Ein »Schuhflicker«Footnote 1 empfiehlt sich eingangs von Shakespeares Julius Caesar, wieder heil zu machen, was beschädigt ist: »Wenn aber ja was reißt, so gebt Euch nur in meine Hand!«Footnote 2 Als Spezialist für »Flickwerk« bessert der »Wundarzt für alte Schuhe« schlechte Sohlen ausFootnote 3 (die im Englischen mit schlechten Seelen gleichlauten)Footnote 4 und hält damit auch die große Welt am Laufen: »So hübsche Leute, als jemals auf Rindsleder getreten, sind auf meiner Hände Werk einhergegangen.«Footnote 5 Ihre Morde und Opfer verrichten die Oberen aber ohne sein Zutun – sein komischer Auftritt, der dem elisabethanischen Publikum die (eigentlich Sandalen tragenden) alten Römer näher bringen soll, ist der Tragödie vorgelagert. Anders in Kleists Erstlingsnovelle: Hier wird ein »Schuhflicker«,Footnote 6 intim vertraut mit den Füßen auch von Adelstöchtern, zum wütenden Organ einer aus Rivalität und Rache gespeisten ›mimetischen Gewalt‹,Footnote 7 die ins Gemetzel treibt. Mit anderen Mitteln und eigenem Motiv führt er dabei auch zu Ende, was die Oberen zu tun versäumt haben. Shakespeares Brutus mahnt noch, den Tyrannenmord um des republikanischen Gemeinwesens willen als »Opferer«, »nicht Schlächter«, »Reiniger, nicht Mörder«, »kühnlich«, »doch nicht zornig« zu begehen,Footnote 8 um keinen Zirkel der Rache zu entfesseln.Footnote 9 Kleists Meister Pedrillo dagegen eskaliert die vom Erdbeben suspendierte Strafung der gefallenen Frau, die das unerreichbare Objekt seiner Begierde war, im aufgewiegelten Mob zum blindwütigen Massaker – einem Massaker auf kolonisiertem Boden,Footnote 10 das die Brutalität der Conquista nachahmend verkehrt.

Gegenüber Shakespeare ›radikalisiert‹Footnote 11 Kleists Novelle die mimetische Struktur der Gewalt in einer Kolonialgesellschaft, deren innere Konflikte anlässlich eines Falls nicht-lizenzierter Sexualität aufbrechen. Es ist der unterdrückte Eros, der hier die mimetische Gewalt der Männer, aber auch der »Matronen und Jungfrauen« (191) als weiblicher Stützen des Patriarchats stimuliert und die klerikale wie die päpstlich abgesegnete kolonialstaatliche Macht an einem Kernelement ihrer ideologischen Legitimation herausfordert: dem christlichen Heilsversprechen der Inkarnation als Eintritt Gottes in die Menschheitsgeschichte,Footnote 12 und das heißt physisch-konkret: in das unberührte leibliche Medium einer Jungfrau, deren Reinheit die wahre Göttlichkeit des Menschensohnes verbürgt.Footnote 13

Ausgehend von der Zeugung eines unehelichen Kindes im Klostergarten, dem genretypischen ›sexuellen Faktum‹ dieser Novelle,Footnote 14 entspinnt Kleist eine subversive Heils- und Passionsgeschichte, deren marianische Matrix die koloniale Toponymie Chiles vorgibt. Das leitende Phantasma, das Kleist gezielt aufgreift, um es im Klostergarten, einer traditionellen Marienallegorie, auszuhebeln, ist das der ›unbefleckten Empfängnis‹, der Immaculata Conceptio, die als Ortsname auf der kolonialen Landkarte Chiles den Machtanspruch der katholischen Eroberer und ihrer missionarischen Heilsbotschaft markiert: »La Conception« (203).Footnote 15 Gemeint ist La Concepción de María Purísima del Nuevo Extremo (›die Empfängnis der allerreinsten Maria des neuen äußersten Westens‹), eine mehrfach von den Mapuche überrannte und von Erdbeben zerstörte Gründung des spanischen Eroberers Pedro de Valdívia von 1550,Footnote 16 die in mariologischer Hinsicht ein potenziertes, genealogisch verlagertes Reinheitsideal im Namen trägt: nicht erst die unbefleckte Empfängnis des göttlichen Kindes durch Maria, sondern schon die der späteren Gottesmutter selbst durch ihre Mutter Anna nach dem apokryphen Protoevangelium des Jakobus (ProtevJac 4,1).Footnote 17 Lange vor Erhebung zum päpstlichen Dogma 1854 geht die Vorstellung von der Immaculata Conceptio schon der Maria also toponomastisch in die chilenische Kolonialgeschichte ein.Footnote 18

In dieser Anregung, in der sich Heils- und Kolonialgeschichte verbinden, insofern die Konquistadoren antreten, auf amerikanischem Boden die Heilsgeschichte fortzuschreiben, liegt der Schlüssel für die Konstruktion der Novelle in ihrer radikalen Subversion des marianischen Paradigmas. Kleist greift die Kerninspiration aus dem ideologischen Selbstverständnis der Eroberer in seinen Figurennamen aus der neutestamentlichen Heils- und der frühen Kirchengeschichte wie auch der Kolonialgeschichte auf, um den heilsgeschichtlichen Hypotext signifikant zu verschieben und durch Verkörperung zu verfremden. Im Namen der gefallenen Frau, der maculata, zielt er auf die Kernverheißung der christlichen Religion: die Überwindung menschlicher Sündenverfallenheit im endgültigen Sühneopfer Christi. Nach der Inkarnationslehre bricht das Göttliche – ein religionshistorisches Novum – gewaltlos in die menschliche Geschichte respektive den weiblichen Körper ein, um die kreatürliche, geschlechtliche Existenz an sich von Gewalt zu erlösen. Die skandalöse Fleischwerdung der christlichen Mysterien und Sakramente in der anderen Maria Josephe und ihrem unehelichen Kind per-vertiert dieses zentrale Theologumenon. Der christlichen Verheißung der Gewaltfreiheit, die im Zentrum der Novelle als gefährliches Trugbild aufscheint, hält Kleist als unhintergehbare Erbsünde die mimetische Rivalität im sozialen Raum entgegen, deren Energien die Tat-Sache des Lebens sich erst verdankt. Mit der schmerzvollen Entbindung und dem Erdbeben, das deren Wehen, zeitlich verschoben, in seismische Dimensionen steigert, insistiert Kleist gegen den platonischen Geist-Körper-Dualismus des Christentums auf der elementaren Gewalt des Physischen. Die Katastrophe, buchstäblich ein Umsturz aller Verhältnisse von oben herab (kata-strophé), wird auf der Folie der christlichen Heilsgeschichte als gewaltsamer Einbruch des Göttlichen, als fundamentale Erschütterung des Irdischen im Zuge der Synkatabasis, des göttlichen Abstiegs aus der Transzendenz in die Körperwelt, lesbar.Footnote 19 In biblisch gegründeter Engführung von Beben und Wehen erprobt die Novelle die Belastbarkeit der Anfänge, die aus beiden hervorgehen und Gewalt und Heil,Footnote 20 Untergang und Rettung unlöslich aneinander binden.

Die folgende Lektüre des Erdbebens in Chili gilt dem Zusammenhang von Geschlecht, Gewalt, Herrschaft und Heil auf der subvertierten Folie eines doppelten Intertextes, der hier beim Wort genommen werden soll: der kolonialherrschaftlichen Toponymie und ihrer marianischen, biblischen und legendarischen Matrix, an die Kleist sowohl in der auktorialen Namengebung der Figuren anschließt als auch in energetisch aufgeladenen Tableaux vivants, die überwiegend ikonische Marien- und Heiligendarstellungen aus der Dresdner Bildergalerie szenisch animieren.Footnote 21 Die Novelle erschließt sich damit als gleichermaßen toponomastisch und ikonographisch inspirierte Auseinandersetzung sowohl mit dem Katholizismus, der Marienfrömmigkeit, der christlichen Inkarnationslehre und dem katholischen EucharistieverständnisFootnote 22 als auch mit der spanischen Kolonialherrschaft in Südamerika, der die christliche Heilslehre in katholischer Prägung zur ideologischen Legitimation diente.

Nicht zwangsläufig mit der Dogmatik der katholischen Mariologie, die zudem erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung kam, wohl aber mit der reichen ikonographischen Ausprägung der Marientopik in der neuzeitlichen Malerei hat Kleist sich in den Jahren 1800 und 1801 intensiv beschäftigt: nach dem Würzburger Erlebnis katholischer Riten, Sakralkunst und Frömmigkeit auch in Dresden, in der Bildergalerie und der örtlichen katholischen Kirche.Footnote 23 Nahe liegt daher eine frühe Textgenese der 1807 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände erstveröffentlichten Novelle bereits in den Jahren 1801/02Footnote 24 und damit zugleich im Umkreis des ersten Dramas Die Familie Ghonorez bzw. Schroffenstein, aus dem spanische Figurennamen übernommen wurden.Footnote 25 Wichtige Prätexte auch für die Erstlingsnovelle sind Dramen: Shakespeares Römertragödie Julius Caesar von 1599 mit den Schlüsselmotiven Opfer oder Mord und Rache sowie Schillers Dom Karlos von 1787, die dramatische Kritik der Spanischen Inquisition und des politischen Katholizismus als Bund von »Schwert« und ›Kreuz‹ bis hin zum Sohnesmord.Footnote 26

Die Novelle selbst geht der ideologischen Legitimation von Herrschaft dort nach, wo sich dieses Problem in besonderer Schärfe stellt: an einem kolonialen Schauplatz, dessen Relevanz sich sicherlich nicht in seiner Spiegelfunktion für die europäische Aufklärung, die Französische Revolution und das Erdbeben von Lissabon erschöpft.Footnote 27 Vielmehr nutzt Kleist sehr gezielt die Optionen zur Potenzierung und Eskalation des gewalttätigen mimetischen Begehrens, welche die vielfältigen, konfligierenden Machtansprüche der kirchlich gestützten Kolonialherrschaft bieten, und verwickelt seine Figuren durchaus explizit in deren spezifische Strukturen.Footnote 28 Versteht sich der Kolonialismus als ein »Herrschaftsverhältnis«, »bei dem eine gesamte Gesellschaft ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die – vornehmlich wirtschaftlichen – Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren hin umgepolt wird«,Footnote 29 so ist er zugleich als eine ›ideologische Formation‹ zu begreifen,Footnote 30 die sich im Falle Spanisch-Amerikas auf einen »göttlichen Heilsplan der Heidenmission« berief, sodass gerade der Klerus »zum vermutlich wirkungsvollsten Instrument der spanischen Durchdringung Amerikas« avancierte.Footnote 31 Neben der Dominanz der katholischen Kirchenoberen als der Strafverfolger der unkeuschen Novizin entspricht der genuin soziale Kern des Skandalons bei Kleist – die Liaison eines neu eingewanderten bürgerlichen Spaniers mit der Tochter eines in Amerika schon eingesessenen spanischen Adligen – einer zweiten Besonderheit der spanischen Kolonien Amerikas und ihrer städtischen »Mischgesellschaft[en]«: dem lokalen Machtanspruch der in Amerika geborenen Spanier, der sogenannten ›Kreolen‹ (span. criollos),Footnote 32 die neben der spanischen Kolonialbürokratie durchaus eigene »städtische Oligarchien« ausprägten.Footnote 33 Um (mindestens) eine Komplikation reicher legt Kleists koloniale Variante der Hauslehrerliebe nach Abaelard bzw. Rousseau sowie der novellentypischen Engführung von Vaterhaus und Tochterleib (der Vater trägt hier den Namen Henrico nach ahd. Heimrich, dem ›Herrscher im heimischen Besitz‹) in der Paarung des bürgerlichen Spaniers Jeronimo Rugera mit der kreolischen Adelstochter Donna Josephe Asteron Stand und Herkunft über KreuzFootnote 34 – hierin besteht die spezifisch koloniale Ausgangslage eines Konflikts, den Kleist zur Sondierung komplexer Herrschaftsverhältnisse mit Kalkül inmitten der für Spanisch-Amerika charakteristischen Rivalitäten um die Kompetenzen der Kirche und der Krone, des kolonialen »Vizekönigs« und des »Erzbischofs« (191), des weltlichen Klerus und der monastischen Orden (die Äbtissin der Karmelitinnen vermag Josephe nicht zu retten), des kanonischen und des staatlichen Rechts platziert.Footnote 35 Wie eingehend sich Kleist auch immer mit Rechtsfragen in Spanisch-Amerika beschäftigt haben mag, ist es ihm in der Auffächerung konkurrierender Instanzen doch sichtlich um die in kolonialen Herrschaftsstrukturen noch verschärfte Rivalität von Machtansprüchen und mimetischen Energien zu tun.

Die ursprünglich zur Abgrenzung von Altchristen gegen jüdische und maurische Konvertiten aufgestellte, nach Kolonialamerika übertragene Doktrin von der zu erhaltenden ›Reinheit des Blutes‹ (limpieza de sangre) ist durch die heimliche Verbindung Jeronimos und Josephes – die in der Journalfassung titelgebenden, zumal gleich anlautenden Vornamen nivellieren den Standesunterschied – nicht berührt; Kleists Chiasmus der hierarchischen Faktoren soziale Klasse und Ethnie bzw. Geburtsort und die von Jeronimo beanspruchte persönliche ›Gunst‹ des kolonialen VizekönigsFootnote 36 tangieren aber die pyramidale Stufenordnung der kolonialen Gesellschaft, die spanische Kronbeamte und hohe spanische Kleriker an erster, Kreolen prinzipiell erst an zweiter Stelle vorsah.Footnote 37 Der Konflikt ist hier mithin vorrangig sozial, nicht ethnisch-rassistisch motiviert wie in der späteren Novelle Die Verlobung von St. Domingo, wie sich auch die entsprechenden Kolonietypen – südamerikanische »Beherrschungskolonie«Footnote 38 hier, karibische »Siedlungskolonie«Footnote 39 dort – grundsätzlich voneinander unterscheiden.Footnote 40 Die frühere Novelle fokussiert mithin Herrschafts- und Machtstrukturen im besonderen Spannungsverhältnis von kolonialem Staatswesen und katholischer Kirche, die spätere zielt auf die Sklaverei und das rassistische Kastensystem in der Karibik. Führt die von Misstrauen vergiftete Liebesgeschichte von Gustav/August und Toni im dreifach segmentierten Spannungsgefüge von Ethnie, Stand und Geschlecht die für die karibische Sklavenhaltung charakteristische »›Pigmentokratie‹«,Footnote 41 die Hierarchisierung der Hautfarben, noch in ihrer revolutionären Umkehrung vor, so stellt die Chili-Novelle ihre Liebenden ins doppelte Fadenkreuz des kolonialideologisch funktionalisierten Katholizismus und der fein abgestuften Machtordnung einer kolonialspanischen Stadtgesellschaft, deren beider Herrschaftsanspruch und Heilsversprechen durch die illegitime Zeugung eines Kindes herausgefordert werden.

In diesen kolonialherrschaftlichen Verhältnissen also situiert sich Kleists verkehrte, buchstäblich per-verse Aktualisierung des marianischen Paradigmas,Footnote 42 wenn die im Klostergarten geschwängerte Novizin kirchenrechtlich zum Tod verurteilt wird, als femina sacraFootnote 43 im katastrophischen Ausnahmezustand aber eine eigene marianische Karriere und karitative Imitatio Christi antritt, die auf Pedrillos Keule zuläuft. Die koloniale Toponymie – ein Hypotext, der die militärische Eroberung und die folgende koloniale Gewaltherrschaft Südamerikas ins Zeichen biblischer Heilsversprechen setzt – liefert das choreographische Muster, das Kleists erzählte Tragödie ohne Katharsis in Verschiebungen anspielt und qua Verkörperung durchkreuzt. Entlang der Ortsnamen, die sich auf der kolonialen Landkarte Chiles um die 1647 von einem schweren Erdbeben heimgesuchte Hauptstadt gruppieren, entlarvt die Novelle diesen von mimetischer Gewalt gestützten und bedrohten ideologischen Nexus und zielt im subversiven re-enactment von Empfängnis, Geburt und Passion des christlichen Erlösers auf den weiblichen Körper als erstes Objekt von Heils- und Herrschaftsphantasien,Footnote 44 die zuletzt in der heiklen Strukturanalogie von Messopfer und Menschenopfer übereinkommen.

I. Toponymie des Heils

Dass ›alles mit der Namengebung beginne‹,Footnote 45 gilt, nach dem Muster des göttlichen Benennungsakts, der zugleich einen absoluten Besitzanspruch markiert,Footnote 46 für die DichtungFootnote 47 wie für die koloniale Inbesitznahme fremden Landes, die sich im Fall der Conquista durch die weltweite Verbreitung des christlichen Glaubens gerechtfertigt sah und zur Bezeichnung der eigenen Stützpunkte entsprechend Hagionyme bevorzugte.Footnote 48 Wie dem südamerikanischen Erdboden sind die biblische Schöpfungs- und die christliche Heilsgeschichte auch Kleists Novelle schon in den kolonialen Ortsnamen eingeschrieben, die von der »geographischen Gewalt« der ›Entdecker‹ im herrschaftlichen Benennungsakt zeugen;Footnote 49 die um die Gegenwart des Göttlichen kreisenden Erzählungen, die in diesen Namen aufgerufen sind, werden im Novellengeschehen konkret.Footnote 50 Heilige Namen, hieroi nomoi, bringt mithin nicht erst die auktoriale Setzungsmacht ins Spiel, welche die biblischen (und historischen) Vorbilder ihrer Figuren jeweils in signifikanter Verschiebung der »verkörperten Namen«Footnote 51 aufruft: die sündige Josephe an der Stelle der Jungfrau Maria und zugleich des Nährvaters Jesu, Meister Pedrillo (in spannungsvoller Verschränkung von handwerklicher Meisterschaft und dem durch den Diminutiv indizierten niederen sozialen Rang)Footnote 52 an der des Petrus, der liebende Hauslehrer Jeronimo an der des Hl. Hieronymus, des Kirchenvaters, Bibelübersetzers und Theoretikers von Ehe und Jungfräulichkeit, der den ›heiligen Namen‹ (hieros nomos) selbst im Namen trägt.Footnote 53 Der intrikaten narrativen »Vollstreckung«Footnote 54 der ominösen Figurennamen noch vorgelagert, gibt hier vielmehr die toponyme Gewalt der spanischen Eroberer in den südamerikanischen Ortsnamen die Phantasmen der kolonialen Gesellschaft vor, die bei Kleist handlungsleitend werden: Santiago, La Concepción und das namentlich nicht genannte, aber in Szene gesetzte Valparaíso.

Der Schauplatz der beiden Rahmenstücke der Novelle, 1541 von Pedro de Valdívia neben indigenen Siedlungen im fruchtbaren Mapocho-Tal gegründet und im herrschaftlichen Schachbrettmuster angelegt,Footnote 55 ist (wie das galizische Santiago de Compostela) dem Patronat von »St. Jago« unterstellt,Footnote 56 d.h. dem Apostel Jakobus dem Älteren, erster Missionar der römischen Provinz Hispania, späterer Nationalheiliger Spaniens und Schutzpatron von Reconquista und Conquista mit den entsprechenden Ehrentiteln Matamauros und Mataindios (›Mauren‹- und ›Indiosmörder‹).Footnote 57 Der Legende nach war dem Jakobus im Jahr 40 bei Saragossa Jesu (damals noch in Judäa lebende) Mutter Maria auf einer Marmorsäule erschienen, als er die Mission auf der iberischen Halbinsel wegen Erfolglosigkeit gerade aufgeben wollte, und forderte ihn auf, eine Kirche zu errichten: die erste Marienerscheinung und die erste Marienkirche der Christenheit. Da der Festtag dieser Hierophanie am 12. Oktober begangen wurde, avancierte Maria del Pilár (›Unsere liebe Frau auf dem Pfeiler‹) nach jenem anderen 12. Oktober anno domini 1492, an dem Kolumbus an den ›westindischen‹ Inseln anlandete, zur Schutzpatronin der weltweiten Hispanidad.

Kongenial zu diesem Legendarium ist es ein »Wandpfeiler«, an dem sich Kleists Jeronimo nach seinem Gebet »vor dem Bildnisse der heiligen Mutter Gottes« (191) selbst retten kann. Im Zeichen der Marienverehrung kehrt der visionäre Pfeiler des Hl. Jakobus hier als architektonisches Element der staatlichen Gewalt wieder, die den »junge[n] Spanier« unspezifisch »auf ein Verbrechen« (189) angeklagt hat. In Kleists dramatischer Verschränkung von Katastrophe und Rettung mutiert das Selbstmordinstrument zum Rettungsanker,Footnote 58 als die Pfeiler der Erde und des Himmels erbeben.Footnote 59 »Santiago« mag für Kleist auch »ein nach Südamerika verlegtes Würzburg« sein,Footnote 60 an dem sich der Anspruch der Inquisition realisiert und die kirchliche Rechtsprechung über die staatliche dominiert; zugleich markiert schon der Name des Ortes (in Reverenz an den Marienseher und ›Indiomörder‹) jene kolonialgeschichtlich unlösliche Verquickung von Marienverehrung und kriegerischer Eroberung, welcher sich auch seine eigene Gründung verdankt. Kleist treibt unter diesem ambivalenten Patronat die Dialektik von Heil und Gewalt hervor: Ist mit dem Heiligen Tiago im spanischen Toponym auch der zugrunde liegende hebräische Name Ja’aqob aufgerufen, ›Gott beschütze‹, so spielt der Text in der älteren Schreibweise der Stadt als »St. Jago« unter dem Deckmantel des Heiligen zugleich den Jago aus Shakespeares Othello ein, der für das Vertrauen heischende Böse steht.Footnote 61 Auch die Option auf Glück, welche die katastrophische »Wendung der Dinge« (191) als wunderbare Rettung aus der Ausweglosigkeit und »Unumkehrbarkeit«Footnote 62 der irdischen Zeitläufe für Jeronimo und Josephe freisprengt und im Tal außerhalb der Stadt zu verwirklichen scheint, ist just insofern ins Trügerische gesetzt, als dieser Andersort in narrativer Mythenbildung und Schicksalshermeneutik der Davongekommenen unweigerlich auf St. Jago, die Stadt, die Kolonialherrschaft und die Kirche, bezogen bleibt.

Die sich in einem »Tal von Eden« (201) wiederzufinden glauben, sind weder der Geschichte von Gewalt und Rache noch der Ideologie, die diese legitimiert und noch die vermeintlichen Fluchträume besetzt hält, je entkommen. Auch das idyllische Kernelement einer Erzählung, die sich zumal in ihrer dreigliedrigen Buchfassung als pessimistischer Gegenentwurf zum triadischen Geschichtskonzept der Aufklärung liest, entspricht (oder entspringt) der heilsgeschichtlich-eschatologischen Toponymie der Konquistadoren, deren Zugriff auf das fremde Land im paradoxen Zeichen eines zivilisatorisch erst zum Blühen zu bringenden, im Sinne Rousseaus damit korrumpierten Paradieses steht. Ein solches meinten die Eroberer 1544 in einer vom Stamm der Chango bevölkerten Bucht an der Pazifikküste nordwestlich der gerade erst befestigten Siedlung von Santiago zu entdecken bzw. als Hafenstadt neu zu begründen: Valparaíso. Kleist gestaltet diese Verheißung der kolonialen Landkarte Chiles zur idyllischen Fiktion, »wie nur ein Dichter davon träumen mag«, und zur Glücksempfindung des postkatastrophischen, ›traumatisierten‹ Bewusstseins Josephes,Footnote 63 die sich – Schöpfungsgeschichte und Eschatologie, den Paradiesgarten und die nach der Apokalypse anstehende künftige Ewigkeit überblendend – nach der abgewendeten Hinrichtung mit der »Seligkeit« (201) eines neuen, unversehrbaren Lebens beschenkt glaubt.

Im spanischen Mutterland der amerikanischen Kolonien, wo Jeronimo »mütterliche Verwandte[]« (203) hat, soll dieses neue Leben sein (aufgeschobenes) irdisches Ende finden – so verstrebt Kleist die Heils- und Glücksprojektionen auf beiden Seiten des Atlantik miteinander.Footnote 64 Als Tor zur alten Welt, an dem sich das Schicksal der Liebenden – in der Obhut altspanischer mütterlicher Verwandter oder in der Gunst einer neuspanischen Vaterfigur – entscheiden soll, fungiert jene andere (einstmalige) Hafenstadt, deren Toponym als »incident name«Footnote 65 eines heilsgeschichtlichen Ereignisses dem Andenken an die unbefleckte Empfängnis Mariens durch ihre Mutter Anna gewidmet ist: La Concepción. Aufgerufen ist damit das mariologische Schlüsselparadox respektive Mysterium des ewig reinen, jungfräulich-mütterlichen Leibes, dessen allein gotteswürdige Integrität sowohl die wahre Menschlichkeit Jesu verbürgt als auch die wahre Göttlichkeit des Menschensohnes und die Kraft seines Erlösungswerks vermittelt. Nach dem Bericht des Südsee-Reisenden Amédée François Frézier hatte die Immaculata Conceptio als Empfängnis »ohne Makel und Erbsünde«, neben dem »allerheiligste[n] Sacrament des Altars« und als dessen Bedingungsmöglichkeit, gerade im Katholizismus der spanischen Kreolen eine herausragende Bedeutung, die auch bei alltäglichen Handlungen in Lobessprüchen bekräftigt wurde.Footnote 66

II. Hortus conclusus und Corpus Christi

Der Name des als Brückenkopf in ein neues Leben auserkorenen Ortes mahnt mithin, dass es die Frage der Empfängnis sei, die über Glück und Seelenheil entscheidet (wie gerade die antiken Kirchenväter darzulegen wussten).Footnote 67 Als Phantasie künftigen Glücks der Liebenden weist »La Conception« (203)Footnote 68 auf der Achse der individuellen Glücks- bzw. Heilsorte der Novelle damit vor das postkatastrophische Paradies auf den Ort zurück, der den marianischen Leib in der paradoxen Einheit von Lebendigkeit und Reinheit selbst repräsentiert: auf den »Klostergarten« (189) der Karmelitinnen. Als Garten symbolisiert dieser das irdische Paradies;Footnote 69 nach dem Vorbild der im Hohelied als ›verschlossener Garten‹ (hortus conclusus) gepriesenen weiblichen GeliebtenFootnote 70 ist der Klostergarten zugleich Allegorie des unberührbar-integren Marienleibs, durch den das verlorene Paradies von Christus wieder aufgeschlossen wird. Symbolisch steht der Klostergarten also für das uranfängliche und das wiederzuerlangende Heil, allegorisch für die jungfräuliche Gottesmutter, die durch die Gleichsetzung mit der geliebten Braut des Hoheliedes auch als keusche Geliebte ihres Sohnes verehrt wirdFootnote 71 und als heilsträchtige Braut Christi (Maria sponsa) die ganze ecclesia, die Gemeinschaft der von Jesus aus der Welt zum Gottes- und Nächstendienst ›Herausgerufenen‹,Footnote 72 figuriert. Es ist dieser Brautstand der erlösungsbedürftigen Christenheit, der im klösterlichen Garten verbildlicht und verteidigt – und bei Kleist durch den Liebesakt gebrochen wird.Footnote 73

Als nächtlicher Eindringling »macht« Jeronimo (wie es aktivisch und einseitig heißt)Footnote 74 den Klostergarten zum Liebesgarten (hortus amoenus), »zum Schauplatze seines vollen Glückes« (189), und profaniert durch das betont ›volle‹ Maß seiner sexuellen Befriedigung die Fülle himmlischer Gnade, welcher die Jungfrau, gratia plena, als Gefäß dient.Footnote 75 Seine rein mediale Rolle behält der Frauenleib hier bei: Gilt den Mariologen die »unbefleckte« Jungfräulichkeit Mariens als »Brautgemach« für das »Wort Gottes« und als »das geistige Paradies des zweiten Adam«Footnote 76 Christus, der die Erbsünde für immer sühnt, so ›macht‹ der ›junge Spanier‹ mit dem Namen des asketisch-eremitischen Bibel-Übersetzers und Kirchenvaters Hieronymus den Körper Josephes an geweihtem Ort zu seinem irdischen Paradies und re-sexualisiert damit auch die in der Annunziata-Ikonographie verbildlichte spirituelle Begattung der im Garten sitzenden Maria durch den Heiligen Geist.Footnote 77

Während Christus »geistig in den Schoß der Jungfrau hinab[gestiegen]« ist, um an diesem »Mittelpunkt der Erde« die »alte Wunde« – »die Fortpflanzung durch den Koitus« – zu reinigen und ›endgültig‹ zu ›heilen‹,Footnote 78 reißt der von Kleist in die Allegorie des Marienleibs versetzte Geschlechtsakt die Wunde des lapsus von Neuem auf. An der Stelle der dem Sexus ›verschlossenen‹ marianischen »Pforte zum Heil«, empfänglich nur für den Zustrom der Transzendenz, klafft das Tabu,Footnote 79 der biologische Riss des in Mensis, Zeugungsakt, Geburt und Kindbett eröffneten weiblichen Körpers der Josephe als der anderen Eva.Footnote 80 Bei Kleist wird dieser Riss in Josephes öffentlichen »Mutterwehen« (189) an Corpus Christi, dem katholischen Hochfest des ›allerheiligsten Leibes und Blutes Christi‹ (Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi), offenbar, da die unter der goldenen Monstranz der Hostie versammelte Gemeinde im Gedenken an das agonale Erlösungsgeschehen im Kreuzestod Christi auch ihren Sieg über die lust- und todesverfallene Körperlichkeit feiert. Noch der von der Erbsünde untangierte Leib des Erlösers selbst, der Brot und Wein an die Seinen ausgeteilt und sich in Fleisch und Blut für sie geopfert hat, wird hier in der GottestrachtFootnote 81 des Fronleichnamszuges, als Triumphzug der Zeichen über die Körper, des Geistes über das Fleisch, nur noch in einer sublimen Grenzform des Materiellen sichtbar: als hauchdünne, glatt gepresste, von spektakulären Rahmungen überstrahlte Oblate, die in der Monstranz auch der Einverleibung im eucharistischen Mahl entzogen ist.Footnote 82

Die niederkommende Josephe wirft die Anbetung dieses allerheiligsten Leibes im konsekrierten Brot auf genau jene »krude« und »eruptive«Footnote 83 weiblich-mütterliche Körperlichkeit zurück, welche das Phantasma der entsexualisierten Frau namens ›Jungfrau Maria‹ negiert und die Theologie für die Geburt Christi ausschließt: Durch die eigene unbefleckte Empfängnis der Erbsünde entzogen, erleidet Maria keine Wehen,Footnote 84 wie sie Eva und damit ›der Frau‹ als Strafe für den Sündenfall und Bedingung für eine Existenz jenseits von Eden auferlegt wurden (Gen 3,16).Footnote 85 Wie die Entbindung des Heilands aus dem (der Lehre nach) vor, während und nach der Geburt jungfräulichen Marienleib stattdessen vorzustellen sei, bleibt der blinde Fleck schon der Evangelien des Lukas und des Matthäus, welche die Jungfrauengeburt propagieren.Footnote 86 Just die »Mutterwehen« also, die in der Novelle das gesamte Geburtsgeschehen anzeigen, stellen Josephe vor versammelter Gemeinde als »junge Sünderin« bloß, niedergeworfen »auf den Stufen der Kathedrale« (189) wie die in der Immaculata-Ikonographie von Maria niedergetretene Schlange, und weisen ihr Kind als »heillos eingefleischte[n] Sohn«Footnote 87 der Sünde aus.

In der öffentlichen Niederkunft einer für die mystische Christus-Ehe vorgesehenen Novizin bricht das factum brutum sexueller Reproduktion, das immer schon einen »Riß in der kulturellen Ordnung« markiert,Footnote 88 in die (theologisch komplexe) Feier realpräsentischer Anwesenheit des Unsichtbaren in der eucharistischen Substanz ein und rührt dabei an die Grundpfeiler der ecclesia mit der Muttergottes als Maria mediatrix, Mittlerin der Gnaden und Fürsprecherin der Gläubigen an ihrer pyramidalen Spitze – der »Riß« (215), den das Erdbeben, Josephes Wehen ins Seismische potenzierend, in der Mauer der letzten noch stehenden Kirche Santiagos eröffnet, macht insofern die latente Bedrohung des christlich-platonischen Vergeistigungsstrebens durch den weiblichen Körper selbst sichtbar, der nur als de-sexualisierter zum Zentrum der Heilsgeschichte und zum »Mittelpunkt der Erde«Footnote 89 erklärt werden konnte.

Die skandalöse Koinzidenz und Konkurrenz von blutiger Geburt und eucharistischem Leib Christi – Kleists ingeniöser dramaturgischer Coup – wirft das anzubetende Messopfer, in dem des Gipfelpunkts der Heilsgeschichte auf Golgatha, der Umkehrung des Sündenfalls, gedacht wird, auf einen kontingenten Anfang zurück. Wohlkalkuliert wird damit nicht nur das theologische Bedingungsverhältnis von Transsubstantiation und Inkarnation freigelegt;Footnote 90 der eklatante Kontrast von biologisch-unreiner Körperlichkeit und enthoben umstrahlter Hostie verweist zugleich auf die Funktionsstelle der Jungfrau in der heiklen mariologischen Lösung für die Aporien der christlichen Synkatabasis, der Einkehr des Heils in die Welt des Fleisches. Die Entbindung eines biologisch gezeugten Kindes am Hochfest des heilbringenden Leibs des Erlösers bietet demgegenüber die Option auf eine (Lesart als) apokryphe Heilsgeschichte nicht aus der göttlichen Insemination der virgo inviolata, sondern aus dem (von der Urmutter Eva sich herleitenden)Footnote 91 Soma lebendiger und damit todgeweihter Geschlechtlichkeit.Footnote 92 Die Frage hinter dieser buchstäblichen Makulatur des Sakralen und des eucharistischen Sakraments ist die nach einer möglichen Verbindung von Heil und Geschlecht nicht jenseits, sondern inmitten einer »jammervollen Welt« (193) und ihrer (vom Sexus angetriebenen) mimetischen Gewalt.Footnote 93

Auf den sexuellen Akt, der der Geburt nach Maßgabe des Irdischen vorangegangen sein muss, richtet sich auch die allgemeine Empörung, die das doppelte Sakrileg, die Schändung des Klostergartens und der Hostie, zum öffentlichen Ärgernis und mithin zum Politikum macht. Für die anonymen »Zungen«, die in kaum verhohlener sexueller Rage und aggressiver »Erbitterung« verbal »über das ganze [!] Kloster her[fallen]« und den Begattungsakt damit symbolisch en gros wiederholen, besteht der »Skandal« (191) in dem Bruch einer – noch gar nicht geschlossenen – heiligen Ehe: in dem Verrat an dem einzigen, dem göttlichen Bräutigam, dem die Novizin als Nachfolgerin Mariens und angehende sponsa Christi versprochen war, auch wenn sie noch kein Keuschheitsgelübde abgelegt hat.Footnote 94 Im Sinne dieser rigorosen Antizipation des heiligen Ehestandes in der öffentlichen Meinung muss folglich der Erzbischof als irdischer Statthalter des himmlischen BräutigamsFootnote 95 den Fehdehandschuh aufnehmen und der jungen ›Sünderin‹, die mit dem jungfräulich-marianischen Leib zugleich das zu empfangende Heil preisgegeben hat, einen Prozess machen, der mit der »geschärfteste[n]« Gewalt der »scharf« zielenden »Zungen« (191) auf der Straße mithalten kann.Footnote 96 Entsprechend korrespondiert dem Bruch des Eheversprechens am nächtlich-»verschwiegenen […] Schauplatze« (189), den (nur) das göttliche Auge gesehen haben wird,Footnote 97 das »Schauspiel[]«, das, als Massenspektakel zur Beschwichtigung der allgemeinen Empörung, der Hinrichtungszug nunmehr »der göttlichen Rache« (191) geben soll. Um stellvertretend ausgeführte Rache des Verratenen, in seinem Stolz und Besitzanspruch Gekränkten geht es hier (wie das Verhalten des irdischen Vaters Asteron deutlich macht), nicht um Recht und das berufene »Gesetz« (191). Rache aber will Vernichtung, weshalb die Intervention des staatlichen Souveräns, hier des kolonialen Statthalters des spanischen Königs, der sich zugleich als weltweit agierender defensor ecclesiae versteht, zugunsten einer milderen Hinrichtungsart neue »Entrüstung« (191) hervorruft und ein energetisches Potenzial neuer Rachegelüste freisetzt.

Schon hier »lauert« mithin »nackte Gewalt« hinter der »rituellen Strafinszenierung«,Footnote 98 die der öffentliche Hinrichtungszug als kathartisches Spektakel zur Aufführung bringen soll – mit dem ins Groteske getriebenen Schauwert von Semana Santa-Prozessionen in der spanischsprachigen Welt und als analoge Darbringung eines Opfers. Es ist der von Jesu Kreuzestod erfüllte und zugleich überwundene Sündenbock-Mechanismus,Footnote 99 den Kleist in der Überführung der Fronleichnamsprozession in den Hinrichtungszug als performatives Grundmuster des katholischen Ritus freilegt. Indem die den Kreuzestod memorierende Hostie zu Corpus Christi öffentlich angebetet wird, kehrt sich jene »Energie« nach außen, welche die Kirche aus der rituellen Wiederholung des Opfers zieht, um als »politische Institution« historisch zu überdauernFootnote 100 und im globalen Ausgriff zu wachsen. Der Hinrichtungszug als anderer Hochzeitszug verschiebt das im Messopfer gefeierte Selbstopfer Christi – die historisch radikal neue christologische Variante des OpfersFootnote 101 – zum Frauenopfer, das die gefallene Braut ihrem rechtmäßigen Ehegatten doch noch übereignet. Wie das »abendmaal des lammes« nach Offb 19,9 zugleich als ›Hochzeitsmahl‹ zur Verbindung mit der jungfräulichen Braut, der Kirche, gilt,Footnote 102 so sieht die nach »klösterliche[m] Gesetz« (191) verfahrende kirchliche Strafjustiz an der nicht mehr jungfräulichen Mutter Josephe den Vollzug dessen vor, wozu die Novizin bestimmt war: die »Weihe« für den Tod, auf den »die Opfergabe der Frau in der Hochzeitsnacht vor allem hinweist«, insofern »man sich Gott ja nur im Opfer darbringen kann«.Footnote 103

An dieser Stelle interveniert Kleists Dramaturgie von augenblicklicher Wendung und Umkehr in Katastrophe und Rettung, um der potenzierten Dynamik überstürzter Ereignisse neue Erlebnismomente von Heil zu entreizen: Wie die öffentliche Entbindung die Gottestracht zur Feier des von Sexualität und Schuld erlösenden Fleisches und Blutes Christi sprengt, so sprengt das Erdbeben den Hinrichtungszug, der den Einbruch des Sexuellen in die commemoratio der Heilstat Christi strafen und sühnen soll: Die Rettung der ›Sünderin‹ kehrt deren Fallgeschichte um und setzt für deren Familie – von der katastrophischen höheren Gewalt in ein außergesellschaftliches, außergeschichtliches zweites Paradies katapultiert – alles noch einmal auf Anfang.

III. Wehen/Beben

Das Erdbeben steigert nicht nur Josephes Wehen auf den Stufen der Kathedrale zur tellurisch-kosmischen Katastrophe, in deren »Gekrache« auch »das Firmament« einzustürzen scheint, mithin der Himmel selbst herabkommt;Footnote 104 es zeitigt zugleich eine zweite Sturzgeburt, wenn nun der gefangene Jeronimo – »[z]itternd, mit sträubenden Haaren, und Knien, die unter ihm brechen wollten« – »über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu[gleitet]«, die der »Zusammenschlag« zweier Gebäudeteile »in die vordere Wand des Gefängnisses eingerissen« hat (193). Wenn die Novelle hier die Reperkussionen des Bebens einen entscheidenden, gedehnten Augenblick lang in der Schwebe hält, um die Ereignisse und mit diesen auch das Bewusstsein der Figuren zu ›suspendieren‹,Footnote 105 so öffnet sich mit diesem Moment der gesamte Mittelteil des Textes als ein Fluchtraum in Idylle und Utopie. Dass sich dieses Zeitfenster unwiderruflich auch wieder schließen werde, lehren die – im Unterschied zum Würzburger TorbogenFootnote 106 – nur an-, aber nicht aufgehaltenen Zusammenstürze, die auf die Rettung Jeronimos aus dem Gefängnis und Philipps aus dem Kloster folgen.

Jeronimos Befreiung – eine Piranesis Carceri dramatisierende Szene, die das Zusammen-Stürzen der Gebäudeteile als metaphorisches Geburtsgeschehen entfaltetFootnote 107 – ergänzt Josephes Entbindung um die Innensicht auf ein buchstäblich geworfenes, heteronomes subiectum, das, »starr vor Entsetzen«, auf dem Spielfeld physikalischer Kräfte zur Ausflucht ins »Freie[]« gestoßen bzw. in surrealer Zeitlupe geschoben wird.Footnote 108 Eine »zufällige Wölbung« (193) in der erschütterten Architektur der Macht bildet dabei einen »Hohlraum der Kontingenz«,Footnote 109 dem das Individuum seine Existenz verdankt. Anders als in Euripides’ Bakchen und in der Apostelgeschichte (Agp 16,26), da Petrus durch ein Erdbeben aus dem Gefängnis in Philippi befreit wird,Footnote 110 ist die Szene bei Kleist gerade nicht als ein Wunder codiert: Santiagos Kerker wirft vielmehr kurz vor seinem völligen Zusammenfall ein nacktes Leben aus, das »[b]esinnungslos« (193) aus der Apokalypse der Stadt flieht, um außerhalb derer in Ohnmacht zu fallen.

Jenseits dieser doppelten Grenzscheide, beim Erwachen aus der »tiefsten Bewußtlosigkeit«, empfindet sich Jeronimo, »halb auf dem Erdboden« aufgerichtet und »unwissend« über die Zusammenhänge seines »Zustande[s]«, im »unsägliche[n] Wonnegefühl« eines erinnerungslosen, rein sinnlichen Hier und Jetzt in schierer Kreatürlichkeit, wenn »ein Westwind, vom Meere her«, »sein wiederkehrendes Leben anweht[]« (195) wie der schöpfergöttliche Geist den ›Erdling‹ namens Adam.Footnote 111 Der Befreiung aus der ambivalenten mutterräumlichen »Einsperrung« (191) folgt damit am Nullpunkt des Bewusstseins die Neubelebung durch den vatergöttlichen Odem im ›Freien‹, die ein vom Wissen um fatale Verstrickungen noch ungetrübtes Glücksgefühl des bloßen körperlichen Daseins gewährt. Für einen ekstatischen Moment scheint hier ein prälapsarisches Heil-Sein auf, das von der wiederkehrenden Erinnerung an die eigene Vorgeschichte schrittweise eingeholt und schließlich überrollt wird.Footnote 112 Die Szene leitet dieses Zeitbewusstsein anthropologisch aus dem aufrechten Gang und der visuellen Frontalausrichtung her: Erst als Jeronimo »sich umkehrt[], und die Stadt hinter sich versunken [sieht], erinnert[] er sich des schrecklichen Augenblicks, den er erlebt hat[]«, und dankt Gott als nunmehr auch der Prekarität seiner Existenz bewusstes Geschöpf mit bis zum Boden gesenkter Stirn »für seine wunderbare Errettung« (195) – dieser ›zweite Adam‹ ist ein geretteter, kein Retter, ein seiner selbst Vergessener, kein Überwinder, einer, der die »ungeheure Wendung der Dinge« (191) als körperlich-konkrete Kehrtwende erfährt.Footnote 113

Wie biblisch die Abkehr von dem »im Osten« (Gen 2,8) angelegten Garten Eden und »die Blickrichtung nach Westen« Folgen des Sündenfalls sind,Footnote 114 so erlebt Jeronimo sein »Paradies freier Selbstgeburt«Footnote 115 in Abwendung von der (im Westen an den Pazifik grenzenden) zerstörten Stadt auf den Hügeln außerhalb derer. Sein an Lots Frau mahnender Rückblick markiert eine neuerliche »körperliche Wendung« auf der heilsgeschichtlichen »West-Ost-Achse«;Footnote 116 dabei verliert er kurzfristig das Paradies des Nicht-Wissens, um mittelfristig ein trügerisches familiales Idyll zu gewinnen. Nicht den Fluchtweg weiter nach Osten, in das Heil verheißende spanische Mutterland der Kolonien, tritt die Familie von dort aus an,Footnote 117 sondern den Rückweg in die Stadt, die den Liebenden nun erst zur Apokalypse gerät.

Josephe, an die ihn erst sein Fingerring, ein konkretes, am Körper getragenes Ding, erinnert,Footnote 118 wird Jeronimos sprunghaften Wechsel von der Vergessenheit zur Wiedererinnerung, der die ›Wendung der Dinge‹ auch zur Ansichtssache vor dem jeweiligen Erwartungshorizont macht, ihrerseits umkehren: ›Verführt‹Footnote 119 von Don Fernandos Angebot, sich an eine neue Gemeinschaft anzuschließen, verwirft sie, die marianische Mediologin, die gegenüber dem Souverän angeratene Vorsicht körperlicher Distanzierung bei medialer Vermittlung,Footnote 120 um in derselben Gegenwartsemphase wie Jeronimo dem empfundenen »Drang« nachzugeben, »ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen« (211).Footnote 121 Ihr kreatürlicher Gottesbezug in der Anbetung jener »erhabene[n] Macht«, welche sich, herrlichkeitstheologisch, gerade in Zeit und Raum »entwickle« (211),Footnote 122 bleibt dabei gekoppelt an die Institution Kirche und die Gemeinschaft der Gläubigen, »die ganze im Tempel Jesu versammelte Christenheit« (217), als sakramental gestützte Medien des Heils und Orte schon der diesseitigen Heilserfahrung. Ihr Begehren – ein ›Gottesbegehren‹,Footnote 123 für das Mann und Kind (nur) irdische Stellvertreter sindFootnote 124 – richtet sich auf genau jene energetisch-charismatische Bündelung und Potenzierung gläubiger »Inbrunst«,Footnote 125 deren »Flamme« am Ende aus dem atmosphärischen Kessel des Doms »gen Himmel« (213) schlagen wird.

Während im Neuen Testament die Erdbeben beim Kreuzestod Jesu (Mt 27,51–54)Footnote 126 und bei der Eröffnung seines Grabes (Mt 28,2) die Göttlichkeit des Gekreuzigten bzw. Auferstandenen anzeigen, will Josephe durch die Intervention der Naturgewalt gezielt vom Tod gerettet worden sein. Ihr Erdbeben bekräftigt nicht die Göttlichkeit des Opfers, verhindert vielmehr die Opferung, indem es den »Hinrichtungszug aus einander []sprengt« (197) und die Stadt und »alles, was Leben atmet[]« (193), vernichtet, wie es die Johannesapokalypse unter dem sechsten Siegel für den ›Tag des Zorns‹ (Offb 6,17) und für den endzeitlichen Untergang der ›großen Stadt‹ (Offb 11,13; 16,18 f.) ankündigt. Unter den biblisch gegründeten Deutungsoptionen für ein Geschehen, das im Als-ob-Einsturz des Firmaments auch die Löschung der Sinnhorizonte figuriert, um der Geburt des Subjekts aus dem Zu-Fall stattzugeben, steht also Rettung durch zerstörerische Intervention (wie Jeronimo und Josephe aufrechnen)Footnote 127 versus apokalyptisches Strafgericht (wie der Chorherr zur Abwendung weiteren Übels mahnt).

Die bei Kleist strukturbildende Verschränkung von Beben und Wehen ließe sich kongenial auf den Wortlaut der Endzeit-Rede Jesu in der synoptischen Apokalypse zurückführen,Footnote 128 welche die Zerstörung des Tempels – »nicht ein stein wird auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde« (Mk 13,2) – und die Verfolgung der Jünger ankündigt,Footnote 129 denn laut dem neutestamentlichen Urtext in Mk 13,8 sind Erdbeben in diesem Schreckensszenario nur »die Anfänge der Wehen« bzw. der »Geburtsschmerzen« (griech. ὠδίνων, ōdinōn, ›Geburtsschmerzen‹, ›Wehen‹).Footnote 130 Luther übersetzt aber – und so behalten es, im Unterschied zu späteren Revisionen, die lutherischen Bibelausgaben bis ins 19. Jahrhundert bei – der »noht anfang« und rekurriert damit seinerseits auf die alttestamentliche Vorstellung mütterlicher Wehen als Inbegriff menschlicher Drangsal.Footnote 131 Wenn bei Luther weiterhin die Offenbarung des Johannes für die Endzeit ein erstes, ein zweites und ein drittes apokalyptisches »wehe« (griech. οΰαί, ouaí, gleichfalls ein Wehruf)Footnote 132 im Sinne äußerster Bedrängnis der Menschheit prophezeit, so lässt noch die substantivierte Interjektion ›das Wehe‹ in dem Schmerzensruf auch die Synekdoche anklingen, die den Geburtsschmerz zum Schmerz schlechthin bestimmt. Insofern sich alttestamentlich Gewaltexzesse im Kampf Israels mit seinen Feinden vorzüglich im ›Zerhauen‹, ›Zerreißen‹ und ›Zerschmettern‹Footnote 133 von Schwangeren und Säuglingen Bahn brechen (was Kleist zum infernalischen Finale seiner Novelle aufgreift), gilt diesen besonders volatilen Exponenten der Prokreation, mit dem nun zur Drohung gewendeten Ruf, auch die besondere Unheilsankündigung in der synoptischen Endzeitrede Jesu: »Wehe aber den schwangern und säugern zu der zeit.« (Mk 13,17)

Bei Kleist ist es der Chorherr, der Wehen und Beben explizit eng führt, wenn er dieses auf jene zurückführt und das Erdbeben »im Flusse priesterlicher Beredsamkeit« (und wider die Chronologie der Ereignisse) als Strafe sowohl für das in Josephes Wehen eklatant werdende »Sittenverderbnis« der Stadt als auch für die (durch die Katastrophe bedingte) »Schonung« (215) desselben wertet. Nach diesem ›Anfang der Not‹, einem »Vorboten« der Endzeit, gilt es für den Prediger, deren irreversiblen Anbruch selbst und damit in letzter Konsequenz das gefürchtete »Weltgericht« (213) zu verhindern. Nach dem alttestamentlichen Vorbild der Zerstörung Sodoms,Footnote 134 welches auch eine Endzeitrede Jesu als Modell des Weltgerichts anführt (Lk 17,28–32), hat sich dieses für den Chorherrn im Erdbeben bereits angekündigt. Zur Begnadigung vor diesem Gericht sind die Gläubigen, ist die Kirche auf die Fürsprache ihrer allegorischen Repräsentantin angewiesen, der zwischen Gottes- und Menschensphäre vermittelnden Heiligen Jungfrau, deren Kloster und hortus conclusus – darin liegt ja vermeintlich der Anfang allen Übels – in der dem Marienseher Jago gewidmeten Stadt geschändet wurde. Aufschub des Weltgerichts ist mithin das Gebot der Stunde, Aufschub durch Ausmerzen des Übels.

Was der Chorherr nicht in seine apokalyptische Hermeneutik von Geburt und Endzeitgericht einbezieht, was Kleist aber in der siderischen Lesart des Nachnamens Josephes, Asteron,Footnote 135 und im Als-ob-Einsturz des Firmaments beim Erdbeben anspielt, ist des Apokalyptikers Johannes Vision einer Gebärenden als »ein groß zeichen am himmel« (Offb 12,1). Dürer setzt diese Schwangere im neunten Holzschnitt seiner Apocalipsis cum figuris 1498 im Nonnenhabit und mit gefalteten Händen ins Bild und im Frontispiz der Neuauflage 1511 mit Maria gleich:Footnote 136 »Ein weib mit der sonnen bekleidet, und der mond zu ihren füssen, und auf ihrem haupte eine krone von zwölf sternen. / Und sie war schwanger und schrye, und war in kindes=nöhten, und hatte grosse quaal zur gebuhrt.« (Offb 12,1 f.)Footnote 137 Als ihr Gegenspieler erscheint ein siebenköpfiger, feuerroter Drache am Himmel, der mit seinem Schwanz »den dritten theil der sternen des himmels« (Offb 12,4) herabfegt (Abb. 1). Der messianische Sohn, den die Frau gebiert, entkommt dem lauernden Drachen durch Entrückung auf den göttlichen Thron, während der Drache selbst, »die alte schlange, die da heisset der teufel und der satanas, der die ganze welt verführet«, mit seinen (bösen) Engeln aus dem Himmel »ausgeworffen« wird (Offb 12,9) und in »grosse[m] zorn« auf die Erde herabkommt, wohl wissend, daß er hienieden nur »wenig zeit hat« (Offb 12,12). Wenn demnach Zeitnot die Wurzel alles Bösen ist, wie Hans Blumenberg schließt,Footnote 138 so führen Kleists Dramen und Novellen dieses Grundprinzip in strengster Konsequenz durch, um das apokalyptische Modell einander überstürzender Ereignisse zugleich – und nirgendwo persuasiver und fataler als im Erdbeben in Chili – auf idyllische Schonzeiten hin zu öffnen, die das eschatologische Telos des endgültigen Siegs über das Böse schon vor der Zeit als erreicht suggerieren.

Abb. 1
figure 1

Albrecht Dürer: Die mit der Sonne bekleidete Frau und der siebenköpfige Drache. 9. Holzschnitt der Apocalipsis cum figuris, 1497/98, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Public domain, via Wikimedia Commons)

IV. Kleists Valparaíso: stummes Stillen

Wähnt sich der Chorherr mit Berufung auf das letzte Buch der Bibel in den Trümmern der Stadt im Vorhof der noch abzuwendenden Apokalypse, so sehen sich die Geretteten außerhalb in einem postapokalyptischen Paradies, mit dem eine neue Zeit schon angebrochen ist. Inspiriert durch das koloniale Toponym auf der Landkarte des eroberten Chile, dessen indigener Name, chilli (in der Sprache der Aymara ›das Land am Ende der Welt‹),Footnote 139 für europäische Ohren den chiliastischen Glauben an die Wiederkunft Christi und dessen 1000-jähriges Friedensreich (nach Offb 20,3 f.) anklingen lässt,Footnote 140 schiebt sich Kleists »Tal von Eden« (Valparaíso) als idyllisch-utopische »Enklave«Footnote 141 ins Mittelstück der Katastrophennovelle ein und öffnet den idyllenspezifischen Raum für reflexive Einholung der Ereignisse und heitere Visionen der Zukunft. Am Ende wird dieses Intermezzo nur der Aufschub der vom Beben suspendierten, vorübergehend in der Schwebe belassenen Exekution gewesen sein, die ihrerseits das Weltende aufhalten soll.

Gründet das Selbstverständnis der Überlebenden im Tal auf der Erfahrung der Katastrophe, so ist das für die Idylle hier konstitutive Trauma allerdings ein doppeltes bzw. gespaltenes, das den verbliebenen Besitz »mitzuteilen« (203) gebietet, über die Vorgeschichte des Bebens aber Schweigen verhängt. Auch die vom Text betonte Analogie zwischen dem gewaltigen »Schlag[]« – der, lautlich markant, »versöhnt«, weil er »durchdröhnt« (205) – und dessen Vorläufern in den Glockenschlägen zu Josephes Entbindung und zu ihrer Hinrichtung bleibt damit innerdiegetisch ungehört. Die Liebenden holen nächtens unter dem Granatapfelbaum das im Klostergarten, aber auch in den »Gefängnissen« (201) Erlebte emotional-diskursiv ein und transformieren es im Liebesgeflüster zum idyllenspezifischen »Glück[] des Erzählens«;Footnote 142 die Überlebenden der Katastrophe erzählen einander wiederum »Beispiele von ungeheuern Taten« (207) – und konturieren damit, gegen Goethe, Kleists Novellenpoetik.Footnote 143 Dagegen ist der engere neue Familienverband, der sich im Tal um Josephe bildet, für drohendes Unheil so ›blind‹,Footnote 144 wie man von vergangener Unbill stumm bleibt. Mit Gewalt ›reißt‹ stattdessen der Absolutismus des postkatastrophischen Hier und Jetzt, den die narrative Verarbeitung des Bebens und die Sorge ums Weiterleben diktieren,Footnote 145 noch jede »der Gegenwart kaum entflohene Seele […] in dieselbe zurück« und degradiert, in Umkehrung von Realität und Utopie, alles Bedenken von Vorgeschichte und Zukunft zur »träumerische[n]« Ausflucht (205).

Josephe selbst initiiert das ihr mit zärtlichen Gesten bedeutete Schweigegebot,Footnote 146 in dem das Stillen lautlich konkret wird, als sie ihre Irritation über Don Fernandos Annäherung nicht aufklärt; stattdessen verweist der Gedankenstrich, der die paradoxe Rede von ihrem Schweigen graphisch unterbricht (»ich schwieg – aus einem andern Grunde«; 203), wie in Die Marquise von O… auch hier auf das sexuelle Faktum, das ihre Sache erst zum ›Skandal‹ hat werden lassen.Footnote 147 Markiert ist damit zugleich die für Josephe irritierend unvermittelte Wende ihrer typologischen Wahrnehmung von der femina sacra zur Maria lactans, die nun kraft ihrer zuvor inkriminierten biologischen Mutterschaft Leben rettet.Footnote 148 Ihrem Namen nach dem biblischen Nährvater Jesu wird Kleists Josephe erst und gerade als Stillmutter Juans gerecht – messianisch konnotiert sind damit beide Kinder, Philipp als Leibesfrucht der Maria maculata und Juan als dessen Milchbruder.Footnote 149

Die »schöne Blume«, als welche »der menschliche Geist« in Kleists Eden aufzugehen scheint,Footnote 150 da die Überlebenden einander stände- und geschlechterübergreifend »Hülfe reichen«,Footnote 151 ist eine Frucht des Mitleids,Footnote 152 der Caritas. Den »kleinen Fremdling […] an ihre Brust« legend wird Josephe zu deren Sinnbild: eine Caritas Chilena,Footnote 153 die durch die Gabe ihres Leibes zum gemeinsamen »Morgenbrot« der idyllisch kleinen »Gesellschaft« (203) beider FamilienFootnote 154 ein Liebesmahl, eine Agape mit dem marianischen als eucharistischem Leib, begründet.Footnote 155 Kreuzesopfer und Theophagie von Fleisch und Blut ChristiFootnote 156 sind damit zugleich zur mütterlichen Liebesgabe gemildert und, übers Kreuz der verdoppelten Kernfamilie gelegt, zuletzt zum Gemetzel entfesselt.

V. Mutterschaft/Vaterschaft

Die ikonische Inszenierung Josephes zur Marienfigur mit dem Jesuskind bzw. dem JohannesknabenFootnote 157 setzt ein, wenn sie, in ihrer Feuerprobe, mit dem geretteten Philipp auf dem Arm heil aus dem »Portal« des gerade zusammenstürzenden Klosters tritt, »als ob alle Engel des Himmels sie umschirmten« (199) – ein Bild, das chronologisch Jeronimos Apostrophe »O Mutter Gottes, du Heilige!« (197) bei der Wiederbegegnung an Quelle bzw. Bach antizipiert.Footnote 158 Die Reinwaschung Philipps markiert damit als Taufakt der Mutter, nicht des KindesFootnote 159 den Eintritt in das nächtliche Interimsidyll der Heiligen Familie, die der Text nach den Bildmotiven der ›Rast auf der Flucht nach Ägypten‹Footnote 160 und der ›Anna Selbdritt‹,Footnote 161 eines im »Schoß« (201) des anderen, unter dem Granatapfelbaum, im doppelten ikonischen Zeichen von Fruchtbarkeit und Passion, konfiguriert.Footnote 162

Mit dem Modell der Heiligen Familie stellt die Novelle die mit Zeugung und Geburt verbundene doppelte Leitfrage nach der Dualität der Geschlechter und dem Einbruch des Göttlichen ins Irdische, um gerade in dieser typologischen Referenz die Gendergrenzen ins Fließen zu bringen. Die Mutter-Kind-Dyade öffnet sich hier für einen leiblichen Vater in der Position jenes (irdischen) Dritten, welcher in der Bibel Joseph heißt und Mariens göttlichen Sohn adoptiert: Der Stammbaum Jesu bei Matthäus (Mt, 1–17) unterbricht die patrilineare Genealogie, um Joseph als »mann Mariä« auszuweisen, »von welcher ist gebohren JEsus, der da heisst Christus« (Mt 1,16). Gegenüber der heiklen Vaterschaftsfrage (hier zudem an der Nahtstelle von Göttlichem und Menschlichem) exponiert Kleist die lebenspendende Mutterschaft in der Fähigkeit zur Laktation, die zudem die Grenzen der biologischen Filiation überschreitet und sich just darin der körperlich uneingeschränkten spirituellen, mithin göttlichen Vaterschaft annähert.

Jeronimo beglaubigt seine Vaterschaft, wie im römischen Recht üblich, durch einen Kuss: Da er seinen Sohn nicht stillen kann, ›verschließt‹ er ihm, der »das fremde Antlitz« bei der Erstbegegnung an der Quelle »anweint[]«, mit »Liebkosungen ohne Ende den Mund« (201),Footnote 163 wie er es auch mit Josephe tun wird, als er ihr am nächsten Tag seinen Meinungswechsel zugunsten eines Verbleibs in Chili unterbreitet und Widerrede befürchtet.Footnote 164 Nach dem Bildtypus der ›Anna Selbdritt‹ besetzt Jeronimo unter dem Granatapfelbaum die matriarchale Position der Marienmutter Anna und kittet an dieser nun väterlich besetzten Stelle den in Jesu Stammbaum bei Matthäus markierten »Schnitt in der agnatischen Filiation«, die Beschneidung Josephs um seine »Männlichkeit«.Footnote 165 Im Gegenzug wird Kleists Josephe, »die Frau Joseph(s)«,Footnote 166 gerade als entsexualisierte, karitative Maria lactans über das Bindeglied des gestillten fremden Kindes zur Stifterin eines neuen Familienverbands, in dem der Muttermilch die Funktion zukommt, die in der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen das in Eucharistie bzw. Herrenmahl geteilte Fleisch und Blut Christi hat. Und wie nach Paulus von Christus gilt, dass in ihm lebt, wer mit ihm stirbt (Röm 6,8; Gal 2,19), so findet der kleine Juan den Tod, weil ihn die milchgebende Brust an Josephe, den marianischen Christus, bindet.

Die Ersetzung des eigenen Säuglings durch einen bedürftigen fremden – und damit das zuletzt fatale chiastische Prinzip – könnte durch ein Dresdner Gemälde des Polidoro da Lanciano von der Heiligen Familie inspiriert sein, auf dem Maria das Jesuskind der Hl. Magdalena übergibt, um statt seiner einen von einem Patrizier – wie Don Fernando ein »wohlgekleideter Mann« (203) – dem Joseph überreichten anderen Knaben entgegenzunehmen (Abb. 2).Footnote 167 Dass es um die Achse der »idealen Mutter«Footnote 168 Josephe überhaupt zu einer neuen Familienaufstellung kommt, ist tragische Folge der ›Beschädigung‹ einer anderen Mutter: Donna Elvire liegt »schwer an den Füßen verwundet auf der Erde« und vermag – zumindest nach dem Zeugnis ihres Gatten – ihr Kind nicht zu stillen. Als die (ob ihres Alters unwahrscheinliche, von Gott aber begnadete) Mutter des Johannes alias Juan weist der neutestamentliche Subtext bei Lukas (Lk 1,5–24) eigentlich ihre Schwester, Donna Elisabeth, aus, der »abgehärmte[] Knabe[]« liegt aber an Elvires Brust (205), deren Insuffizienz mit Josephe eine dritte, physiologisch qualifizierte Mutterfigur zu kompensieren antritt.Footnote 169 Nun können traumatische Erlebnisse den Milchfluss unterbrechen (oder vorzeitige Geburten initiieren); in symbolischer Hinsicht überblendet diese Szene, da Elvire, in den Worten ihres Gatten, »unter den Bäumen beschädigt« (203) liegt, aber ein genderspezifisches Bild des Erbschadens, die niedergeworfene Frau, mit der Verbildlichung der biblisch-lutherischen Verkündigung Mariens, wonach »die kraft des Höchsten« die Jungfrau »überschatten« werde (Lk 1,35).Footnote 170 Elvire, die den Mann (vir) im Namen trägt,Footnote 171 erscheint hier ›unter den Bäumen‹ mithin als die von der »sexuelle[n] Potenz des Mannes beim Koitus«Footnote 172 ›überschattete‹ Frau, an der sich, verschoben auf die Extremitäten, die Gewalt der Begattung selbst zeigt.Footnote 173 So sind die Füße in Mythos und Aberglaube Sitz von Lebenskraft und Fruchtbarkeit, was sie auch zu Organen der Empfängnis macht;Footnote 174 Meister Pedrillos intime Vertrautheit mit Josephes Füßen – er kennt, wie es vieldeutig heißt, Josephe »wenigstens so genau [!] […] als ihre kleinen Füße« (215) – hat daher eine eminent sexuelle Note.Footnote 175 Die »Verletzungen« (205) an den Füßen treffen Donna Elvire mithin in ihrer Weiblichkeit und Mutterschaft,Footnote 176 die nach marienikonischer Logik keine ganze ist, solange sie ihr Kind nicht selbst nähren kann.

Abb. 2
figure 2

Polidoro da Lanciano: Heilige Familie mit der heiligen Magdalena und einem venezianischen Patrizier, um 1555, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden (© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Foto: Hans-Peter Klut)

Anregung für das mit dem Stillmotiv enggeführte Motiv der Füße mag wiederum das Tagespendant zu Correggios Heiliger Nacht in Dresden sein,Footnote 177Die Madonna des Hl. Hieronymus, das Madonna und Kind mit dem Hl. Hieronymus, der Maria Magdalena und einem die aufgeschlagene Bibel zur Lektüre darbietenden lachenden Engel zeigt.Footnote 178 Die gesamte strukturbildende Zweiteilung des Geschehens im Tal in das bewusst à part gelagerte intime Nachtstück bei idyllischem Mondschein und die Bildung einer neuen, erweiterten Familie am nächsten Morgen ließe sich auf dieses Gemälde-Doppel Correggios zurückführen. Auf dem auch als Der Tag bekannten Gemälde der Madonna des Hieronymus schmiegt sich die (wie alle anderen Figuren barfüßige) ›Sünderin‹ Maria Magdalena vom Boden her mit dem Kopf an den kleinen Körper des kindlichen Erlösers an (Abb. 3) und streichelt mit versonnenem Blick auf die ihr vom Engel gewiesene Bibelstelle Jesu Fuß, den sie nach Mt 26,7 und Lk 7,38 kurz vor dessen Kreuzigung unter Tränen küssen und mit kostbarem Öl salben wird. Zwischen gegenwärtiger physischer Berührung und Schriftlektüre in Aussicht auf das Erlösungsgeschehen verbinden sich mit dem Fußmotiv hier Sünde, karitative Liebe und Vergebung,Footnote 179 die bei Kleist, nach dem Furor von Eros, Rache und Vergeltung, erst zwischen den Eheleuten Fernando und Elvire wieder eine – ironisch gebrochene – Option sind.

Abb. 3
figure 3

Antonio da Correggio: Die Madonna des Hl. Hieronymus, zwischen 1525 und 1528, Galleria Nazionale di Parma (Public domain, via Wikimedia Commons)

VI. Riss und Schlag

Auf die rehabilitierende, renobilitierende Einladung Don Fernandos, der die Ausgestoßene feudal verbindlich als »Donna« (203) adressiert,Footnote 180 übernimmt Josephe die in dessen Familie vakante Position der Leben und Kraft spendenden symbolischen Mutter, indem sie Juan stillt und zudem symbolisch adoptiert, wenn sie den gegen seine Rückgabe protestierenden Säugling bei sich behält: Wie zuvor Jeronimo den eigenen Sohn »küßt[]« sie »ihn wieder still«. Es ist diese erotisch getönte »Würdigkeit und Anmut ihres Betragens« (211), die Don Fernando so gut gefällt, dass er Josephe als »seine Dame« (213) zur Kirche führen will wie in einem »›Hochzeitszug[]‹«,Footnote 181 der nun als zweiter Hinrichtungszug zu Mord bzw. Opfer führt.

Die vormals unfreiwillige Novizin vom »Karmeliter-Kloster unsrer lieben Frauen vom Berge« (189) kehrt so in den Schoß der Kirche zurück, deren mariologisch-christologische Fundamente ihre öffentliche Entbindung an Fronleichnam erschüttert hat. An keiner Stelle indiziert der Text für sie ein Bewusstsein von Schuld: Am Geschehen im Klostergarten ist sie grammatisch unbeteiligt, was die Option eines reinen Gewissens offenhält und ihre unbewusste der unbefleckten Empfängnis annähert;Footnote 182 durch das zerstörte Santiago schreitet sie in der prälapsarischen Sicherheit des Käthchen bei der Feuerprobe und der Selbstgewissheit der aus dem Vaterhaus verstoßenen, auf das eigene Muttersein zurückgeworfenen Marquise von O…; ihren möglicherweise noch lebenden Vater will sie (aktivisch-transitiv) »versöhnen« (209), nicht um Vergebung anflehen. Dabei speist sich ihre »Heilsgewißheit«Footnote 183 aus jener »Vergessenheit«, die Kleist selbst zur »Wollust« des katholischen Glaubens fehlt.Footnote 184

Dagegen erinnert Donna Elisabeth vieldeutig daran, »was für ein Unheil gestern in der Kirche vorgefallen sei« (211), und antizipiert damit die Mahnung des Chorherrn, der »Riß« (215) im Gemäuer des Doms – die eindrückliche Vergegenständlichung des lapsus im Klostergarten – werde nur der Anfang vom Ende gewesen sein. Mit (fatal fehlgehendem) psychologischem Kalkül nimmt Elvire zugleich eine Umwidmung des Gottesdienstes vor, die Josephe erst zu ihrer unbeirrbaren »Begeisterung« (211) treibt: Während die »feierliche Messe« nach der sich verbreitenden »Nachricht« bestimmt ist, »den Himmel um Verhütung ferneren Unglücks anzuflehen« (209), ihre Funktion mithin in der Abwendung akuter Not hat, stellt Elisabeth die Wiederholung »solche[r] Dankesfeste« bei »desto größerer Heiterkeit und Ruhe« der Gemüter in Aussicht. Josephe reißt diese Verheißung in die absolut gesetzte Gegenwart ihrer Empfindung hinein und drängt auf unmittelbaren Vollzug »eben jetzt« (211).Footnote 185 Hatte ihre kluge »Maßregel« (209) Jeronimo noch von dem geplanten Fußfall vor dem Vizekönig abhalten können, beharrt sie jetzt auf dem eigenen Kniefall in einer voll besetzten Kirche: Die wissende Jos-Eve ist zur unbewussten Maria regrediert, für die sich die Wunde des lapsus geschlossen hat.Footnote 186 Gespeist aus dem Wissen um das vergangene verbleibt die »Ahndung« (211) von künftigem »Unglück« (213) bei den beiden Frauen, die auch namentlich als Schwestern der postlapsarischen Eva ausgewiesen sind: bei Elisabeth und, nach Zwiesprache mit dieser, bei Elvire, die Josephes Absicht zunächst noch unterstützt und ihrerseits, von ihrer immobilen Position am Boden aus, Don Fernando beordert hat, »die Gesellschaft zu führen« (211).

Der von Kleist in allen ›Wendungen‹ szenisch minutiös ausgestaltete Abschied vor dem Zug in die Kirche ist erneut auch biblisch und ikonographisch anspielungsreich: Im Kontext der Sodom-Referenz, die der Chorherr für »das Sittenverderbnis« (215) der geschlagenen Stadt anführt, entsprechen Elisabeth und Elvire, mutterlose Töchter Don Pedros, den aus Sodom geflüchteten Töchtern Lots,Footnote 187 dessen (biblisch namenlose) Frau sich beim Rückblick (über die Schulter) zur zerstörten Stadt in eine Salzsäule verwandelt hat. Die Schulterverletzung des Vaters markiert die Fehlstelle der Mutter auch in diesem Familienverbund. Don Fernando aktualisiert die sprichwörtliche Bewegungsfigur von Lots Frau, wenn er, von Elisabeth gerufen, Halt macht, sich ›umkehrt‹ und ihrer ›harrt‹.Footnote 188 Als Mahnerinnen, nicht nach St. Jago zurückzukehren, übernehmen die beiden Schwestern zugleich das Amt der Engel (in der Ikonographie sind es jeweils zwei), welche die noch Zögernden in der biblischen Lot-Episode zur Eile antreiben und bei der Hand aus der Stadt führen (Gen 19,15).Footnote 189 Josephe, die Elisabeths ›Raunen‹ auf Abstand gar »nicht hören« kann (213), bleibt für diese Mahnungen taub; hatte sie nach ihrer Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Überlebenden nicht mehr gewusst, »was sie von der Vergangenheit denken sollte[]« (205), so traumwandelt sie nun als durch die Hölle gegangene ›Selige‹, die nicht (mehr) wissen will.

Ihrem Begehren nach absoluter, göttlicher Gegenwart arbeitet die Szenographie in der Dominikanerkirche zu, wenn die musikalische Prachtentfaltung der Orgel die »unermeßliche Menschenmenge« zu einer ›Woge‹ zusammenfasst, in den Gemälderahmen anstelle der gemalten die Leiber echter Knaben ›hängen‹Footnote 190 und die Fensterrose »wie die Abendsonne selbst« aufscheint.Footnote 191 In diesem ontosemiologischen Theater, das die mit »Inbrunst« (213) aufgeladenen Zeichen zu den Körpern umschmilzt,Footnote 192 vollführt die Predigt vom drohenden Weltgericht dieses bereits selbst, indem sie Gut und Böse voneinander scheidetFootnote 193 und mit dem Fluch über die »Seelen der Täter«, »wörtlich genannt«, ein nunmehr zweifaches Todesurteil ausspricht, das schon als gesprochenes »wie dem Dolche gleich« in die »Herzen« (215) der Genannten fährt, mithin auf Realisation im Fleisch drängt. Den Bannspruch pariert der Mob prompt mit einem physischen Bannkreis um die Entdeckten, die als »gottlose[] Menschen« (215) zum apokalyptischen Agon gegen den Antichrist anstacheln. Dass diese dabei aber in irritierender Dopplung (und unerkannter Kreuzung) auftreten, lässt eine Sistierung ihrer im Wortgefecht flottierenden Namen an den zweideutigen Körpern nur mit Keulenschlägen zu.

VII. Massaker und Opfer

Vollstrecker des Urteils, das dieselbe Eindeutigkeit ersehnt wie Josephe selbst, ist der Schuhflicker. Anders als in Shakespeares Römertragödie trägt er bei Kleist die archaische Keule, nicht die Ahle, um totzuschlagen, nicht um zu flicken, was gerissen sein mag. Dem apokalyptischen Drachen gleich, der in der Vision des Johannes am Himmel neben der gebärenden Frau erscheint und vom Erzengel Michael überwältigt wird (Offb 12, 7–9),Footnote 194 inkarniert Pedrillo als Führer einer »satanischen Rotte« (221) einen jener »Fürsten der Hölle« (215), denen die Verwünschungen des Chorherrn die Sittenfrevler namentlich überantworten. Unerwartet schwingt er sich damit zu dem Gegenspieler auf, an dessen Widerstand der zunächst verlegene Don Fernando seinerseits »Römergröße« (207) gewinnt.Footnote 195

Den vermeintlich »göttliche[n] Held[en]« (221) setzt Kleist nach dem Vorbild des mythischen Herakles bzw. Herkules in Szene, und zwar schon vor dem Kampf in der Auseinandersetzung mit der ›zischelnden‹ Elisabeth, die, als Schlange post festum, im vollen Bewusstsein des Falls, zur Vorsicht mahnt, worauf Fernando mit unwilliger, nicht wissen wollender »Röte« (213) reagiert. Die szenische Konfiguration zitiert das ikonographisch prominente Motiv von Herkules am Scheideweg zwischen Genuss verheißender Lasterhaftigkeit und wehrhafter, entbehrungsreicher Tugend, wie es etwa 1779 Johann Heinrich Tischbein gestaltet hat (Abb. 4). Entgegen dem Augenschein – die ›anmutige‹ Josephe am Arm, die ›beschädigte‹ Elvire zurückgelassen, die aufgeregte Elisabeth als deren Sprachrohr am Ohr – wird Fernando, deren Warnungen in den Wind schlagend, am Ende den schwierigeren Weg gewählt, das eigene Kind verloren, ein fremdes mitgebracht und rechte Not haben, sich vor seiner Gattin zu erklären.

Abb. 4
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Johann Heinrich Tischbein: Herkules am Scheideweg, 1779, Deutsches Historisches Museum Berlin (Public domain, via Wikimedia Commons)

Der marianischen Josephe tritt mit der Herakles- eine zweite, männliche Grenzfigur zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre an die Seite, die in christianisierter Form auch Aufnahme in die Fronleichnamsspiele der spanischsprachigen Welt, die autos sacramentales, fand. Kleist hat den Heros im Amphitryon-Drama selbst einer »verfremdeten Christologie«Footnote 196 unterworfen, insofern Jupiter der Alkmene dort höchstselbst verkündigt: »Es sei. Dir wird ein Sohn geboren werden, / Dess’ Name Herkules […].«Footnote 197 Im Finale der Chili-Novelle spaltet Kleist die Herkules-Figur im Zweikampf buchstäblich auf: Nach seiner Entscheidung für den verlustreichen Weg trifft der aristokratische Held Don Fernando auf den mit der Herkuleskeule bewaffneten bürgerlichen Meister Pedrillo, der die Arena als eigentlicher Hercules invictus verlässt, nachdem er die gefallene Adelstochter eigenhändig erschlagen hat. Der Schuhflicker ermächtigt sich damit zum grotesk unheiligen Stellvertreter des Petrus,Footnote 198 der in Dantes Paradiesesvision im 32. Gesang der Göttlichen Komödie die »Schlüssel« zum paradiesischen »Garten« jener »Rose« in der Hand hält, welche Maria selbst ist.Footnote 199 Während die Herkulesfigur im revolutionären Europa nach 1789 auch die auf das Volk übergegangene Gewalt symbolisiert,Footnote 200 macht Pedrillo sich im unerfüllten sexuellen Begehren Josephes und im mimetischen Begehren ihm vorbehaltener Privilegien zum ausführenden Komplizen der klerikalen Macht und gefährdet damit die staatliche.Footnote 201 Mit dem Totschlag Josephes und des von ihr gestillten Kindes subvertiert Kleist nun auch gezielt die Passionsgeschichte, deren historische Konstellation ihrerseits durch die Besatzung der Römer und den Machtanspruch des jüdischen Klientelkönigs Herodes geprägt ist. Der von diesem befohlene Kindermord in Bethlehem (Mt 2,16–18), ein kunsthistorisch reich tradiertes Bildthema, ist Modell der brutalen Ermordung Juans.

Kleists virtuoses Spiel mit dem biblischen Hypotext zeigt sich um einige Verwicklungen komplexer, wenn man den kolonialspanischen Schauplatz der Novelle berücksichtigt: Unter Führung Pedrillos richtet sich die potenziell revolutionäre Anmaßung des Mobs hier gegen einen Repräsentanten der spanischen Kolonialmacht, den selbsternannten »Sohn des Commendanten der Stadt« (215), der seine aristokratische »Gesellschaft« (219) – als Kindsvater von »Donna Josephe[s]« (203) Sohn ist auch Jeronimo in diese aufgenommen und als Begleiter Donna Constanzes statthaft – vergeblich zu schützen versucht. Der einzige, durch seinen Degen ausgewiesene Vertreter der militärischen Macht, der Marineoffizier Don Alonzo Onoreja, dem Don Fernando mit der Aufforderung zur Sicherheitsverwahrung seiner bedrängten Begleiter Polizeigewalt überträgt,Footnote 202 reagiert derweil auf Pedrillos Gewissensfrage nach Josephes Identität mit ›Zaudern‹ (vgl. 219) und glänzt während des Gemetzels durch Abwesenheit.Footnote 203 Der Lynchmord aber wächst sich nicht zum Aufstand aus, weil der vom Chorherrn vorgegebene moralisch-theologische Deutungsrahmen nicht durchbrochen wird. Vielmehr kann sich Pedrillo durchaus als Racheengel in göttlicher Mission gerieren, dessen Keule der renitenten Sünderin die Irreversibilität ihres Falls zu verstehen gibt und darin durchaus der »Kleist’schen aller Blankwaffen«,Footnote 204 dem Flammenschwert des Cherubs am versperrten Vordereingang des Paradieses, entspricht.Footnote 205

Die brutale Ermordung ihren Eltern entrissener Kinder war nun aber auch eine berüchtigte Gräueltat der Konquistadoren, die für die Leidtragenden deren Menschlichkeit und deren Gott grundsätzlich in Zweifel zog: Der Mord an Juan entspricht genau der Ikonographie nicht nur des biblischen bethlehemitischen, sondern auch jener Kindermorde, welche die berühmte Anklageschrift des spanischen Dominikanermönchs Bartolomé de Las Casas über die Schandtaten der Eroberer bezeugt und die als Illustrationen beigegebenen Stiche Theodor de Brys – in der Bildtradition der Passion Christi – zu einem einzigen Theater der Grausamkeit entfalten (Abb. 5).Footnote 206 Nach Las Casas’ Bericht an den spanischen Kronprinzen Philipp, den Sohn Karls V.,Footnote 207 »rissen« die »Hispanier« neugeborene Kinder »von irer Mutter Brüsten« und »schmissen sie wider die Felsen / dass das Hirn daran kleben blieb«, als wären sie »ein Werckzeug des Zorns Gottes«;Footnote 208 tatsächlich aber hätten diese »Teuffel in Menschen Gestallt« sich »unmitleidlicher und grawsamer« geriert »als die wilden Tigerthier / oder reissende Löwen und Wölfe«.Footnote 209 Die ersten Übersetzungen von Las Casas’ Anklageschrift fallen Ende des 16. Jahrhunderts in die Hochphase intermedial und interkonfessional einflussreicher Darstellungen des bethlehemitischen Kindermords in der Malerei der Niederlande unter spanischer Fremdherrschaft.Footnote 210 Dem barocken Panoptikum drastischer Gewaltszenen in Giambattista Marinos Kindermord-Epos Le strage degli innocenti von 1633 und dessen deutscher Übersetzung durch Barthold Heinrich Brockes von 1715 – sicherlich eine maßgebliche Anregung für Kleists Poetik der Gewalt – gehen sie damit noch voraus.Footnote 211

Abb. 5
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Theodor de Bry: Illustration aus Bartolomé de Las Casas: Warhafftiger und gründlicher Bericht/ Der Hispanier grewlich: und abschewlichen Tyranney von ihnen in den West Indien/ die newe Welt genant/ begangen. […] Oppenheim 1613, 21 (Public domain, via Wikimedia Commons)

Darf Kleist nicht nur Kenntnis der südamerikanischen Kolonialgeschichte, sondern auch der bei Las Casas/De Bry auch ikonographisch wirkmächtig verfochtenen neuzeitlichen Kolonialismuskritik unterstellt werden, so lässt sich konstatieren, dass die Novelle deren moralische Wertungen gezielt unterläuft. Dieselbe Rhetorik fanatischer, dehumanisierender Grausamkeit, mit der Las Casas die Untaten der Eroberer anprangert, findet sich bei Kleist für den Mob der Beherrschten: Ihre Lynchmörder, die sie »heiliger Ruchlosigkeit voll« (215) an den Haaren niedergerissen haben, apostrophiert Josephe, bevor sie sich unter sie stürzt, als »blutdürstende[] Tiger« (219), während Don Fernando wie ein »Löwe« gegen Pedrillo kämpft und dessen Kombattanten als »Bluthunde« (221) tötet.Footnote 212 In Gestalt des Predigers treten die Dominikaner, profilierte historische Kritiker der Conquista (und der Vergöttlichung Mariens), bei Kleist als Anstachler der Morde auf, um die Schändung des Klostergartens und des Leibs Christi zu rächen. Priesen die Kirchenväter die kindlichen Märtyrer von Bethlehem selig, weil sie stellvertretend für Jesus ihr Leben ließen,Footnote 213 so stirbt Kleists Juan, benannt nach dem Vorläufer und Täufer Christi, anstelle des anderen messianischen Kindes, das den Namen des historischen Adressaten von Las Casas’ Anklageschrift trägt: den Namen jenes »span’schen Philipp«, der auf dem weggeschlagenen Teil von Frau Marthes zerbrochenem Krug die »niederländischen Provinzen« empfängt,Footnote 214 in Schillers Dom Karlos den eigenen Sohn der Inquisition überantwortet und im 16. Jahrhundert das spanische Kolonialreich seiner größten globalen Expansion zuführte (und dabei auch den südostasiatischen Philippinen seinen Namen verlieh).

Die gefasste Stille, die dem Kindsmord auf Täterseite folgt, legt weniger das Erschrecken über einen verübten Tabubruch nahe als vielmehr ein rituell erprobtes Verhalten. Das Massaker, das sich zu einem grundstürzenden Aufstand der Beherrschten gegen Adel und Klerus hätte auswachsen können, mündet in einen ultimativen Gewaltakt, der die Gemeinschaft als ein Opfer im Sinne GirardsFootnote 215 wieder befriedet: »Hierauf ward es still, und Alles entfernte sich.« (221)Footnote 216 Kleist unterstreicht die rituelle Anmutung des Mords – welches und wessen Kind hier getötet worden ist, spielt für die Täter keine Rolle mehr – noch durch dessen Situierung an der liturgischen Stelle des eucharistischen Messopfers: nach der PredigtFootnote 217 und erneut auf dem Vorplatz einer Kirche, wo zuvor, an Corpus Christi, das andere Kind geboren worden war. Die Milchbrüder tauschen damit abermals ihre Positionen: Eine Imitatio Christi als unschuldiges Opfer fällt dem Kind mit dem biblischen Namen Juan/JohannesFootnote 218 zu, während jenes mit dem spanischen Königsnamen Philipp/Felipe nunmehr als dessen Stellvertreter überlebt.

VIII. Name, Herrschaft, Mord

Während Kleists subversive Arbeit am biblischen Hypotext wie an der kolonialspanischen Ideologie vorzüglich im auktorialen Spiel der literarischen Onomastik markant wird, erodiert das Prinzip der nominellen Beglaubigung auf der Ebene der histoire. So zeigt sich das anarchistische Sprengpotenzial der sozialen Entdifferenzierung nach dem ErdbebenFootnote 219 schon in der extremen Verlegenheit, in die Don Fernandos Legitimierungsversuche im Namen des Vaters geraten, nachdem die Choreographie des geordneten Rückzugs aus der Kirche durch Performanz dessen zu überzeugen versucht hat, was offensichtlich schon untergraben ist:Footnote 220 »›[I]ch bin Don Fernando Ormez, Sohn des Commendanten der Stadt, den ihr alle kennt.‹« (215) Während alle Männer Josephe zu kennen scheinen wie sonst nur die andere von allen in Anspruch genommene Frau, die Madonna, erzielt Fernando in seiner Berufung auf den Vater kein Echo.Footnote 221

Die Reklamation von Autorität und Legitimität in einem – hier fehlgehenden – Sprechakt hat ein berüchtigtes ›Pendant‹Footnote 222 in der spanischen Kolonialgeschichte Amerikas, welches die politische Brisanz der Situation auch bei Kleist schärfer zu konturieren erlaubt: Jeweils bei Erstkontakt mit der autochthonen Bevölkerung verlautbarten die eingeschifften kastilischen Truppen den Herrschaftsanspruch der spanischen Krone über das dieser vom Stuhl Petri zugebilligte fremde Land. Den des Spanischen und Lateinischen unkundigen Einwohnern wurde ein Requerimiento (dt. ›Aufforderung‹, ›Mahnung‹) genanntes Dokument verlesen, das sie – in der meistgebrauchten, von 1513 datierenden Version des Kronjuristen am Hof des kastilischen Königs Fernando (mit dem Beinamen El Católico), der für seine Tochter Juana la Loca (›Johanna die Wahnsinnige‹) die Regierungsgeschäfte führte – aufforderte, die Oberherrschaft des Papstes und der kastilischen Könige anzuerkennen und die christliche Religion anzunehmen. Im Falle der Ablehnung dieses ›Friedensangebots‹ war ein ›gerechter Krieg‹, de facto der »Völkermord«, legitimiert.Footnote 223 1493 durch päpstliche Bullen abgesegnet, von Las Casas heftig kritisiert, war dieser pseudo-legitimatorische AktFootnote 224 ein Kernmoment in jenem kolonialen »Komplex« von »Macht, Recht und christlicher Verkündigung«,Footnote 225 den Kleist in der kolonialen Toponymie Chiles subversiv aufgreift.

Ein Indiz für Kleists mögliche Anspielung auf das juristisch fadenscheinige Requerimiento mag der Name sein, den sein Fernando (seinerseits Vater eines Juan) mit dem federführenden kastilischen König teilt – ein weiterer ›verkörperter‹ Name in der Novelle, die ihre biblischen und historischen Referenzen in signifikanten Verschiebungen und Verkehrungen vorführt, um grundlegende Handlungs- und Denkmuster bloßzulegen. Don Fernandos Sprechakt zur Reklamation von Autorität im Andrang des Mobs scheitert nicht am Sprachverständnis, sondern an der Evidenz des Augenscheins und der unbeirrbaren Ein-Deutigkeit der verbalen Deixis. Auf den Diminutiv degradiert, trägt sein Gegenspieler nun gerade den Namen dessen, der zum Zweck der weltweiten Christianisierung koloniale Herrschaft legitimiert. Pedrillo kehrt die von Fernando unter Berufung auf seinen Vater, einen kolonialen Militär, vorgebrachte Machtanmaßung prompt gegen den Sprecher selbst, indem er ihn seinerseits ins Verhör nimmtFootnote 226 und die Wahrheitsfrage von der legitimatorischen Instanz des Vaters auf die des Sohnes verschiebt, der sich für das Kind der Frau an seiner Seite zu rechtfertigen hat: »Don Fernando Ormez? […] Wer ist der Vater zu diesem Kinde?« (215–7)Footnote 227

In Gang gesetzt von Momenten verlegenen und angsterfüllten Zögerns auf Seiten der Beschuldigten legen die in der Folge sich überstürzenden Zuschreibungen um die fixe, für ausgemacht geltende Position der Mutter herum auch die Positionen von Vater und Kind fest, ohne dabei die volle Wahrheit jener furchtsamen Bewegung des »kleine[n] Juan […] von Josephens Brust [!] weg« seinem Vater »in die Arme« (217) zu ermessen. Subversiv umspielt dieses öffentliche Verhör den römischen Rechtsgrundsatz von der Gewissheit der Mutterschaft gegenüber der ungewissen, kulturell erst festzuschreibenden Vaterschaft, der gerade dem Schutz des Kindes vor nachteiligen Zeugenaussagen der Eltern diente.Footnote 228 Eben diesen Schutz aber hebelt in der Folge, nachdem Jeronimo sich gestellt hat, die Gegenfigur zu dem verlegenen Fernando aus: Während der herrschaftliche Name von dessen Vater schon nicht mehr trumpft, um kritische Nachfragen nach dem Kind seiner Gefährtin abzuwiegeln, genügt im Furor der bewegten Masse »eine« – wohlgemerkt anonyme – »Stimme« (219), die unbeglaubigt die eigene Vaterschaft an dem als ›junger Spanier‹ eingeführten Jeronimo Rugera behauptet, um ihn in unmittelbarer Folge des Sprechakts, in performativer Einheit von verbaler Identifikation und Mord, mit postulierter patria potestas eigenhändig zu erschlagenFootnote 229 – Subjekt dieses Akts ist in Kleists komplexer Hypotaxe in der Tat »eine Stimme«, wie eingangs auch »Zungen« über das Kloster ›herfallen‹ (191).

Die (vermeintliche) Selbstoffenbarung eines Vaters zur Tötung seines (vorgeblichen) Sohnes verkehrt jene himmlische Stimme, welche bei Jesu Taufe im Jordan vom Himmel her spricht: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich wohlgefallen habe« (Mk 1,11)Footnote 230 und damit die Göttlichkeit des Menschensohnes in inkarnationschristologischer Sicht beglaubigt, in adoptionistischer Sicht – gegen die mariologische Lehre der Gottesgebärerin – erst herstellt.Footnote 231 Revidiert ist zugleich der im zweiten Psalm zitierte göttliche Sprechakt, der die eigene Zeugung des Sohnes aufruft und dessen brutale Gewalt gegen die Feinde beschwört, die Kleist mit dem Vaterwort gegen den Sohn selbst kehrt: »[…] Du bist mein sohn, heute habe ich dich gezeuget. / Heische von mir, so wil ich dir die heyden zum erbe geben, und der welt ende zum eigenthum. / Du solt sie mit einem eisern scepter zerschlagen, wie töpffen solt du sie zerschmeissen.« (Ps 2,7–9) Mit den verkehrten Gottesworten an den Sohn aber werden in den vorgeführten kommunikativen Aushandlungsprozessen von Herrschaft und Autorität die patriarchale Ordnung und ihre »patronyme[] Gewalt«Footnote 232 insgesamt willkürlich und prekär.

IX. Mimetische Liebe

Nach dem Totschlag des Kindsvaters und ihres Doubles ConstanzeFootnote 233 wird die echte ›Sünderin‹ Josephe zum Zielobjekt einer multiplen Ersatzhandlung, welche die eigene soziale Unterwerfung des Täters durch misogyne Gewalt, die eigene Triebfrustration in der sozial hierarchisierten sexuellen Konkurrenz durch »Mordlust« (221) kompensiert. Im Sinne des alttestamentlichen Sündenbockrituals stellt die straflose Tötung der schon zum Tode Verurteilten und ihres illegitimen Kindes just jene (durch dessen Zeugung gestörte) gesellschaftliche Ordnung wieder her, welche den ausführenden Handlanger der Oberen selbst eminent benachteiligt. In dem von der Predigt vorgegebenen Sinn des Jüngsten Gerichts und seines agonalen Erlösungsgeschehens versteht sich der Totschläger, nach der mahnenden Unterscheidung von Shakespeares Brutus, noch in seiner Rage als »Opferer«, »nicht Schlächter«, »Reiniger, nicht Mörder«.Footnote 234 Als verschobene Vaterfigur – wie alle übrigen Strafinstanzen scheint Josephes leiblicher Vater Don Henrico Asteron dem Erdbeben zum Opfer gefallen zu sein, wie die Hölle selbst »kocht[]« der an die Stelle des »väterliche[n] Haus[es]« getretene See »rötliche Dämpfe aus« (199) – verübt Pedrillo in der Tötung zugleich »die brutalste sexuelle Herrschaft über seine Tochter«.Footnote 235

Das mütterliche Gegenprinzip zur Gewalt der Väter behauptet sich, abgründig ironisch, in einer Mimesis der karitativen Liebe nach dem Vorbild Josephes, deren gute Gabe erst zur Ermordung Juans geführt hat. Bevor sie sich unter die Lynchmörder »stürzt[]« (219) und das leitmotivische Stürzen damit zuletzt zum intentionalen Akt macht, stiftet Josephe eine neue heilige, da nicht-biologische Familie, indem sie ihre Mutterschaft verleugnet und beide Kinder, um sie zu retten, an Don Fernando delegiert.Footnote 236 Ist ihre nur bedingt »freiwillig[e]« (219) Kapitulation ein Selbstopfer zur Verhinderung weiteren Blutvergießens,Footnote 237 so folgt sie mehr noch in dieser Familienzusammenführung Christus, der sterbend am Kreuz seine Mutter der Fürsorge des geliebten Jüngers Johannes überantwortet hat.Footnote 238 Don Fernando, der mit beiden Kindern vor der Brust weiterkämpft wie die Mütter auf den Bildern des bethlehemitischen und des kolonialspanischen Kindermords, folgt seinerseits Josephes Beispiel und nimmt, wie sie zuvor den seinen, nach dessen Verlust ihren Sohn zum Kinde an; in gut aufklärerischer Überwindung des »Zufall[s] der Geburt« durch eigenes VerdienstFootnote 239 wie auch im Sinn des Phantasmas autarker Vaterschaft will er ihn sich mit herkulischem Heldenmut »erworben« (221) haben.Footnote 240

Diesseits messianischer Heilsanmutung liegt die Zukunft von Katastrophe und Massaker damit in einer traumatisierten Adoptivfamilie, die sich, wie die Menschheitsfamilie in Kleists Valparaíso, über empfindsame, stumm-verschwiegene Gesten konstituiert.Footnote 241 Dabei ent-deckt sich in der mimetischen Caritas Fernandos erneut ein erotisches Motiv, dasselbe, das ihn beim Zug in die Kirche zu dem Beharren auf ›seiner Dame‹ (mit der Folge der Preisgabe des eigenen Sohnes) bewegt hat: Am Ende verdankt sich das paradoxe Freudengebot im Konjunktiv Irrealis – »so war es ihm fast, als müßt er sich freuen« – Fernandos heimlicher genealogischer Phantasie, als der »göttliche Held« (221), der er im Kampf auch um Josephes Sohn war,Footnote 242 könne er zugleich auch der göttliche Gatte der sündig-marianischen Mutter geworden sein. Mit dem Eros, der Josephes Schicksal besiegelt, ist auch der Zyklus der mimetischen Gewalt – Der Findling erzählt davon – neu in Gang gesetzt.