Der dogmatischen Mariologie – neben der meditativen Marienverehrung der Ostkirchen eine genuine Domäne der römisch-katholischen Theologie – gehen in der Folge, nicht immer spannungsfrei, die Marienverehrung in Liturgie und Volksfrömmigkeit sowie ein reiches Reservoir an Mariendarstellungen in der Kunstgeschichte einher, die eine anhaltende theologisch-anthropologische Faszination der Figur bezeugen. Die katholische Kirche, die der Maria – nicht unumstritten – auch eine soteriologische Rolle als Miterlöserin zubilligt, besiegelte deren von der Reformation verworfene Angleichung an Christus in den beiden das ›marianische Jahrhundert‹ umschließenden Mariendogmen von der unbefleckten Empfängnis Mariens selbst (1854) und ihrer Himmelfahrt (1950). Obwohl nur Letztere auch in der orthodoxen Theologie weitgehend akzeptiert wird und die evangelische Theologie beide Dogmen radikal ablehnt, gilt die Jungfrauengeburt, die schon bei Jesaja für den Immanuel angekündigt wird (Jes 7,14), allen großen christlichen Konfessionen als Theologumenon, als Glaubenssatz, der den Eintritt des göttlichen Logos in die Geschichte zu erhellen vermag.
Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle, Stuttgart 1993, 26.
Es handelt sich nicht nur um einen »schönen Namen«, dessen »Doppeldeutigkeit« Kleist tatsächlich voll ausschöpft. Roland Reuß, »›Im Freien‹? Kleists ›Erdbeben in Chili‹ – Zwischenbetrachtung ›nach der ersten Haupterschütterung‹«, Brandenburger Kleist-Blätter 6 (1993), 3–23, hier: 11, 12. Im kongenialen Sinne eines Concetto, dessen ›Einfall‹ etymologisch kongruent zur ›Empfängnis‹ ist (siehe Anm. 68), entdeckt sich in dieser kolonialtoponomastischen Geburts- und Reinheitsphantasie vielmehr die marianische Kerninspiration der Novelle. Mit dem Faszinosum der ›unbefleckten Empfängnis‹ setzt Kleist sich in der Folge namentlich in Die Marquise von O… auseinander. Wie bei der Marquise fragt er auch bei Josephe nach den psychisch-mentalen Bedingungen der Möglichkeit, den lapsus selbst als Immaculata Conceptio zu begreifen, mithin »in den Stand der Unschuld zurückzufallen«, wie es in dem Aufsatz Über das Marionettentheater heißt. DKV III, 555–563, hier: 563. Nach Adam Müller handelt auch das Amphitryon-Drama »von der unbefleckten Empfängnis der heiligen Jungfrau«. Zit. nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, 595. Mit dem biblisch-lutherischen Begriff für Mariens Empfängnis (Lk 1,35) kritisierte Goethe in diesem Sinn die mariengleiche »Überschattung« Alkmenes »vom Heiligen Geist«. Zit. nach Helmut Sembdner (Hrsg.), Heinrich von Kleists Lebensspuren: Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, 7., erweit. Neuaufl., München, Wien 1996, 160. Kleists Eve hingegen kämpft im geschlechtssymbolischen Zeichen des zerbrochenen Krugs um Anerkennung ihrer Unschuld.
Nach einem Erdbeben mit Flutwelle im Jahr 1751 wurde die einstige Hafenstadt landeinwärts verlegt. In Concepción, unter spanischer Herrschaft die zweitwichtigste Stadt im Generalkapitanat Chile, wurde 1818 die Unabhängigkeit Chiles ausgerufen.
Das zu den apokryphen Kindheitsevangelien zählende, auch als »Offenbarung des Jakobus« bekannte Protoevangelium aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert wurde als verlorene Vorgeschichte zum Markusevangelium betrachtet und erhielt daher seinen Namen. Die Identität der/s Verfasser/s ist ungeklärt, es handelt sich nicht um den Hl. Jakobus den Älteren, einen Zeitgenossen Jesu selbst.
Die Vorstellung einer jungfräulichen Empfängnis Mariens selbst durch ihre Mutter geht auf den angelsächsischen Benediktiner Eadmer im frühen 12. Jahrhundert zurück; der von den Thomisten abgelehnte, von den Scotisten, den Anhängern des als »Doctor Marianus« verehrten Franziskaners Duns Scotus, befürwortete Hohedienst an Unserer Lieben Frau wurde erst im späten 15. Jahrhundert päpstlich bestätigt. Der Orden der Karmelitinnen, in den auch Kleists Josephe aufgenommen werden soll, sicherte diese heilsgeschichtliche Schlüsselrolle der gottesmütterlichen Reinheit (von deren eigenem leiblichem Ursprung an) noch dadurch ab, dass diese in der Genealogie nochmals vorverlegt und schon die Geburt von Marias Mutter Anna ihrerseits auf eine unbefleckte Empfängnis zurückgeführt wurde. Siehe Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen, 2. Aufl., München 2000, 57.
Die Konsequenz und Stringenz in Kleists Umschrift der neutestamentlichen Heils- und Passionsgeschichte vom Klostergarten bis zum zuletzt tödlichen Kirchenpfeiler und die emblematische Eindringlichkeit der diese tragenden Bilder unterscheiden das marianische Paradigma von anderen ›symbolischen Formen‹ wie den Konzepten der Theodizee, des Erhabenen und des Ausnahmezustands, die Holm bei Kleist als entleerte soziale Imaginationsmuster des Katastrophischen vorgeführt sieht. Isak Winkel Holm, »Earthquake in Haiti. Kleist and the Birth of Modern Disaster Discourse«, New German Critique 39.1 (2012), 49–66, hier: 63.
Bei Kleist wie generell auch im Neuen Testament versteht sich die subjektive Erfahrung des Heils (als Übersetzung von griech. sōtería nach got. hails, von der indogerm. Wurzel kailo, ›ganz‹, ›vollständig‹) als Rettung aus Gefahr und Leid, mithin drohender Desintegration, hin zu alter/neuer Integrität, in der zugleich die eschatologische Rettung erfahrbar wird. Konstitutiv ist daher die augenblickshafte Öffnung des irdisch-kontingenten Seins- und Zeithorizonts auf die vertikale Achse der Transzendenz, die in der charakteristischen Spannung von Schon und Noch-Nicht die Vollendung des Heils in der eschatologischen Zukunft erahnbar macht. Siehe hierzu Johannes Lehmann, »Rettung bei Kleist«, in: Nicolas Pethes (Hrsg.), Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, Göttingen 2011, 249–269.
Zu nennen sind hier nicht nur die Sixtinische Madonna Raffaels, auch religiöse Gemälde und Stiche der Heiligen Familie, der Jungfrau mit Kind und, nach dem Bildtyp der Sacra Conversazione, in Gesellschaft von Heiligen, so des Johannesknaben oder des Hl. Hieronymus. Siehe einzelne mögliche Gemäldevorbilder aus der Dresdner Gemäldegalerie bei Friedhelm Marx, »Familienglück – Familienelend. Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili«, Jahrbuch für internationale Germanistik 2004.1, 121–134. Den historischen Bestand der Dresdner Sammlung siehe in Verzeichniss der Gemälde, welche in der churfürstlichen Gallerie zu Dresden befindlich sind, Dresden 1801. Die Animationstechnik der Tableaux vivants wird in der Erzählung reflektiert, wenn beim Gottesdienst in der Dominikanerkirche anstelle gemalter Figuren echte »Knaben« in den »Rahmen der Gemälde« hängen (213).
Der christlich-katholische Motivkomplex prägt die Erzählung so offensichtlich und in so ausgemacht subversiver Weise, dass er bislang keiner vertieften Analyse für nötig befunden wurde. Neben der breiten Diskussion der Theodizee-Frage stand bisher vor allem die Funktion biblischer Anspielungen in der Erzählung zur Debatte. Nach Hans-Jürgen Schrader lenken diese die Lesersympathie zugunsten des Liebespaars im Sinne von familialer Idylle und Gesellschaftsutopie des Mittelteils, deren Brechungen aber keine Rolle spielen. Für Konrad Kirsch liegt hier eine »Versuchsanordnung« vor, »mit der Kleist das christliche Selbstverständnis auf die Probe stellt und das Christentum schändlich versagen lässt«; ähnlich liest Helga Gallas die Novelle als einen »Text gegen fromme Heuchler«, der den »offiziellen Meinungen von Familie, Gericht und Kirche« mit dem »latenten biblischen Subtext« vielmehr »die Warnung vor Verurteilung anderer« entgegenhalte. Norbert Oellers sieht biblische Zitate dagegen »anti-biblisch« zu einer einzigen »Geschichte der Gottesferne« gewendet, während Bernd Hamacher eine »transzendente Fixierung« nicht nur der Figuren, sondern auch »des Erzählers« konstatiert. Werner Hamacher schließlich bindet neben biblischen Subtexten auch Theologumena in seine dekonstruktive Lektüre ein. Hans-Jürgen Schrader, »Spuren Gottes in den Trümmern der Welt. Zur Bedeutung biblischer Bilder in Kleists Erdbeben«, Kleist-Jahrbuch 1991, 34–51; Konrad Kirsch, »Die Gesellschaft von St. Jago oder: Beitrag zu der Frage, weshalb Kleists ›Erdbeben‹-Erzählung nicht in Lissabon spielt«, ZfdPh 130.4 (2011), 481–502, hier: 499; Helga Gallas, »Biblischer Subtext in den Novellen Heinrich von Kleists«, Kleist-Jahrbuch 2018, 101–113, hier: 105; Norbert Oellers, »Das Erdbeben in Chili«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Interpretationen: Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, 85–110, hier: 100 f.; Bernd Hamacher, »Religion und Kirche«, in: Ingo Breuer (Hrsg.), Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2009, 276–279, hier: 279; Werner Hamacher, »Das Beben der Darstellung«, in: Wellbery (Anm. 7), 149–173. Zur Theodizee-Debatte siehe Susanne Ledanff, »Kleist und die ›Beste aller Welten‹. ›Das Erdbeben in Chili‹ – gesehen im Spiegel der philosophischen und literarischen Stellungnahmen der Theodizee im 18. Jahrhundert«, Kleist-Jahrbuch 1986, 125–155.
Kleist erfährt in dieser Kirche schon die ›Gewalt der Musik‹, siehe den Brief vom 21. Mai 1801 an Wilhelmine von Zenge. DKV IV, 224.
Hierfür plädiert Oellers (Anm. 22), 106.
Spanische Namen bezieht Kleist zudem aus Friedrich Theodor Nevermanns Erzählung Alonzo und Elvira, oder Das Erdbeben von Lissabon von 1795, siehe hierzu Alexander Košenina, »Friedrich Theodor Nevermanns ›Alonzo und Elvira‹ (1795), eine Quelle für Kleists ›Erdbeben in Chili‹ (mit Textanhängen)«, Heilbronner Kleist-Blätter 2010, 59–88, und Christoph Weber, »Santiagos Untergang – Lissabons Schrecken: Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili im Kontext des Katastrophendiskurses im 18. Jahrhundert«, Monatshefte Vol. 104, Nr. 3, Fall 2012, 317–336.
»[…] Dieß Schwert / schrieb fremden Völkern Spanische Gesetze, / es blitzte dem Gekreuzigten voran, / und zeichnete dem Samenkorn des Glaubens / auf diesem Weltteil [Europa; J.S.] blut’ge Furchen vor [.]« Friedrich Schiller, »Dom Karlos. Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht [Erstausgabe 1787]«, II.5, V. 1661–65. Zitiert nach Schillers Werke. Nationalausgabe, 1940 begr. von Julius Petersen; fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel; hrsg. im Auftrag der Klassik-Stiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers, Bd. 6, Weimar 1973, 5–339. Belege aus Schillers Werken künftig mit Sigle NA, Band- und Seitenzahl nach dieser Ausgabe. Als »›Folie‹« für die Novelle weist Norbert Oellers (Anm. 22), 103, zudem auf Kleists Wallenstein-Lektüre im Jahr 1800 hin.
Siehe zu dieser »zeitgeschichtlich-allegorischen« Lesart namentlich Helmut J. Schneider, »Der Zusammensturz des Allgemeinen«, in: Wellbery (Anm. 7), 110–129, hier: 119. Auf Rousseau und die ›Paradoxa der Aufklärung‹ fokussiert Steven Howe, Heinrich von Kleist and Jean-Jacques Rousseau. Violence, Identity, Nation, Rochester 2012.
Mögliche Referenzen Kleists für die Geschichte und Gesellschaft Chiles siehe in Hedwig Appelt, Dirk Grathoff (Hrsg.), Erläuterungen und Dokumente: Heinrich von Kleist. Das Erdbeben in Chili, Stuttgart 1997. Herangezogen werden im Folgenden der dort angeführte Reisebericht des Amédée François Frézier von 1716 sowie die berühmte Anklageschrift des spanischen Dominikanermönchs Bartolomé de Las Casas von den Gräueltaten der Eroberer aus dem Jahr 1552 (s.u.).
Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, 4. Aufl., München 2003, 8, 19.
Edward W. Said, Culture and Imperialism, London 1992, 8.
Osterhammel (Anm. 29), 20, 60.
Ursprünglich während der frühen portugiesischen Kolonisierung Westafrikas geprägt, leitet sich der Begriff ›Kreole‹ aus dem portugiesischen Crioulo bzw. dem spanischen Criollo nach portugiesisch bzw. spanisch criar ›aufziehen, erzeugen, züchten‹ ab. Crioulos/Criollos sind demnach wörtlich ›Zöglinge‹.
Osterhammel (Anm. 29), 17, 60.
Die Einführung Jeronimos als »ein junger […] Spanier« (189) markiert deutlich die erst rezente Ankunft des Jünglings aus dem kolonialen Mutterland auf einem sozialen Terrain bereits abgesteckter Ansprüche. Dem Neuankömmling stehen in der Person Don Henrico Asterons die lokalen Machteliten gegenüber, die sich nicht mehr in demselben Maße und mit derselben Bindung ans Mutterland als ›Spanier‹ verstehen können oder wollen. Josephes Mutter bleibt zwar eine Leerstelle, Anlass zum Zweifel an deren adliger und auch nicht-autochtoner Herkunft bietet die Erzählung aber nicht. Auch die theoretisch mögliche Zugehörigkeit der Asterons zum indigenen Adel wird nirgends nahegelegt.
Eine Papstbulle hatte den Katholischen Königen Spaniens 1493 »das ausschließliche Recht der Heidenmission in Übersee« erteilt; der damit verbundene »Anspruch auf ein königliches Vikariat für die Kirche der Neuen Welt« legte die »Grundlagen für ein Staatskirchentum«. Die spanische Krone nahm ein »Aufsichts -und Disziplinarrecht gegenüber der Geistlichkeit in Anspruch« und ging dabei insbesondere »gegen das Konkubinat von Klerikern und Mönchen« vor. Richard Konetzke, Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt a. M. 1965 (= Fischer Weltgeschichte Bd. 22: Süd- und Mittelamerika I), 221, 222, 237, 238. Demgegenüber klagte etwa Francisco de Toledo 1568 als neuer Vizekönig von Peru, der Klerus sei dort »völliger Herr in den geistlichen Dingen und erkenne auch in weltlichen Angelegenheiten kaum noch einen Oberherrn an« (zit. nach ebd., 230) – eine Entwicklung, die im 18. Jahrhundert eine »den Staat gefährdende« Dimension angenommen haben wird (ebd., 237). Nach Kleists hierarchischer Staffelung der Instanzen im Fall Josephe wiegt das vom Erzbischof vertretene »klösterliche Gesetz« (191) schwerer als der Einspruch des peruanischen Vizekönigs im Generalkapitanat Chili, dessen »Machtspruch« nurmehr erreicht, dass der nach kanonischem Recht deklarierte Feuertod – die Todesstrafe der Inquisition für Ketzerei, Hexerei, Bigamie und Homosexualität – »in eine Enthauptung verwandelt« (191) werden kann. Nach dem älteren Kirchenrecht des Mutterlandes, das als »Grundlage der staatlichen Gesetzgebung in kirchlichen Angelegenheiten« (Konetzke, 228) diente, steht weder auf den Klausurbruch noch auf das sacrilegium carnale oder die fornicatio, den nicht-ehelichen Geschlechtsverkehr, die Todesstrafe. Die völlig unverhältnismäßige Bestrafung Josephes, bevor noch das weit schwerer wiegende Vergehen Jeronimos sanktioniert ist, ruft die Assoziation mit der Inquisition auf, in deren »maßloser Ausweitung und Übersteigerung des ordentlichen kirchlichen Strafrechts« aber wiederum »kein rechter Raum« für die Abmilderung des Feuertods gewesen wäre. Eugen Wohlhaupter, Dichterjuristen, Bd. 1, hrsg. Horst Gerhard Seifert, Tübingen 1953, 523.
Der Vizekönig habe sich »seiner Sache« – dem sozialen Aufstieg? – »immer günstig gezeigt« (209), begründet Jeronimo nach dem Wiederanschluss an eine vermeintlich friedliche postkatastrophische Gesellschaft sein neues Votum zugunsten des Verbleibs in Chili. Tatsächlich gelangten »überwiegend Abenteurer auf der Suche nach Reichtum, Macht, Ämtern und Würden« aus Spanien nach Amerika. Matthias Meyn u.a. (Hrsg.), Der Aufbau der Kolonialreiche, München 1987 (= Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 3), 314.
Siehe Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2: Die Neue Welt, Stuttgart 1985, 91. Dem Anagramm seines Nachnamens gemäß (Rugera/Guerra) und nach dem biblischen Vorbild Jesu (vgl. Mt 10,34) sät Jeronimo als bürgerlicher Spanier in der sozialen Hierarchie der kolonialen Stadtgesellschaft ›Krieg‹ in Form von Neid und Gewalt.
Als »Beherrschungskolonie«, hervorgegangen aus der ersten neuzeitlichen Kolonisierungsphase 1520–70, definiert Osterhammel einen »Expansionstypus«, dessen Hauptzweck nicht in der »Siedlungskolonisation« liegt. So kam es in Spanisch-Amerika zwar zu einer »erheblichen Einwanderung aus Europa« und »zur Herausbildung einer sich demographisch selbst reproduzierenden ›kreolischen‹ Bevölkerungsschicht«, die sich aber vorwiegend in den Städten niederließ und »zu keinem Zeitpunkt eine Bevölkerungsmehrheit« bildete. Osterhammel (Anm. 29), 14. Heimböckels Befund, der »Ausgriff auf die Ferne« sei in Kleists Chili »ein Ausgriff unter der Voraussetzung ihrer totalen kolonialen Inbesitznahme«, lässt sich mithin kolonialhistorisch und -typologisch fundieren. Heimböckel (Anm. 10), 177.
Der spezifisch karibische Typ der »Siedlungskolonie«, der sich in der zweiten Kolonisierungsphase 1630–80 mit der »Plantagenökonomie« herausbildete, beruhte auf dem massiven Import afrikanischer Sklavenarbeiter. Die resultierenden kolonialen Gesellschaften waren »traditionslose Kunstprodukte […] auf entvölkertem Land«. Osterhammel (Anm. 29), 35, 37.
Diese unterschiedliche Ausrichtung lässt sich mit Blick auf die hier schon für 1801/02 veranschlagte Entstehung der Erstlingsnovelle auch werkbiographisch begründen: Die Sklavenrevolution in St. Domingue, dem seit 1664 unter französischer Herrschaft stehenden Westteil der Antilleninsel Hispaniola, bricht erst 1803 aus, und erst 1807, als Kriegsgefangener im Fort de Joux, wo 1803 auch der haitianische Revolutionär Toussaint-Louverture inhaftiert gewesen war, tritt Kleist in dessen »virtuelle[r] Nähe« auch in den »karibischen Wirkungsraum der französischen Politik« ein. Andrea Schütte, »Anerkennung als ›currente Waare‹. Der Wert der Zirkulation bei Smith, Hegel, Kleist und Körner«, in: Michael Gamper, Jutta Müller-Tamm, David Wachter, Jasmin Wrobel (Hrsg.), Der Wert der literarischen Zirkulation [im Erscheinen].
Osterhammel (Anm. 29), 89.
Dieses berücksichtigt auch Claudia Liebrand, »Das Erdbeben in Chili«, in: Breuer (Anm. 22), 114–120, hier: 117.
Als Pendant zu Agambens homo sacer fasst Ronit Lentin die straflos tötbare, der souveränen Gewalt ausgesetzte Frau als femina sacra. Ronit Lentin, »Femina sacra. Gendered memory and political violence«, Women’s Studies International Forum 29 (2006), 463–473.
Zu dem aufklärerischen Ganzheitsphantasma der ›Natur‹ wie der ›Frau‹ siehe Helmut J. Schneider, »Verkehrung der Aufklärung. Zur Destruktion der Idylle im Werk Heinrich von Kleists«, Kodikas 11.1–2 (1988), 149–165. Den chimärischen Charakter des Heilseins bezeugen bei Kleist neben dem Schuh- auch der Kesselflicker, der den zerbrochenen Krug findet, und die Hebammen.
»Tout commence par la nomination.« Louis-Jean Calvet, Linguistique et colonialisme. Petit traité de glottophagie, Paris 2002 [1974], 80.
Vgl. die Formulierung von Jahwes Macht- und Erlösungsanspruch über Israel bei Jesaja: »[…] ich habe dich bey deinem namen geruffen du bist mein.« (Jes 43,1) Weil unklar ist, welche Bibelausgabe Kleist wann genutzt hat, wird die Bibel, wo nicht anders angegeben, nach einer Ausgabe von Luthers Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert zitiert: Biblia, Das ist: Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, Nach der teutschen Ubersetzung, Martin Luthers […], Lemgo 1744. Zugunsten der Leserlichkeit verzichte ich darauf, die Binnengliederung der Bibelverse in Teilabschnitte zu markieren; Schrägstriche zeigen also die Vers-Enden an.
Siehe Henrik Birus, »Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen«, LiLi 67 (1987), 38–51; Ders., Poetische Namengebung, Göttingen 1978; Rolf Selbmann, Nomen est omen. Literaturgeschichte im Zeichen des Namens, Würzburg 2013.
Columbus taufte die erste der ›westindischen‹ Inseln, an denen er mit seinem Schiff, der Santa María, anlandete, Isla de San Salvador, die zweite Isla de Santa María de la Concepción. Evelina Gužauskytė, Christopher Columbus’s Naming in the diarios of the Four Voyages (1492–1504). A discourse of negotiation, Toronto 2014, 170. Der Name der von Columbus’ Bruder Bartolomeo gegründeten Hafenstadt Santo Domingo (zunächst Ysabella Nueva nach der spanischen Königin) auf dem Ostteil der von Christopher ursprünglich La Isla Española (Hispaniola) genannten Antilleninsel erweist aber Columbus’ Vater Domingo hagiographische Ehre. Ebd., 187. Diese Reverenz an Vater Columbus behält auch das Toponym des Westteils der Insel, des bis zur Sklavenrevolution von den Franzosen beherrschten Saint-Domingue, Kleists – noch spanisch lautendes – St. Domingo, bei.
Edward W. Said, Orientalismus, aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 2009, 305. Vgl. Axel Dunker, »Ortsnamen. Namen überhaupt. Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung«, in: Ders., Thomas Stolz, Ingo H. Warnke (Hrsg.), Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung, Berlin, Boston 2017, 1–16. Der gesamte Doppelkontinent, von dem Freiburger Kosmographen Matthias Ringmann 1507 nach Amerigo Vespucci benannt, ist der indigenen Bevölkerung auf diese symbolische Weise entwendet worden, siehe hierzu Stefan Rinke, »25. April 1507: Tauftag Amerikas. Die Prägekraft einer Namensgebung«, in: Ursula Lehmkuhl (Hrsg.), Amerika – Amerikas: zur Geschichte eines Namens von 1507 bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008, 11–32.
Die dekonstruktive Zergliederung und Neukomposition biblisch-legendarischer Handlungselemente, die Vinken/Haverkamp für die Aktualisierung des marianischen Intertexts in Die Marquise von O… konstatieren, ist im Fall der Chili-Novelle damit schon durch die koloniale Landkarte bedingt. Barbara Vinken, Anselm Haverkamp, »Die zurechtgelegte Frau. Gottesbegehren und transzendente Familie in Kleists Marquise von O….«, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall, Rechtsfall, Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, 127–147, hier: 142.
Zu »verkörperten Namen«, die die Rezeptionshaltung in Richtung der mythischen oder historischen Vorbilder lenken, siehe Birus, Vorschlag (Anm. 47), 40, 45. Die aus der mythischen und historischen Überlieferung bekannten ›verkörperten‹ Namen sind nach Aristoteles typisch für die Tragödie (De Arte Poetica 1451 b 15 und 20).
Pedrillo heißt auch die dem Sancho Panza entsprechende Dienerfigur in Wielands satirischem Bildungsroman Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva von 1764.
Hieronymus, der in der Ikonographie stets in hohem Alter entweder als Eremit in der Einöde oder als Gelehrter in der Studierstube dargestellt wird, war geistlicher Lehrer geweihter Jungfrauen und verfasste Schriften über die monastische Askese, die Jungfräulichkeit und deren Überlegenheit gegenüber der Ehe: Den Geschlechtsakt hielt er auch in der Ehe für unrein, da Adam und Eva im Paradies jungfräulich gelebt hätten und die Ehe erst nach dem Sündenfall in die Welt gekommen sei. Gerechtfertigt ist die Ehe für ihn nur, wenn Jungfrauen aus ihr hervorgehen. Pierre Nautin, »Hieronymus«, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 15, Berlin, New York 1986, 304–315, hier: 313. Von Hieronymus stammt die später vielfach aufgegriffene typologische Entgegensetzung der todbringenden sündigen Eva und der heilend-heiligen, lebenspendenden Maria: »Mors per Hevam, vita per Mariam.« Hieronymus, ep. 22,21. Zit. nach Gisbert Greshake, Maria-Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und Kirchenpraxis, Regensburg 2014, 153. Unter dem Patrozinium des Hl. Hieronymus stand auch ein für seine Sittenstrenge und Bußfertigkeit gerühmter Orden, die Hieronymiten, die als königliche Reformkommissare zur Beförderung der kulturellen Entwicklung nach Amerika entsandt wurden. Das Hieronymitenkloster San Jerónimo de Yuste in der spanischen Extremadura war letzter Rückzugsort Kaiser Karls V. nach Abtreten der Niederlande an seinen Sohn Philipp II.; um für den Geist seines verstorbenen Großvaters Karls V. gehalten zu werden, verbirgt sich daher Schillers Dom Karlos in der Schlussszene des Dramas im Habit eines Hieronymitenmönchs.
Blumenberg (Anm. 15), 45, spricht von der »eschatologischen Hoffnung«, dass die »Geschichte« einst rückblickend »als Vollstreckung des Namens« einsichtig werde.
Diese potenziell erdbebensicherere städtearchitektonische Struktur unterscheidet sich von den gewachsenen Vierteln Lissabons. Siehe den historischen Stadtplan von Santiago bei Appelt/Grathoff (Anm. 28), 18 f.
Analog zu »St. Domingo« nutzt Kleist die ältere, getrennte Schreibweise, um den Personenbezug zu unterstreichen.
Als Ritter auf weißem Pferd erschien Jakobus den spanischen Kämpfern in ihren Schlachten dies- und jenseits des Atlantik, siehe hierzu Leonor Ossa, Donnersohn, Maurentöter, Indiomörder. Der Zebedaide und die Gewalt, Frankfurt a. M. 2002.
Der Pfeiler ist in der Novelle zugleich Eckstein der narrativen Verfugung: Nach seiner Einführung zur Veranschaulichung des geplanten Selbstmords schon im ersten Satz – »an einem Pfeiler« (189) – wird nach der Analepse zu Zeugung und Geburt des unehelichen Kindes die Wiederaufnahme der zeitlich wieder eingeholten Eingangsszene erneut an jenem »Wandpfeiler« (193) festgemacht. In wechselnden symbolischen Besetzungen und Anspielungen bilden Pfeiler und Säulen (macht-)architektonische Leitmotive der Novelle (s.u.).
Vgl. die Errichtung der Erde auf Säulen (1 Sam 2,8; Ps 104), die im Unwetter von Jahwe aufgedeckt werden (2 Sam 22,16) bzw. erbeben (Jes 24,18).
So Appelt/Grathoff (Anm. 28), 47. Über dem Bischofssitz Würzburg thront die Festung Marienberg, und Mariensäulen konnte Kleist in zahlreichen Ortschaften rund um die Stadt gesehen haben.
Kathrin Pahl, »Trommelschläger. Kleists camp und Shakespeares puns«, Kleist-Jahrbuch 2017, 135–149, hier: 144. Für Santiago als Schauplatz auch der finalen Lynchmorde erwägt Kirsch in der »Namensgleichheit mit dem Patriarchen Jakob« einen Verweis auf den von Christen und speziell Katholiken pauschal »als strafend verunglimpften Gott« des (von diesen in Abgrenzung so genannten) Alten bzw. Ersten Testaments. Kirsch (Anm. 22), 495.
Lehmann (Anm. 20), 255.
Karlheinz Stierle, »Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists Das Erdbeben in Chili«, in: Wellbery (Anm. 7), 54–68, hier: 61: Die »Erfahrung Edens« ist nach dem »Choc« des Erdbebens »eine traumatische Erfahrung«.
Gegensinnig wird der bürgerliche Honorio in Goethes Novelle von 1827 in seinem (erotisch vorerst unerfüllten) Streben nach Westen, auf den ›neuen‹ Kontinent, ausgerichtet.
Carole Hough, »Settlement names«, in: Dies. (Hrsg.), The Oxford handbook of names and naming, Oxford 2016, 87–103, hier: 92.
Hrn. Frezier, Königl. Frantzösis. Ingenieurs, Reise nach der Süd-See und denen Cüsten von Chili, Peru und Brasilien, aus dem Frantzösischen übersetzet, und mit vielen saubern Kupfern versehen, Hamburg 1718 [frz. 1716], 313. Nach Frézier lautet der ständig wiederholte Gebetsspruch: »Gelobet seye das allerheiligste Sacrament des Altars / und unsre liebe Frau / die Jungfrau Maria / welche ohne Makel und Erbsünde vom ersten Augenblick ihres natürlichen Wesens / empfangen und gebohren worden.« Ebd.
Ein Dresdner Kupferstich Philipp Andreas Kilians nach Dosso Dossi zeigt die vier Kirchenväter, darunter den Hl. Hieronymus, samt dem Hl. Bernhard im Disput über die Immaculata Conceptio. Verzeichniss (Anm. 21), 141, Nr. 119.
Es liest sich als wortspielerische Auffächerung des Polysems ›conceptio‹ (lat. für ›Empfängnis‹ wie für ›Entwurf‹, ›Einfall‹), wenn sich gerade mit der Hafenstadt La Concepción die Idee der Auswanderung verbindet. Auch das Concetto, die gewitzte Ausführung einer Metapher, reflektiert sich hier im sprachlichen Vollzug. Der englische Arzt und Anatom William Harvey, Entdecker des Blutkreislaufes, hat beide Bedeutungen enggeführt und das (männliche) Gehirn wie den Uterus als Orte phantasmatischer Ein-Bildung bzw. ›conception‹ (engl. ›Empfängnis‹) bestimmt, sodass für ihn letztlich »jede eidetische Tätigkeit des Intellekts den biologischen Zeugungsakt nachahmt«. Albrecht Koschorke, »Inseminationen. Empfängnislehre, Rhetorik und christliche Verkündigung«, in: Christian Begemann, David E. Wellbery (Hrsg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i.Br. 2002, 89–110, hier: 93.
Der eingefriedete Garten entspricht dem Paradies auch etymologisch, insofern altiran. pairi daēza die ›Umwallung‹, den ›umfriedeten Park‹ meint.
»Meine schwester liebe braut! du bist ein verschlossener garten eine verschlossene quelle ein versiegelter born.« (Hld 4,12) Der folgende Vers vergleicht die Geliebte mit einem »lust=garte von granat=äpffeln« (Hld 4,13).
Siehe hierzu Koschorke (Anm. 18), 52–56.
Altgriech. ekklēsia ist ›die Herausgerufene‹, urspr. für die Volksversammlung, später auch für die christliche Gemeindeversammlung.
Nach dem sakralen Modell des hortus conclusus figuriert auch der neuzeitliche Nationalstaat seine Unversehrtheit als Basis der gottgegebenen Gewalt seines Souveräns im Bild der Jungfrau. So politisieren gerade die reformierten Niederlande den katholischen hortus conclusus im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien zur Allegorie der (in ihrer Integrität bedrohten) Hollandia – Zusammenhänge, auf die Kleists Zerbrochner Krug anlässlich bedrohter Jungfräulichkeit anspielt.
Damit korrespondiert Grathoffs Auflösung des Namens des Grafen von F… in Die Marquise von O… als »fecit«, ›er hat gemacht‹. Dirk Grathoff, »Die Zeichen der Marquise. Das Schweigen, die Sprache und die Schriften. Drei Annäherungsversuche an eine komplexe Textstruktur«, in: Ders. (Hrsg.), Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, Opladen 1988, 204–239, hier: 210.
Vgl. die symbolische Fülle des O… der Marquise nach dem Vorbild der Madonna della O. Vinken/Haverkamp (Anm. 50), 130.
So rühmen die Jungfrau die »schwärmerischen Marienverehrer des 5. und 6. Jahrhunderts«, zit. nach Ida Magli, Die Madonna. Die Entstehung eines weiblichen Idols aus der männlichen Phantasie, aus dem Italienischen von Angelika Beck, Vorw. von Inge von Weidenbaum, München, Zürich 1990, 116.
Vgl. die ver-kehrte Reinszenierung der Annunziata in Die Marquise von O…, wenn der Graf von F… durch die Hintertür in den Garten der »klösterliche[n] Eingezogenheit« eindringt, der dort Sitz der bereits schwangeren Frau ist. DKV III, 143–186, hier: 168.
So der Hl. Bernhard von Clairvaux, zit. nach Magli (Anm. 76), 131, Einschub von Magli.
Als Einfallstor des Todes ist Blutfluss im Judentum tabuisiert, was die kultische Reinigung der Frau nach Mensis und Wochenbett erfordert.
Auch die Eve des Zerbrochnen Krugs klingt in Josephes Namen mit, so auch Marx (Anm. 21), 124.
›Gottestracht‹ meint das »herumtragen der heiligenbilder oder des heil. sakraments in einer kirchlichen prozession« und wird in manchen Mundarten als Synekdoche des Fronleichnamsfestes selbst gebraucht. »Gottestracht«, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB (16.10.2022), Bd. 8, Sp. 1306.
Das historische Zeugnis einer französischen Gläubigen des 14. Jahrhunderts macht die aporetische Spannung zwischen Inkarnation und Realpräsenz in der eucharistischen Substanz der Hostie explizit: »Eines Tages ging ich zur Kirche des Heiligen Kreuzes, um die Messe zu hören, und ich hörte einige Frauen sagen […], daß eine Frau am Straßenrand niedergekommen sei […]. Während ich dies hörte, dachte ich an die ekelhafte Nachgeburt, die Frauen, die ein Kind zur Welt bringen, ausscheiden. Jedesmal, wenn ich den Leib des Herrn über dem Altar erhoben sah, dachte ich, die Hostie sei durch die Nachgeburt beschmutzt. Deshalb konnte ich nicht länger glauben, daß es sich tatsächlich um das Fleisch Christi handelt.« Zit. nach Caroline Walker Bynum, »Die Frau als Körper und Nahrung«, in: Bettine Menke, Barbara Vinken (Hrsg.), Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, München u.a. 2004, 113–144, hier: 122. Die reinen Sinnes und Gewissens empfangene Kommunion wiederum ist theologisch auch mit der Ehe verglichen worden, insofern die Gläubigen darin ›ein Fleisch‹ mit Christus werden. Siehe hierzu Gerhard Poppenberg, Psyche und Allegorie. Studien zum spanischen auto sacramental von den Anfängen bis zu Calderón, München 2003, 179.
Helmut J. Schneider, »Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist«, Kleist-Jahrbuch 2002, 21–41, hier: 24 f. Siehe zur Geburt bei Kleist auch Marjorie Gelus, »Birth as Metaphor in Kleist’s Das Erdbeben in Chili: A Comparison of Critical Methodologies«, Women in German Yearbook 8 (1992), 1–20, sowie Dagmar C. G. Lorenz, »Väter und Mütter in der Sozialstruktur von Kleists ›Erdbeben in Chili‹«, Études Germaniques 33 (1978), 270–281.
Vgl. alttestamentlich auch die heilsträchtige Geburt der Kinder Zions ohne Wehen in Jes 66,6–8.
Kleist versinnbildlicht die Strafen des Falls für beiderlei Geschlecht in der Figur der Alten, die dem Jeronimo die Hinrichtung Josephes bestätigt: Mit »fast zur Erde gedrückte[m] Nacken« und einer »ungeheure[n] Last von Gerätschaften« ist sie eine Figuration des Adam, mit dem alle Männer zu knochenharter Feldarbeit verdammt sind, »zwei Kinder, an der Brust hängend« (195), zeigen die Mühen der Mutterschaft.
Namentlich unter Judenchristen und Gnostikern war Jesu Geburt von einer jungfräulichen Mutter umstritten; im ältesten, dem Markus-Evangelium, spielt die Frage der Virginität keine Rolle. Von Mariens Jungfräulichkeit auch während Jesu Geburt, der (später so genannten) virginitas in partu, spricht erst im zweiten nachchristlichen Jahrhundert das Protoevangelium des Jakobus. In einer – der Begegnung des ungläubigen Thomas mit dem Auferstandenen in Joh 22,24–29 analogen – Szene, welche die patristische Literatur bis ins Mittelalter beeinflusst hat, ruft die zur Geburt Jesu gerufene Hebamme einer anderen Frau zu: »›Salome, Salome, ich habe dir ein nie dagewesenes Schauspiel zu erzählen: Eine Jungfrau hat geboren, was doch ihre Natur nicht zulässt.‹ Und Salome sprach: ›So wahr der Herr, mein Gott[,] lebt: Wenn ich nicht meinen Finger [in den Schoß Marias] hineinlege und ihren Zustand untersuche, werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat‹. Und Salome trat hinzu und legte ihren Finger hinein zur Untersuchung ihres Zustandes […].« (ProtevJac 19,3–20,1) Zit. nach Greshake (Anm. 53), 195. Die nach Marias Hymen tastende Hand der Salome verfault zur Strafe, erst die Berührung mit dem neugeborenen Jesus heilt sie wieder. Den mit jungfräulichen Muttergottheiten der griechisch-römischen Welt vertrauten Zeitgenossen geht es »nicht um die Frage, ob eine Jungfrau empfangen, sondern darum, ob sie gebären könne, ohne den ihr charakteristischen Zustand zu verlieren«. Walter Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen, Darmstadt 1967 [1909], 68. Kleists Marquise von O… fordert im irritierenden Empfinden einer neuen Schwangerschaft die fachkundige leibliche Untersuchung ihres Zustands selbst ein und nimmt das Kind nach erster Empörung zunächst als quasi-göttliches an. Vgl. DKV III, 168.
So ruft in Stifters Erzählung Granit die Mutter, mit wiederum marianischem Intertext und kurz vor blutiger körperlicher Züchtigung ihres Sohnes, angesichts der von diesem verursachten Pechspuren auf frisch gewienertem Boden – ein Pechbrenner hat dem Jungen, durchaus erotisch, die baren Füße eingeschmiert. Adalbert Stifter, »Granit«, in: Ders., Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, hrsg. Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald (seit 2000 Hartmut Laufhütte), Bd. 2.2, hrsg. Helmut Bergner, Stuttgart u.a. 1982, 23–60, hier: 26. Die intertextuelle Korrespondenz von Stifters (dem Phänotyp nach so verschiedener) Prosa zu Kleists Erzählungen wird noch viel zu wenig berücksichtigt. Siehe aber Uwe C. Steiner, »Kreuz-Zeichen. Warum Stifters Bergkristall Kleists Das Erdbeben in Chili in eine Ökonomie des Narrativen umschreibt«, Athenäum. Jahrbuch für Romantik 17 (2007), 159–191.
Schneider (Anm. 83), 23.
So beim Hl. Bernhard, zit. nach Magli (Anm. 76), 131. In dem feierlichen christlichen Lobgesang des Te Deum, der wohl schon aus dem vierten Jahrhundert stammt, heißt es entsprechend: »non horruisti virginis uterum«, ›Du hast den Jungfrauenschoß nicht verschmäht‹.
So Hamacher (Anm. 22), 163. Diese Reihe typologischer Entsprechungen wäre durch die Kreuzigung zu ergänzen, die als Tiefpunkt der Menschwerdung Gottes das Modell für die Transsubstantiation vorgibt. Vgl. Poppenberg (Anm. 82), 172.
Hebr. Eva, ḥawwāh, ist die ›Mutter des Lebendigen‹, siehe Gen 3,20; Sir 40,1.
Auch in Kleists häretischer Konfiguration löst sich damit »das Ursprungshaft-Weltspendende, das die mythologische Mutterschaft für sich in Anspruch nahm«, aus der ›Umklammerung‹ durch die »trinitarische Konstruktion«. Koschorke (Anm. 18), 62.
Für Girard, Ende der Gewalt (Anm. 7), 229, bedeutet die »Abwesenheit von allem Sexuellen« in der spirituellen Begattung Mariens zugleich die »Abwesenheit der gewalttätigen Mimesis«. Kleist fragt demgegenüber nach den unweigerlich brüchigen Heilsmomenten inmitten der unhintergehbaren Verschlingung von Eros und Gewalt.
Als Gott vorbehaltenes Heiligtum ist Maria die verschlossene Pforte, durch die nur Gott selbst eingehen darf. Vgl. Ez 44,1 f.
Es war just der Hl. Hieronymus, der die Ehegesetze auf die jungfräuliche Ehe von Nonnen mit Christus anwandte. Blüten trieb dieses Verständnis zwischenzeitlich dergestalt, dass für die ›erste Nacht‹ einer neugeweihten Nonne ein symbolisches »Hochzeitsgemach hergerichtet« wurde und »der Bischof sich mit großem Pomp für eine Nacht ins Kloster« begab. Magli (Anm. 76), 32.
Die dem Pfingstwunder entgegengesetzte Waffengewalt des Wortes hat ihr Vorbild in biblischer Metaphorik, so in Ps 64,4 in der Bitte um Schutz vor den Feinden, »[w]elche ihre zungen schärffen, wie ein schwert, die mit ihren giftigen worten zielen, wie mit pfeilen«.
Vgl. Die Familie Schroffenstein II.1, V. 702 f.: In Agnes’ Worten schleicht Ottokar sich hier an sie heran »wie die Sommersonne, / Will sie ein nächtlich Liebesfest belauschen«. DKV I, 123–234, hier: 151.
Johannes F. Lehmann, »Macht und Zeit in Heinrich von Kleists ›Erdbeben in Chili‹«, in: Roland Borgards, Ders. (Hrsg.), Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800, Würzburg 2002, 161–183, hier: 165. Vgl. Gerhard Gönner, Von »zerspaltenen Herzen« und der »gebrechlichen Einordnung der Welt«. Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist, Stuttgart 1989: Mit Foucault pointiert Gönner, in den »›Zeremonien‹ hoheitlicher Vergeltungsjustiz« durchkreuzten sich »›die Maßlosigkeit der bewaffneten Justiz und die Wut des bedrohten Volkes‹«. Ebd., 96. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen von Walter Seitter, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1989, 93 f.
Siehe René Girard, Der Sündenbock, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich 1988.
Poppenberg (Anm. 82), 146, 144.
Vgl. Hebr 10,5–7 nach Ps 40,7–9. Die Aufhebung des in der Kirche nurmehr rituell nachvollzogenen Opfers in dessen singulärer historischer und heilsgeschichtlicher Erfüllung durch Christus ist Kerngedanke auch der Opfertheorie Girards, siehe hierzu von theologischer Seite Arnold Angenendt, Die Revolution des geistigen Opfers. Blut – Sündenbock – Eucharistie, 2., erw. Aufl., Freiburg i.Br. 2016.
Vgl. die Aussicht auf eschatologische Vereinigung mit dem Erlöser in Offb 19,7–9: »Lasset uns freuen und frölich seyn und ihm die ehre geben, denn die hochzeit des lammes ist kommen und sein weib hat sich bereitet. […] selig sind, die zum abendmaal des lammes beruffen sind […].«.
Magli (Anm. 76), 33. Die Schonzeit, die der Wöchnerin Josephe im Gefängnis vor ihrem Prozess noch gewährt wird, entspricht nach jüdischem Gesetz der kultischen mütterlichen Unreinheit nach einer Geburt, in der die Frau nicht im Tempel opfern darf.
Die komplementäre Gegenläufigkeit von unrechtmäßiger Gewaltherrschaft und göttlich konnotierter Naturgewalt, die Folgen zugunsten der Beherrschten zeitigt, teilt Kleists Erstlingsnovelle mit Schillers Wilhelm Tell von 1804, in dem sich der Titelheld jeweils im Sturm als Retter profiliert und im Sturm auch aus der Gefangenschaft entkommen kann. Tell selbst pointiert: »So bin ich hier, gerettet aus des Sturms / Gewalt und aus der schlimmeren der Menschen.« (IV.1, 2270 f.) NA 10, 127–277, hier: 230.
Siehe hierzu maßgeblich Claudia Liebrand, »Das suspendierte Bewußtsein. Dissoziation und Amnesie in Kleists Erdbeben in Chili«, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), 95–114. Komplementär zum ›Beben‹, das Werner Hamacher (Anm. 22) mit Blick auf die Vervielfachung der dramatischen Peripetie als Charakteristikum des discours bestimmt hat, ist auch das suspendierende In-der-Schwebe-Halten strukturbildendes dramaturgisches Kernmoment der Novelle.
Siehe DKV IV, 159.
Gerhart von Graevenitz, »Die Gewalt des Ähnlichen. Concettismus in Piranesis ›Carceri‹ und in Kleists ›Erdbeben in Chili‹«, in: Christine Lubkoll, Günter Oesterle (Hrsg.), Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, Würzburg 2001, 63–92, hier: 67. Aufgebrochen wird in Kleists Inszenierung auch das titelgebende Gehäus aus Dürers Kupferstich Der heilige Hieronymus im Gehäus von 1514, der einen eigenen Bildtypus um diesen Heiligen begründet hat. Mit der vierten Wand zum Betrachter hin öffnet sich bei Dürer die Studierstube des Kirchenvaters und zeigt diesen am Schreibtisch sitzend; von einem Balken an der Decke hängt im Vordergrund ein Kürbis wie eine schwere Glocke in den Raum herab – ein Hinweis auf den theologischen Disput des Hieronymus mit Augustinus um die rechte Übersetzung der in Jona 4,6–10 genannten Pflanze. Kleist könnte die mit einem Seil an einem Metallhaken vom Deckenbalken herabhängende Frucht zum architektonischen Arrangement von »Wandpfeiler«, »Eisenklammer« und »Strick« (193) beim Selbstmordversuch Jeronimos in seinem Gefängnis angeregt haben.
Konkretisiert ist hier auch eine Metapher aus Schillers Dom Karlos, als dieser von der Prinzessin von Eboli fliehen will: »[…] Hinaus von hier, hinunter / in’s Freie – […] mir wird, als rauchte hinter mir die Welt / in Flammen auf – [.]« II.8, V. 1982–31. NA 6, 101.
Schneider (Anm. 44), 153.
Das Dresdner Gemälde eines Nachfolgers des spanischen Malers Jusepe de Riberas zeigt diese Befreiung. Siehe Verzeichniss (Anm. 21), 125, Nr. 6. Dieser Malername mag zu den vielfältigen Inspirationsmomenten für die Namengebung der Figuren (Jusepe/Josephe; Riberas/Rugera) bei Kleist gezählt haben. Die (eingedeutschte) griechische Form der Kindsnamens, Philipp, anstelle der spanischen, Felipe, mag durch den biblischen Subtext bedingt sein – und durch Shakespeares Julius Caesar, wo es in Philippi zum großen Finale mit dem Selbstmord des Brutus kommt.
Der Name Adam leitet sich her von hebr. ’ădāmāh, ›Erdboden‹.
Vgl. die Szene in Die Familie Schroffenstein, in der Sylvester aus seiner Ohnmacht (während der Steinigung des Herolds) erwacht: »Mir ist so wohl, wie bei dem Eintritt in / Ein andres Leben.« II.2, V. 864 f. DKV I, 157. Ähnlich ist bei Schiller, in den Worten des Priors, Karlos’ Empfinden im Karthäuserkloster außerhalb Madrids: »[…] Wie der Eintritt / in’s andre Leben.« Dom Karlos, II.16, V. 2685 f. NA 6, 136. Kleist subvertiert hier auch das Erwachen als Motiv der Patriarchaden, so titelgebend in Maler Müllers Adams erstes Erwachen und erste seelige Nächte von 1778. Dort erzählt der Titelheld seiner Familie im Rückblick von seinen Empfindungen bei seinem Erwachen zu erstem Bewusstsein im inzwischen verlorenen Paradies. Sein postlapsarischer Zustand ist durchaus schuldbewusst, die noch nicht verschämte Intimität mit Eva deutet aber ein frühes Stadium noch ›natürlich‹ gelebter Sexualität an.
Die Strukturformel der Katastrophennovelle ist bei ihrer Nennung im Text, intern fokalisiert auf den gefangenen Jeronimo, noch unmotiviert: Der gegen Josephe angestrengte »geschärfteste Prozeß« lässt (wie die Prozesse der Inquisition) keinen positiven Ausgang erwarten, eine »ungeheure Wendung der Dinge« (191) markiert sein Urteil gerade nicht. Kleists gattungspoetologische Leitformel ist bei Schiller vorgeprägt: In der die Liebestragödie des Dom Karlos spiegelnden italienischen Erzählung des Marquis de Posa eilt ein Fernando, »[d]es fürchterlichen Wechsels unbewusst«, zu seiner jungen Braut, die inzwischen sein eigener verwitweter Onkel geehelicht hat (I.4, V. 585; NA 6, 37). Eingangs von Schillers »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung« von 1788 wiederum heißt es von der »Gründung der niederländischen Freiheit«: »Diese unnatürliche Wendung der Dinge scheint an ein Wunder zu gränzen […].« Bringe man aber »alle Zufälle in Berechnung«, welche die vermeintlich schwächeren Niederländer gegen Spanien begünstigten, so schwinde »das Uebernatürliche dieser Begebenheit«, »das Ausserordentliche« bleibe. NA 17 I, 7–289, hier: 10, 15, 20 f.
Barbara Maurmann, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren, München 1976, 160. »Die Schöpfungsgeschichte vor dem Sündenfall und dessen Folgen in der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies hat sich auf der ›kosmischen Linie‹ von Osten nach Westen ereignet.« Ebd., 153.
Gerhard Neumann, »Hexenküche und Abendmahl. Die Sprache der Liebe im Werk Heinrich von Kleists«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Codierungen von Liebe in der Kunstperiode, Würzburg 1997, 169–196, hier: 178.
Maurmann (Anm. 114), 161.
Inspiriert von der Geschlossenheit des Globus hat Kleists im Marionettentheater-Aufsatz formulierte Denkfigur von dem nach einer Reise um die Welt hinten wieder offenen Paradies (DKV III, 559) ihre historische Entsprechung in Columbus’ Absicht, auf der Westpassage das Paradies des indischen Ostens zu finden.
Das Anstecken des Vermählungsrings, des im Dom von Perugia als Reliquie verehrten santo anello, an Mariens Finger ist Schlüsselmotiv im Bildtyp der Vermählung der Jungfrau (Lo Sposalizio della Vergine), prominent bei Giotto, Perugino und am berühmtesten (und oft kopiert) bei Raffael. Figur im Mittelpunkt der Gemälde ist jeweils der Hohepriester, vor dem Joseph der ausgestreckten Hand seiner Braut den Ring ansteckt. Die Darstellung der Eheschließung im Vorhof des Tempels geht zurück auf den Bericht im Protoevangelium des Jakobus, den die Legenda aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine aufgreift. Auch Dürers graphischer Zyklus Das Marienleben widmet dem Motiv einen Schnitt.
So treffend Vera King, »›… es ist nur auf wenige Augenblicke‹. Die zweite Verführung in Kleists Das Erdbeben in Chili«, in: Ortrud Gutjahr (Hrsg.), Heinrich von Kleist, Würzburg 2008 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 27), 179–206.
Indem sie für das »Versöhnungsgeschäft mit dem Vizekönig« Vorkehrungen für den schlechtesten und den »besten« Fall trifft, »wenn das Geschäft die erwünschte Wendung nähme« (209), übt Josephe, die ihre Rettung der göttlichen Vorsehung zuschreibt, im Sinne der Typologie biblischer Frauenfiguren zugleich die weiblich-listige Vorsicht der Eva und sorgt aus dem Wissen um Schuld und Sühne respektive Vergehen und Strafe vor – bis zum Rückfall in eine prälapsarische Bewusstlosigkeit ihres Tuns.
Das »Angesicht in Staub [gestürzt]« finden »die drei Marien« in Kleists Verserzählung Der Engel am Grabe des Herrn aus dem ersten Heft des Phöbus 1808 die Grabeshüter und sehen auf dem weggewälzten Stein einen Engel sitzen, dessen sich »noch regend[es]« Flügelpaar vom Einbruch höherer Gewalt zeugt: »Da stürzten sie, wie Leichen, selbst, getroffen, / Zu Boden hin, und fühlten sich wie Staub, / Und meinten, gleich im Glanze zu vergehn[.]« DKV III, 406–408, hier: 408. Es ist dieses im erschütternden Erdbeben selbst nicht wahrgenommene Erlebnis unfassbarer (göttlicher) Präsenz, deren (nochmalige) Überwältigung Josephes Niederwerfungsgebärde nunmehr bewusst provozieren will. Zur intrikaten Medienpoetik dieser irritierend eng an das Matthäusevangelium anschließenden Verserzählung Kleists siehe Andrea Polaschegg, »Phöbus am Grabe des Herrn. Medienpolitik und Religionspoetik im ersten Heft von Kleists ›Journal für die Kunst‹«, Kleist-Jahrbuch 2018, 47–68.
Wie das Präsens an dieser Stelle indiziert, deutet Josephe hier nicht (nur) das Erdbeben als Theophanie, sondern die »eben jetzt« (211) im Kreis der Überlebenden genossene Solidarität, mithin die göttliche Macht der ›Wendung‹ zum Guten.
Vgl. Vinken/Haverkamp (Anm. 50).
So heißt es von Jeronimo, er sei »ihr, nach dem kleinen Philipp, der liebste auf der Welt« (201; Herv. J.S.).
Mit »unendlicher Inbrunst« betet schon Jeronimo eingangs im Gefängnis zum Madonnenbild um »Rettung« (191) nicht für Josephe, sondern für sich selbst.
Tun sich bei Jesu Kreuzestod nach Mt 27,52 die Gräber auf, um die Leiber der Heiligen freizugeben, so öffnen sich laut der Katastrophenerzählungen der Überlebenden bei Kleist während des Erdbebens die Leiber schwangerer Frauen, um vorzeitig zu gebären. Solche vorzeitige Niederkunft im Schrecken – der Makel ›unzeitiger Geburt‹ – ist biblisch Vorzeichen größten Unglücks bzw. personaler Minderwertigkeit; vgl. 1 Sam 4,19; Hi 3,16; Ps 58,9; Koh 6,3; Jes 65,23.
In ihrer ›Rührung‹ darüber, »wie viel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden« (203), sondern sich die Liebenden nicht nur physisch von den jammervoll klagenden übrigen Überlebenden ab, vielmehr stellen sie auch ihre individuelle Providenz über das kollektive Schicksal. Damit partizipieren sie selbst aktiv an der ›hermeneutischen Gewalt‹ (»hermeneutic violence«), der sie am Ende zum Opfer fallen. Kate Rigby, »Das Erdbeben in Chili and the Romantic Reframing of ›Natural Disaster‹«, in: Yixu Lü, Anthony Stephens, Alison Lewis, Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Wissensfiguren im Werk Heinrich von Kleists, Freiburg i.Br. 2012, 137–150, hier: 148.
Mk 13,3–36; aufgegriffen in Mt 24,3–44 und Lk 21,7–36.
Eigentlich richtet sich Jesu Rede hier gerade gegen das unter den frühen Christen enorm virulente Endzeitbewusstsein und die Naherwartung des eschatologischen Geschehens, das durch die Dehnung und Staffelung der angekündigten Ereignisse in die Ferne gerückt wird.
So die textnähere Elberfelder Übersetzung von 1905 [1855] bzw. die Interlinear-Übersetzung von Mk 13,8, abrufbar in Parallelansicht unter https://www.bibel-online.net/buch/dual/elberfelder_1905/markus/13/interlinear/markus/13 (16.10.2022). In dem 1829 begründeten Kritisch exegetischen Kommentar über das Neue Testament heißt es über Mk 13,8, »gewöhnlich« erkläre man: »Alles dies aber wird Wehen-Anfang sein, wird sich zu dem, was noch nachfolgen wird, eben so verhalten, wie bei einer Geburt der Beginn der Wehen zu den noch nachfolgenden weit grösseren Schmerzen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die der Ankunft des Messias vorhergehenden Drangsale als die Wehen betrachtet seien, aus denen die messianische Zeit herausgeboren werde.« H. A. W. Meyer’s Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament. 1. Abt. 1. Hälfte. Das Matthäus-Evangelium, 8. Aufl., neu bearb. von Dr. Bernhard Weiss, Göttingen 1890, 399.
Die Metapher der Wehen illustriert jeweils eine besonders schmerzensreiche Lage Israels in Bedrängung seiner Feinde, siehe Jes 13,8; Jer 13,21; Jer 22,23; Jer 49,24.
Offb 9,12; 11,14.
2 Kg 8,12; 15,16; Hos 14,1.
»Da ließ der HErr schwefel und feuer regnen von dem HErrn vom himmel herab, auf Sodom und Gomorra. / Und kehrete die städte um, die gantze gegend, und alle einwohner der städte, und was auf dem lande gewachsen war.« (Gen 19,24 f.) Das im Folgenden von Lots Frau übertretene Verbot zurückzuschauen modelliert seinerseits die in Kleists ›Tal von Eden‹ verhängte »Erinnerungssperre«. Lehmann (Anm. 98), 169.
So ein Vorschlag von Reuß (Anm. 15), 7.
Das Frontispiz zeigt den (für den Autor der Apokalypse gehaltenen) Evangelisten Johannes und die Madonna mit dem Kind. Gemäß Offb 12,1 und wie im neunten Holzschnitt zu diesem Vers trägt sie eine Sternenkrone, ist von einem Strahlenkranz umgeben und steht auf einer Mondsichel.
Die Verweise in Luther 1744 identifizieren das Weib christologisch als »die christliche Kirche« und die zwölf Sterne als »die Aposteln« ([Anm. 46], 260). In der rabbinischen Tradition ist diese himmlische Vision der Gebärenden im Sinne der ›Messiaswehen‹ von äußerster irdischer Not messianologisch gedeutet worden. Die ›Sternenfrau‹ wird damit als Allegorie des Gottesvolks sowohl des Alten wie des Neuen Bundes gelesen, die Perikope, die von ihr spricht, bildet in dieser figurativen Raffung der alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte »das Zentrum der gesamten Apokalypse«. Greshake (Anm. 53), 94.
Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986, 71.
Benjamín Subercaseaux, Chile o una loca geografía [1940], Prólogo de Gabriela Mistral, Santiago de Chile 2005, 53. Die Quechua wiederum nannten die schneebedeckten Anden tchili, Schnee, was ebenfalls für die Toponymie geltend gemacht wird. Siehe ebd. Dass hebr. chîl ›in den Wehen liegen‹ bedeutet und der Landesname über diese lautlich suggestive Brücke auch im Sinne des Geburtsmotivs zu lesen und zu hören wäre, wusste Kleist vermutlich nicht; eine zeitgenössische Biblia Hebraica hätte hier Anregung bieten können. Diesen Hinweis verdanke ich Andrea Schütte.
So auch Hamacher (Anm. 22), 166, der zudem das am Ende fatale chiastische Prinzip eingespielt hört. Zur »utopisch-eschatologische[n] Aufladung« des transatlantischen Westens in der Neuzeit siehe Georg Jochum, »Plus Ultra« oder die Erfindung der Moderne. Zur neuzeitlichen Entgrenzung der okzidentalen Welt, Bielefeld 2017, 248.
Das Idyllische entfaltet sich in (Prosa‑)Texten des 19. Jahrhunderts als bedrohte »Enklave«. Renate Böschenstein, »Idyllisch/Idylle«, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2001, 119–138, hier: 120. Zum Verhältnis von Katastrophe, Gewalt und Idylle bei Kleist siehe Schneider (Anm. 44).
Schneider (Anm. 27), 126.
In einer Volte gegen Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die, nach einem eigenen Schweigegebot, die Revolutionswirren in ihren Erzählungen ausklammern, heißt es: »Statt der nichtssagenden Unterhaltungen, zu welchen sonst die Welt an den Teetischen den Stoff hergegeben hatte, erzählte man jetzt Beispiele von ungeheuern Taten: […].« (207).
Eine »blinde Idylle« nach der »blinde[n] Katastrophe« konstatiert treffend Schneider (Anm. 44), 159.
Siehe hierzu die zeittheoretische Analyse von Lehmann (Anm. 98), 171 ff.
Die sichtlich gerührte Donna Elvire »winkt[] ihr, zu schweigen«, als Josephe ihr auf Nachfrage »einige Hauptzüge« ihrer Version des »fürchterlichen Tag[es]« erzählt (207). Auch die Aufnahme bei Elvires Schwestern, die als »sehr würdige junge Damen« (203) in die Nähe der vom Fall ihrer sündigen ›Schwester‹ empörten »Jungfrauen von St. Jago« (191) gerückt sind, verläuft »auf das innigste und zärtlichste« (203), aber schweigend.
Der Text spielt hier auch mit dem schon in der hebräischen Bibel eminent geschlechtlich konnotierten ›Kennen‹, wenn es heißt, dass Josephe in Don Fernando »einen Bekannten erblickt[]« (203), womit das finale Leitmotiv des (V)Erkennens eingeführt wird.
Das Bildmotiv der stillenden Gottesmutter knüpft an die Darstellung paganer Göttinnen an, deren Milch den Gestillten zu übermenschlichen Kräften begabt: so der altägyptischen Isis, die den Horusknaben säugt, und der griechischen Hera, deren Milch dem nach ihr benannten Herakles erst heroische Kräfte verleiht. Umso wichtiger war es den Theologen, die Menschlichkeit der Milch Mariens zu betonen, deren Reinheit gleichwohl gotteswürdig gewesen sei. Die erotische Note – und auch die Gottesgleichheit des marianischen Mediums – werden heikler, wenn die Gestillten erwachsene Männer sind wie in der Darstellung von Laktationsvisionen männlicher Heiliger, prominent des Hl. Bernhard, der im Traum die heilige Milch der Muttergottes als emanierten Strahl, also auf Distanz, empfängt, was wiederum der Conceptio der göttlichen Frucht durch Maria selbst entspricht.
Die doppelte Besetzung der Kindesstelle entspricht der Bedeutung des hebräischen Namens jōsēf: ›Jahwe möge [einen Sohn] hinzufügen‹.
Wie David E. Wellbery, »Semiotische Anmerkungen zu Kleists Das Erdbeben in Chili«, in: Ders. (Anm. 7), 69–87, hier: 179 (Fußnote), bemerkt, korrespondiert die Transzendenz der physischen Sphäre Schillers Konzept der Idylle als der »zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur«. Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung«, NA 20, 413–503, hier: 472. Holm (Anm. 19), 60, sieht hier Kants – aus der Erfahrung der Erhabenheit geborene – sittliche Idee der »Menschlichkeit in unserer Person« (KU B 105) ins Bild gesetzt. Die Blumenmetapher entspricht auch der Marientopik, die den entsexualisierten weiblichen Körper Mariens als rosa mystica, als geistliche Rose, verehrt. In diesem Sinn rühmt der Hl. Bernhard in Dantes Paradiso die jungfräuliche Gottesmutter (»Vergine madre«) als höchste Nobilitierung der menschlichen Natur. Vgl. Dante Alighieri von dem Paradiese, aus dem Italiänischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von L[ebrecht]. Bachenschwanz, Leipzig 1769, 239.
Die postkatastrophische Verschwisterung von »Klosterherren und Klosterfrauen« (207), die hier beieinander liegen wie die Wölfe und die Lämmer bei Jes 11,6, bricht die Gesellschaftsutopie freilich zur ironischen Replik auf den lapsus im Klostergarten.
Die »natürliche[] Tugend« des Mitleids, »la pitié«, kennzeichnet den Naturzustand bei Rousseau – darauf verweist Susanne Kaul, die den Mittelteil der Novelle allerdings als ungebrochen positive Utopie freier Soziabilität liest. Susanne Kaul, Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare – Kleist, München 2008, 104–117, hier: 111. Schon Josephes Zögern in ihrer Hilfszusage an Don Fernando entspricht nicht Rousseaus Konzept des Mitleids als unwillkürlicher, »reine[r] Regung der Natur«, die »jedem Gebrauch der Reflexion vorangeht« und uns »veranlaßt […], ohne zu überlegen, denjenigen Hilfe zu leisten, die wir leiden sehen […].« Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, hrsg. und übersetzt von Philip Rippel, Stuttgart 1998, 62, 61, 64.
Das u.a. bei Rubens prominente Bildmotiv der Caritas Romana geht auf die bei Boccaccio überlieferte Geschichte der Pero zurück, die ihrem zum Hungertod verurteilten Vater Cimon im Gefängnis die Brust gibt, um ihn zu retten.
Nach Moses Mendelssohn ist die numerische Begrenztheit einer »kleinern menschlichen Gesellschaft« Voraussetzung der Idylle. Zit. nach Helmut J. Schneider (Hrsg.), Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, Tübingen 1988, 148.
Siehe hierzu die gabentheoretische Analyse von Pamela Moucha, »Verspätete Gegengabe: Gabenlogik und Katastrophenbewältigung in Kleists ›Erdbeben in Chili‹«, Kleist-Jahrbuch 2000, 61–88.
Siehe hierzu Jochen Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992, bes. 55.
Im Bildtypus der Madonna mit Kind hält Maria neben dem Jesus- häufig auch den Johannesknaben auf ihrem Schoß. Bei Kleist erhält dieser gleichsam die andere, noch freie Brust.
Wie schon vielfach bemerkt, ist die Anagnorisis als Körperakt inszeniert, wenn dem Jeronimo »das Herz hüpft[]« (197) wie der Elisabeth das ungeborene Kind im Leib bei der Begegnung mit dem Erlöser im Leib der Maria (Lk 1,41).
Vgl. den expliziten Taufakt der Agnes durch Ottokar in Die Familie Schroffenstein, III.1, V. 1267 f.: »Weil du ein Ebenbild der Mutter Gottes, / Maria tauf’ ich Dich.« DKV I, 173.
Siehe Marx (Anm. 21), 126–131.
Siehe Appelt/Grathoff (Anm. 28), 33.
Die Madonna mit dem Passion und Erlösung zugleich symbolisierenden Granatapfel, La Madonna della Melagrana, ist ein eigener Bildtypus der Marienikonographie, so prominent bei Leonardo, Botticelli und Raffael.
Die Journalfassung formuliert hier noch drastischer »verstopfte ihm […] den Mund« (200; Herv. J.S.).
»Er sagte ihr, […] daß er Hoffnung habe, (wobei er ihr einen Kuß aufdrückte), mit ihr in Chili zurückzubleiben.« (209) Mutter und Kind werden damit jeweils zum Infans entmündigt, vgl. Hamacher (Anm. 22), 171.
Koschorke (Anm. 18), 33.
Liebrand (Anm. 42), 117.
Siehe Verzeichniss (Anm. 21), 83, Nr. 574.
Friedrich A. Kittler, »Ein Erdbeben in Chili und Preußen«, in: Wellbery (Anm. 7), 24–38, hier: 33.
Durchweg ist es Kleist hier um das von Albrecht Koschorke (Anm. 18) untersuchte kulturelle Phantasma der Heiligen Familie und die im Spiel der Zeichen und Körper gleitenden (Neu‑)Besetzungen von deren Funktionsstellen zu tun – eine charakteristisch subversive, strukturbildende Dynamik, die durch Spekulationen nach dem Muster ›X ist in Wahrheit Sohn/Geliebte(r)/Mutter/Vater von Y‹ arretiert wird. Zu konstatieren bleibt, dass beiden Kindern – Philipp dank seiner marianischen Mutter, Juan als deren Stillkind auch aufgrund der verunsicherten Identität seiner biologischen Mutter – ein messianischer Zug zukommt. In der Parallelisierung beider Kinder folgt Kleist dem Lukas-Evangelium, das die Geburtserzählungen Jesu und Johannes des Täufers, der diesem den »weg bereite[]t« (Lk 1,76), über die Achse des Besuchs der schwangeren Maria bei der schwangeren Elisabeth (Lk 1,39–45) – von Kleist zitiert in Jeronimos Anagnorisis der Josephe im Tal (s. Anm. 158) – direkt aufeinander bezieht und aneinander bindet.
Wie in der vorderasiatischen Antike generell steht der Schatten des biblischen Gottes für dessen Kraft auch zur Begattung und ist insofern gleichbedeutend mit dem befruchtenden Geist bzw. Logos. Pieter W. van der Horst, »Sex, Birth, Purity and Asceticism in the Protevangelium Jacobi«, Neotestamentica 28.3 (1994), 205–218, hier: 211.
So Hamacher (Anm. 22), 191 (Fußnote). Elvire ist damit auch nominell die Parallelfigur zu Kleists weiblichem Joseph.
Magli (Anm. 76), 81.
Die Elvire der Findling-Novelle dagegen hat mit dem alten Piachi einen veritablen Joseph zum Gemahl.
Siehe das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitw. von Eduard Hoffmann-Krayer, mit e. Vorw. von Christoph Daxelmüller, unveränd. photomechan. Nachdr. Berlin, New York 1987, Bd. 3, Sp. 224–236, hier: Sp. 229–231.
Im Volksglauben ist der Schuh Sinnbild des weiblichen Geschlechtsteiles. ›Schustern‹ heißt demnach auch, »›sich mit dem Sch[uh]. (= vulva) der Frau beschäftigen‹«. Die weibliche Periode wird auch der »›rote Schuster‹« genannt, menstruierende Mädchen kommen »›in die Sch[uh].e‹«. Ebd., Bd. 7, Sp. 1292–1353, hier: Sp. 1293. Als Novizin der Karmelitinnen gehört Josephe einem Orden an, der seit seiner Reform durch Teresa von Ávila 1562 einen Zweig der Unbeschuhten Schwestern umfasst – was diese Nonnen im Sinne der mythischen Engführung von Schuhen und weiblichem Geschlecht eines sexualsymbolischen Attributs entkleidet.
Dass Josephe bei Elvires »Verletzungen […] viel beschäftigt« ist (205), spricht nicht nur für deren Altruismus, sondern auch für deren intuitive oder aber sehr bewusste Expertise in Sachen Sexualität.
Siehe Verzeichniss (Anm. 21), 156, Nr. 220. Goethe lässt die Anbetungsszene von Correggios »Heiliger Nacht« 1809 in den Wahlverwandtschaften als Tableau vivant nachstellen.
Das schon von Vasari gefeierte, vielkopierte Gemälde zählt zu den von Napoleon in Italien erbeuteten, nach Paris verbrachten Kunstschätzen, von denen Kleist ebendort einige zu Gesicht bekam, so auch Raffaels Glorifizierung der Hl. Cäcilie. Brief an Adolphine von Werdeck vom September/November 1801. DKV IV, 281. Zu dem italienischen Beutegut siehe Paul Wescher, Kunstraub unter Napoleon, Berlin 1976, 60 f.
Ein zeitgenössischer Theologe und Kunsthistoriker identifiziert die Bibelstelle, auf welche der Engel die Maria Magdalena bei Correggio verweist, als Lk 7,47: »[…] Jhr sind viel sünde vergeben, denn sie hat viel geliebet, welchem aber wenig vergeben wird, der liebet wenig.« Joseph Sebastian von Rittershausen, Vorlesungen über bildende Künste für Deutschland, München 1802, 103.
Die Szene weist eine deutliche Parallele zur Errettung der Marquise von O… vor der »Rotte« der sozial niederrangigen »Scharfschützen« auf: Auch der Graf von F… nähert sich der bedrängten adligen Dame als russischer Standesgenosse und vermeintlicher Ehrenmann mit einer »verbindlichen, französischen Anrede«. DKV V, 144 f.
Klaus-Christoph Scheffels, Rückzug. Zur Negierung von Raum- und Körperordnungen im Werk Heinrich von Kleists, Frankfurt a. M. 1986, 154. Don Fernando wird »wunschgemäß […] für Josephes Liebhaber gehalten«. Ebd.
Siehe hierzu, in Bezug auf Die Marquise von O…, Koschorke (Anm. 18), 195.
»Kein Zweifel, es ist ihre Heilsgewißheit, die sie ins Unheil führt.« Marx (Anm. 21), 133. Kirsch (Anm. 22), 490, attestiert den Liebenden beim arglosen Kirchgang eine »Art religiöser ›Donquichotterie‹«.
Über das Erlebnis der Musik in der katholischen Kirche Dresdens schreibt Kleist am 21. Mai 1801 an Wilhelmine von Zenge: »Ach nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden –.« DKV IV, 224.
Das emphatische Gegenwartserlebnis entspricht dem mystischen Gotteserleben hic et nunc ebenso wie dem esktatischen Augenblick der Zeugung, den Josephe gewissermaßen versäumt hat und in ihrer Dankesgeste als die eigene Neugeburt von Gottes Gnaden nachholen will.
In der Theologie des Hl. Bernhard, wie Dante sie im Paradiso ins visionäre Bild setzt, wird Maria als Heilerin der von Eva aufgerissenen Wunde gefeiert. Vgl. Dante (Anm. 150), 231.
Die Kunstgeschichte ist reich an Darstellungen des sitzenden bzw. liegenden Lot, dem seine Töchter in der Sorge, als einzige Gerettete keine Nachkommen mehr haben zu können, in betrunkenem Zustand beischlafen (Gen 19,32) – angeregt von einem Wortspiel handelt es sich um eine polemische Ursprungserzählung der nach den beiden so gezeugten Söhne benannten Stämme der Moabiter und Ammoniter.
»Don Fernando hielt, und kehrte sich um; harrte ihrer, ohne Josephen loszulassen, […].« (211 f.) Die Journalfassung setzt nach »um« noch ein einfaches Komma (210), die Buchfassung dehnt die Zeit an dieser Stelle durch den Strichpunkt und betont so das Innehalten.
Das zeitgenössische Inventar der Dresdner Gemäldegalerie führt ein dort dem Jacopo Bassano zugeschriebenes Gemälde von Lot auf, der seine Frau »auf den Knien« bittet, mit ihm aus der Stadt zu eilen. Verzeichniss (Anm. 21), 115, Nr. 777. Bei Kleist beschwört umgekehrt die am Boden liegende Elvire ihren Mann durch ihre Schwester, doch nicht in die Kirche zu gehen.
Aus dem Stabat Mater, dem anonymen mittelalterlichen Hymnus von der schmerzensreichen Muttergottes, ist damit das Motiv des am Kreuz hängenden Sohnes angespielt: »Stabat Mater dolorosa / Iuxta crucem lacrimosa / Dum pendebat filius.« (Herv. J.S.) Neben dem Fallen und Stürzen ist auch das Hängen ambivalentes Leitmotiv der Novelle, das Selbstmord und, im allgemeinen Zusammenbruch, auch Halt ermöglichen kann.
Das Aufleuchten der Fensterrose in der Westmauer der geosteten Kirche verwandelt den Sakralbau im Licht zum irdischen Abbild des Himmlischen Jerusalem und setzt, am zweiten Abend in der erzählten Zeit, das apokalyptische Fanal für den endgültigen Untergang der Protagonisten. Die in den kathedralen Lichtraum Eintretenden treten in dieser Lesart vor das endzeitliche Gericht.
Hier zeigt sich der »Glaube« als die »Energie«, »welche den Signifikanten zum Glühen bringt, bis er seine mediale Tatsächlichkeit auflöst«. Manfred Schneider, »Luther mit McLuhan – Zur Medientheorie und Semiotik heiliger Zeichen«, in: Friedrich A. Kittler, Ders., Samuel Weber (Hrsg.), Diskursanalysen I: Medien, Opladen 1987, 13–25, hier: 20.
Während in der Struktur der Novelle die von der Naturkatastrophe freigesetzte Paradiesesanmutung vom Hinrichtungszug und dem scheiternden Rückzug aus der Kirche flankiert wird, rücken bildliche Triptycha vom Jüngsten Gericht diese Scheideszene von Geretteten und Verdammten jeweils ins Zentrum einer Höllenszenerie zur Linken und einer Himmelspforte zur Rechten.
Aggressor und Racheengel sind bei Kleist im Fluss gehaltene Positionen – wie hier zwischen Meister Pedrillo und Don Fernando auch im Fall des Michael Kohlhaas, den die sächsische Streitmacht als apokalyptischen »Drachen« verfolgt, während er selbst sich einen »Statthalter Michaels, des Erzengels«, nennt. DKV III, 69, 73.
Wie in Kleists brieflicher Beschreibung eines im Louvre gesehenen Gemäldes Raffaels der mit einer Lanze bewaffnete Erzengel Michael »heranwettert, einen Teufel niederzuschmettern« (Brief vom September/November 1801 an Adolphine von Werdeck; DKV IV, 280; Herv. i.O.), so »wetterstrahlt[]« Don Fernando »[m]it jedem Hiebe […] Einen« aus der »satanischen Rotte« Pedrillos »zu Boden« (221). Der von dem »Marine-Offizier[]« Don Alonzo ›ausgebetene‹ »Degen« (219) wird zu diesem Anlass vom Text als »Schwert« adressiert (221).
Blumenberg (Anm. 15), 595.
Amphitryon, III.1,1, V. 2335 f. DKV I, 377–461, hier: 460.
In Calderóns Fronleichnamsspiel El divino Jasón tritt Herkules neben dem Christus repräsentierenden Jason als mythisch-heroische Stellvertreterfigur des Hl. Petrus auf.
Dante (Anm. 150), 237.
Siehe Frank Bezner, »Herkules«, Der Neue Pauly Supplemente I Online, Bd. 5: Mythenrezeption: Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart: https://doi.org/10.1163/2452-3054_dnpo5_COM_0056 (16.10.2022).
Der Herkules-Mythos war im Übrigen auch Kernelement im ideologischen Selbstverständnis der spanischen Habsburger, die den Heros als ihren mythischen Stammvater reklamierten und ihren transatlantischen Herrschaftsanspruch über die Straße von Gibraltar hinaus seit Kaiser Karl V. (zugleich König Karl I. von Spanien) auf ihrem Wappen in das Zeichen der mythischen Säulen des Herkules stellten – freilich nur, um deren ursprüngliche Mahnung zur Selbstbegrenzung (Non Plus Ultra) ins Gegenteil zu verkehren und die Säulen unter dem neuen Leitspruch Plus Ultra zum »Signum« einer völlig entgrenzten »okzidentalen Imperialität« zu machen. Jochum (Anm. 140), 248. Laut Frézier (Anm. 66), 270, prangte die auf den »Säulen Herculis« platzierte Devise »PLUS ULTRA« auch auf den kolonialherrschaftlichen Wappen südamerikanischer Städte. Zur religiösen Legitimierung des Weltmachtanspruchs wurde stellenweise auch das von den Flügeln des Reichsadlers flankierte Kreuz Christi zwischen die Säulen gesetzt. Ebd., 257. 1808 übernahm der Bonaparte Joseph I. von Spanien, Napoleons Bruder, die mit dem Plus Ultra überschriebenen imperialen Säulen in sein Wappen.
Während die Kolonialherrschaft in Spanisch-Amerika nach der Eroberung auf einer bürokratischen Grundlage beruhte, war Chile das erste Land, in dem ein Berufsheer eingerichtet werden musste, um den häufigen Überfällen der Indigenen auf die kolonialen Städte entgegentreten zu können. Siehe Konetzke (Anm. 35), 160.
Seine »Untätigkeit bei diesem« – vermeintlich wie eine Naturkatastrophe hereinbrechenden – »Unglück« ›rechtfertigt‹ Don Alonzo vage »durch mehrere Umstände« (221). Insofern es auch von ihm vieldeutig heißt, er ›kenne‹ »Josephen sehr genau« (217), implizieren diese unklaren ›Umstände‹ durchaus auch jene ›anderen Umstände‹, die als Schwangerschaftsmetapher (schon zeitgenössisch) sprichwörtlich sind, was Kleist in Die Marquise von O… ausspielen wird. Erotische Energien stehen damit auch zwischen Don Alonzo und Josephe im Raum. Als Marineoffizier, der reumütig ein Versagen einbekennen muss, entspricht Kleists Don Alonzo zudem dem Admiral, der in Schillers Dom Karlos vor seinem Monarchen den Untergang der spanischen Armada verantworten muss und unverhofft auf gnädiges Nachsehen stößt (III.7).
Polaschegg (Anm. 121), 62.
Zu Kleists Cherubsfiguren siehe Andrea Polaschegg, »Von der Vordertür des Paradieses. Kleists cherubinische Poetik«, DVjs 87 (2013), 465–501. »Wie Gottes Cherub vor dem Paradies« steht seinerseits Herzog Alba vor dem Thron Philipps, um diesen vor dessen eigenem Sohn zu schützen. Dom Karlos, I.6, V. 1012. NA 6, 55.
Siehe Bartolomé de Las Casas, Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder. BREVÍSIMA RELACIÓN DE LA DESTRUICIÓN DE LAS INDIAS, hrsg. Michael Sievernich, aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann, mit einem Nachw. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M., Leipzig 2006. Die spanische Erstausgabe von 1552 wurde 1579 ins Französische, 1583 ins Englische und 1599 ins Deutsche übersetzt; zu vermehrten neuerlichen Übertragungen kam es im Zuge der französischen Aufklärung. Die Stiche De Brys waren der Schrift seit der ersten lateinischen Ausgabe von 1598 beigegeben. Im konfessionellen europäischen Propagandakrieg um 1600 antworteten sie »in Drastik und Stil« dem Theatrum Crudelitatum Haereticorum Nostri Temporis, das 1588 die Grausamkeiten der protestantischen Katholikenverfolgungen in Westeuropa angeprangert hatte, vor allem aber treffen sie sich mit der »Grundintuition« Las Casas’, der »im geschmähten Indio das Leidensantlitz Christi« entdeckt hatte. Michael Sievernich, »Der Spiegel des Las Casas«, in: ebd., 199–237, hier: 235.
Als Philipp II., der seinen eigenen Sohn töten lassen will, fragt dieser König bei Schiller den Großinquisitor, die christliche Heilsgeschichte pervers verkehrend: »[…] Können / Sie einen neuen Glauben mir entdecken, / der Kindermord des Gräßlichen entkleidet?« Dom Karlos, V.10, V. 6161 ff. NA 6, 333.
Biblisch vorgeprägt ist dieses brutale Bild in der Rachephantasie der verbannten Israeliten gegenüber Babel in Ps 137,9: »Wol dem, der deine junge kinder nimt und zerschmettert sie an den stein.«
Warhafftiger und gründlicher Bericht/ Der Hispanier grewlich: und abschewlichen Tyranney von ihnen in den West Indien/ die newe Welt genant/ begangen. Erstlich / Castilianisch durch Bischoff Bartholomæum de las Casas gebornen Hispaniern / Prediger Ordens / beschrieben […] Jetzunder widerumb mit schönen Figuren gezieret / zur Warnung und Beyspiel […], Oppenheim 1613, 23, 39, 97.
Siehe hierzu Elena Nendza, »›Zerhaut, zerreißt, zerschmettert!‹ Der Bethlehemitische Kindermord – ein interkonfessionelles Bindeglied in den europäischen Künsten«, Daphnis 45 (2017), 250–273, sowie Dies., Der Bethlehemitische Kindermord in den Künsten der Frühen Neuzeit. Studien zu intermedialen und interkonfessionellen Popularisierungen und Austauschprozessen, Berlin, Boston 2020.
Dass Pedrillo den kleinen Körper Juans an dessen Fuß »hochher im Kreise« ›schwingt‹ (220), ist bei Marino/Brockes modelliert: Dort ›schwingt‹ einer von Herodes’ »Kriegs-Knecht[en]«, die durchweg als ›barbarisch‹ und als in ihrer Raserei entmenschlichte Tiere charakterisiert werden, eines der Kinder, bevor er es »[a]n einem harten Stein der nahgelegnen Wand« zer-›quetscht‹, »aus tollem Grimm, / Wol drey- viermal vorher um seinen Kopf herum«. Barthold Heinrich Brockes, »Der Bethlehemitische Kinder-Mord«, in: Ders., Werke, hrsg. Jürgen Rathje, Bd. 1. Göttingen 2012, 60–170, hier: 125. Marino/Brockes prägen auch den Motivkomplex von Muttermilch, Blut und väterlichen Tränen über den Kinderleichnamen sowie das Motiv der Kinderverwechslung aufgrund von Milchbruderschaft vor: Herodes’ Handlanger töten dessen eigenen Sohn bei seiner Amme; die leibliche Mutter, Königin Doris, bezichtigt sich daraufhin selbst des tragischen »Fehler[s]«, den Sohn nicht gestillt zu haben: »Doch leider! diese Brust war dir nur gar zu karg.« Ebd., 160. Im Unterschied zu Kleists dem Gatten verzeihender Elvire tötet sich die Gattin des Kindermörders selbst.
Eingespielt ist hier auch das Bestiarium der von Herakles besiegten Tiere, der Nemeische Löwe und der Höllenhund Cerberos. In der Heiligenikonographie (etwa auch in Correggios Madonna des Hl. Hieronymus) ist der Löwe zudem das Attribut des Hieronymus, der einen Löwen zum Begleiter gewann, als er dem Tier, eines Abends am Eingang seiner Eremitenklause in Bethlehem sitzend, einen Dorn aus der Pfote entfernte. Zum Heroen ermannt sich Don Fernando aber erst, als, Jeronimo an der Spitze, alle erwachsenen Glieder »seiner Gesellschaft« (219) schon ermordet sind. Die »poetische Utopie« eines »kriegerische[n] Standhalten[s]« gegenüber der Welt, die Helmut J. Schneider ([Anm. 27], 128) in Fernando verkörpert sieht, wird im Rahmen seines Auftritts von der unwilligen Reaktion auf Elisabeths Warnung bis zum fehlenden Mut zum Geständnis vor seiner Frau doch enorm relativiert und ironisiert.
Marino/Brockes feiern die »abgeschlacht’t[en]« Kinder als »Opfer voller Glanz«, die »man dem ew’gen HErrn gebracht«. Brockes (Anm. 211), 167.
»Der zerbrochne Krug«, Erstdruck, siebter Auftritt, V. 649 f., DKV I, 311.
Kolonialhistorisch war es das aztekische Menschenopfer, das heftige Debatten auslöste: Der Calvinist De Bry setzte die aztekischen Ritualmorde im Propagandakrieg des Konfessionellen Zeitalters durch kalkulierte visuelle Analogien mit dem katholischen Altarsakrament und der Hostienverehrung gleich (siehe hierzu Test [Anm. 9], 93–99), nachdem die beunruhigende Ähnlichkeit der rituellen Anthropophagie zur Eucharistiefeier auch den Missionaren aufgefallen und von diesen einer teuflischen Mimesis der Sakramente zugeschrieben worden war. Vgl. Bd. 5 in José de Acosta, Natural and Moral History of the Indies [Historia natural y moral de las Indias], hrsg. Jane E. Mangan, Durham 2002. Der Katholik Las Casas suchte das Menschenopfer durch relativierenden Perspektivismus zu rechtfertigen und seinen europäischen Lesern mit Verweis auf die Rolle des Opfers in der jüdisch-christlichen Religion bis hin zu Jesus selbst zu ent-fremden. Siehe hierzu Todorov (Anm. 10), 222–228. Auf dieser Linie liegen auch Kleists Relativierungen: »Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, u[nd] mit Andacht ißt er ihn auf – […].« DKV IV, 261. Brief vom 15. August 1801 an Wilhelmine von Zenge. »Denn mit demselben Gefühle, mit welchem Du bei dem Abendmahle das Brod nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexicaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.« Brief vom 16. September 1800 an dies. DKV IV, 128 (»Über die Aufklärung des Weibes«).
In der Journalfassung ist die plötzliche Stille nach dem Rasen durch Umstellung noch stärker betont: »Hierauf ward Alles still, und entfernte sich.« (220).
So auch Hamacher (Anm. 22), 167.
Die Frage nach dem rechten Namen für den Sohn der von Gott begnadeten Elisabeth und des Zacharias wird bei Lukas eigens diskutiert (Lk 1,59–63): Die zur Beschneidung des Jungen acht Tage nach seiner Geburt Versammelten wollen ihn nach dem Vater Zacharias nennen, Elisabeth aber besteht auf dem ihr vom Engel gebotenen Namen Johannes (Lk 1,13), hebr. Yôḥānān, ›Der Herr ist gnädig‹.
Siehe hierzu Girard, Mythos (Anm. 7), 135.
Siehe hierzu Lehmann (Anm. 98), 166.
Nicht die gewünschte Reaktion durch Achtung und freies Geleit erwirkt sich Fernando; im buchstäblichen Echo muss daher – ohne Markierung ihrer direkten Rede im Text – Josephe seine Worte wiederholen: »[D]ieser junge Herr ist Don Fernando Ormez, Sohn des Commendanten der Stadt, den ihr Alle kennt!« Pedrillo reagiert als und degradiert zum citoyen: »[W]er von euch, ihr Bürger, kennt diesen jungen Mann?« (217; Herv. J.S.).
Ein »Pendant zur Geschichte von Spanien«, zum dortigen Befreiungskrieg, wird sich Kleist im April 1809 nach der österreichischen Kriegserklärung an Napoleon erhoffen. Brief vom 20.4.1809 an Heinrich Joseph von Collin. DKV IV, 432.
Meyn (Anm. 36), 472. Vgl. die deutsche Übersetzung des Edikts in ebd., 472–474. Auf das Requerimiento geht auch Michel de Montaigne im ersten Buch der Essais kritisch ein.
Als Sprechakt wurde das Requerimiento analysiert von Paja Faudree, »How to Say Things with Wars: Performativity and Discursive Rupture in the Requerimiento of the Spanisch Conquest«, Journal of Linguistic Anthropology, Vol. 22, No. 3, 182–200. Zur Relevanz performativer Sprechakte bei der Konstitution geteilter Wirklichkeit im Finale der Chili-Novelle siehe Lehmann (Anm. 98).
Meyn (Anm. 36), 471.
Der Familienname Ormez liest sich in diesem Sinn auch als Anagramm zu latein. sermo, die Wechselrede.
Anders als die Rede Don Fernandos ist die unmittelbar folgende Gegenrede Pedrillos in keiner der beiden Fassungen des Textes durch Anführungszeichen markiert.
»Quia mater semper certa est, etiam si volgo conceperit: pater vero is est, quem nuptiae demonstrant.« Iulius Paulus, Digesta Iustiniani, Liber 2, 2.4.5. ›Weil die Mutter gewiss ist, auch wenn sie unehelich empfangen hat; der Vater ist aber tatsächlich der, den die Ehe als solchen ausweist.‹ Die Feststellung der Identität der Eltern war derart zentral, weil diese vor Gericht nicht zur Aussage gegen die eigenen Kinder vorgeladen werden durften. Siehe hierzu auch Claudia Liebrand, »Pater semper incertus est. Kleists ›Marquise von O…‹ mit Boccaccio gelesen«, Kleist-Jahrbuch 2000, 46–60.
Der Anonymus tritt hier als Zeuge, Ankläger und Scharfrichter zugleich auf, kann als Namenloser seinerseits aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Wer die vom Text ausgestellte Anonymität der zum Tode beglaubigenden Stimme überliest, verkennt die dynamisch-dramatische Setzungsgewalt identifikatorischer, bekennender Sprechakte, die Kleist hier – diesseits der Frage nach Wahrheit – an deren ontogenetisch erstem, der Anerkennung der Vaterschaft, vorführt.
So auch Hamacher (Anm. 22), 190 (Fußnote).
Das Markus-Evangelium, das die Jungfrauengeburt und die Gottessohnschaft Jesu noch nicht kennt, setzt dessen Erhöhung erst bei der Taufe durch Johannes an und entspricht darin der frühen adoptionistischen Christologie, die Gottes Annahme Jesu zum Sohn lehrte, auf dem Konzil von Nicäa 325 aber als häretisch verurteilt wurde. Matthäus und Lukas binden die Gottessohnschaft an die jungfräuliche Empfängnis, Johannes erklärt Jesu Einheit mit Gott vom Anbeginn des Logos an.
Schneider (Anm. 27), 122.
Constanzes todesbanger Aufschrei »Jesus Maria!« (291) – kurz bevor sie selbst und nach ihr auch Josephe und Juan als Vertreter der Angerufenen ermordet werden – entspricht weder Fernandos Aufforderung zum Ruhebewahren in der Kirche noch dem Gebot ihres Namens zu jener constantia, die der christliche Stoiker Justus Lipsius 1584 in seiner gleichnamigen Schrift zur bereitwilligen Annahme möglicher Übel gerade im Zeitalter der europäischen Glaubenskriege anmahnte. Für Kirsch ergänzt Constanze die »J-Initiale der Heiligen Familie« – Jeronimo, Josephe und der angenommene Juan – um das C zu den Initialen von Jesus Christus ([Anm. 22], 490). Den Namensbund körperlicher und karitativer Liebe sprengt freilich St. Jago.
Siehe Anm. 8.
So Wellbery (Anm. 150), 85. Pedrillos namentliche Spiegelfigur Don Pedro, Schwiegervater Don Fernandos, heißt Josephe dagegen mit ›liebreichem Nicken‹ (vgl. 205) als effeminierte Vater- respektive Mutterfigur in seinem Familienverband willkommen.
Bergengruen/Borgards schlagen eine »starke« Lesart der erotischen Anziehung Josephes auf Fernando vor und identifizieren Juan als deren gemeinsamen Sohn. Maximilian Bergengruen, Roland Borgards, »Bann der Gewalt. Theorie und Lektüre (Foucault, Agamben, Derrida/ Kleists Erdbeben in Chili)«, DVjs 81.2 (2007), 228–256, hier: 250 f. Das für die marianische Inszenierung Josephes zentrale Motiv karitativen Stillens wäre damit allerdings auf eine Schauveranstaltung der ihre Elternschaft Verheimlichenden reduziert, und neben dem Leitmotiv der Heiligen Familie würde durch Josephes Bigamie die für die Marianik insgesamt charakteristische, von Kleist gezielt ausgespielte Ambiguität von Eros und Agape schlicht ausgehebelt und als einzige Täuschung entlarvt.
In der Lesart als Selbstopfer entspricht Josephes Kapitulation vor dem Mob dem Kreuzestod Christi, der alles vorherige religiöse Opfergebaren endgültig überwinden soll. Als narrativ eingespieltes Identifikationsangebot an die aktuell begehrte Frau firmiert die weibliche Selbstopferung anstelle des Geliebten in Die Verlobung von St. Domingo unter dem französischen Namen ›Mariane‹.
Joh 19,26 f.: »Da nun JEsus seine Mutter sahe, und den jünger dabey stehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner mutter: Weib, sihe, das ist dein sohn. / Darnach spricht er zu dem jünger: Sihe, das ist deine mutter. Und von der stunde an nahm sie der jünger zu sich.« Kleists skeptischer Blick auf das Kreuz und dessen Ikonographie unterstellt auch dieser Szene die Energie sozialer Anerkennung, wenn er brieflich mutmaßt: »[W]er weiß ob Christus am Kreuze gethan haben würde, was er that, wenn nicht aus dem Kreise wüthender Verfolger seine Mutter u[nd] seine Jünger feuchte Blicke des Entzückens auf ihn geworfen hätten.« An Wilhelmine von Zenge, 5.9.1800. DKV IV, 105.
Gotthold Ephraim Lessing, »Nathan der Weise«, in: Ders., Werke, hrsg. Herbert G. Göpfert, Bd. 2, München 1971, 274 (III.5, V. 1846). Siehe hierzu Schneider (Anm. 83).
Wie Dionysos, den Zeus nach dem Tod seiner schwangeren Mutter Semele im eigenen Schenkel austrägt, wird Philipp zwei Mal geboren, von der leiblichen Mutter und vom heroisch um sein Leben kämpfenden Adoptivvater.
Ende und Anfang der Elternschaft verfließen hier im Weinen, in nunmehr sichtbar austretender Körperflüssigkeit: Als pater dolorosus und lacrimosus hebt Don Fernando über dem getöteten Juan, »voll namenlosen Schmerzes, seine Augen gen Himmel«, um im Gefolge von dessen fortgebrachtem Leichnam »viel über das Antlitz des kleinen Philipp«, also des lebenden Kindes, zu weinen (221) – ein körperlicher Adoptionsakt. Donna Elvire wiederum, die trotz erneuter Tabuisierung »zufällig« vom »ganzen Umfang des Unglücks« erfährt, weint »im Stillen [!] ihren mütterlichen Schmerz« aus – was über dem Tränenerguss bitter-ironisch an ihre vermeintliche Unfähigkeit mahnt, den Verlorenen zu stillen – und signalisiert die Bereitschaft zu Versöhnung und Aufnahme Philipps, wie es hier im preziös-versöhnlichen Lautrhythmus der Prosa heißt, »mit dem Rest einer erglänzenden Träne« (221) und einem (vom anzunehmenden Adoptivsohn auf den -vater verschobenen) Kuss. Der im gewalttätigen Konflikt untätige Marineoffizier hat zuletzt die Aufgabe, diese Tränenflüsse – für Schillers Dom Karlos die »ewige / Beglaubigung der Menschheit« (II.2, V. 1241 f.; NA 6, 66) – zu kanalisieren. Wie der biblische Joseph von Arimathia, der sich Jesu Leichnam ausbittet, um ihn ins Grab zu legen (Mk 15,42–47), nimmt er mit dem weinenden Vater auch »die Leichname« (221) aller Getöteten bei sich auf.
In dieser Lesart spiegelt die vom Erzähler ohne Fokalisierung auf die mögliche Wahrnehmung einer anderen Figur (Josephe ist schon erschlagen) getroffene Zuschreibung »dieser göttliche Held« (221) in intimer Komplizenschaft vielmehr das momentane ekstatische Selbstgefühl Fernandos, der erst in ärgster Bedrängnis, nachdem alle Erwachsenen »seiner Gesellschaft« (219) bereits getötet sind, seine äußersten Kräfte zu mobilisieren vermag.
Danksagung
Dieser Aufsatz baut auf einem Vortrag auf, den ich im Juli 2021 auf dem XIV. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik IVG in Palermo/digital in dem Panel »Katastrophenliteratur« gehalten habe. Für die Diskussion des Manuskripts und wertvolle Hinweise danke ich Andrea Polaschegg und Johannes F. Lehmann.
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Schuster, J. Josephe Maria Asteron. Kleists koloniale Heilsgeschichte. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 96, 361–409 (2022). https://doi.org/10.1007/s41245-022-00149-7
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