I.

Gabe und Gunst barock. Einleitung

»Ew. Königl. Majestät lege ich diese Blätter in tiefster Unterthänigkeit zu Füssen.«Footnote 1 Die ›Blätter‹ sind die Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst von 1755. Der Verfasser Johann Joachim Winckelmann macht eine große Verbeugung und verehrt dem gekrönten Haupt seine Schrift. Dabei überreicht er nicht nur ein einzelnes, gedrucktes Exemplar, sondern macht den Text selbst zum Geschenk. Widmung und ZueignungFootnote 2 vollbringen eine derartige Transformation. Sie sind der Schriftakt des Schenkens. Zwischen Verfasser und Adressaten stellen sie eine komplexe soziale Beziehung her, in der mit dem Theoretiker der Gabe Marcel Mauss gesprochen Gaben Symbole und Symbole Gaben sind.

Winckelmann dediziert seinen »Versuch in den Künsten« August III.: »Dem/ Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten/ Fürsten und Herrn/ Herrn/ FRIDERICH AUGUSTO, /Könige in Pohlen etc. Churfürsten/ zu Sachsen etc.« Der Widmungsbrief mit Anrede, Text und Unterschrift ist nicht ganz kurz und macht das soziale Gefälle zwischen Geber und Empfänger auch typografisch augenscheinlich. Ausdrücklich zieht der Verfasser Parallelen zur Antike und ihrer Kunstblüte, die nun wiedererstehe; der Adressat sei damals immer der römische Kaiser Augustus gewesen, als Beschützer der Künste sei der Angesprochene der Erbe dieses eminenten antiken Herrschers (wobei sich dies auch auf den Vorgänger des Adressaten, August den Starken, beziehen kann). Der Verehrte gilt in jedem Fall als der »erleuchtetste Kenner und der höchste Richter«, dessen »weiseste[r] Entscheidung« die Abhandlung »zuerst unterworfen werden« muss. Die Bitte um Kritik geht in den frühesten Beispielen antiker Dedikationspraxis mit der Widmung einher.Footnote 3 Kritik sollte für eine gelehrte Arbeit selbstverständlich sein, denn eine solche hat sich dem Urteil der Öffentlichkeit zu stellen, aber diese besteht hier – zumindest ›zuerst‹ – aus einem singulären obersten Richter. Den Blick der anderen vertritt – was bestenfalls ein Echo spätantiker asymmetrischer Verhältnisse zwischen Widmungsgeber und -adressat sein kann – der Fürst. Dieser befindet darüber, ob die seinem »geheiligten Nahmen« geweihte Schrift »der Nachwelt würdig« sei. Sein Urteil bestimmt den Status des Buches auf der Ebene kulturellen Wertes, seine schriftstellerische Legitimität, und damit einen möglichen zweiten Schritt, wie es ggf. in Druck geht und welchen Status es dann in einer weiteren lesenden Öffentlichkeit haben kann. Der Verfasser selbst spricht sich die Fähigkeit zu einem derartigen Urteil ab; seine Kräfte seien dafür zu gering, und er fragt rhetorisch: »[W]as kann der Majestät gebracht werden, so groß und so erhaben es immer ist, was nicht klein und niedrig erscheinet in Vergleichung mit der Höhe derselben.«Footnote 4 Die Gedancken werden als ehrendes Geschenk einer Person stilisiert, die an die Ebene des Verehrten nicht heranreicht. Die Gabe kann – so will es die fingierte räumliche Situation – nicht von Hand zu Hand überreicht, sondern nur zu Füßen des Angesprochenen niedergelegt werden. Das Modell einer derartigen Reverenz und steilen Hierarchie wird Winckelmann an anderer, prominenter Stelle erneut aufrufen.Footnote 5

Neben dem König gibt es noch einen zweiten, imaginären Empfänger: Der Autor bringt eine Gabe dar, und »zugleych ein Opfer für den Schutz-Gott des Reichs der Künste, dessen Grenzen [er] zu betreten gewaget habe«. Der rhetorischen Stilisierung nach hat der Verfasser einen Akt der Hybris begangen. Er ist in einen verbotenen Bezirk eingedrungen, an einen geheiligten Ort, hat diesen mit seiner Gegenwart verunreinigt und muss nun eine Art Entschädigung leisten; er muss ein Opfer vollziehen, um sein Verschulden auszugleichen und den beleidigten Gott zu versöhnen. Aufgerufen ist damit – freilich in topischer Verkürzung und Vagheit – das Muster eines archaischen Entsühnungsrituals. Auch das beruht auf einer bestimmten Art Gaben.Footnote 6 Prinzipiell ist die Widmung eines Buches an eine Person ein Analogon zum Ritual, einen Tempel einer Gottheit zu weihen.Footnote 7 Der vom Profanen streng geschiedene Bezirk, das temenon, ist hier das von der dargebrachten Schrift metonymisch vertretene ›Reich der Künste‹; die zweifache Rede von einem Opfer verleiht jener Parallele zwischen Sakralraum und Buch eine dramatische Note.

Da die Gabe selbst gering sei, behauptet der Geber in kühner Verallgemeinerung zeitgenössischer Moralvorstellungen: »Opfer sind allezeit weniger durch sich selbst, als durch reine Absicht derselben gefällig gewesen«.Footnote 8 Mit der beschworenen Welt griechischer Religion hat dies freilich wenig zu tun. Es entspricht eher einem Innerlichkeitspostulat des 18. Jahrhunderts oder bestenfalls, wenn es denn antik sein soll, der römischen Kaiserzeit, die das Schenken nur als einseitige Prunkgabe kennt. Unter einem Kaiser Nero sah sich Seneca daher genötigt, das beneficium von diesen Praktiken zu unterscheiden, indem er den Wert der Gabe in die Reinheit der Intention verlegte.Footnote 9

Die bombastische Verehrungsrhetorik des Widmungsbriefes setzt sich fort bis in die Unterschrift; der Verfasser unterzeichnet mit einer Reprise der Eingangsformulierung als »allerunterthänigst gehorsamster/ Knecht,/ Winckelmann«.Footnote 10

Das alles entspricht der seinerzeit üblichen (oder zumindest noch immer anzutreffenden) Bescheidenheitstopik.Footnote 11 Der Gelehrte bedarf der Patronage; er rühmt seinen Herrn, um dessen Gunst zu erwerben oder sie sich zu erhalten. Noch ist Wissen keine Lebensgrundlage, und Schriftstellerei kein Beruf. Bücher richten sich noch nicht an einen Markt anonymer Käufer und Leser. Sie brauchen Förderung durch höheres Wohlwollen und nicht zuletzt aus Gründen der Zensur eine schützende Hand. Sogenannte ›freie‹ Autorschaft ist aber auch noch nicht einmal das erstrebte Ziel der Schreibenden; ihre Arbeit bedarf vielmehr noch im hohen Maße der kulturellen Legitimierung durch die Integration in die gesellschaftliche Elite.Footnote 12 Winckelmanns äußerst devot wirkende Zueignung dient aber neben dieser generellen Absicherung seines Unternehmens auch ganz konkreten Zielen. Er empfiehlt sich mit der Schrift als Antikenkenner und zugleich als »ideale[r] Anwärter auf eine Position am Dresdner Hof«.Footnote 13 Er erhofft sich Ansehen, aber ebenso Geld und Anstellung; beides greift ineinander. Zu seinem Zweck verfolgt er diverse Strategien, und sie haben Erfolg: Am Pfingstsonntag, dem 18. Mai 1755, überreicht er dem König die Gedancken, genauer gesagt, ein Exemplar, und vermutlich ein besonderes, der kleinen Auflage.Footnote 14 Im Gegenzug erhält er eine Pension von jährlich zweihundert Reichstalern; sie unterstützt seinen Aufenthalt in Italien, der zunächst zwei Jahre dauern soll, ist aber auch mit einer Perspektive in Dresden für die Zeit danach verbunden.Footnote 15 Die Pension gewährt ihm offiziell August III., bewilligt aber wird sie durch dessen Sohn, den Kurprinzen Friedrich Christian. Dieser Vertreter der jüngeren Generation ist es, auf den Winckelmann längerfristig setzt; an ihn wendet er sich implizit mit seiner Widmung.Footnote 16 Die Gabe hat also zwei reale (und, wie erwähnt, einen imaginären) Empfänger. Das allzu barock Erscheinende mag dabei auf den Vater gemünzt sein, das Antikisierende dagegen auf den künftigen Regenten mit seinen ›moderneren‹ Interessen.

Dem Dedikationstext geht eine Vignette voran (siehe Abb. 1): Laut Winckelmanns eigener Erklärung zeigt sie den »Perser Sinetas, der seinen [sic] König, welcher vor seiner Hütte vorbeyzog, eine Handvoll Waßer brachte, weil er sonst nichts hatte. Niemand aber durfte wie bekannt ist, vor den Augen des Persischen Königs mit leerer Hand erscheinen.«Footnote 17 Der betagt wirkende Sinetas auf Adam Friedrich Oesers Stich ist kaum bekleidet, seine Hütte steht in freier Natur; weder Aufmachung noch Ort eignen sich für die Begegnung mit einer Majestät. Der bärtige Mann neigt im Gehen den Kopf, er blickt demütig von unten auf zu dem unsichtbaren Besucher, als säße dieser erhöht, vielleicht auf einem Pferd. Währenddessen hat er Mühe, von dem seinen Händen entrinnenden Wasser wenigstens ein paar Tropfen zu behalten. Dürftiger geht es nicht. Sinetas bringt die bescheidenste Gabe und bittet noch untertänig um ihre Annahme.

Abb. 1
figure 1

Widmungsvignette aus Gedancken über die Nachahmung, aus Martin Disselkamp, Fausto Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, 128. Wenn nicht anders angegeben, liegen alle Bildrechte bei den Verlagen, Bibliotheken und/oder Autor*innen

Das Motiv wirkt einigermaßen gesucht, es bedarf auch der Erläuterung durch den Autor. Zwar sieht man der Gestalt ihre bescheidenen Lebensumstände an, aber in gewissem Sinn invertiert sie auch ähnliche Gesten: In der bildenden Kunst tragen Arme in der Regel zerlumpte Kleider, die seinen sind offenbar intakt. Bettler halten die hohle Hand hin und blicken bittend auf, um ein Almosen zu bekommen; er macht die gleiche Gebärde, die gleiche Miene, doch um seinerseits etwas zu geben. Üblicherweise schenken die Reichen, und allemal die Könige. Ihre Geste ist dabei traditionell die des üppigen Ausstreuens; sie agieren so generös, dass sie weder auf die einzelnen Geschenke noch auf den einzelnen Empfänger achten. Die spendenfreudige Hand wirft einfach eine Fülle ins Unbestimmte; die Bewegung der sparsio ist exzessiv und transgressiv; Richtung, Menge und Ziel unterliegen keiner Kontrolle. Und eine Menge prügelt sich wild um die herabfallenden Segnungen.Footnote 18 Geben wie Empfangen haben hier tumultuarischen Charakter. Ein einzelner Bettler erhält dagegen seine abgezählte Gabe; in der Regel ist sie so klein, dass sie in der Kuhle der Hand verschwindet.

In Sinetas begegnet das seltene Komplement zu diesen bekannten Szenen: Ein Armer bettelt nicht um eine Gabe, sondern gibt selbst eine, und er gibt sie nicht einmal an seinesgleichen, sondern an den König, der ihrer überhaupt nicht bedarf. Die Gabe hat hier tatsächlich nichts mit Bedürftigkeit zu tun; sie ist nichts als ein Symbol des Verhältnisses zwischen den beiden Akteuren. Sinetas demonstriert damit seine absolute Unterwerfung. Denn er erfüllt eine zeremonielle Forderung, die er, mittellos, wie er ist, eigentlich gar nicht erfüllen kann. Er hat buchstäblich nichts zu verschenken. Daher gibt er, was ihm gar nicht gehört, sondern die Natur ihm gibt oder als Natur einfach gegeben ist. Und der König erhält etwas, was er auch seinerseits nicht besitzen kann. Er kann es noch nicht einmal in Empfang nehmen, denn das Wasser rinnt dem Geber aus den Händen, und wenn es endlich überreicht ist, dürfte nichts mehr da sein. Es nimmt seinen eigenen Weg. Auch zwei zusammengepresste Hände vermögen es nicht zu halten, sein Laufen und Tropfen ist die unbeherrschbare Bewegung der Natur. Diese lässt sich nicht als Gabe darbringen. Insofern misslingt der Akt des Schenkens hier. Doch daran zeigt sich der rein symbolische Charakter dieses Tuns: Eine Geste wird vollzogen. Sie bekräftigt die unbedingte Verehrung der einen Seite und die ebenso unbedingte Macht der anderen. Für das unmögliche Geschenk muss der gute Wille zu schenken eintreten.

So stilisiert Winckelmann seine Buchgabe; »die reine Absicht« sei das Entscheidende. Sinetas verkörpert die Reinheit des Herzens, im Verhältnis zu der die Größe und der materielle Wert des Gegebenen nichts gelten. Eine derartige Reinheit eignet der Natur, in der er wohnt – der König mit prunkvollem Ornat wäre in dieser Umgebung ein Fremdkörper, weshalb er auf dem Stich auch nicht zu sehen ist. Vor allem aber ist sie Eigenschaft des Wassers. Dieses hat in Winckelmanns Bildreservoir entscheidende Funktionen. Die Widmungsvignette verweist auf den Autor,Footnote 19 der als alter Sinetas dem König sein geringes Erzeugnis darbringt, aber auch auf ein wichtiges, multifunktionales Element der Gedancken, das sich über die Vignette hinaus in Winckelmanns Schriften behaupten wird.

In diesem ostentativ unzulänglichen Geben zeigt sich jedoch noch etwas Anderes: das Überzogene des Zeremoniells. Jeder wird die Regel, vor dem König dürfe niemand mit leeren Händen erscheinen, als unpassend empfinden. Offenbar ist hier das Klischee von der exzessiven ›orientalischen‹ Macht und ihren artifiziellen Ritualen im Spiel (sie lassen in dieser Zeit immer an die absolutistische französische Hofkultur denken). Nur ein Perserkönig verlangt so etwas,Footnote 20 ein griechischer nicht, es sei denn, er ist ein Tyrann, – und wahrscheinlich auch nicht ein römischer oder Dresdner Augustus. Zumindest wäre das zu wünschen. Bei aller Devotion mag hier auch das aufklärerische Motiv der Fürstenkritik anklingen.Footnote 21 Das Lob eines Herrschers in der Widmung hat oft auch auffordernden Charakter; es ist ein Spiegel, in dem der Fürst sieht, wie er sein sollte. Zumindest bietet die Vignette, die den Dedikationstext illustrieren und visuell bestätigen soll, in dieser Hinsicht eine gewisse Ambivalenz.

Ein Hinweis Winckelmanns auf eine andere, ebenfalls unorthodoxe ›Gabenszene‹ mag das noch deutlicher machen: In der bildenden Kunst erkennt man die Bitte um eine Gabe an der ausgereckten hohlen Hand; umgekehrt wird ein gemalter oder skulptierter Akteur, der diese Gebärde macht, als Bettler identifiziert, z.B. als der geblendete Ex-General Belisarius. Über eine irrtümlich so gedeutete Statue schreibt Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Altertums: »Es ist dieselbe [die rechte Hand, S.M.] hohl, gleichsam etwas in derselben zu empfangen, und hierinnen kann eine geheime Bedeutung liegen. Wir wissen, daß Augustus alle Jahre einen Tag den Bettler machte und eine hohle Hand (Cavam manum) hinreichte, um Almosen zu empfangen. Dieses geschah zur Versöhnung der Nemesis, welche die Hohen in der Welt, wie man glaubte, erniedrigte.« Sie werden derart an die Vergänglichkeit ihrer Macht erinnert und daran, »daß die Rache der Götter, in Überhebung in ihrem Glücke, über sie kommen könne.«Footnote 22 Die Rollen zwischen Geber und Empfänger sind hier vertauscht. Auch Devotion und Souveränität könnten derart die Plätze wechseln. In einem Bettler steckt gelegentlich ein Kaiser – und in einem schreibenden Sinetas vielleicht ein ganz Großer der Künste. Der Bescheidenheitstopos maskiert durchaus einen stolzen Gelehrten, der sehr gut um den Wert seiner ›einfachen‹ Gabe weiß. Auch dieses Miteinander von Unterwürfigkeit und Selbstbewusstsein ist freilich in der Geschichte der Widmungspraxis nicht ganz neu, und es ist kein Unikat. Die etablierten Formen werden gelegentlich mit großer Raffinesse genutzt, um verwinkelte, mehrschichtige Beziehungen zu artikulieren oder gar um Hierarchien zumindest im symbolischen Akt umzukehren.Footnote 23 Winckelmanns Widmungsbrief und -vignette zeigen sich jedenfalls als ein höchst durchdachtes Unternehmen, das eine komplexe Situation artikuliert und sie zu nutzen weiß.

Denn, dass es neben der ›reinen‹, wasserähnlichen Absicht auch andere gibt, ist dabei kein Geheimnis – und auch kein moralisches Vergehen; es gehört zum Gabentausch als rhetorischem Zeremoniell und zur Performanz gegenseitiger Dienstbarkeit. Winckelmann sorgt für den Ruhm des Königs und der Dresdner Sammlungen, August III. für die Nachhaltigkeit dieses Tuns. Sie bilden die zwei Seiten spätbarock-aufklärerischer Publikationspolitik.

Die Erstausgabe der Gedancken enthält drei Abbildungen: das Titelbild, die Widmungs- und eine Schlussvignette. Das erste zeigt den antiken Maler Timanthes, während er eine Opferung der Iphigenie malt, die Darstellung am Ende Sokrates als Bildhauer, der eine Statue der drei Grazien verfertigt und sich dazu eines Wasserkastens bedient. Das Titelbild illustriert programmatische Überlegungen der Schrift, die Schlussvignette bezieht sich auf eine im Text ausführlich beschriebene Arbeitsmethode, die jedoch auf einem Missverständnis beruht. Darüber hinaus zeigt sie die innige Beziehung von ›Weisheit‹ oder Philosophie und Künsten.Footnote 24

Was haben diese bildlichen Beigaben miteinander gemein? Oder beziehen sie sich nur auf unterschiedliche Weise auf Autor und Text? Das Wasser auf zweien von ihnen hat jeweils eine andere Bedeutung; bei Sokrates verweist es nicht auf Einfachheit und Reinheit wie bei Sinetas, auf dem Titelbild kommt es gar nicht vor; es ist also nicht das verbindende Moment. Die drei Bilder schließen sich indes in anderer Hinsicht zusammen: Sie haben alle mit Gaben und auf Gabentausch beruhenden sozialen Beziehungen zu tun. Die Opferung der eigenen Tochter ist eine extreme Gabe; Agamemnon muss sie entrichten, um sein Verschulden, die Kränkung der Göttin, auszugleichen. Winckelmann mag sich darauf beziehen, wenn er seine Buchgabe als Opfer an die beleidigte Gottheit der Künste stilisiert. Die dargebrachte Erstlingsschrift ähnelte dann der jungfräulichen Iphigenie. Sinetas’ Geste exemplifiziert eine ›reine‹, nur nach ihrer Absicht zu beurteilende Gabe. Auch sie ist eine völlig asymmetrische und insofern absolute Gabe. Die drei Grazien,Footnote 25 Göttinnen des Liebreizes, der Künste, der jahreszeitlichen Gaben allegorisieren dagegen im Sinne Senecas das Zirkulieren der Wohltaten; ihre Dreiheit entspricht der Trias von Geben, Annehmen und Erwidern.Footnote 26 Sie sind die Gottheiten der guten Gaben und des Gabentauschs, der zwischen den Akteuren ein soziales Band knüpft; das Verhältnis der Beteiligten selbst ist eines der charis, der Freude, Dankbarkeit, Gunst, Gefälligkeit u.a.m.,Footnote 27 daher ihr Name Chariten.

Winckelmann mag diesen dreifachen Verweis auf Gaben nicht intendiert haben. Das Wort ›Grazie‹ (oder auch gratia, grazia) im Singular fällt in den Gedancken noch nicht, aber die Phänomene charis und Gabe sind allgegenwärtig, ja, sie bilden m.E. einen unsichtbaren, nicht benannten Fluchtpunkt der Darlegungen. Wenig später schreibt Winckelmann über den Begriff ›Grazie‹ einen eigenen Aufsatz, und in seinem historiografisch-kunsttheoretischen Hauptwerk differenziert er das Konzept aus. Es ist innigst mit Gabenrelationen verbunden. Diese konstituieren Winckelmanns Ausführungen gemäß die antike Gesellschaft im Allgemeinen und deren Beziehung zu den Künstlern im Besonderen; sie manifestieren sich in den Gebärden der Statuen; sie bestimmen das Verhältnis des Betrachters zu diesen; sie verbinden den Schreibenden mit seinen Lesern und insbesondere mit einigen ausgewählten. ›Grazie‹, charis und das anthropologische Prinzip der Gabe bilden, so meine These, in Winckelmanns Theorie und Geschichte griechischer Kultur und Kunst ein dichtes Geflecht. Sie durchziehen seine Texte auf mehreren Ebenen, einschließlich der an Widmungsbrief und -vignette beschriebenen pragmatischen.

Die Aufmerksamkeit auf dieses Geflecht erlaubt es, zu einem veränderten Verständnis von Winckelmanns zentralem Konzept der ›Grazie‹ zu gelangen: Gegen dessen Verengung auf Ästhetisches soll hier an seine umfassende soziale Bedeutung erinnert und gezeigt werden, dass diese Dimension bei Winckelmann eine entscheidende Rolle spielt. Er rekurriert oft auf den Begriff Freiheit; das verleiht seinen Schriften eine politische Note. Die unauflösbar mit der Gabe verknüpfte ›Grazie‹ ist dagegen ein sozialer Begriff. Dessen Tragweite, Leistung, kultur- und zeitkritische Potenz in Winckelmanns Denken sollen im Folgenden deutlich werden. Im Fokus stehen dabei auch immer wieder die einseitige und die wechselseitige Gabe und die entsprechende vertikale und horizontale Variante von grâce und ›Grazie‹.Footnote 28

II.

Altgriechische charis und Gabe nach Marcel Mauss

Das Wort ›Grazie‹ steht hier bisher immer in Anführungszeichen. Sie weisen darauf hin, dass diese Vokabel zitiert wird und ihre Bedeutung der Klärung bedarf. Sie markieren aber auch den Verdacht, dass sich der Wortgebrauch auf Distanz, das ›Uneigentliche‹ des Ausdrucks, womöglich gar nicht in einen direkten, nicht zitathaften überführen lässt. Denn Winckelmanns Wort ›Grazie‹ – eigentlich ›Gratie‹Footnote 29 – bezeichnet sehr viel mehr und deutlich anderes als das, was das Wort nach seiner Einbürgerung in den deutschen Wortschatz meint. Genauer gesagt: Es bezeichnet nicht nur Ästhetisches, und wenn es dieses bezeichnet, dann in einem sehr viel umfassenderen Sinn, als es im Rahmen eines disziplinären Wissens namens Ästhetik, Kunstliteratur, Kunst- und Kulturgeschichte, -theorie oder -wissenschaft heute gedacht wird. Um dieses Mehr und Andere seiner Bedeutungen in den Blick zu bekommen, beziehe ich mich in meinen Überlegungen auf das semantische Feld des altgriechischen Wortes charis, auf die von Marcel Mauss entwickelte Anthropologie der Gabe und auf altphilologische Forschungen, die dieses Konzept für die Lektüre griechischer Literatur fruchtbar gemacht haben. Mithilfe dieser Rekurse soll auch deutlich werden, was Winckelmann mit ›Grazie‹ meint. Denn seine Überlegungen, so die These, schöpfen aus diesem weiten Bezugsfeld und kreisen, ohne die entsprechende Begrifflichkeit, um Fragen, die heute gabentheoretisch formuliert werden.

Antike Dichtung spielt für Winckelmann eine ebenso wesentliche Rolle wie die immer wieder von ihm geforderte Autopsie der Kunstwerke. Er liest enzyklopädisch breit, exzerpiert alles Mögliche und verfährt eklektisch, aber aus seiner musivischen Textarbeit ragen doch einzelne Autoren heraus, darunter Homer und Pindar.Footnote 30 Deren Werke sind eminente Quellen für den Gebrauch des Wortes charis, und beide rückt heutige Forschung in den Fokus des Interesses, wenn es gilt, eine segmentäre, von Verwandtschaftsstrukturen bestimmte, Gesellschaft mit ihrer auf Gabenrelationen beruhenden Ökonomie zu beschreiben. Charis bezeichnet immer »a willing and precious reciprocal exchange«, schreibt z.B. Leslie Kurke in ihrer einschlägigen Studie zu Pindar.Footnote 31 Die Semantik des Wortes charis umfasst dabei alle Aspekte einer derartigen sozialen Beziehung: die über das Alltagsleben hinausgehobene, festliche Gelegenheit, bei der Gaben getauscht werden; die Gabe und das Geschenk selbst; deren sinnlich wahrnehmbare Erscheinung (Glanz, Schönheit, Liebreiz, Zauber); die Haltung des Gebers (Gunst, Huld, Großzügigkeit); dessen Wirkung (auch ihn umgibt Glanz, er strahlt und strahlt aus); die Empfindung des Empfängers und die Bedeutung der Gabe für ihn (Freude, Lust, Gefallen, Genuss, Ehre); die Haltung, die er zum Geber einnimmt und zum Ausdruck bringt (Dank, Dankbarkeit, Gefälligkeit, Anerkennung); deren Zeichen (die Gegengabe)…Footnote 32

Beim Gabentausch stehen die Partner einander nicht als neutrale Instanzen gegenüber, die über die objektivierte Relation von Ware und Preis zueinander in Beziehung treten und vom Vollzug der Transaktion unberührt bleiben. Ihr Verhältnis ist vielmehr durch und durch personalisiert. Analog einen sie keine rechtlichen Verträge, sondern komplexe Bindungen, die aus dem Geben und Erwidern zwischen den Parteien resultieren. In segmentären GesellschaftenFootnote 33 ist die Gabenbeziehung, wie Mauss herausgestellt hat, eine umfassende, totale. Sie hat ökonomische, rechtliche, moralische, religiöse und ästhetische Dimensionen. In derartigen Gesellschaften gibt es nichts, was sich nicht als Gabenrelation ausdrücken ließe, das heißt, diese deckt sich mit den Möglichkeiten sozialer Interaktion. Der Austausch erfolgt nicht zwischen Individuen, sondern zwischen Gruppen (oder deren Vertretern), und getauscht werden »nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Riuale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist.«Footnote 34 Gabentausch bedeutet also neben der Zirkulation von Objekten, die oft keinen Gebrauchs-, aber hohen Symbolwert haben, das wechselseitige Erweisen von Diensten und Gefälligkeiten. Er etabliert nicht-vertragliche und gleichwohl bindende Verpflichtungen. Denn es besteht die unverbrüchliche Notwendigkeit, Gaben mit Gegengaben zu beantworten; sie nicht oder unzulänglich zu erwidern, führt zu einem Verlust des Gesichts, und der wiegt schwerer als ein materieller. Gaben müssen gegeben, angenommen und erwidert werden; ein Nichtbefolgen dieses ungeschriebenen Gesetzes bedroht den eigenen sozialen Status und die Gemeinschaft überhaupt. Jeder dieser drei Akte oder jedes der drei Momente eines einzigen, sie alle umgreifenden Aktes aber steht auch im Zeichen der Freiwilligkeit; alle erfolgen – scheinbar paradox – sowohl aus Verpflichtung wie ›spontan‹, sind bedingt und zugleich unbedingt;Footnote 35 im Gabensystem ist obligatorisches Schenken keine contradictio in adiecto. Materielles und symbolisches Kapital lassen sich dabei stets vollkommen ineinander konvertieren; es gibt keine Unterscheidung zwischen Sphären des materiellen Interesses und solchen der puren Selbstlosigkeit, denn die Vorstellung eines reinen Altruismus existiert nicht. Die getauschten Gaben sind vielmehr immer Symbole und vice versa.

Eine entscheidende Funktion des Gabentauschs ist seine pazifizierende Wirkung. Er stellt zwischen den Parteien Frieden her und hält ihn aufrecht. In gewissem Sinn bildet er daher ein Analogon zum Gesellschaftsvertrag, der nach Hobbes’schem Modell durch Staatsgründung und Delegation der Gewalt den Krieg aller gegen alle beendet; der Gabentausch erreicht dies durch die Praktiken der freiwillig-verpflichtenden wechselseitigen Geschenke.Footnote 36 Sie binden Menschen und menschliche Gruppen aneinander, schmieden Bündnisse und Allianzen. Sie leisten dies zuverlässig, sofern die performative Basis eines derartigen Zusammenhalts bestehen bleibt, das heißt, sofern die Akte des Gebens, Annehmens und Erwiderns kontinuierlich fortgesetzt werden.

Dieser Tausch wirkt einigend, er kann aber auch Differenzen vertiefen. Denn im Schenken konkurrieren die Akteure miteinander, Gaben und ihr Rang verhelfen zu sozialem Status und Prestige. Nicht alle Gaben sind gleich, es gibt vielmehr unterschiedliche Ebenen, und die höchsten Güter können nicht substituiert werden, sie lassen sich nicht in andere, reale Werte übersetzen. Der Status der Gaben hängt mit dem der Gelegenheiten ihres Austauschs zusammen. Anthropologen nennen insbesondere drei: Hochzeiten (in diesem Fall handelt es sich um Frauentausch, die Gabe ist die Braut), Bestattungen – in der griechischen Antike sind damit Kampfspiele verbunden wie etwa bei Patroklos’ Tod – und gastfreundschaftliche Begegnungen.Footnote 37 Hochrangige Gaben vermitteln die Beziehungen zwischen ihrerseits hochrangigen Personen, den Aristokraten der jeweiligen Gesellschaften. Zugleich sind die Geschenke Medium des Wettbewerbs zwischen ihnen, man denke an die homerischen Helden. Sie rivalisieren untereinander um Ansehen, die Kompetitivität gehört zu ihrer Identität und zur Art ihrer Gemeinschaft. Die Akteure bringen derart ihren sozialen Status zum Ausdruck, sichern ihre Position als Elite und ringen um ihren Platz innerhalb dieser Gruppe.

Der Gabentausch stiftet das soziale Band, und dieses reicht auch über die menschliche Gemeinschaft hinaus – so nehmen es zumindest diverse Kulturen an, indem sie ihr Prinzip des Austauschs auf den ganzen Kosmos übertragen. Die höchsten Güter werden demnach auch mit nichtmenschlichen Wesen getauscht, mit den Göttern, den Toten und heroischen Gründergestalten. Das System der Gabe erscheint derart als eines der Natur selbst, nicht mehr als eine bestimmte, kontingente Art ökonomisch-sozialer Ordnung.Footnote 38 Die Akteure wiederum können ihr Verhalten und ihren Rang aus dieser Naturalisierung oder ›Metaphysik‹ rechtfertigen; sie stützt ihre Macht. Der so verstandene Gabentausch schafft Beziehungen zwischen den Generationen und verknüpft die Gegenwart mit der Vergangenheit. Er bildet derart auch eine Kette durch die Zeit.

Das Band der Gaben verläuft also in mehreren Richtungen: zwischen Gleichrangigen, zwischen Niedriger- und Höhergestellten, zwischen Menschen und nicht-menschlichen Instanzen, zwischen der Aktualität und der Vergangenheit, in der Horizontalen und in der Vertikalen.

Der Gabentauch ist in diesem Sinn der Kitt einer Gesellschaft. Auf der anderen Seite kann er als Mittel im Kampf um Ehre aber auch zerstörerische Wirkungen haben. Eine extreme Variante davon hat Mauss mit dem nordamerikanischen Potlatsch beschrieben. Angesichts dieses ethnologischen Modellfalls und des zunächst komplementär scheinenden, des kula-Rings der Trobriander, erweist sich der Gabentausch als hochambivalent. Er vermag sowohl friedliches Miteinander zu stiften als auch zu spalten. Beide, der symbolische Transfer von Gütern und die gegenseitige Überbietung im Schenken, sind Gabenrelationen, und das heißt soziale Beziehungen; die letztere stellt eine agonistische Form dar und kann exzessiv werden, ja ggf. zu einer (sozial) selbstmörderischen Rivalität. Der Gabentausch erlaubt mithin einen pazifizierenden war against (Hobbesian) Warre ebenso wie einen Konflikte vertiefenden war of property; beide Möglichkeiten inhärieren dem Gabensystem.Footnote 39 Der Abwehr eines Kriegs aller gegen alle als der schlimmsten Gefährdung des Zusammenlebens – gefürchteter als der Krieg gegen äußere Feinde – dürfte in der griechischen Antike die Angst vor der stasis, dem Bürgerkrieg, entsprochen haben.Footnote 40

Charis bedeutet, wie erwähnt, einen willentlichen Austausch von wertvollen Gaben. Demgemäß gibt es viele Analogien zwischen den Kontexten, in denen altgriechische Literatur diese Vokabel gebraucht, und dem von Mauss beschriebenen Paradigma. In der Welt der homerischen Helden ist immer wieder von charis die Rede.Footnote 41 Das Verhältnis zwischen Pindar und den Wettkampfsiegern, die er besingt, genauer: zwischen dem Poeten, den generösen, die Spiele ausrichtenden Auftraggebern und dem Publikum, wird so bezeichnet; die Gesänge selbst heißen charites.Footnote 42 Eine Vielzahl anderer frühgriechischer Texte bestätigt die Omnipräsenz von charis in den sozialen Interaktionen; auch bei Aischylos hat sie ihren Platz, z.B. im Verhältnis zu den Toten. Orests abgeschnittene Locke wird Agamemnon an seinem Grab als charis, als Totengabe, dargebracht; auch die Klage um ihn heißt so.Footnote 43 In der klassischen Zeit hat charis mit der Munifizenz reicher Polisbürger zu tun, die für die Stadt repräsentative Bauten errichten lassen oder Festivitäten wie Wettspiele und Theateraufführungen finanzieren. Sie gehört aber auch zum Phänomen der rituellen Freundschaft, zum ethischen Konzept der philia. Gaben an die Gemeinschaft und individuelle gegenseitige Dienste fallen gleichermaßen in ihr Spektrum.Footnote 44 Nicht zuletzt trägt sie als Kraft der verbalen Überzeugung die politische Auseinandersetzung; identifiziert mit peitho, als ›süße‹ Macht der Rede, ermöglicht sie argumentativen Austausch, Kompromisse und damit die Demokratie.Footnote 45

Möglicherweise lässt sich aber auch eine Grenze der Übereinstimmungen zwischen charis und Gabenprinzip benennen: Die durch Gabentausch konstituierte Sozialität besteht unter anderem in Konkurrenz, Rivalität, Wettbewerb, Kampf. Dergleichen kann ritualisiert sein, etwa im Sport, in der politischen Auseinandersetzung oder im wissenschaftlichen Streit. Selbst Konflikte (Eifersucht, Rache, Vergeltung…) sind soziale Beziehungen oder, anders gesagt, es gibt soziable Konflikte, im Unterschied etwa zu Meuchelmord oder Ausrottungskrieg, die das nicht sind;Footnote 46 man mag bei ersteren von einem Tausch negativer Gaben sprechen. Sie sind so lange sozial konstitutiv, wie sie nicht unter ein Verdikt fallen und von der Gemeinschaft selbst als nicht oder nicht mehr zulässige Formen der Auseinandersetzung angesehen werden. In Hinsicht auf die altgriechische Gesellschaft zeigen Aischylos’ Eumeniden diese Situation: Mit der Einsetzung des Gerichts als Institution des ›neuen‹ Rechts wird das ›alte‹ der Blutrache delegitimiert. Die dike, auf die sich Klytaimestra und die Erinnyen berufen, gilt nun nicht mehr, post festum erscheint sie als Unrecht.

Raub, Mord, Krieg sind prinzipiell negative Wechselbeziehungen,Footnote 47 aber kann man auch noch von ›Gabentausch‹ sprechen? Gibt es hier noch ein aus reziproken Handlungen hervorgehendes soziales Band? Beim nordamerikanischen Potlatsch ist dies der Fall. Er stellt eine kriegerische Auseinandersetzung dar, einen Ersatzkrieg oder Kriegsersatz;Footnote 48 er treibt die Rivalität des Gebens bis in diese destruktive Form. Hier ist der Krieg selbst eine äußerste Spielart von Gabentausch.Footnote 49 Auch negative Beziehungen zerreißen das soziale Band nicht restlos, vorausgesetzt, dass sie noch regelgeleitet sind. Der Streit oder agon muss noch irgendwelchen Formen unterliegen, was etwa bei einem Vernichtungskrieg nicht der Fall ist. Ein Bürgerkrieg aber entspräche einem im Inneren der Polis stattfindenden regellosen Krieg. Das klassische politische Denken sieht daher die Polis bedroht von der stasis in der doppelten Bedeutung von Stillstand und Aufstand.Footnote 50 Die Angst davor zieht der im rivalisierenden Gabentausch begründeten Sozialität die Grenze. Gerade der für die athenische Demokratie und das gesellschaftliche Leben so zentrale Agonismus wird dadurch limitiert.Footnote 51

Das Wort charis taucht im Zusammenhang von Konkurrenz und ritualisierten Kämpfen auf, aber es bezieht sich (zumindest, wenn man den Lektüren von Kurke und MacLachlan folgt) eher auf die sozial integrativen oder, wie bei den Wettkampfsiegern, re-integrativen Funktionen des Gabentauschs; charis findet sich auf der Seite des war against Warre,Footnote 52 bei den befriedenden, alliierenden Funktionen. MacLachlan umschreibt in ihrem grundlegenden Buch zur altgriechischen charis diese u.a. als eine Erscheinung, die geneigt macht, entwaffnet, eine Antwort erfordert, in der Gemeinschaft zivilisierend wirkt.Footnote 53 Das alles sind Aspekte eines weiten semantischen Feldes, an dessen einem Ende das steht, was man im engeren Sinne mit ›Grazie‹ assoziiert: Liebreiz, erotische Anziehung, Bezauberung durch Liebe. Diese Bedeutungen machen einen kleinen Teil der Semantik von charis aus.

Das Wort ›Grazie‹ (wie auch alle möglichen europäischen Vorgänger der deutschen Vokabel: gratia, grazia, grace, grâce…) kann daher bestenfalls als Behelf für eine unmögliche Übersetzung gelten. Zumindest gibt es keine Entsprechung zwischen einzelnen Vokabeln. Winckelmann hat dergleichen auch nicht prätendiert. Aber in seinen Beschreibungen der griechischen Kultur, in seiner begrifflichen Bestimmung der ›Grazie‹, in seiner Charakterisierung der herausragenden Kunstwerke und deren Wirkungen auf den Betrachter sind immer wieder Aspekte der polyvalenten antiken charis präsent. Die Referenzen stammen dabei sowohl aus archaischer (homerischer, pindarischer…) wie aus klassischer Zeit. Winckelmanns ideales Griechenland ist in Hinsicht auf die bildende Kunst das Perikleische Athen.Footnote 54 Das hindert ihn jedoch nicht daran, frühere und (etwa in puncto Philosophie) spätere Literatur aufzurufen, um sein Bild jener Epoche zu entwerfen. Nicht zuletzt nutzt er die verschiedenen Referenzen auch für die Entwicklung seiner eigenen Analysekategorien.Footnote 55 Da er historisch unscharf bleibt, kommt ein breites Spektrum an Facetten der charis und ihrer sozialen Funktionen ins Spiel. Sie sorgen dafür, dass die ursprüngliche Vielstrahligkeit des Phänomens auch in späteren Aneignungen nicht einfach verschwindet. Die Polysemie von charis bleibt vielmehr virulent. Und eben darin liegt die Chance für Winckelmann, das Konzept der ›Grazie‹ neu zu fassen.

III.

Griechenland im Zeichen der charis

Winckelmann hat in seinem kontrafaktischen Griechenlandbild Schönheit und Kunst in den Mittelpunkt dieser Kultur gerückt. Sie seien bei ihm so zentral und bedeutsam wie bei seinem philosophischen Gewährsmann Montesquieu, auf den er sich vielfach bezieht, die Gesetze. Wenn dessen kulturtheoretische Überlegungen in eine »Geographie der Staaten« mündeten, so diejenigen Winckelmanns in eine Geschichte und Darlegung der räumlichen »Verteilung von Schönheitssinn und Kunststilen«.Footnote 56 Die Differenzqualität zu anderen alten Kulturen besteht für ihn darin, dass nur Griechenland jene Faktoren zum Konstituens des Gemeinwesens erhoben hat.Footnote 57 Das heißt, es kultiviert Kunst und Schönheit nicht nur in besonderem Maß, sondern diese tragen das soziale und politische Leben. Sie sind mehr und anderes als ein ästhetisches Surplus zu einer unter günstigen äußeren und inneren Bedingungen gedeihenden Polis; sie krönen nicht Gesundheit, Reichtum, Frieden, rechtliche Ordnung und was man sich sonst als zuträgliche Lebensbedingungen denken mag, sondern haben einen viel elementareren Status. Das zu beschreiben, ist für Winckelmann nicht einfach, denn es hat kein Äquivalent zu seiner Zeit, sondern bildet einen Gegenentwurf zu dieser.

Winckelmann treibt nicht nur Kunst- und Archäologiegeschichte; er widmet sich nur unter anderem formalen, stilistischen und stilgeschichtlichen Fragen, vielmehr entwirft er eine Kulturgeschichte und verhandelt die im engeren Sinn kunstwissenschaftlichen Dimensionen seines Gegenstands innerhalb eines viel umfassenderen Ansatzes. Diese größere, bio- und soziokulturelle Reichweite seines Denkens droht jedoch immer wieder aus dem Blick zu geraten, bei ihm selbst wie in der Rezeption; auch zentrale Terme wie ›Schönheit‹ oder ›Grazie‹ werden dann kunsttheoretisch und -geschichtlich verengt aufgefasst. Eine Lektüre, die auf die Echos der altgriechischen charis und die Gabenrelationen achtet, kann diesen reduktiven Tendenzen entgegentreten.

Wenn in der griechischen Antike das Leben um ›Schönheit‹ kreist oder auch – dieser Ausdruck ist äquivalent – vom ›guten Geschmack‹ bestimmt ist, dann hat dieser Zustand laut Winckelmann geografische und klimatische Voraussetzungen. Der Himmel im wörtlich meteorologischen Sinn begünstigt Griechenland als eine mittlere, in jeder Hinsicht gemäßigte Zone; als ›sanfter und reiner‹Footnote 58 fördert er die Natur ebenso wie deren menschliche Bearbeitungen.

Bei der Beschreibung des Idealzustandes werden immer wieder beide Seiten aufgerufen:Footnote 59 Es gibt von Menschen nicht zu beeinflussende Faktoren wie das Klima und als biologische das ›Geblüt‹, und es gibt die Art, mit diesen Faktoren umzugehen. Sie reichen von Eugenik über die Disziplinierung des Körpers durch Hygiene, Diätetik und sportliche Übungen bis hin zur Bewegung fördernden Kleidung bei beiden Geschlechtern.Footnote 60 Die Einhaltung entsprechender Regeln wird überwacht und der Effekt der ergriffenen Maßnahmen kontrolliert, das heißt, sie bleiben mitnichten individueller Verantwortung überlassen. Die ›Schönheit‹ der Jugend, insbesondere der männlichen, ist von allgemeinem, gesellschaftlichem Interesse. Junge Männer trainieren nicht nur, sie werden dabei auch beobachtet und betrachtet, bewundert, kritisiert und ggf. in offiziellem Rahmen ausgezeichnet. Sie unterliegen der öffentlichen Beurteilung, nicht nur einer partikularen einzelner Experten oder professionell Zuständiger.Footnote 61 Winckelmanns griechische Kultur kennt keine Trennung in Laien und Fachleute und keine in Politisches und Privates. Körperliche Schönheit ist ein Anliegen der ganzen Gesellschaft; sie tritt vor dieser in Erscheinung, zeigt sich den anderen; und dieses Auftreten ist nichts Supplementäres und Kontingentes, sondern definiert Schönheit: Sie ist ein öffentliches Phänomen, beruht auf den Blicken anderer und muss sich regelmäßig deren Urteil stellen. Sie wird nicht einmal errungen und liegt dann als Zustand vor, als unverlierbare Eigenschaft, sondern muss sich immer wieder vor kritischen Augen bewähren. Dabei sind qua Erziehung (im Zeichnen) alle Mitglieder der Gemeinschaft kompetente ›Richter‹;Footnote 62 alle – tatsächlich sind es natürlich nur männliche ›freie‹ Polisbürger, denen eine entsprechende Erziehung zuteilwird – entscheiden über die Schönheit, und zwar im Angesicht der anderen, im öffentlichen Raum bei offiziellen Anlässen. Das Urteil darüber unterliegt insofern den gleichen institutionalisierten Verfahren wie dasjenige über Schuld oder Unschuld – das Sprachregister ist ein rechtliches – oder wie dasjenige über die Verleihung von politischer Macht. Die Verfahren sind formalisiert, folgen RegelnFootnote 63 und sind kompetitiv. Schönheit wird gezielt gefördert, auf der Grundlage von Ehrbegriffen, in einem System der Konkurrenz um Ansehen. Innerhalb einer Gruppe Gleichrangiger wird um sie gekämpft, als Ehrentitel erhöht sie den sozialen Status.

Implizit bedeutet dies, dass Bezahlung, Geld, Gewinn und entsprechende Kalküle dabei keine Rolle spielen. Die entworfene Gesellschaft beruht vielmehr auf aristokratischen Werten. Wenn Ökonomie als Gütertausch überhaupt zum Thema wird, dann nur als eine des Lobes und der Preise für Sieger, wie sie sich in Homers Epen und Pindars Gesängen finden. In Hinsicht auf »Weisheit« oder Philosophie und Künste gilt das Prinzip der jeweils freiwilligen Gabe und Gegengabe.Footnote 64 Die bildenden Künstler arbeiteten laut Geschichte der Kunst des Altertums »für die Ewigkeit, und die Belohnungen ihrer Werke setzten sie in Stand, ihre Kunst über alle Absichten des Gewinns und der Vergeltung zu erheben.« Polygnot soll seine Gemälde in öffentlichen Bauten »ohne Entgelt« gemalt haben, und die »Erkenntlichkeit« gegen seine Arbeit habe »die Amphiktyones oder den allgemeinen Rat der Griechen bewogen, diesem großmütigen Künstler eine freie Bewirtung durch ganz Griechenland auszumachen.«Footnote 65 Künstler und Polis sind einander also schenkend und dankend verbunden, der eine ist so generös wie die andere. Die künstlerischen Leistungen werden »nur den Göttern geweiht«,Footnote 66 als Dienste an der Allgemeinheit aber vom ›ganzen Volk‹Footnote 67 finanziert; sie stellen eine Gabe an die Gemeinschaft dar. Zwischen beiden Seiten findet ein wechselseitiger Austausch statt: Die Künstler sorgen mit ihren Werken für den Ruhm der Stadt, wie umgekehrt diese den Namen des Künstlers in Erinnerung hält. In der namentlichen Überlieferung manifestiert sich das Verhältnis gegenseitiger Nobilitierung. Der Name glänzt, und der Träger strahlt in diesem Glanz; die Nennung des Namens ist eine Ehre und Zierde (charis).Footnote 68 Künstler sind in dieser Beziehung zur Gesellschaft keiner Macht untergeordnet, deren Repräsentationsansprüchen sie dienen müssten; sie gelten vielmehr selbst als weise und sind daher mögliche Gesetzgeber und sogar Kriegsherren.Footnote 69 Ihre Stellung und Funktion ist intrinsisch sozio-politisch, und zwar in einem zu ›modernen‹ Verhältnissen inversen Sinn; die Vorstellung von Künstlern in den höchsten politischen und militärischen Ämtern stellt Winckelmanns zeitgenössische Realität buchstäblich auf den Kopf. Und weiter: Als eminente Vertreter von sophia stehen Künstler auch den Gelehrten nicht fern. Die Position der ersteren in der Antike zeigt somit ein Gegenbild zu den aktuellen Bedingungen aller um Kunst Bemühter. Diesen Kontrast zu markieren, dürfte Winckelmann wichtig gewesen sein. Allein die Denkmöglichkeit derart komplementärer Zustände wirkt provokant.

Schönheit ist in der griechischen Antike Gegenstand von kollektiven Ritualen, von Festen und agonistischen Veranstaltungen. Winckelmann erwähnt die Olympiaden, aber wenn er dabei auf Pindar verweist,Footnote 70 dann impliziert dies auch die Isthmischen, Pythischen und Nemeischen Spiele; die olympischen sind nur die berühmtesten. Alle Feierlichkeiten sind hier per se öffentliche und werden als »Wett-Spiele der Schönheit«Footnote 71 verstanden. Athleten treten nackt auf, auch tanzende Frauen. Selbst Phryne badet sich »in den Eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen«Footnote 72 und avanciert – wie die Wettkämpfer – zu einem gefeierten Vorbild, in diesem Fall zu dem der bildenden Künstler, die sie für die Darstellung einer Venus Anadyomene zum Modell nehmen.

Gabentheoretisch gesprochen sind diese Feste herausgehobene Gelegenheiten des Gabentauschs. Es sind Ereignisse mit Aufwand, Prachtentfaltungen, glamour. Alle Beteiligten bieten dabei höchstrangige Güter: die Kämpfer ihre Kräfte, Geschicklichkeit, Schönheit, diejenigen, die die kostspielige Veranstaltung ausrichten, ihre Großzügigkeit, der Poet den lobenden Gesang, und das Publikum zollt den Gefeierten Bewunderung, Ehre, Anerkennung. Die Verpflichtung des Dichters ist dabei eine doppelte: Er hebt den einen lobend heraus und vereint die vielen im gemeinsamen feierlichen Tun. Bei Winckelmann sind die Feste auch »eine Gelegenheit für Künstler, sich mit der schönen Natur aufs genaueste bekannt zu machen«Footnote 73. All das sind Momente von charis; nicht zuletzt wird diese dem nackten, jugendlichen Körper zugesprochen, der sich den Augen in seiner ganzen Blüte zeigt: strahlend und bezaubernd.Footnote 74

In den Gedancken charakterisieren die Feste und Wettkämpfe die griechische Lebensweise; mit der Kunst haben sie als Möglichkeit zur unmittelbaren Anschauung der ›Natur‹ zu tun, sie sind eine Schule der Schönheit. Damit bleiben sie allerdings etwas unterbelichtet. An anderen Stellen, in den selbstständigen und in die Geschichte der Kunst des Altertums eingebauten Statuenbeschreibungen, wird Winckelmann die Erinnerung an die zelebrativen und kompetitiven Dimensionen des griechischen Lebens noch viel weitergehend fruchtbar machen.Footnote 75

Winckelmanns Griechenland ist ein Land, »wo man sich der Lust und Freude von Jugend auf weihete«Footnote 76. ›Freude‹ ist eine zentrale Bedeutung von charis. Eine andere ist ›Anmut‹ oder ›Schönheit‹ als das Lust und Freude Bereitende, was das Altgriechische mit Glanz verbindet; charis strahlt, wie es das Wort Charisma noch heute konnotiert. Ein schöner junger Körper vertritt derart synekdochisch, worum sich das ganze Leben dreht. Die von Winckelmann gelobte körperliche Verfassung der Griechen resultiert dabei jedoch nicht allein aus der Natur, sondern aus der Art, wie die Körper technisiert und sozialisiert werden. Das betont er immer wieder, auch wenn er kein sozialanthropologisches Vokabular dafür hat: Die gepriesenen antiken Körper sind von Körpertechniken geformte, in denen diese bestimmte Gesellschaft sich manifestiert.Footnote 77 Sie verfügt über einen »gewisse[n] bürgerliche[n] Wohlstand«, erfreut sich einer im Vergleich zu anderen bemerkenswerten »Freyheit der Sitten«, die »Natur« wird nicht »durch strenge Gesetze gehemmet […] wie in Egypten«Footnote 78, die politischen Verhältnisse sind zeitweise – Winckelmann bleibt vage, deutet aber geografische und historische Unterschiede an – die einer »blühenden Freyheit«Footnote 79, wie immer deren konkrete institutionelle Form aussieht. Das alles macht aus Natur »noch mehr als Natur«Footnote 80, nämlich eine psycho-physio-soziokulturelle. Winckelmann nennt dieses Surplus die Verbindung von »schönster« Natur mit »gewisse[n] Idealische[n] Schönheiten«Footnote 81; man könnte von Natur-Kultur sprechen. Die eine lässt sich darin von der anderen nicht mehr trennen. Es gibt keine menschliche Bio- oder Zoologie mehr, die nicht ›technisiert‹, sozial durchformt und als öffentliche und agonistische auch politisiert wäre, und es gibt keinen Aspekt der Kultur, der nicht ein spezifisches Verhältnis zur eigenen wie zur umgebenden Natur (Nahrung, Klima…) enthielte. Folgt man ohne weitere Interpolationen nur Winckelmanns Text, dann erstreckt sich diese Natur-Kultur (vom Kuriosum der gezüchteten Augenfarbe abgesehen) auf Möglichkeiten des Körpers wie Wachstum, Haltung, Bewegungsweise, die Art, nackt zu sein, sich zu kleiden, zu schlafen, zu essenFootnote 82 – prototypische Körpertechniken mithin –, aber auch auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander, auf Erotik und Sexualität, auf das sozial vermittelte SelbstbildFootnote 83 und nicht zuletzt auf Mienenspiel und Gesten; letztere sind an den Statuen als emotionaler Ausdruck und Handlung besonders wichtig.Footnote 84

In all diesen Dimensionen des Lebens ist das Individuum auf andere bezogen, und andere sind in seinen körperlichen Erscheinungsweisen präsent. Die Sozialität steckt in gelernten Fähigkeiten, im durch Nachahmung erworbenen Können, in spezifischen, kulturtypischen Weisen, natürliche Betätigungen zu vollziehen, in kollektiven Aktivitäten und geteilten Überzeugungen wie etwa im Streben nach ›Schönheit‹. Der berühmte »Contour«, in dem die Grundkomponenten der griechischen Lebensweise sich anschaubar manifestieren sollen, ist derart ein Paradigma von Natur-Kultur: Er ist ein Moment des nackten Körpers, aber auch der sich ihm anschmiegenden Kleidung;Footnote 85 er resultiert bei glücklichen biologischen Voraussetzungen aus Nahrung und Training; er findet sich als Realie vor, am Körper selbst und im Abdruck der Ringer im Sand, andererseits wird er vom Künstler im Sehen und Linien-Ziehen erzeugt.

Winckelmann skizziert allgemeine Praktiken einer Gesellschaft und dementsprechend das, was an deren Mitgliedern habituell ist und ihren Habitus ausmacht. Wenn der Lebensinhalt dieser Menschen die Sorge um ›Schönheit‹ ist und sie sich von Anfang an der ›Lust und Freude‹ (charis) weihen, heißt das: Sie widmen diesen Dingen nicht nur eine gewisse Aufmerksamkeit und einen Teil ihrer Zeit, sondern sich selbst als ganze. Profaner ausgedrückt, haben sie nichts Anderes zu tun als sich um die Bestätigung und Steigerung dessen zu bemühen, was sie als herrschende Elite auszeichnet. Dieses Distinguierende besteht laut Winckelmann nicht in Luxus; sie schlafen z.B. auf dem Boden; es ist vielmehr – wie in allen möglichen Aristokratien alter Kulturen – von asketischen, im Kern militärischen Werten geprägt und nach dem Bild des Kriegers gemodelt.Footnote 86 Sorge um den Lebensunterhalt kennen sie nicht, Arbeit ist ihnen ebenso fremd wie die Ratio von Tausch und Geld.Footnote 87 Sie stellen ihr Leben vielmehr in den Dienst von etwas nicht Käuflichem, wenngleich sie dieses, auf der Grundlage einer Gunst (charis) der Natur, durch die eigene Disziplin ›erwerben‹ und bewahren müssen. Ihre Lebensweise enthält durchaus Mühe, Anstrengung, Verzicht, Abhärtung, aber all dies im Sinne ritueller Praktiken.

Nietzsche wird diese Beschreibung in seinen frühen Studien zum Gottesdienst der Griechen vertiefen: Demnach ist diese Kultur eine durch und durch festliche; ihr Kalender weist mehr Feier- als Arbeitstage auf, die Athener verbringen den ganzen Tag im Theater und widmen diesem Besuch ihre besten Stunden, nicht die erschöpften am Abend, die einem Menschen des Industriezeitalters als Freizeit übrigbleiben.Footnote 88 Auch wenn der Philosoph des 19. Jahrhunderts bestreitet, dass die griechische Kultur um ›Schönheit‹ gravitiert, ist der Weg zu einer ›ästhetischen‹ im Sinn einer zelebrativen Welt doch von Winckelmann gebahnt. Die Statuen, die der Gelehrte in den Mittelpunkt rückt, sind Stein gewordene Kämpfer: homerische Heroen und Pindarische Athleten aus Marmor. Wie die Tragödie, so stammt auch die Skulptur hier aus Festritualen mit mehr oder weniger religiösem Charakter. Nicht Dionysosfeiern, aber die Olympiaden sind ihr Ursprung.

Es ist nicht recht klar, welche Periode der griechischen Kultur Winckelmann in den Gedancken vorschwebt. Er erwähnt »die ältesten Zeiten«, die »Indianer« und, ihnen parallelisiert, die homerischen Helden, Pindar, Sparta, Alkibiades, Athen…, meint also die Antike in sehr weitem Sinn. Erst die Geschichte der Kunst des Altertums wird dieses allzu große Feld unterteilen. Die frühesten Schichten der Vergangenheit verlieren sich im Mythischen wie die »Vorfahren« der Inselbewohner, »die sich rühmeten, ursprünglich, ja älter als der Mond zu seyn.«Footnote 89 Dabei gilt offenbar: je älter, also je näher am ›Ursprung‹, desto schöner. In diesen Tiefen ist ›Schönheit‹ dann nicht nur wie bei den Griechen Dreh- und Angelpunkt des Lebens, sondern steht noch nicht einmal im Fokus des Interesses, so sehr fällt sie mit dem Leben – der Natur – selbst zusammen; sie ähnelt der alles durchdringenden unsichtbaren Luft, ist sozusagen nur Medium, kein Gegenstand. Heideggerisch gesagt, ist sie überall zuhanden und daher nicht vorhanden. Ethnografische Parallelen sollen diese Vorstellung bestätigen: »Es sind noch itzo gantze Völcker, bey welchen die Schönheit so gar kein Vorzug ist, weil alles schön ist. Die Reise-Beschreiber sagen dieses einhellig von den Georgianern, und eben dieses berichtet man von den Kabardinski, einer Nation in der Crimischen Taterey.«Footnote 90 Diese ›Völker‹ sind Nicht-Griechen, also Barbaren, aber sie verkörpern einen Reinzustand, den nicht einmal mehr die Griechen aufweisen, bemühen diese sich doch um ›Schönheit‹ und schwimmen nicht nur darin wie Fische im Wasser. Vielleicht waren Homers Helden wie die ›Indianer‹ in der Verfassung der Georgianer und Kabardinski, aber dann hätte dieser Zustand schon zu Homers Zeiten nicht mehr existiert. Winckelmann denkt ›Schönheit‹ in mythischen Perioden und bei diesen fremden Ethnien nur als Natur, d.h. als vom Biologischen ununterschieden vollzogene Lebensweise; bei den Griechen dagegen präsentiert er Schönheit auf plausiblere Weise: als Natur-Kultur.

In der Geschichte der Kunst des Altertums akzentuiert Winckelmann außerdem »Verfassung und Regierung« sowie »Denkungsart«Footnote 91, also politische und mentalitätsgeschichtliche Faktoren. Das Prinzip heißt freilich unverändert: »[U]nter keinem Volk ist die Schönheit so hoch als bei ihnen geachtet worden; deswegen blieb nichts verborgen, was dieselbe erheben konnte […]. Ja es war dieselbe gleichsam ein Verdienst zum Ruhme…«Footnote 92. Sie ist ein Ehrentitel, um den gerungen wird, sie wird wie andere Meriten um das Wohl der Gemeinschaft mit der Errichtung von Statuen belohnt, und Grabmälern derartiger Personen gilt zuweilen sogar kultische Verehrung; der wegen seiner Schönheit Bewunderte gleicht einem vergötterten Heroen, bei dem man opfert.Footnote 93

Entscheidend aber für diese Blüte des Schönen und damit der Kunst sind die politischen Bedingungen, namentlich die Freiheit. Winckelmann entwirft sie im Sinn seiner Zeit nach aufklärerischen Mustern. Allem voran meint sie das Fehlen eines ›einzigen Oberhaupts‹Footnote 94, also einen Zustand, in dem Macht sich gerade nicht in der Hand eines Alleinherrschers konzentriert, die Gleichberechtigung der Bürger, etwa im Sinn der Zugänglichkeit eines jeden zu den höchsten Ehren,Footnote 95 Redefreiheit und die Möglichkeit, ohne Bevormundung zu denken; die Kenntnisse schließlich entwickeln sich ohne erfahrungsferne Buchgelehrsamkeit.Footnote 96

Die Parallelisierung von Gedeihen der Kunst und nicht-tyrannischen Verhältnissen bestimmt, wie bekannt, Winckelmanns Historiografie im zweiten Teil seines Hauptwerks. In den Gedancken hat der Begriff Freiheit eher eine anthropologische und soziale Bedeutung;Footnote 97 er betrifft die Lebensform. Namentlich meint er das Verhältnis zur Nacktheit, die keine Scham veranlasst, die Ungezwungenheit in Bewegungen und im Umgang der Generationen und Geschlechter miteinander, die Abwesenheit strenger Sittenregeln, die Bemühung in der athletischen, künstlerischen oder sonstigen Konkurrenz aus freien Stücken, u.a.m. Diesseits der politischen Zustände, ohne Berücksichtigung von ›Verfassung und Regierung‹, bedeutet ›Freiheit‹ also Liberalität der Sitten und FreiwilligkeitFootnote 98 des Engagements. Letztere bestimmt auch, wie erwähnt, das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und dem durch seine Leistung hervortretenden Einzelnen, die gegenseitigen Dienste von Polis und Künstlern, Athleten oder anderen Bürgern, die sich verdient gemacht haben. Beide Seiten binden sich ohne vertraglichen Zwang aneinander und unterliegen ebensowenig der transpersonalen Äquivalenz von Waren und Geld. Käuflichkeit gilt in diesem Zusammenhang stets als verderblich. Ihr zerstörerischer Effekt zeigt sich sogar ganz unmittelbar dem Auge, etwa im Unterschied zwischen den legeren Bewegungen des griechischen Sportlers und denen eines ›gedungenen Modells‹.Footnote 99 Die alten Griechen sind einander vielmehr aus eigenem Willen verpflichtet.

Alles in allem kann man sagen: Winckelmann beschreibt deren Gesellschaft im Prinzip als eine Gaben tauschende. Von Ökonomie im engeren Sinn ist nur ex negativo die Rede, wechselseitige Dienste und Erkenntlichkeit (charis) knüpfen vielmehr das Netz der sozialen Beziehungen. Die verteilte, immer nur temporär verliehene politische Macht wirkt dabei als Ermöglichungsbedingung. Freiheit manifestiert sich als Freiwilligkeit der reziproken Bindung. Das höchste Gut heißt ›Schönheit‹; alle Mitglieder der Gemeinschaft sind bemüht, es herzustellen, zu zeigen, zu beurteilen, anzuerkennen, zu fördern und zu steigern. In keinem Bereich ihres Tuns und Seins darf es fehlen. Mit Mauss gesprochen ist ›Schönheit‹ hier ein fait social total, eine das ganze gesellschaftliche Leben ausmachende Tatsache. Sie hat natürliche Grundlagen, ist aber etwas von Menschen Geschaffenes. Sie ist Kultur, doch dies nicht im sektoriellen Sinn. Sie lässt sich nicht vom Religiösen, Politischen, Ökonomischen, Rechtlichen, Moralischen abgrenzen, sondern findet sich in allen Facetten des menschlichen Lebens. Und sie ist kein Surplus. Die Sorge um ›Schönheit‹ konstituiert hier vielmehr Gesellschaft, und Individuen ringen um sie im öffentlichen Wettbewerb. Dabei sind alle involviert: die einen als Akteure, die anderen als urteilende Beobachter.Footnote 100 Der sportliche Agon ähnelt derart, so ließe sich Winckelmann ergänzen, dem Theater, das selbst alle möglichen Komponenten des griechischen Lebens vereint. Die Tragödie verhandelt religiöse, rechtliche und politische Fragen, sie wird in kultischem Rahmen aufgeführt, jedes Stück konkurriert in einem Wettbewerb gegen andere, das Ganze ist ein rituelles Geschehen. In Festakten bildet sich performativ die Gemeinschaft. Und Dichtungen, seien es Dramen fürs Theater oder Siegerhymnen bei den Spielen, tragen das Ihre dazu bei.

Der beschriebene Zustand der griechischen Kultur kennt kein modernes Äquivalent. Ob Winckelmann oder die Neoklassizisten in seiner Spur davon träumten, ein solches zu schaffen, mag dahingestellt bleiben. Winckelmann hat jedenfalls, wie idealisierend verzerrt auch immer, eine Gesellschaft der charis oder ein age of grace skizziert. ›Schönheit‹ ist darin die höchste wechselseitige Gabe.

IV.

Zweifache ›Grazie‹ – vielfache charis

Während die Gedancken nur die Grazien im Plural kennen, singularisiert Winckelmann dieses Wort in seinem 1759 veröffentlichten Aufsatz zu diesem Begriff. ›Grazie‹ sucht er vom französischen grâce mit seiner theologischen (und juristischen) Konnotation und vom je ne sais quoi, dem unfassbaren Mysterium des französischen Klassik-Diskurses, zu unterscheiden.Footnote 101 Sie sei das »vernünftig gefällige«Footnote 102, dekretiert er, und in der Geschichte der Kunst des Altertums legt er großen Wert darauf, sie an die Sphäre des Denkens heranzurücken und von derjenigen der Affektivität, zu der auch das je ne sais quoi als Schock-Moment gehört, zu entfernen.Footnote 103 Die psychologisierende Bestimmung durch die Relationierung der verschiedenen Seelenkräfte ist dabei typisch für den anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Während die Verträglichkeit mit der Vernunft das oberste Gebot für alle Kunst und prinzipiell Kennzeichen der griechischen Kultur ist, teilt sich die ›Grazie‹ hier, die Einhaltung jenes Gebots vorausgesetzt, in zwei Spielarten: eine strengere und eine mildere. Die ›hohe Grazie‹ oder »himmlische Venus« ist begriffsnah und erhaben, die ›gefällige Grazie‹ oder »Venus von der Dione geboren«Footnote 104 dagegen sinnlicher und geselliger, d.h. erotischer Natur. Die eine gilt als abstrakt und tendenziell unanschaulich, die andere sei dem Leben und seiner Veränderlichkeit affin. Die Hierarchie zwischen beiden leidet jedoch keinen Zweifel, heißt die eine doch die ›erste und höchste‹ und die andere die ›zweite‹.Footnote 105 Sie scheinen Alternativen, aber die ›zweite‹ begleitet auch die ›erste‹, sie modifiziert sie, indem sie ihr weichere Züge hinzufügt. In diesem Sinn stellt sie ein Supplement dar wie der Gürtel der VenusFootnote 106 oder, theoretisch stimmiger, eine weitere Schicht in einer komplexen Vorstellung von Schönheit.Footnote 107 Die erste ›Grazie‹ ist offenbar ein umfassenderer, allgemeinerer Begriff, die zweite ein engerer.

Beide werden säuberlich getrennt, aber trotzdem – oder vielleicht gerade deshalbFootnote 108 – geht es jedoch nicht ohne Widersprüche ab: ›Grazie‹ kennzeichnet prinzipiell den schönen Stil, in der Variante als hohe gehört sie aber zum hohen Stil, obwohl dieser eigentlich die ›Grazie‹ nicht kennt.Footnote 109 Den hohen Stil exemplifizieren Niobe und ihre Töchter, doch auf eine unauflöslich ambivalente Weise. Denn sie gelten als dessen »ungezweifelte Werke«,Footnote 110 andererseits verdankt die zentrale Figur ihre besondere Qualität eben der ›Grazie‹, dem distinguierenden Merkmal des schönen Stils: »Durch dieselbe wagte sich der Meister der Niobe in das Reich unkörperlicher Ideen und erreichte das Geheimnis, die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu vereinigen«Footnote 111. Unterm Aspekt einer stilistischen Entwicklung steht das Werk offenbar genau am Übergang zwischen zwei Stilen; es gehört zum früheren, strengeren und muss doch mit dem Definiens des späteren, sanfteren charakterisiert werden. Oder anders: Die differentia specifica des schönen Stils, die ›Grazie‹, muss in zwei Arten aufgespalten werden, damit sie auch auf den hohen Stil passt. Da die ›hohe Grazie‹ jedoch unanschaulich ist, wird dieser Stil unfassbar. Niobe aber zeigt ihn. An ihr wird die bildlose ›Grazie‹ sichtbar. Wie ist das möglich? Sie ist offenbar ein Werk, das dasjenige, was seine Klasse oder Stufe ausmacht, sowohl verkörpert wie transgrediert. Doch kann die Ausnahme das Muster bilden? Oder ist Niobe etwas wie die Erscheinung am Rand, durch die erst grundsätzliche Probleme eines ganzen Feldes deutlich werden? Wird an ihr sichtbar, was an proto- oder idealtypischen Fällen unsichtbar bleibt? Macht sie klar, dass ›hohe Grazie‹ unsinnlich ist, weil man sie an ihr ausnahmsweise sinnlich erfährt?

Niobe stellt in Hinsicht auf die Perzeption ein Paradox dar. In der Systematik des ›Wesens der Kunst‹ ist sie ein Schwellenphänomen und in der Sequenz der Stile ein Grenzfall. Mit Vokabeln aus dem Kontext von Initiationsriten wird ihr liminaler Charakter markiert. Das Werk beruht auf einem gefährlichen, riskanten Unternehmen (»… wagte sich…«) – ein verbotener, heiliger Bezirk (»das Reich unkörperlicher Ideen«) wurde betreten, was einer Befleckung gleichkommt, denn der Künstler kann nicht umhin zu versinnlichen –, etwas Verborgenes, Sekretiertes (»das Geheimnis«) befand sich darin, zwei sonst unvereinbare Partner wurden miteinander liiert; Todesangst und Schönheit »zu vereinigen« ist im Literalsinn paradox. Das Ganze schwebt derart in einer Aura von Kult und Mysterium. Und das heißt, es ist fernab von der behaupteten Intelligibilität. Damit wäre ›Grazie‹ – wieder einmal im Jahrhunderte alten westlichen Kunst- und Ästhetikdiskurs – etwas Unfassbares. Dabei soll diese doch gerade keine diskursive Leerstelle sein.

Winckelmann schlägt mit seiner Definition von ›Grazie‹ in ein unübersichtliches Feld eine Schneise. Mit geradezu barockem Ordnungswillen konstruiert er eine bilaterale Anlage,Footnote 112 aber dennoch gibt es Konfusion. Das dürfte Symptomwert haben. Zu vermuten ist, dass sich hinter der doppelgesichtigen ›Grazie‹ die vielgesichtige charis regt.

Dem Gräkophilen und (in gewissen Grenzen) Gräkophonen war der Term vertraut, und nicht nur in der Pluralform. Er kennt einschlägige Stellen aus der Literatur; allein auf den wenigen Seiten der Geschichte der Kunst des Altertums, an denen er die beiden Spielarten beschreibt, zitiert er dazu direkt und indirekt unter anderem Homer, Pindar, Hesiod, Xenophon, Platon, Pausanias und Plinius, der das Wort wohl erstmals kunstliterarisch, d.h. in Bezug auf Malerei, verwendet und mit venus übersetzt hat.

Der zentralen Passage sieht man noch an, dass sie aus Zitaten und Paraphrasen geflochten ist:

Diese Grazie in Werken der Kunst scheint schon der göttliche Dichter gekannt zu haben, und er hat dieselbe in dem Bilde der mit dem Vulcanus vermählten schönen und leichtbekleideten Aglaia und Thalia vorgestellt, die daher anderswo dessen Mitgehilfin genannt wird, und arbeitete mit demselben an der Schöpfung der göttlichen Pandora. Dieses war die Grazie, welche Pallas über den Ulysses ausgoß, und von welcher der hohe Pindarus singt; dieser Grazie opferten die Künstler des hohen Stils. Mit dem Phidias wirkte sie in Bildung des olympischen Jupiters, auf dessen Fußschemel dieselbe neben dem Jupiter auf dem Wagen der Sonne stand: sie wölbte, wie in dem Urbilde des Künstlers, den stolzen Bogen seiner Augenbrauen mit Liebe und goß Huld und Gnade aus über den Blick seiner Majestät. Sie krönte mit ihren Geschwistern und den Göttinnen der Stunden und der Schönheiten das Haupt der Juno zu Argos als ihr Werk, woran sie sich erkannte, und an welchem sie dem Polycletus die Hand führte. In der Sosandra des Kalamis lächelte sie mit Unschuld und Verborgenheit; sie verhüllte sich mit züchtiger Scham in Stirn und Augen und spielte mit ungesuchter Zierde in dem Wurfe ihrer Kleidung. Durch dieselbe wagte sich der Meister der Niobe in das Reich unkörperlicher Ideen und erreichte das Geheimnis, die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu vereinigen: er wurde ein Schöpfer reiner Geister und himmlischer Seelen, die keine Begierden der Sinne erwecken, sondern eine anschauliche Betrachtung aller Schönheit wirken: denn sie scheinen nicht zur Leidenschaft gebildet zu sein, sondern dieselbe nur angenommen zu haben.Footnote 113

All diese Referenzen liefern Material zu charis und Chariten. Sie sollen die ›hohe Grazie‹ illustrieren. Inwiefern sie das können, ist indes nicht ganz leicht zu sehen. Winckelmann tut so, als sei evident, was Odysseus’ Erscheinung, Pindars Poesie, die herrscherliche Miene des höchsten Gottes und das Lächeln AphroditesFootnote 114 gemeinsam haben. Und vor allem: Wie können ein Spielen mit dem Kleid und die Verbindung von Todesangst und Schönheit in die gleiche Kategorie fallen?

Das Material ist uneinheitlich. Mythologie, Dichtung und Charakterisierungen bildender Kunst werden nicht unterschieden, ebenso wenig eindeutig ästhetische Eigenschaften von moralischen (»Unschuld«, »Scham«). Personifizierungen stehen neben der Anmutung eines Menschen, Handlungen einer Gottheit neben Effekten eines Kunstwerks, zeremonielle Tätigkeiten neben dem Gegenstand dichterischer oder bildnerischer Darstellung und expressive Gesichtszüge neben einer gerade nicht kodierten Bewegung.

Die fehlende Differenzierung zwischen ethisch und ästhetisch mag mit der griechischen Kalokagathie übereinstimmen, sie ist aber auch im Sinn Winckelmanns und seiner Zeit, die Moral und Kunst noch unvollständig trennt; letztere wird allemal von ihm selbst noch nicht als autonome konzipiert. Wie aber passen die anderen Aspekte zusammen? Ein Blick in die erwähnte Stelle aus der Odyssee ist dafür aufschlussreich. Dem »Sohn des Laertes«, heißt es, »goß Athene göttliche Anmut (charin) über Haupt und Schultern und machte ihn größer und voller anzusehen, damit er allen Phaiaken lieb (philos) und furchtbar und ehrwürdig (deinos t’aidoios) werde und viele Wettkämpfe bestehen möchte, in denen sich die Phaiaken mit Odysseus versuchen würden.«Footnote 115 Das Spektrum von charis ist hier bemerkenswert groß: Es reicht von einer veränderten körperlichen Statur über anziehend und liebenswert bis Furcht einflößend, Scheu erweckend, einschüchternd. Die Gabe der Göttin – ›übergießen‹ ist eine Geste der sparsio oder largesse – hat Odysseus verwandelt, nun beeindruckt er mit seinem Charisma. Zugleich ist das mehr als eine Augentäuschung. Seine Wirkung auf andere wird unmittelbar verknüpft mit rivalisierenden Aktivitäten; die verliehene charis befähigt ihn zum athletischen Sieg. Der Kontext der Wettkämpfe verbindet die Stelle mit Pindars Hymnik.Footnote 116 In Versen, auf die Winckelmann selbst in seinen Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums verweist, ist zudem von einer noch erstaunlicheren Umwandlung durch charis die Rede: In der Ersten Olympischen Ode heißt es: »Charis, die Sterblichen all das Liebliche (hapanta … ta meilicha) bereitet,/ trägt Geltung auf und ersinnt vielfach, daß auch Unglaubliches (apiston)/ glaublich (piston) sei«.Footnote 117 Sie ist eine Macht, die Menschen dazu bewegt, Unglaubliches mit Glaublichem zu vertauschen. Als unwiderstehliche Überzeugungskraft konvertiert sie es in sein Gegenteil. Diesen Tausch markiert die pointierte Formulierung, indem sie im Original die Worte apiston und piston in einer einzigen Verszeile aufeinandertreffen lässt.

Dichtungen haben für das Verständnis von charis viel zu bieten. Winckelmann versucht, dies für die bildende Kunst zu nutzen. Unter anderem erwähnt seine Umschreibung der ›hohen Grazie‹ rituelle Handlungen. Selbst wenn sie nur noch metaphorisch gemeint sein mögen, weisen sie doch auf eine entscheidende Dimension der charis: Laut Winckelmann ›opfern‹ ihr die Künstler, und die derart verehrte Gottheit gießt – wie bei Homer Athene – »Huld und Gnade«Footnote 118 aus; sie ›krönt‹ das Haupt von Polyklets Juno-Statue, vollführt also ihrerseits einen Akt der Ehrung.Footnote 119 Auch das schlägt wieder eine Brücke zu Pindar.

Die ›hohe Grazie‹ besteht also in einer bestimmten Beziehung zwischen Göttern und Menschen, hier insbesondere Künstlern, oder auch, wie im Fall der poetischen Preisungen, in einer zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen. Sie ist ein Verhältnis von Geben, Annehmen und Erwidern; die einen bringen ›Opfer‹ dar, die anderen gewähren ›Huld und Gnade‹. Gaben und Gunst sind Momente ein und desselben Austauschprozesses.

Wenn ›Grazie‹ ein kunsttheoretischer Begriff sein soll, mit dem sich Werke qualifizieren und Stile charakterisieren lassen, dann muss diese soziale Beziehung in Kategorien der Gegenstandsbeschreibung transformiert werden. Zugleich muss die soziale Relation aber auch erhalten bleiben, denn ›Grazie‹ lässt sich nicht als Eigenschaft einer Person, auch nicht einer aus Marmor, fassen. Sie ist keine einzelne Qualität, sondern ein Verhältnis. Wie soll an einem Individuum, künstlerisch dargestellt oder nicht, die gesellschaftliche Beziehung der Gabe hervortreten? Die Gedancken sprechen davon mehr in Hinsicht auf die Lebensform als auf die Kunstwerke, geht es in der Frühschrift doch mehr um Kultur- als um Kunsttheorie. Zur Analyse und Einordnung der Kunstwerke aber sucht Winckelmann, aus heterogenen Referenzen zur charis etwas operativ Brauchbares zu gewinnen. Das ist nicht anders möglich als durch Reduktionen einer breiten Semantik. Die vielen Bedeutungen der charis lassen sich jedoch in das von ihm geschaffene Korsett der doppelten ›Grazie‹ nicht einzwängen. Davon zeugt nicht zuletzt das Oszillieren zwischen hohem und schönem Stil an einem für ihn besonders herausragenden Werk.

Winckelmann deutet auf den hier betrachteten Seiten der Geschichte der Kunst des Altertums nur einige Facetten der charis an und schränkt ihre Bedeutung kunsttheoretisch und ästhetisch ein. Die soziale Dimension ist nur indirekt präsent. Doch Winckelmann findet sie zum einen an den Akteuren selbst, zum anderen im Verhältnis des Betrachters zum Kunstwerk. Das soll ein genauerer Blick auf weitere Textstellen zeigen.

V.

›Grazie‹ als Verhältnis des Handelnden zur Handlung

Im Essay über ›Grazie‹ bestimmt Winckelmann den Term u.a. mithilfe der Stichworte ›gefällig‹ und ›Geschenk‹, die zum semantischen Feld von charis gehören. Die Rede vom »Geschenk des Himmels«Footnote 120 ruft eine asymmetrische Gabe auf, die auch an die christliche ›Gnade‹ (eine zentrale Bedeutung der lateinischen gratia) erinnert. Die Formulierung steht an exponierter Stelle, nämlich ganz am Anfang, und der erste Absatz enthält eine Art Definition. Daher verbietet es sich, in dem Ausdruck nur einen Topos zu sehen. Vielmehr sucht Winckelmann damit, das komplizierte Verhältnis von günstigen Voraussetzungen und menschlicher Leistung zu benennen. Er wählt das Wort ›Grazia‹, um einen breiteren Sinn als den der deutschen Vokabeln ›Anmut‹ oder ›Reiz‹ zu bezeichnen; zugleich muss er, wie erwähnt, das Gemeinte von der theologisch konnotierten grâce absetzen und vom unbestimmbaren je ne sais quoi, das ebenfalls die Einbruchsstelle für eine absolute, unberechenbare Macht darstellt, sei sie eine göttliche, politische oder die heftigster Affekte. Ziel seiner aufklärerischen Argumentation ist, ›Grazie‹ als etwas erscheinen zu lassen, was auf erzieherischem Weg gewonnen werden kann, nämlich durch die Nachahmung des griechischen Vorbilds.Footnote 121 Die Lösung für die Verbindung von Gegebenem und Gemachtem besteht hier darin, dass ›Grazie‹ ein zu entwickelndes Potenzial darstellt.Footnote 122 Anders als ›Schönheit‹, die eher Zustand und Resultat impliziert, sei jene nur »Ankündigung und Fähigkeit zu derselben«Footnote 123. Sie ist eine didaktische Vorstufe oder ein unterer Grad des Ästhetischen; an ihr kommen daher mehr als an der abstrakteren ›Schönheit‹, zu der man sich von der Sinnlichkeit aus hocharbeiten muss, Lehr- und Lernbarkeit zum Tragen.Footnote 124

Dabei dürfte der Gedanke an den zeitgenössischen konventionellen Charakter der ›Grazie‹ mitschwingen. Sie ist nicht nur, aber auch in Winckelmanns Gegenwart – in der spätbarocken oder Rokoko-Kultur und ihren bürgerlichen Abwandlungen – ein sozialästhetisches Phänomen, das tatsächlich »alle[…] Handlungen« bzw. »[a]ller Menschen Thun und Handeln«Footnote 125 betrifft. Sie reguliert die face à face stattfindenden Interaktionen. Da Kunst ›nachahmt‹, trennt Winckelmann die performative Grazie im sozialen Umgang und die Wirkung einer Person auf andere nicht von Darstellungen in Malerei und Skulptur; er unterscheidet weder die Künste voneinander noch Repräsentationen einerseits von lebenden Individuen oder gesellschaftlichen Praktiken andererseits. Angesichts der artifiziellen Umgangsformen leuchtet dies bis zu einem gewissen Grad ein. Denn in Hinsicht auf Posen und Gebärden galten im Prinzip die gleichen Regeln für Schauspielerei, Tanz, Benehmen in der Gesellschaft und die Haltung eines Menschen auf der Leinwand oder in Marmor. Kunst ist auch von Konvenienz noch nicht definitiv gesondert. Beide sind noch Aspekte des ›Geschmacks‹, also der gesamten Kultur, die es nun nach dem griechischen Modell auszurichten gilt.

›Grazie‹ findet, wenn überhaupt, in Bewegungen und Aktivitäten statt, und zwar nur in menschlichen. Im Wind segelnden Blättern eignet sie ebensowenig wie einem flüchtenden Reh. »Ihre Eigenschaft ist das eigenthümliche Verhältniß der handelnden Personen zur Handlung«.Footnote 126 Das meint offenbar nicht nur ganz generell die Art, wie etwa eine Geste des Flehens ausgeführt wird oder Schmerz zum Ausdruck kommt, während sie in jeder Variation doch als solche erkennbar (und zugleich vernunftgemäß moderiert) sein müssen. Die Fortsetzung des zitierten Satzes lautet mit einem typisch Winckelmann’schen Vergleich: »[D]enn sie [die Grazie, S.M.] ist wie Wasser, welches desto vollkommener ist, je weniger es Geschmack hat.«Footnote 127 Demnach muss das Verhältnis der handelnden Person zur Handlung derart sein, dass die Differenz zwischen Akteur und Aktion zwar vorhanden ist – wenn nicht, wären, wie Kleist argumentieren wird, die Bewegungen eines Tieres oder mechanischen Apparats das Ideal –, aber für die Wahrnehmung verschwindet. Wasser darf keinen Eigengeschmack haben; analog muss jegliche »fremde Artigkeit«Footnote 128 oder jeglicher Eindruck von auferlegter, dem eigenen Körper nicht assimilierter Regel, von Reibung mit Gegebenheiten der Situation, einem präsumtiven Zweck o.ä. fehlen. Die höchste Qualität des Wassers und die des graziösen Gebarens sind negativ charakterisiert: durch den Mangel an Eigenschaften. Doch anders als der Vergleich suggeriert, ist die Absenz sinnlicher Wahrnehmbarkeit für die ›Grazie‹ nicht plausibel, denn: »Im Unterricht über Werke der Kunst ist die Grazie das sinnlichste«Footnote 129. Wenn dieses eskamotiert wird, gibt es auch keine ›Grazie.‹ Winckelmann charakterisiert sie nicht, wie es viele andere getan haben, durch fließende Bewegung, Leichtigkeit,Footnote 130 Flüchtigkeit, Eleganz, erotische Attraktivität und dergleichen Qualitäten, sondern bestimmt sie als eine Relation. Doch welches ›eigentümliche Verhältnis des Handelnden zur Handlung‹ ist da gemeint?

Zunächst lassen sich daran zwei Probleme unterscheiden: Das eine ist eine Beziehung von ›fremd‹ und ›eigen‹, ›anderen‹ und ›selbst‹ – Winckelmanns Nachfolger sprechen von hetero- und autonom –, zwischen Kollektiv und Individuum; das andere ist eine Beziehung zwischen zwei Momenten der Bewegung selbst.

V.1.

›Grazie‹ als alternativer Habitus

Die Übereinstimmung zwischen den Äußerungen eines Einzelnen und den Anforderungen einer sozialen Gruppe, der er angehört, lässt sich – üblicherweise und jenseits von Winckelmanns Begrifflichkeiten – mit dem Habituskonzept erläutern.Footnote 131 ›Grazie‹ wäre dann die mustergültige Inkorporation der kollektiven Regeln; diese sind den graziös wirkenden Einzelnen derart zur zweiten Natur geworden, dass sie selbst ihrem eigenen Empfinden nach zwanglos handeln. Dazu kommt bei Bourdieu indes noch der kritische, letzten Endes die Struktur betonende Gedanke, die Akteure brächten, wenn sie ihrer Zweitnatur gemäß handeln, ohne Wissen und Absicht die Gesetzlichkeit ihres Kollektivs zur Wirkung. Die Freiwilligkeit ihres Tuns erweist sich derart als Täuschung. Zu diesem Prinzip findet sich bei Winckelmann freilich keine Entsprechung.

Wenn er ›Grazie‹ als soziokulturelle Natur fasst, hat das eine doppelte Valenz: eine polemisch-abwehrende und eine beschwörerische. Denn im Grunde hat er drei Gesellschaften vor Augen: die ideale griechische, die er aus Elementen des Homerischen Adels und des Perikleischen Athen konstruiert; deren modernes Gegenteil, den absolutistischen, v.a. französischen, Hof mit seiner zentralisierten Macht und einer Geschmackskultur à la Bernini; und schließlich die aktuelle, die er selbst erlebt: Sie deckt sich als moderne mit der negativ gezeichneten höfischen, unterscheidet sich von ihr jedoch durch die Möglichkeit der Veränderung; sie lässt sich qua Erziehung verbessern. Eben das ist die Perspektive des neoklassizistischen Kulturprojekts.

Einem historischen Blick auf die sozio-ökonomischen und politischen Möglichkeiten zeigen sich vielfältige Mischungen, soziale Ausdifferenzierungen, Abhängigkeiten, Kooperationen und Netze, in denen sich jene kritisierte Welt und andere, jüngere (im Emanzipationsnarrativ pauschal ›bürgerlich‹ genannte) Strukturen verknüpfen. Ein mittelloser Gelehrter wie Winckelmann, der auf Patronage angewiesen ist, bewegt sich auf mehreren Ebenen. Er agiert flexibel in vertikalen und horizontalen Beziehungen. Die politische und finanzielle Macht begegnet ihm dabei – wie vielen seiner Zeitgenossen auch – weniger im Regenten selbst als in den hohe Ämter ausübenden Aristokraten, die je nachdem als Mittler, Makler, Türöffner oder als deren Gegenteil fungieren. Akteure wie er können eine ihren Leistungen entsprechende Anerkennung nicht einfordern, sie können nur vielfach darum werben, sich (u.a. durch Buch-Geschenke) empfehlen und empfehlen lassen, Kontakte zu wirksamen Brückenpersonen suchen, diese Beziehungen pflegen, nach Möglichkeit ausbauen usw. Die sozialen Verkehrstechniken sind situationsgemäß äußerst komplex und verlangen den Akteuren einige Virtuosität ab. Zu den vielfach geregelten, ja übermäßig regulierten und doch nie vollständig beherrschbaren Spielen gehört aber auch die andere Seite: Im besten Fall aufgeklärter Regentschaften gewinnen beide Parteien durch Kooperation. Doch selbst wenn beide ihre Interessen realisieren können, bleiben die Beziehungen für einen Gelehrten in hohem Maße unkalkulierbar, allemal in ökonomischer Hinsicht.

Direkt wendet sich Winckelmann nicht gegen diese Zustände, aber die ganzen vehementen Attacken auf den ›schlechten Geschmack‹ sind bis zu einem gewissen Grad auch eine ins Ästhetische verschobene sozio-politische Kritik.Footnote 132 Sie stellt die eigene Zeit ins Licht der Ideal-Kultur. Der Lieblingsfeind Bernini vertritt dabei nicht nur eine überholt scheinende Kunst, sondern metonymisch auch das ganze System, dessen Repräsentationsansprüchen der Hofkünstler dient.

Für die Frage des Habitus oder der ›Grazie‹ als Absenz von ›Fremdartigkeit‹Footnote 133 heißt das: Die Gegenwart ist – noch – eine Epoche des ›schlechten Geschmacks‹, aber sie hat die Möglichkeit, einen besseren zu erlernen. Dafür sind Diskrepanzen zwischen dem zu erziehenden Einzelnen und dem Kollektiv, mit dem er konsonieren soll, wesentlich. Indiz für Verwerfungen zwischen den Ansprüchen des Individuums auf Herzensreinheit – man kann auch sagen auf das Gefühl der Übereinstimmung mit sich und seiner Gemeinschaft oder Selbstsein – und denen der offiziellen Inszenierungskultur ist die »gezierte Zierlichkeit, eine übertriebene und erzwungene und übel verstandene Grazie«Footnote 134 in der zeitgenössischen Kunst. Winckelmann formuliert nicht zufällig tautologisch: Es findet eine Multiplikation, eine quantitative Steigerung statt, um die hohe und die gefällige ›Grazie‹ zu überbieten. Im Wettbewerb der ›Modernen‹ mit den ›Alten‹ gibt es einen Potlatsch ästhetischen Gebarens mit ruinöser Wirkung. Die barocke Welt produziert demnach eine groteske Perversion der Entsprechung zwischen Politik und Kultur, denn wo die Machtfülle exzessiv ist, verliert auch die Kunst jedes Maß; konzentriert jene alles zur absoluten Einheit, wuchern in dieser im Gegenzug die Details. Beiden Seiten gemeinsam ist die Überzogenheit. Die Schelte auf diese hybrid potenzierte ›Grazie‹, vertreten von Bernini und anderen Bildhauern, trifft implizit die Kultur der französischen grâce und der Preziosität. Aus der zeittypischen Perspektive einer Moralität der Innerlichkeit, wie sie Winckelmann geltend macht, handelt es sich bei jener Kultur um eine nur artifizielle, rhetorische Angelegenheit. Insofern ihr das ›Geschenk des Himmels‹ oder der ›Natur‹ fehlt, ist sie gabentheoretisch betrachtet defekt. Alles ist hier manipulativ, künstlich, machbar und virtuos gemacht, alles ist im schlechten Tausch aus Gefälligkeiten und Begünstigungen erlangt, nichts einfach gegeben – diese Kultur kennt, kann man sagen, immer nur das allzu geschmackreiche Nass, nämlich Wein und Likör.

Der Vergleich mit dem reinen Wasser ist freilich auch exzessiv, denn er spricht dem einen Fall ausschließlich Kultur zu, während er in Hinsicht auf den anderen jeden Kulturanteil verleugnet: Das Wasser ist eine schlichte Natur-Gegebenheit. Die griechischen Zustände werden dagegen, wie erwähnt, als (eine bestimmte Art) Natur-Kultur beschrieben. Zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, so unterstellt Winckelmann, gibt es in diesem Fall keine Friktionen. Der Habitus der Akteure aber zeigt hier nicht, dass diese Agenten objektiver Strukturen sind, die ihnen selbst entgehen, gerade weil sie sie praktizieren. Er zeigt vielmehr, dass sie vollwertige Teilnehmer an einem Gemeinwesen sind, das sie selbst ausmachen und aus dem sie ihre Identität beziehen. Agierend und mit anderen interagierend verwirklichen sie sich als das, was sie – aufklärerischem Verständnis nach – von Natur aus sind: sich selbst bestimmende Individuen.Footnote 135 Wenn das ›Verhältnis des Handelnden zur Handlung‹ unsichtbar wird, weil es keine ›Fremdartigkeit‹ gibt, ist dies ein kontrafaktisches Bild zur Aktualität, die den Einzelnen nötigt, sich in letzten Endes immer unkontrollierbar bleibende Abhängigkeiten zu begeben.

Fern vom Ideal einer ›demokratischen‹ Polis (und nicht-idealen, aber intelligiblen ökonomischen Verhältnissen) ist eine mögliche soziale Gemeinschaft für einen aufgeklärten Kopf in dieser Zeit die Gruppe der Freunde. Die Kultur (aber vor allem der Kult) der Freundschaft orientiert sich am antiken Modell der philia.Footnote 136. Winckelmann, seine Zeitgenossen und Nachfolger, man denke an die ›Weimarer Kunstfreunde‹, suchen diese Art nicht-institutioneller Sozialität nicht nur bei anderen Gelehrten und Kollegen, sondern setzen auf die Gemeinschaft derjenigen, die die »Empfindung des Schönen«Footnote 137 gelernt haben. Freundschaft und ästhetische Sensibilität vermögen informelle Zusammenschlüsse quer zu bestehenden Institutionen zu konstituieren. Mitgliedschaft beruht hier nicht auf Satzungen und Aufnahmeritualen, sie wird nicht verbrieft, sondern emergiert allein aus der Praxis, z.B. der Kunstbetrachtung und deren Mitteilung im freundschaftlichen Austausch von Briefen, Schriften und anderen Gaben. Zugehörigkeit erkennen die Akteure an eben diesem zu anderen Arten alternativen Habitus. Wenn sich Winckelmann von Angelika Kauffmann mit offenem Hemdkragen oder von Franz Anton Maron mit Hausmantel und turbanartiger Mütze malen lässt, dann zeigt er sich nicht als Teil einer repräsentativen Öffentlichkeit, sondern so, wie ihn der intime Kreis der Freunde kennt. Seine Aufmachung ist lässig – das Gegenteil von ›gezierter Zierlichkeit‹ –, sie zeugt von einer gewissen sprezzatura, ist also eine Manifestation von ›Grazie‹.Footnote 138

V.2.

›Grazie‹ als kinetisch-kinästhetische Melodie

Lässt sich das ›Verhältnis des Handelnden zur Handlung‹ in Hinsicht auf ›fremde‹ und ›eigene‹ Regeln soziologisch kommentieren, gilt das für die Beziehung von zwei Momenten in der Bewegung selbst nicht; sie kann man nur phänomenologisch beschreiben. Aus dieser Sicht sind wir, was wir tun, aber bevor wir etwas Bestimmtes tun, bewegen wir uns, ja, wir sind Bewegung.Footnote 139 Phänomenologisch macht es daher keinen Sinn, den Akteur von seinem Tun zu unterscheiden; beide sind Momente einer Bewegung, in der Aktiv und Passiv die Plätze tauschen – wie im Modell der Hand, die als berührende auch berührt wird. Die Tänzerin lässt sich nicht als Subjekt ihrem Tanz als Objekt gegenüberstellen, sondern das eine existiert nur durch das andere. Und das Gleiche wie für den Tanz gilt auch für Gehen und Gang u.ä. Grammatisch wäre ›das Verhältnis der oder des Handelnden zur Handlung‹ als ›medial‹ zu beschreiben: Das Subjekt ist Ort eines Prozesses, dessen Zentrum und gleichzeitig handelnde Person; es tut etwas, was ihm geschieht, was sich an ihm vollzieht. Das Subjekt ist Teil eines Geschehens, das von ihm ausgeht. Man denke an Verben wie wachsen, ruhen, geboren werden o.a.Footnote 140 ›Grazie‹ wäre nach diesem Muster in einem Tun zu finden, bei dem die Person ein Moment des von ihr angestoßenen Prozesses ist. Alte Sprachen haben dafür mediale Verben, moderne intransitive oder den intransitiven Gebrauch aktiver Verben; tanzen, ohne ›etwas‹ zu tanzen, schreiben ohne bestimmte Mitteilung, gehen, ohne irgendwohin gelangen zu wollen, spielen ohne Skript wären Beispiele.

In einer Winckelmann noch nicht zur Verfügung stehenden Terminologie gesagt, entspräche dem Verhältnis von Handlung und Handelndem die Unterscheidung von Bewegung und Bewegungsempfindung oder Kinese und Kinästhesie.Footnote 141 Der menschliche (und prinzipiell der lebendige) Akteur hat ein ›Verhältnis‹ zu seiner Bewegung: das einer Wahrnehmung, die jede Bewegung begleitet. Sie kommt prinzipiell zum bloß automatischen routinierten Vollzug hinzu; anders als etwa das Sehen, lässt sich dieser ›Sinn‹ nicht ausschalten, die entsprechende Wahrnehmung nicht unterbinden. Ohne Propriozeption kann der Akteur die einfachsten ›Handlungen‹ nicht ausführen. Erst mit der kinästhetischen Dimension ist ein normaler – fließend erscheinender – Ablauf einer gelernten, zur alltäglichen Routine gehörigen Bewegung möglich. Dass Handelnder und Handlung nicht auseinandertreten, hieße demnach, dass für den Akteur im Empfinden der Bewegung nichts stört und für den Betrachter nichts stockt. Üblicherweise entrollt sich die durch Übung erworbene Bewegung, etwa die des manuellen Schreibens, von einem Impuls aus als kontinuierliche Sequenz vieler einzelner Momente; diese sind auf komplexe Weise zu kinetischen und kinästhetischen ›Melodien‹ (Luria) verbunden. Bei diesen handelt es sich um in den Körper eingeschriebene dynamische Bewegungsmuster. Sie bilden das basale, weite und potenziell sich immer erweiternde Repertoire des ‹Ich kann› (Husserl), das das menschliche Leben durchzieht; man denke an Gehen, Ziehen, Schieben, Tragen, Werfen, Sprechen..., aber eben auch an Schreiben, Schwimmen, Klavierspielen, eine handwerkliche, z.B. chirurgische, Operation Ausführen u.a.m. Dass diese ›Melodien‹ als geordnete, sukzessive Ganzheiten performiert werden, wäre der Zustand der Gesundheit und des normalen körperlichen Könnens. Dabei machen wir unsere gelernten Bewegungen gemäß den Gesten und Rhythmen, die wir fühlen; das heißt, sie vollziehen sich nicht nur von selbst. Sie sind auch mehr als ein know-how, nämlich gesättigt mit kognitiven und affektiven Momenten, die den Ablauf jeder ›Melodie‹ individualisierenFootnote 142 Die Bewegungsempfindung kann auch bewusst werden, und sie kann von der Bewegung differieren. Hier tut sich etwas wie eine Veränderungsmöglichkeit auf; der Akteur wird von den körperlichen Routinen getragen, ist aber nicht nur ihr Gefangener.

Kinese und Kinästhesie werden am einzelnen Körper studiert, sie betreffen jedoch nicht nur ihn. Denn gelernte Bewegungsabläufe sind auch Techniken, durch die sich Gesellschaften und Kulturen in einen Körper einschreiben. Er bildet nicht nur sein jeweils eigenes ›Gedächtnis der Glieder‹ (Proust) aus, sondern teilt kollektive Erinnerungen und trägt sie weiter. Körper und ihre Aktivitäten stellen das nachhaltigste soziale Gedächtnis überhaupt dar. Insofern bleiben Kinese und kinästhetische Empfindung, auch wenn sie vom Individuum vollzogen und erlebt werden, nicht ›privat‹; seine Bewegungen partizipieren vielmehr an einem kollektiven Körper- bzw. Leibgedächtnis. Die ›handelnde Person‹ ist derart, auch wenn sie irgendwo allein auftritt, nie mit sich allein, denn selbst in ihren intimen Gesten oder ihrem Gefühlsausdruck ist sie ein soziokulturelles Wesen. Bewegungsphänomenologische und soziologische Betrachtung treffen sich hier.

Wenn ›Grazie‹ in den kinetisch-kinästhetischen Melodien eines gesunden Menschen bestünde, wäre sie also nichts Besonderes; für den Akteur wie für einen Beobachter, somit aus der Perspektive der ersten wie aus derjenigen der dritten Person, gliche sie klarem, neutralem Wasser. Wie kostbar dieses ist, bemerkt man allerdings, wenn Wasser einen Beigeschmack hat; wie ›graziös‹ die für selbstverständlich geltenden Bewegungen eines intakten Körpers sind, zeigt sich, wenn sie durch Krankheiten, Unfälle oder Alter beeinträchtigt werden.Footnote 143 Wasser brilliert mit der Absenz von Eigenschaften, ›Grazie‹ durch ihre Nähe zu Normalität und Gesundheit; auch diese werden heute negativ definiert, etwa als Nichtüberschreitung gewisser Zahlenwerte. In der Absenz des Bemerkbaren aber liegt freilich das Potenzial zur (ästhetischen) Langweiligkeit.

Winckelmann moniert an seinen Zeitgenossen artifiziell wirkende Bewegungen, zu denen steife, die Form des Körpers entstellende Kleidung das Ihre beiträgt. Diese Motorik wird in der Kunst gerahmt und zur Anschauung gebracht: als »gezierte Zierlichkeit«Footnote 144; deren Prinzip ist, wie der tautologische Ausdruck zeigt, Forciertheit. Winckelmann macht daraus ein zeitdiagnostisches Argument. In der Epoche der ›Modernen‹ sind offenbar die kinetisch-kinästhetischen ›Melodien‹ gestört; die gegenwärtigen Menschen bewegen sich wie Hirnverletzte oder wie Automaten, die sich zwar bewegen können, aber keine Bewegungsempfindung haben. Sie müssen einfachste ›Handlungen‹ gezielt vornehmen, statt sich auf Routinen des Körpers verlassen zu können. Oder wenn sie Routinen haben, dann fehlt ihnen bei deren Ausführung die Selbstwahrnehmung, die den erlernten Mustern einen geschmeidigen Fluss verleiht, sie individuell tönt, affektiv auflädt und zu einem kognitiven Reservoir macht; stattdessen schnurren die Akteure das Antrainierte ab wie Maschinen. Eine Bewegung folgt auf die andere, aber es ruckelt. Bei Menschen ist dies hochgradig pathologisch. Es fällt jedoch – so mag man Winckelmann paraphrasieren – offenbar kaum jemandem auf; als wären Kinetiker ohne Kinästhesie unter sich, wissen die Zeitgenossen nichts von dem ihnen fehlenden sechsten Sinn. Sie wollen ohne diesen graziös sein, was indes nur zur falschen, ›übel verstandenen Grazie‹ führt. Das bemerken sie – oder zumindest einige von ihnen –, wenn sie den antiken Statuen begegnen: An ihnen erkennen die ›Modernen‹, wie steif, alt, krank und gestört sie sind. Die griechischen Gestalten zeigen ihnen ihre Distanz vom normalen Ablauf erworbener Routinen: von der kinetisch-kinästhetischen Einheit der Bewegung. Neurophysiologen sehen in diesem Modus Gesundheit, Winckelmann nennt ihn ›Natur‹.

VI.

Empathie und verkörperte Ästhetik

Wie werden die kinetisch-kinästhetischen ›Melodien‹ der antiken Gestalten wahrgenommen? Statuen bewegen sich nicht und spüren nichts, nur die von ihnen dargestellten Personen tun es; gleichwohl kann über deren Bewegung und Bewegungsempfindung hier auch nur ein Betrachter berichten. Dieses Verhältnis ist bei Winckelmann entscheidend: Der Rezipient fühlt mit den fiktiven Akteuren, leidet, fürchtet, liebt und ist stolz mit ihnen. Durch Empathie geht ihr Gebaren auf denjenigen über, der sich ihnen nähert; »ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen«Footnote 145, heißt es in der Apoll-Beschreibung. Als wirkte der Dargestellte ansteckend, meint der Betrachter physiologische und psychische Veränderungen zu empfinden: »Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben…«Footnote 146

Empathisch vollzieht der Betrachter Bewegungen nach und mit ihnen das sie begleitende Fühlen. Dabei sind alle Sinne involviert, die Aisthesis hat ein enormes Spektrum. Gebärden und Konturen der Statuen bieten nicht nur ein visuelles Erlebnis, sondern auch eines für den Tast- und allemal für den Bewegungssinn; der Rezipient macht auch imaginierte haptische und motorische Erfahrungen. Am Torso spürt er etwa das Fehlen von harten Knochen und angespannten »Sehnen Nerven oder Adern«, also »Weichigkeit«, die nicht schlaff ist, vielmehr »Fleischigkeit«,»mit einer fettlichen Haut überzogen […] feist ohne den geringsten Überfluß«. »Dicke« paart sich mit Zartem, Zärtlichem und Sanftem. Er fühlt Masse, Stärke, Kraft, Macht, Gewicht, aber nicht »die Schwere des dicken Fleisches«, sondern auch Leichtigkeit, »schnelle[…] Kraft«, Gelenkig- und Biegsamkeit zu »geschwinden Wendungen«.Footnote 147 Er verfolgt Vertiefungen und Erhöhungen, Schwellungen und »Höhle[n]«Footnote 148. An den Muskeln des Brustkorbs sieht er verhaltene Andeutungen des Atems.Footnote 149 In den unendlich variablen, ineinander übergehenden Wellenformen der Rückenmuskulatur nimmt er »Schwung« wahr, dessen wechselnde Richtung »das Auge und die Hand irre machet«Footnote 150. Die »schwellende[n] Hügel von Muskeln« werden »weniger dem Gesichte, als dem Gefühle, offenbar«Footnote 151. Die verschiedenen Arten der sinnlichen Perzeption, Optik, Haptik und Motorik, lassen sich hier kaum trennen, der Blick ›tastet‹ tatsächlich die Statue ab, die Hand ist sozusagen sehend, beide sind in Bewegung und lassen Bewegungen imaginieren: Obwohl der Torso einen Ruhenden darstellt und selbst stillsteht, verschafft er Erfahrungen von Laufen, Fließen, Heben, Tragen, Stemmen, Drücken… Eine ganze Palette von Kraftempfindungen tut sich auf. Der Theoretiker der Einfühlungsästhetik Theodor Lipps hätte das ›ästhetische Mechanik‹ genannt: Eigene körperliche Erfahrungen mit Kräften werden auf Formen projiziert. Hier ist diese Übertragung umso leichter, als es sich um eine menschliche Gestalt handelt, deren Aktivitäten sich assoziieren lassen. Einfühlung, heute Empathie, findet, neurowissenschaftlich gesehen, vor allem mit wahrgenommener Bewegung statt. Diese zu sehen soll beim Betrachter dank Spiegelneuronen die gleichen Hirnareale aktivieren, wie wenn er selbst die Bewegung vollzieht; sich bewegen und Bewegung beobachten macht aus dieser Sicht keinen Unterschied. Nicht nur der Athlet, auch der Zuschauer hat demnach kinetisch-kinästhetische Empfindungen. Diese wiederum lassen sich kaum von psychischen Regungen trennen. Der Betrachter hier nimmt angesichts des Hohen und Erhobenen selbst einen ›erhabenen Stand‹ an. Wo eine Brust mächtig wirkt, schwillt ihm die seine. Was ihm groß dünkt, macht ihn selbst groß. Subjekt und Objekt ähneln sich mimetisch einander an. Winckelmann notiert aus einer Hymne von Kallimachos auf Apoll: »Wer ihn sieht, der ist groß«Footnote 152. Das Wahrgenommene macht den Wahrnehmenden ebenso wie umgekehrt. In der Beziehung der Empathie fließt – mit einer Abwandlung von Winckelmanns Metaphorik gesprochen – zwischen beiden Polen ein Wechselstrom. Bei Apoll und Torso ist der Betrachter erotisch affiziert, in anderen Fällen, bei Laokoon etwa, erfasst ihn Schauder oder Mitleid, aber auch die Kraft des Widerstands geht an ihn über.

Der Sprung von der wahrgenommenen Bewegung auf die größten Gefühle ist spekulativ; dergleichen hat dazu beigetragen, die Einfühlungsästhetik zu diskreditieren. Unbestreitbar aber ist, dass kinästhetische Empfindungen auch auf den ganzen Körper ausgreifen und ein Gesamtgefühl erzeugen, die Könästhesie.Footnote 153 Zu ihr gehören Befindlichkeiten wie Wärme, Hunger, Müdigkeit, Krankheitsgefühl. Von diesen Stimmungslagen sind auch manche Emotionen nicht mehr fern. Liebe, Angst, Trauer sind Gesamtzustände. Ein Winckelmann’scher Betrachter gerät in dergleichen. Im Extremfall, beim vertieften Anblick des verstümmelten Herkules, muss er jammern und weinen; er reagiert, wenn auch nur in der verbalen Beschreibung, mit körperlichen Zuckungen. In diesem Sinn hat man es mit embodied aesthetics zu tun.Footnote 154

›Verkörperung‹ beschreibt Winckelmann eigentlich, wenn er, scheinbar gegensätzlich, ›Vergeistigung‹ sagt. Aus seiner Sicht spiritualisiert die antike Kunst die Materie, den Stoff, das Fleisch, und eine idealistisch imprägnierte (ältere) Winckelmann-Forschung hat diesen Zug verstärkt. Die unübersehbare Ambivalenz seiner Texte aber erlaubt genauso, die Perspektive umzukehren und die Versinnlichung zu markieren, wie es seit geraumer Zeit jüngere Forschung tut, ohne dass darum eine Entscheidung allein für diese Seite fallen müsste. Tatsächlich sind seine Aufmerksamkeit auf Aisthetisches auf allen Ebenen und dessen Formulierung mit allen Mitteln bemerkenswert. Er zieht die Register des Empirismus, des medizinischen Wissens, der Klima-Theorie, der Physiognomik ebenso wie die der Mythologie und der Poesiezitate, um den Sinnen Rechnung zu tragen,Footnote 155 während er gleichzeitig ihrem ›höheren‹ Gegenteil das Wort redet. Seine Beobachtungen und Beschreibungen, aber auch viele seiner Intertexte stehen zu etwaigen platonisierenden Ansprüchen in Spannung;Footnote 156 mit großem Nachdruck bringen sie immer wieder die Leiblichkeit zur Spache.

Heute betonen Philosophen, dass das Gehirn nicht isoliert von Körper, Raum, Affektivität etc. denken kann; a brain in a vat ist eine Fiktion von Theoretikern. Bewusstsein lässt sich nicht allein an neurologischen Vorgängen festmachen, und Denken beginnt nicht erst im Gehirn, es ist vielmehr über den ganzen Körper ausgebreitet und findet sozusagen überall statt. Einen derart von Geist durchdrungenen Körper, eine Art erleuchteter »Materie«, findet Winckelmann am Rücken des Torso, der ihm »durch hohe Betrachtungen gekrümmet«Footnote 157 scheint; dieser Rücken ersetzt hier den fehlenden Kopf.

VII.

›Grazie‹ als Anerkennungsverhältnis

Die von Winckelmann an den Skulpturen beschworene ›Grazie‹ ist Teil einer allgemeinen antiken Bewegungskultur. Ihre soziokulturellen Implikationen sind direkt sichtbar, sie zeigen sich an Haltung und Gesten: »Stand und Gebährden an den alten Figuren sind wie an einem Menschen, welcher Achtung erwecket und fordern kann, und der vor den Augen weiser Männer auftritt«.Footnote 158 Posen und Stellung der Extremitäten sind neben der MimikFootnote 159 die einzigen Möglichkeiten der antiken Kunst, mit ihrem ausschließlichen Gegenstand, dem menschlichen Körper, etwas auszudrücken. Nun stellen Gemälde und Skulpturen Menschen in Bewegung dar. Man könnte es sich daher mit diesem Satz einfach machen und sagen: Die in der antiken Kunst auftretenden Personen haben das Gebaren von Adligen. Sie zeigen deren Körperhaltung, Gesten und Mimik, sie sind an ihnen als Höherstehende erkennbar. Und die Formel ›edle Einfalt und stille Größe‹ paraphrasiert im Grunde auch nur die Art, wie die Angehörigen dieser sozialen Gruppe gesehen werden möchten. Sie legen z.B., was auch immer ihnen geschieht, äußerste Selbstkontrolle an den Tag. Kunst zeigt entsprechend an Körperhaltungen das sozial Approbierte, und die Tatsache der Repräsentation selbst bedarf keiner weiteren Beachtung; denn die Selbstdarstellung der Akteure und ihre künstlerische Darstellung unterstehen den gleichen Regeln.Footnote 160

Mir scheint indes, dass der zitierte Satz für die Reflexion der ›Grazie‹ noch etwas Anderes, nicht nur Elitensoziologisches, enthält: Erneut umschreibt Winckelmann das Phänomen durch einen Vergleich, aber nun nicht mit einem Naturgegenstand (Wasser), sondern mit einer sozialen Beziehung: Achtung ist keine Qualität einer Person, sondern ein Verhältnis anderer zu ihr und ihr eigenes durch die anderen vermitteltes Selbstverhältnis. Die Person verlangt und fordert etwas von den anderen, sie weiß sich dazu berechtigt, und die anderen entsprechen ihrer Forderung. Beide Seiten stehen hier in einer wechselseitigen Relation: Die eine erhebt einen Anspruch, die anderen erfüllen ihn; die eine gibt Anlass zu einem bestimmten Gefühl, einer Einstellung oder Haltung, zu Verhaltensweisen und Praktiken der anderen; diese antworten, sie erwidern das Gebotene, indem sie Achtung oder, wie man auch sagen könnte, Anerkennung zollen. Eine solche ist normalerweise reziprok, denn Anerkennung durch jemanden, den man verachtet, ist nichts wert. Wer Anerkennung fordert, hat bereits andere anerkannt. Und wer meint, ein Recht auf Anerkennung durch andere zu haben, gesteht den anderen das Recht zu, sie zu gewähren. Anders als Liebe, Verehrung oder Anbetung kann sie im Prinzip nicht einseitig sein. Was immer die Achtung fordernde Person hier ›an sich‹ haben mag, sie tritt in einer Öffentlichkeit auf, sie wird von einer Pluralität anderer, und zwar von Autoritätsträgern (›weise Männer‹, ›Richter‹), gesehen und kritisch beurteilt. Sie steht in deren Blick und stellt sich ihm.Footnote 161 Winckelmann hat den »allgemeinen Rat der Griechen«Footnote 162 im Sinn; ihr Name ›Amphiktyonen‹ spricht für sich: Sie sitzen im Kreis, umschließen einen gemeinsamen leeren Raum; in dessen Mitte befindet sich das, worüber sie urteilen. Der Ring ist eine Ordnungsfigur: Er separiert zwei Bereiche voneinander, trennt ein Innen von einem Außen; diese Teilung des Raums ist ein Akt zur Befriedung von Gewalt: In Homers Schildbeschreibung bilden die Richter so eine Schranke gegen eine aufgewühlte, unkontrollierte Menge; geschützt vor ihr, im Kreis, den sie sitzend bilden, kann über den strittigen Fall – über die Zahlung des Wergeldes für einen Erschlagenen – verhandelt werden.Footnote 163 Im Kreis zirkuliert die Gabe; der Tausch findet immer in einem Ring statt. In der Mitte, die allen gehört, wird das, was allen gehört, abgelegt, Kriegsbeute z.B.Footnote 164 Um die Mitte wird der Reigen getanzt, der die Ordnung der Welt verkörpert. Die Mitte ist das meson, das Mittlere, das Maß. Für die griechische Ethik ist das Maßhalten, die mesotes, entscheidend. Das Maß regiert auch in Winckelmanns Vorstellungen von ›Schönheit‹ und ›Grazie‹. Aber dieses Maß gibt es nur durch den Kreis und im Kreis der anderen. Nur dieses besondere Verhältnis lässt Achtung oder Anerkennung entstehen.

Diese soziale Beziehung fungiert als comparatum eines Vergleichs, mit dessen Hilfe das schwer fassbare Phänomen ›Grazie‹ erläutert wird. Ein in einer Statue dargestellter Akteur muss nicht selbst eine Achtung fordernde Geste machen; vielmehr ist jede menschliche Gestalt, gleichgültig welche Pose sie als Skulptur einnimmt, so beschaffen, dass sie das erwähnte Verhältnis zum Urteil anderer impliziert. ›Grazie‹ sei über alle antiken Werke, auch die mittelmäßigen, ausgegossen; das heißt, sie ist ein allgemeines Merkmal. Dem zitierten Satz zufolge handelt es sich jedoch nicht um etwas Formales, Stilistisches. Die dargestellten Bewegungen (und damit auch die Kunstwerke selbst) teilen vielmehr das Faktum, dass sie alle im beschriebenen Sinn sozialer Natur sind. Sie implizieren die Sicht der anderen; sie richten sich an die Öffentlichkeit und appellieren an die Anerkennung durch andere. Sie kommunizieren derart mit der Gesellschaft, zu der sie gehören. ›Grazie‹ mag zwar als ein ›Geschenk des Himmels‹ erscheinen, aber gleichwohl kommt sie durch analysierbare, hier zumindest angedeutete horizontale Beziehungen zustande. Sie ist nichts, was ein Mensch oder ein Kunstwerk an sich besitzen könnte, sondern geht aus dem Blick der anderen hervor. Das wiederum hat nichts mit einer supponierten Beliebigkeit von Geschmacksdingen zu tun. Winckelmann formuliert vielmehr – sein Vergleich drückt es nur etwas vorsichtiger aus – eine bemerkenswerte These: ›Grazie‹ ist ein Verhältnis der Anerkennung, eine reziproke soziale Relation.Footnote 165 Der Blick der anderen wird per se gesucht; er kommt nicht supplementär hinzu, sondern ist ein intrinsisches Moment; ohne ihn gibt es das als ›Grazie‹ Bezeichnete nicht; sie existiert nur in der Sichtbarkeit für andere. Das entspricht der antiken charis, die in der frühen griechischen Gesellschaft als soziales Band fungiert. Charis tritt immer in Erscheinung und besteht nicht, wie es ein Moral- und Persönlichkeitsverständnis des 18. Jahrhunderts will, in einer ›reinen Absicht‹, einer ›Reinheit des Herzens‹ o.ä. Sie ist eine wahrnehmbare soziale Realität.

Wie in der Beschreibung der um ›Schönheit‹ gravitierenden griechischen Kultur akzentuiert Winckelmann die Gleichrangigkeit der Beteiligten; die Achtung fordernde Person und die Autoritäten begegnen einander – wie die Athleten und ihre Zuschauer – auf Augenhöhe. Das ideale Griechenland kennt nur flache Hierarchien, wie etwa die zwischen Agamemnon und Achill, und temporäre Erhöhungen; man denke an den Sieger eines Wettkampfs und allemal an die Verfahren, die Akkumulation politischer Macht durch einen Einzelnen zu verhindern. Die Struktur reziproker Anerkennung soll sich auch in den Kunstwerken geltend machen, ja, noch mehr, sie soll ihnen ihre Epochen- und Kulturspezifik verleihen;Footnote 166 sie macht ihren ›antiken‹ Charakter im Unterschied zum ›modernen‹ und zeitgenössischen aus. Wenn ›Grazie‹ immer inchoativ ist und zur Steigerung drängt,Footnote 167 dann hat diese intrinsische Dynamik auch mit der Prozessualität der gegenseitigen Achtung zu tun: Denn diese ist ein Geschehen. Achtung oder Anerkennung sind Akte, die immer wieder neu performiert werden müssen. Sie kann nicht ein für allemal gewährt werden, sondern existiert nur in einem fortgesetzten Austausch zwischen den beteiligten Parteien. Daher ist sie auch nie fraglos gesichert; die Forderung nach Achtung wird immer wieder erhoben und bedarf jedesmal der Erfüllung. Dabei ist Anerkennung tatsächlich zu leisten, nicht nur als Routine zu wiederholen. Das heißt aber auch, es besteht immer wieder eine Asymmetrie zwischen den Akteuren. Ihr Verhältnis ist kein auf Dauer befriedetes, sondern die Stabilität des sozialen Gefüges resultiert nur aus einem anhaltenden durchaus konflikthaltigen Prozess des gegenseitigen Anerkennens oder Achtens.Footnote 168

VIII.

Die Sozialität der fiktiven Akteure

Wie sieht dieses implizite Anerkennungsverhältnis konkret an den Statuen aus? Wie sind die Dargestellten – immer in Winckelmanns Beschreibungen – nicht nur als isolierte Personen, sondern als interagierende erkennbar? In welchen Austauschverhältnissen stehen sie?

Laokoon zeigt laut Winckelmann Würde im Ertragen seines Schmerzes: Affekt- und damit Selbstkontrolle sind zentral in der Beschreibung dieser Skulptur. Würde aber ist nur ein anderer Ausdruck für Achtung anderer und die auf ihr beruhende Selbstachtung; auch sie ist keine Eigenschaft, sondern ein soziales Verhältnis.Footnote 169 Die Unterdrückung des Leidensausdrucks stellt dafür (in der Adelskultur) die notwendige Voraussetzung dar. Laokoons ›Stand und Gebärden‹ implizieren indes noch weitere Beziehungen zu anderen: Mit seinen Söhnen hat er Mitleid, bei den Göttern sucht er Hilfe, den Menschen gilt »Unmut« über sein »unverdientes unwürdiges«Footnote 170 Leiden. Er nimmt demnach kollektiv geltende Maßstäbe der Gerechtigkeit in Anspruch und zürnt darüber, dass diese ihm vorenthalten wird; außerdem empfindet er Scham, ein auschließlich soziales Gefühl. Er befindet sich demnach nicht nur im Kampf mit den Schlangen; er ringt mit einer tödlichen Bedrohung, mit den dafür verantwortlichen Göttern und mit den Menschen, die ihm verweigern, was sie ihm schulden.

Der Apoll vom Belvedere hat einen Kampf hinter sich.Footnote 171 Er tritt als Sieger auf. Seine Miene zeigt »Verachtung«, und nicht nur für den Besiegten, »Unmut«Footnote 172 über das Wagnis überhaupt, sich ihm entgegenzustellen, und Stolz: das Gefühl von Überlegenheit über andere und entsprechende Selbstachtung. Seine Haltung ist aufrecht, würdevoll schreitend, gebietend, herrscherlich. Er befiehlt mit den Augenbrauen. Aber die Beziehungen zu anderen reichen weiter: Er ist der Sohn, der seinen Vater überragt. Sein Haar »scheint gesalbt mit dem Öl der Götter«Footnote 173 – ein Akt der Verehrung; es ist von den Grazien aufgebunden – ein Liebesdienst. Wenn Musen ihn zu umarmen suchen, machen sie die Gesten erotischen Verlangens. Begehren äußern dabei jeweils die anderen. Apoll ist Gegenstand eines solchen, während er selbst keines hat. Alle Gefühle, die ihm und unsichtbaren anderen zugeschrieben werden, implizieren eine steile Hierarchie; die Beziehungen verlaufen in der Vertikale, von oben nach unten oder von unten nach oben. Und sie treffen sich nicht. Aber so vereinzelt er dasteht, befindet er sich doch in vielfältigen Interaktionen. Eine einzige bricht mit der Regel der Einseitigkeit: Der Mund, »der dem geliebten Branchus die Wollüste eingeflößt«Footnote 174, hat offenbar geküsst.

Die Notizen zur Statuenbeschreibung verstärken diesen letzteren Aspekt. Apollon erscheint darin nicht nur als Kämpfer, sondern ebenso sehr als Liebender. Das Verhältnis zu anderen ist dabei wieder asymmetrisch, nur diesmal in umgekehrter Beziehung: Der so sehr Geliebte liebt selbst unglücklich. Winckelmann zitiert u.a. aus Lukians Göttergesprächen einen Dialog zwischen dem Gott und Hermes; zwei von ihm notierte Stellen zeigen Apolls unverwirklichtes Verlangen. Gerade auf die am meisten Begehrten, Daphne und Hyakinthos, musste der Gott verzichten; die Frau entzog sich der Vergewaltigung durch Flucht und Verwandlung, den Mann hat er sogar versehentlich selbst getötet. Statt mit ihnen zu schlafen, trägt er Kränze, die an sie erinnern: Lorbeer und Hyazinth-Blüten. Sie zeichnen ihn aus und verweisen auf die Toten. Kränze sind Gaben für Sieger, aber auch Beigaben fürs Grab. Ehrung des Trägers und Gedenken an die Verlorenen kommen darin zusammen. Im Vergleich zu diesem Leiden erweisen sich sein Überlegenheitsgefühl, seine Selbstverliebtheit und Angeberei, in denen sich sonst sein Verhältnis zu anderen ausdrückt, als eitel: »Tu nur stolz mit deinem Haar, Apollon, spiele mit deiner Kithara und brüste dich mit deiner Schönheit […] – aber wenn’s ans Schlafen geht, liegen wir eben doch alleine«Footnote 175, so Hermes’ resignativ anmutende Lebensweisheit. Wenn persönliche Liebe das Entscheidende ist, wie es jüngere antike Literatur kennt, bleibt selbst Apoll nicht vom Schmerz verschont. Diese ›private‹ Dimension passt indes nicht zu seinem homerischen BildFootnote 176 und zur Inszenierung als mächtiger jugendlicher Sieger in der Statue.Footnote 177

Eine weitere soziale Relation Apolls birgt sich im Bild des Fließens: Ein »himmlischer Geist« habe »sich wie ein sanfter Strom ergossen« und »gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt«:Footnote 178 Die Bewegung ist hier in den umgrenzenden Kontur gebannt. Die Dynamik füllt den ganzen Binnenraum aus, endet damit aber auch. In den dieser Textversion vorausgehenden Fassungen ist dagegen die largesse des Gottes deutlich. Hier überwindet die Bewegung die (Körper‑)Grenzen, sie ist überbordend und verläuft in zwei Richtungen: Licht umfließt den Gott, aber es fließt ebenso von ihm aus.Footnote 179 Und umgekehrt: Das Haupt ist dessen Quelle, und dorthin fließt der Strom zurück.Footnote 180 Das erinnert noch an die mit der Geste der sparsio über Odysseus’ Kopf und Schultern ausgegossene charis, doch mit dem Unterschied, dass Apoll selbst die Quelle dieser Generosität ist; er schenkt aus einer Überfülle, die ihn selbst umgibt. Mit einem Wasser-Bild lässt sich diese reziproke Relation bestenfalls paradox veranschaulichen. Eher handelt es sich um das Strahlen und Zurückstrahlen der charis, die von einer ›glänzenden‹ Erscheinung veranlasste Beziehung von Bewunderung und Zuneigung, Scheu und Liebe zugleich. Angedeutet wird eine derartige Rückkoppelung auch vom Dienst der Grazien: Nicht zufällig ehren sie Apoll durch einen Akt des Bindens. Sie sind die Gottheiten, die die Gaben im Reigen weiterreichen; sie schlingen ihre Hände ineinander, genau wie die Weinreben ihre Fäden;Footnote 181 die Bewegung kehrt an den Anfang zurück, ist ein performativer Loop; sie stiften soziale Bindung.

Apoll ist die am stärksten über jede Gemeinschaft hinausgehobene Gestalt. Ein menschlicher Athlet, den sein Sieg über alle anderen erhöht, muss wieder integriert werden. Bei dem Gott leistet das die Erzählung von der misslungenen Liebe. Denn auch Liebe ist eine antisoziale Macht, weil sie die intensivste Bindung nur mit einem einzelnen Individuum knüpft. Apoll fesselt alle mit seiner charis, ihn selbst bindet das seinerseits von der charis erweckte Begehren.

Bei Niobe wird das ›Verhältnis der Handelnden zur Handlung‹ suspendiert. Sie erstarrt vor Schmerz. In dem Moment, in dem sie dargestellt ist, erscheint sie »gleichsam außer der Handlung«Footnote 182. Man sieht eine Akteurin ohne Aktion, sozusagen nur noch ein grammatisches Subjekt oder das Gespenst einer handelnden Person. Sie bewegt sich gerade noch, hat aber jede Empfindung verloren; auch und gerade sie ist ein Beispiel für Kinese ohne Kinästhesie. Niobe ist ein Automat geworden. Sie macht die Gebärden extremen Leidens, doch ohne es zu fühlen. »Denn die Seele kann in einen Zustand gesetzet werden, wo sie von der Größe des Leidens, welches sie nicht fassen kann, übertäubet, der Unempfindlichkeit nahe kömmt.«Footnote 183 Das ist ein pathologischer Zustand. Aber er ist anders als bei den ›Modernen‹, die ihr mangelndes Fühlen durch tautologische Multiplikation zu substituieren suchen.Footnote 184 Sie fühlen nichts, Niobe dagegen fühlt erst viel zu viel und dann nichts mehr. Ereignis und Emotion reißen hier auseinander. Gemäß dem Prinzip des Traumas werden schmerzvolle Erfahrung und Selbst dissoziiert. Jene wird vom psychischen System abgespalten; es entsteht ein Zustand der Depersonalisierung, in der die oder der Betroffene sich selbst zum Gegenstand einer Beobachtung in der dritten Person wird. In diesem Sinn schreit und tobt Niobe nicht, aber sie zeigt auch mitnichten »die Würdigkeit der Menschen in Fassung der Seele«.Footnote 185 Ihre »Gleichgültigkeit«Footnote 186 ist vielmehr ein grausiges trompe l’œil der Affektkontrolle. Sie muss den Gefühlsausdruck nicht bändigen, weil es nichts mehr zu bändigen gibt. Sie hat ihre Sensibilität verloren.

Trotzdem lässt Winckelmann sie auf andere bezogen sein. Die Statue selbst legt das nahe, ist Niobe doch nicht allein: Ihre jüngste Tochter kniet mit erhobenen Händen vor ihr, und die Mutter sucht sie mit den Armen zu schützen. Bemerkenswerter Weise geht Winckelmann darauf jedoch nicht ein. Wie am Laokoon hätte er auch hier das Verhältnis von Todesangst und Sorge um das eigene Kind beschreiben können: Niobe zwischen Panik und Mütterlichkeit, ihr Entsetzen und zugleich den verzweifelten Versuch, wenigstens die eine Tochter zu retten. Die Arme um das Kind schließen zu wollen, diese schlechthin mütterliche Geste, hätte jedoch die These vom Griff des Künstlers nach dem »Reich unkörperlicher Ideen«Footnote 187 durchkreuzt; eine hilflos schützen wollende Niobe lässt sich nicht gut vereinbaren mit der Sphäre »reiner Geister und himmlischer Seelen, die keine Begierde der Sinne erwecken, sondern eine anschauliche Betrachtung aller Schönheit wirken«Footnote 188. Die Synthese aus Todesangst und Schönheit wäre wohl von herzzerreißendem Mitleid gestört worden.Footnote 189

Winckelmann markiert einerseits den in Indifferenz umschlagenden Exzess des Schmerzes, andererseits bemüht er sich, auch dieses Extrem noch als Verhältnis zu anderen und damit als Leben zu deuten. Doch beides liegt für ihn gerade nicht in der Mütterlichkeit. Er sieht Niobe vielmehr bis zum Schluss in unbeugsamem Kampf. Sie unterliegt, aber sie erscheine »als die Heldinn, welche der Latona nicht weichen wollte.«Footnote 190 Die Statue zeigt mithin den Moment, in dem die erbitterte Konkurrenz mit der Gegnerin gerade aufgehört hat; der tödliche Agon persistiert sozusagen noch im Nachbild des Betrachters. Auch die vor Schmerz Petrifizierte ist eine Kämpferin: Sie rivalisiert mit der Göttermutter auf einem besonderen Gebiet: im Schenken von Leben. Vierzehn Kinder hat sie geboren, Latona nur zwei. Die Sterbliche überbietet die Göttin um das Siebenfache; sie demütigt sie zutiefst, indem sie sie restlos aussticht. Die Herausgeforderte hat keine Chance mehr zur Revanche in diesem Potlatsch der Mutterschaft. Der Gabentausch zwischen Menschen und Göttern besteht hier in der wechselseitigen Überbietung, und diese betrifft nicht nur eine Kunstfertigkeit, wie etwa im Fall von Athene und Arachne; es ist ein Agon, doch auch Konkurrenz impliziert noch reziproke Anerkennung. Angesichts der Überfülle an Nachkommen aber kann die Rivalität nicht mehr fortgesetzt werden. Die einzige mögliche Antwort auf die exzessive Verausgabung Niobes ist die ebenso exzessive Gewalt der Kontrahenten. Diese beenden den Wettstreit: mit der Ausrottung der gegnerischen Seite. Niemand von der Familie darf übrigbleiben, nicht einmal das jüngste Kind. Der ›Krieg mit dem Eigentum‹ wird hier zum Vernichtungskrieg. Die Göttersprößlinge beweisen ihre unanfechtbare Übermacht, und zwar durch maßlose Grausamkeit.

Sprengt dies also das Gabensystem, in dem sich die Sterblichen mit den Unsterblichen verbinden? Doch die Götter verhalten sich nicht nur Niobe gegenüber so; man denke an Pentheus oder Marsyas. Ihre Exzesse gehören – im Unterschied zu denen der Menschen – offenbar dazu; der Austausch mit den Göttern ist asymmetrisch und daher eminent gefährlich. Das System als ganzes zeigt sich hier als höchst prekär. Im Niobe-Mythos scheint das Sozialität stiftende Prinzip von Gaben und charis fraglich. Menschen und Götter tauschen üblicherweise Gaben und Gunst, Opfer und Ehrungen, hier aber zerbricht der reziproke Tausch in einem Akt unverhältnismäßiger Gewalt. Er wird als Strafe legitimiert, weil in einem Agon die menschliche Seite nicht gewinnen darf. Die Gabenbeziehung macht, wie gezeigt, auch Winckelmanns ›hohe Grazie‹ aus.Footnote 191 Bei Niobe steht dieses Prinzip auf dem Spiel – und ausgerechnet ihre Statue exemplifiziert die ›hohe Grazie‹! Das ist bemerkenswert: Was auf der Ebene des Sujets infrage steht, kommt auf der Ebene der Darstellung paradigmatisch zur Anschauung. Ein wesentlicher Aspekt der charis, die Anziehung, die geneigt macht und eine Antwort erheischt, verschiebt sich auf das Kunstwerk. Dieses ist offenbar so außerordentlich, weil sich darin die fundamentale Fragilität einer mit den Göttern Gaben tauschenden Gesellschaft manifestiert. Auch in diesem Sinn ist die Skulptur eine liminale Erscheinung: Sie lässt die Grenze jener Welt ahnen.

Der Torso bildet unter allen beschriebenen Statuen den komplexesten Fall. In keiner Beschreibung ist das Verhältnis zum Gegenstand, zum Sujet wie zum Kunstwerk, derart vielschichtig; und in keiner hängt so viel vom Wahrnehmen und Verbalisieren ab. Das ›Verhältnis des Handelnden zur Handlung‹ ist hier besonders ›eigentümlich‹, denn nirgendwo sonst liegen diese beiden Momente derart weit auseinander. Der Torso-Herkules ist eine Gestalt in Ruhe, er handelt nicht, aber viele Kämpfe liegen hinter ihm. Die Handlungen sind vergangen – und nicht, wie bei Apoll und Niobe, gerade eben, sondern schon vor längerer Zeit. Die ›Grazie‹ ausmachende Grundstruktur ist daher in größerem Maße zerdehnt: zwischen dem Handelnden und der Handlung liegt Zeit. Sie umfasst ein ganzes Leben, sie enthält Geschichte. Das macht diese Figur einzigartig. Zeitlichkeit lässt sich in seinem Fall nicht nur mittels der angedeuteten Bewegung oder deren sichtbarer Fixierung vorstellen, sondern sie konstituiert das Sujet. Vor allem aber bestimmt sie das Verhältnis des Betrachters zur Skulptur.

Mangels Gesicht findet das Mienenspiel hier am Rumpf statt. Die Beschreibung macht die vormalige Verstrickung des Helden in die Welt präsent: Den Körper von Stelle zu Stelle verfolgend, imaginiert der Rezipient das Ringen des Dargestellten mit den wechselnden mythischen Gegnern. Der Ausdruck ›Gedächtnis des Körpers‹ bekommt hier einen ganz eigenen Sinn: Die Rückenmuskeln bilden eine Erinnerungslandschaft. Winckelmann deutet die halb zerstörte Statue als Kontemplierenden: Der Betrachter sieht einen Betrachtenden. Das Bruchstück erinnert ihn an einen, der sich seinerseits erinnert. Doch während dieser sich »mit einer frohen Überdenkung seiner vollbrachten großen Taten«Footnote 192 beschäftigt, trauert jener; der Dargestellte blickt auf Siege zurück, der Anschauende auf Verluste durch Zeit und Geschichte. Der Text des Hauptwerks schlägt sogar noch eine weitere Brücke zwischen den beiden Anblicken: Nicht nur empfindet der moderne Betrachter Schmerz über die Zerstörungen der antiken Kunstwerke und die unwiederbringliche Vergangenheit der griechischen Kultur, die Statue hat Winckelmann zufolge schon in ihrer Zeit mit melancholischer Retrospektive zu tun: Der verklärte Heros blickt nicht nur auf seine Leistungen zurück, sondern das Werk weist auf einen Zustand politischer Freiheit, den es in seiner eigenen Gegenwart nicht mehr gibt.Footnote 193 Der Halbgott mag ihr nachsehen wie im Schlussbild des Buches der Leser dem idealen ›Altertum‹.

Zwischen Handelndem und Handlung tut sich auch maximale emotionale Distanz auf. Im Sujet des Nachsinnenden wird die Ferne zu bestimmten Handlungen Thema, aber auch die zu jeder Handlung überhaupt. Dargestellt ist das Nicht-Handeln, das theorein; Rodin macht daraus ganz konsequent seinen Denker. Das Erschaute ist unsichtbar – der Dargestellte blickte, wenn er Kopf und Gesicht hätte, nach innen –, aber für den phantasievollen Betrachter verteilt es sich über den ganzen Torso; er sieht in jedem Detail ein Stück von Herakles’ Vergangenheit, sie ist buchstäblich verkörpert in Schulter, Brust, Muskeln, Hüfte, Schenkel, Knie... Die Interpretation als Nachsinnenden, und noch mehr: als von Geschichte Tangierten, rückt diese mythische Figur, wer immer sie sei, nah an die Aktualität des Rezipienten heran. In Winckelmanns Lesart tendiert sie zum Inbild des Sentimentalischen avant la lettre.

Die Beschreibung entfaltet das Panorama der Taten; es verknüpft die Topografie des Körpers mit Narrativen und einem weiten geografisch-mythischen Raum, den der rekonstruierende Betrachter imaginativ durchquert. Auf diese Weise lässt sich die hier anstehende Schwierigkeit bewältigen, das Bild eines Ruhenden zu verbalisieren; von einem kraftvoll tätigen Herakles wäre viel leichter zu reden als von einem Herakles anapauomenos.Footnote 194 Der mit der Handlungslosigkeit drohenden Langeweile entkommt der Schriftsteller – und Leser – durch die Erinnerung an die vielfältigen Mühen, die der Held alle siegreich bestanden hat. Insofern enthält die Torso-Beschreibung auch eine Antwort auf das Paragone-Problem.Footnote 195 Winckelmann ruft dieses explizit auf: »Da, wo die Dichter aufgehöret haben, hat der Künstler angefangen: Jene schweigen, so bald der Held unter die Götter aufgenommen, und mit der Göttinn der ewigen Jugend ist vermählet worden; dieser aber zeiget uns denselben in einer vergötterten Gestalt, und mit einem gleichsam unsterblichen Leibe«.Footnote 196 Seine Beschreibung sucht zu zeigen, wie die bildende Kunst die Dichtung überbietet. Dabei verbalisiert Winckelmann selbst wieder das Bildkünstlerische, er tritt also seinerseits in einen Agon mit den Dichtern ein und formuliert, was diese dem Schweigen und der Skulptur überlassen haben.

Aber trifft dieser Vorwurf eigentlich zu? Haben die Dichter zu Herakles’ Apotheose wirklich nichts zu sagen? Eine ganze Reihe antiker Autoren, die dazu geschrieben haben, lässt sich hier nennen, darunter Pindar mit seiner Ersten Nemeischen Ode.Footnote 197 Winckelmann kennt diese Texte – und während er den Dichtern die Äußerungen zu dem verklärten Heros abspricht, nutzt er sie für seine eigene Beschreibung. Zumindest hat er Details der von ihnen dargestellten Mythen übernommen. Auch seine Beschreibung ist kurz im Vergleich zu dem den Taten gewidmeten Wortreichtum, sie lautet: »So vollkommen hat weder der geliebte Hyllus noch die zärtliche Iole den Herkules gesehen; so lag er in den Armen der Hebe, der ewigen Jugend, und zog in sich einen unaufhörlichen Einfluß derselben. Von keiner sterblichen Speise und groben Theilen ist sein Leib ernähret: ihn erhält die Speise der Götter, und er scheinet nur zu genießen, nicht zu nehmen, und völlig, ohne angefüllet zu seyn.«Footnote 198

Warum diese Rede von Herakles’ Nahrung? Doch wohl nicht nur, um zu sagen, dass der Torso kein Bauchfett zeigt. Warum die Rede von der Verheiratung mit Hebe? Um den vielerfahrenen Körper doch als jugendlichen zu bezeichnen? Dass sie zum Mythos gehört, reicht nicht als Argument, denn Winckelmann hat auch viele andere bekannte Taten des Helden ausgespart.

In der erwähnten Nemeischen Ode heißt es von dessen Zustand jenseits des Todes: »[…] selbst aber werde er freilich, wenn in Frieden für alle Zeit anhaltend/ er Ruhe zum auserwählten Lohn großer Mühen erlangt/ in gesegneten Häusern und empfangen habe/ zur blühenden Gattin Hebe und zur Hochzeit/ getafelt bei Zeus dem Kroniden,/ schließlich die heilige preisen, die Ordnung.«Footnote 199 Ich zitiere diese Verse nicht, um eine Quelle Winckelmanns offenzulegen oder einen seiner vielen Intertexte aufzuzeigen. Dass Herakles Hebe heiratet und mit den Göttern tafelt, kann er aus diverser Literatur genommen haben. Festzuhalten ist hier vielmehr: Er trifft sich mit den kritisierten Dichtern genau dort, wo sie ihm zufolge verstummt sind: bei Hochzeit und Gastlichkeit. Doch anders als Winckelmann polemisch unterstellt, hat Pindar dazu sehr wohl einiges zu sagen. Denn der antike Poet fügt Herakles’ Zustand in einen Zusammenhang der wechselseitigen Gabenrelation ein. Die Ruhe selbst ist bei Pindar ausdrücklich eine Belohnung für die vollführten Taten, ein Ausgleich für die erlittene Mühsal. Der Ruhende ist also nicht nur Inbild der überstandenen Leiden; er verkörpert nicht das in sich versunkene (Zurück‑)Schauen, sondern er ist eingebunden in einen sozialen Zusammenhang; auch das Ruhen stellt ein Moment in einem anhaltenden Austauschprozess mit anderen dar. Es ist der Dank für seine Taten. Herakles erhält für sie etwas besonders Wertvolles: eine Frau. Sie ist ein ausgezeichnetes und auszeichnendes Geschenk. Hochzeiten gehören, wie bereits erwähnt, zu den herausragenden Gelegenheiten, bei denen die kostbarsten Güter getauscht werden; die Vermählung mit Hebe indiziert einen derartigen Gabentausch allerhöchsten Ranges, wie ihn die aristokratische Gemeinschaft betreibt. Ein weiteres Geschenk stellt die Gastfreundschaft selbst dar; hier ist es die denkbar höchste, denn kein Geringerer als der Kronossohn Zeus lädt Herakles zu Tisch. Neben Hochzeit und Beerdigungen sind gastliche Zusammenkünfte Situationen des Gabentauschs; das gemeinsame Mahl ist die ehrenvolle Gabe. Herakles erhält somit dreifache Gaben, oder die üblichen drei Arten von hochrangigen Gaben und Gelegenheiten des Gabentauschs sind hier miteinander verquickt: Belohnung oder Entschädigung, Hochzeit und die Braut als Geschenk sowie Gastfreundschaft mit entsprechenden Geschenken.Footnote 200 Und Herakles erwidert die Gaben: Im Gegenzug preist er die heilige Ordnung oder das erhabene Gesetz des Zeus.Footnote 201 Herakles ist also keineswegs allein mit sich und seiner Vergangenheit, vielmehr speist er mit den Göttern. Auch sein ›Ruhen‹ ist ein durch und durch soziales Geschehen, eine Seite im reziproken Austausch von Gaben, die Ehre und Anerkennung zum Ausdruck bringen.

Der mit Zeus feiernde Herakles ist in Winckelmanns Beschreibung Ausgangs- und Endpunkt. In beiden Fällen kontrastiert er mit dem Zustand des Torso-Betrachters. Dieser erleidet am Anfang einen Schock angesichts des amorphen Etwas, als das sich die beschädigte Skulptur einem unvorbereiteten Blick präsentiert;Footnote 202 und er weint am Ende, wenn er sich erneut dem realen Fragment zuwendet. Nachdem er es imaginativ zu einem Ganzen gemacht hat, fühlt er den Schmerz über den Verlust noch heftiger als zuvor. Der Höhepunkt der Rekonstruktion aber ist der verklärte Heros.Footnote 203 In das Ruhen, das eigentlich ein Feiern ist, mündet die restaurative Arbeit, weil erst der »von den Schlacken der Menschlichkeit gereiniget[e]«Footnote 204 Körper der ›vollkommene‹ ist. Unter die Götter aufgenommen, steht Herakles nun auf der gleichen Ebene wie die Olympier; seine Gestalt ist die eines (Halb‑)Gottes und hat daher ähnlich vorzügliche Eigenschaften wie diejenige Apolls. Die preisende Beschreibung einzelner Gliedmaßen mündet in die Evokation der himmlischen Liebe und Gastlichkeit; mit dieser endet der Rundgang über die Körperteile und durch das Panorama der Mythen. Das visuell wahrnehmbare Pendant zum Narrativ der Apotheose bildet die Gottähnlichkeit.Footnote 205 Von diesem imaginierten Gipfel des Geschehens und der Anschauung kann der Betrachter freilich nur noch besonders tief herabstürzen. Götterfest versus Trauer, Hochzeit versus weinender Abschied – Winckelmann lässt diese zwei Szenen effektvoll dramatisch aufeinandertreffen.

Seine marmornen Protagonisten sind allesamt heroisch Kämpfende – wenn nicht im Augenblick ihres Dargestelltseins, so doch in einem dem vorausgegangenen. Selbst der ruhende Herakles und die petrifizierte Niobe machen keine Ausnahme von diesem Prinzip.Footnote 206 Sie interagieren mit unsichtbaren anderen; sie sind oder waren eben noch in einen Agon verstrickt, bei dem es um Leben und Tod geht, und diese Auseinandersetzung formt ihre Haltung und ihre Gesten. Oder ihr Körper evoziert die überstandenen Leiden. Als derart Streitende, sich Widersetzende, als Sieger oder ungebeugt Sterbende entsprechen sie alle dem Ideal der Würde. Diese fällt mit der beanspruchten Achtung oder Anerkennung zusammen, ist also eins mit der ›Grazie‹.Footnote 207

Die Auffassung der Akteure als Kämpfer und Sieger hat ein Pendant auf der performativen Ebene: Die Deskriptionen erfüllen eine objektivierende Funktion, aber nicht nur. Mindestens ebensosehr sind sie Akte der Ehrung. Damit ähneln sie zumindest einem antiken Modell, mit dem Winckelmann seinerseits den Wettstreit aufgenommen hat: demjenigen Pindars.

IX.

Beschreibung und Ritual

Die Statuen-Beschreibungen verleugnen ihr enges Verhältnis zum Rituellen nicht. Es besteht mindestens in zwei Hinsichten: im Prozess der Erfahrung des Rezipienten mit dem Kunstwerk und in der (rhetorisch inszenierten) zelebrativen Funktion des Textes.

Wenn der erhabene Apoll den Betrachter erhebt,Footnote 208 dann bleibt dieser Vorgang einer früheren Textversion nach nicht dem Zufall überlassen, sondern er wird methodisch in einem aufwendigen Schreibverfahren erzeugt. An den Betrachter (und Schreibenden) ergeht die Aufforderung, sich vorher auf den Anblick vorzubereiten. Er soll sich auf der Grundlage von poetischen Texten eine imaginäre Gestalt erzeugen und mit dieser vor Augen die Begegnung mit der Statue suchen. Das ganze Geschehen gleicht einem Initiationsritual. Denn die mühsame Vorbereitung dient dazu, den Akteur zuerst einmal tief zu demütigen: Er wird »erniedrigt«, kann seine Vorstellung doch mit der Wirklichkeit nicht mithalten. Das Beste, was er hervorbringen konnte, verschwindet angesichts der »Wahrheit« wie ein Traum. Diese Erfahrung erschüttert ihn als wissendes, zur Erkenntnis befähigtes Wesen; sie konfrontiert ihn mit seiner epistemischen Unzulänglichkeit, aber mehr noch bereitet sie ihm eine Identitätskrise: »Eine mit Bestürzung vermischte Verwunderung wird dich [...] außer dich setzen«.Footnote 209 Der Angesprochene erleidet einen veritablen Selbstverlust. Erst nach dem Durchgang durch dieses Stadium kann er sich dann zu seinem Gegenüber erheben. Nun gerät er, wie auf dem Höhepunkt des Rituals, in Ekstase und fühlt sich gleich einem Mysten »weggerückt«Footnote 210; das Wunder der pygmalionischen Erweckung der Statue scheint sich zuzutragen.

Nach dem Abschluss der feierlichen Zeremonie ehrt der nunmehr Initiierte die Gottheit: »Ich lege den Begriff, welchen ich von diesem Bild gegeben habe, zu dessen Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche sie krönen wollen, nicht erreichen konnten.«Footnote 211 Da er selbst zu diesen Unzulänglichen gehört, legt er das Symbol seiner Verehrung demütig vor der Skulptur ab. Er bringt ihr ein Weihgeschenk dar: seinen Text. Die Beschreibung ist eine Gabe an das divinisierte Werk, an das verkörperte »Ideal der Kunst«.Footnote 212

Die mythischen Gestalten kämpfen, auch der Betrachter muss es tun: Er ringt darum, seinem Gegenstand ebenbürtig zu werden, als sähe die Statue auf ihn zurück, als wäre sie der ›Richter‹ seiner ›Haltung und Gebärden‹. Dieser Kampf hat, allemal in den Manuskriptfassungen, die Züge schmerzhafter Einweihungsriten.

In der Beschreibung des Torsos sind, wiederum in den Manuskripten und Einzelpublikationen, die Phasen eines derartigen Prozesses ausführlich gestaltet: Die Erschütterung steht hier am Anfang. Den Betrachter schockiert die grausame Verstümmelung, er ist abgestoßen von dem »ungeformten Klumpen«.Footnote 213 Sein Weg zu den »Geheimnisse[n] der Kunst«Footnote 214 beginnt also mit Enttäuschung und Widerwillen; die zu überwindende Distanz ist noch um einiges größer als beim Apoll. Die abwehrenden Gefühle muss er mit viel Mühe hinter sich bringen: im Zug der enormen Arbeit, das Fragment imaginativ zu restaurieren. Die phantasierte Ganzheit aber wirkt nun gerade anders herum als das schwächliche Idealbild vor der realen Apollostatue: Dieses verflüchtigt sich angesichts der viel machtvolleren Realität, jene lässt die Zerstörung des Kunstwerks nur umso mehr fühlen. Der Schmerz um den Verlust ist nach der Evokation der unbeschädigten Skulptur intensiver als zuvor. Der Anblick, der dem Betrachter anfangs die Sprache verschlägt, lässt ihn nun weinen und jammern. Der Schmerz aber führt ihn zur Erkenntnis der Kunst (im emphatischen Singular)Footnote 215 und zur Ahnung der in den Ruinen nur angedeuteten Größe; das Leiden des Betrachters findet hier seinen Sinn. Derart wird der Rezipient selbst zum heroischen Kämpfer. Sein Siegen besteht freilich am ehesten im Standhalten: Der fiktive Cicerone und der fiktive Rom-Tourist treffen sich am Ende wie Verfasser und Rezipient der Geschichte der Kunst des Altertums; sie vermögen dem Gegenstand ihrer Sehnsucht nur noch »nachzusehen«.Footnote 216 Gleichwohl liegt darin der Gewinn des Erkennens.

Der Torso-Herakles ist hochambivalent: Winckelmann verkörpert er – in modernistischer Wendung – diese Reflexivität, aber ebenso den erfolgreichen Kämpfer. Herakles inmitten der Götter ist in dem zitierten Gedicht Pindars nämlich der Prototyp jedes Siegers, er bildet das Muster des erfolgreichen athletischen Kämpfers.Footnote 217 Prinzipiell imaginieren Gaben tauschende Gesellschaften einen legendären Helden als denjenigen, der zuerst die wertvollsten Gaben der Götter erhalten hat, und jeder weitere Akt des Austauschs bringt dieses ursprüngliche Modell erneut zur Darstellung.Footnote 218 Jeder Sieg ist eine Reprise des göttlichen Geschenks. Auch Pindars Gesänge auf Sieger sind ehrende Gaben, und sie bringen jene erste in Erinnerung. Wie die Geschenke zwischen seinen Akteuren, so knüpfen auch sie ein Band: Sie verketten die Gegenwart mit der Vergangenheit. Sie sorgen dafür, dass diese in jene hineinragt, dass ein Kontinuum der Erfahrung und des Selbstverständnisses durch die Zeit besteht. Das Verknüpfen erfolgt performativ, durch Akte des Gebens; kein Beteiligter, weder der gepriesene Held noch der Dichter, fühlt sich vom Früheren isoliert, um sich dann ›nachsinnend‹ darauf zu beziehen. Vielmehr partizipieren alle am Prozess des Tauschs, der die Menschen untereinander, mit den Toten und den Göttern verbindet. Pindars Oden sind verbale Kränze für die siegreichen Athleten. Aber so versteht auch Winckelmann seine Beschreibungen, wenn er sie den Siegern im Agon der antiken Kunst zu Füßen legt oder der Kunst selbst verehrt;Footnote 219 so inszeniert er sie zumindest rhetorisch. Die Beschreibungen zeichnen die herausragenden Werke aus; die Statuen, denen er seine hochliterarischen Ekphrasen widmet, sind Helden, und er krönt sie mit verbalen Geflechten.

Ernst Osterkamp hat die in der rhetorischen Struktur aufbewahrte rituelle Dimension der Torso-Beschreibung herausgestellt. Er zieht keine Parallele zu antiker Dichtung, sondern erkennt darin den Texttyp des barocken Epicediums.Footnote 220 Die christliche Leichenpredigt lässt den Verstorbenen deskriptiv noch einmal präsent sein, dann erfolgt die Klage um den unschätzbaren Verlust, am Ende aber auch wieder eine tröstliche Wendung, in diesem Fall nicht zur Auferstehung in Christus, sondern zur Kunst. Der dramatische Wechsel der Affekte, den der Text erzeugt, und die rhetorische Choreografie des Ab- und Aufsteigens legen die Beziehung zu diesem Genre und zumal in seiner barocken Spielart nahe. Beim Torso geht es in der Tat um eine Totenfeier.

Der Lesart als Siegerkrönung, parallel zur Apotheose im Mythos, widerspricht das jedoch nicht. Denn auch bei Pindar repräsentieren Kränze, inklusive die verbalen, sowohl das Band des Siegers wie Grabbeigaben. Ehrung, Ruhm, Achtung, Anerkennung, die Gabe des anhaltenden Preisens werden lebenden und toten Kämpfern zuteil, beide erscheinen als Sieger. Das Band der Gaben verkettet nicht nur die Lebenden miteinander. Wenn Winckelmanns Beschreibungen an Pindar’sche Siegerehrungen gemahnen, dann haben sie – und allemal die des Torsos – auch diese Komponente; der Text zum fragmentarischen ›Herakles‹ macht nur explizit, was auch für die anderen Statuen zutrifft: Die gefeierten Kunstwerke gehören einer vergangenen Welt an; deren kulturelle Wiedererweckung stellt zwar eine schöne Hoffnung dar, an der Möglichkeit bestehen aber auch große Zweifel.Footnote 221 Die heroischen Protagonisten sind Tote, und ihre Ehrung schlägt – wie im antiken Preislied – eine Brücke zwischen der Aktualität und einer fernen Zeit.Footnote 222 Wie dort die Festgemeinde in der Ehrung des Athleten, so einen sich hier die für die antike Kunst Sensibilisierten in der Bewunderung der höchsten Werke. Zugleich gehören die Beschwörungen von ›Grazie‹ und Schönheit zu einem großen Ritual des Abschieds, denn – die Geschichte der Kunst des Altertums macht das immer wieder deutlich – alle große Kunst ist tot. Ihre Erkenntnis bezieht sich auf Reste und geht mit Trauer Hand in Hand. Auch die sie lobend beschreibenden Texte stellen eine Verbindung zu den Toten her, und diese besteht eben nicht nur in historiografischer Arbeit. Bei Winckelmann ist Geschichtsschreibung noch keine szientistisch neutralisierte Angelegenheit; sie vermischt sich nicht nur mit normativen Ansprüchen und der Formulierung ahistorischer Idealität, sie ist auch noch keine (ideologisch verklärende) monumentalisierende Geschichtsschreibung, wie sie das 19. Jahrhundert ausbildet; sein Schreiben ist vielmehr neben dem historisierenden Ansatz, mit dem Winckelmann als Begründer moderner Kunst- und Archäologiegeschichte gilt, auch noch von der anderen, traditionellen, Beziehung zur Vergangenheit durchzogen: vom ehrenden Gedenken. Erinnerung ist die Beziehung moderner, d.h. historisch denkender, Gesellschaften zu ihren Toten; auch diese muss performativ hergestellt werden: in gemeinsam vollzogenen Zeremonien und festlichen Akten, im Errichten von Bauten, in Produktion und Rezeption symbolischer Artikulationen in den Künsten. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit kann diese Art Verknüpfung einer Gesellschaft mit ihren Toten nicht ersetzen. Bei Winckelmann sind beide Weisen der Bezugnahme auf die Vergangenheit noch nicht geschieden. In seinen Statuenbeschreibungen fällt der Akzent auf das Zelebrative. Dabei tut er viel, um der rhetorischen Festmaschine barocker Repräsentationskultur zu entgehen und nicht nur die Register der Gedächtnistopik zu ziehen. In Absetzung davon macht er die sinnliche Erfahrung des betrachtenden Individuums stark,Footnote 223 aber eben auch die andere – altgriechische – Art der Sozialität, die sich im ehrenden Akt manifestiert: Der Sieger wird erhöht und gehört doch zu einer Gemeinschaft von Gleichrangigen; diese tauschen die Gaben der gegenseitigen Anerkennung. In den preisenden Beschreibungen der Statuen nimmt Winckelmann die Geste eines derartigen Feierns auf; sie sind eine aktuelle Version von Epinikien.

Er verzeitlicht also nicht nur die griechische Kultur, während er sie zugleich als Ideal beschwört; er hält auch an der rituellen Funktion des Gedächtnisses fest, die in der Historiografie desto weniger Platz findet, je wissenschaftlicher diese sein will. Die moderne Geschichtsschreibung, auch die der Kunst, geht offenbar einher mit der Spaltung der kollektiven Erinnerung in die Arbeit an der Dokumentation und das Gedenken der Toten.

X.

Coda

Widmungen und Zueignungen sind in Winckelmanns Epoche gang und gäbe, aber sie indizieren auch Veränderungen: Die Geschichte der Kunst des Altertums widmet der Verfasser nicht mehr nur einem gekrönten Haupt, dem Prinzen Friedrich Christian, und abstrakten Mächten, sondern auch einem Adressaten auf gleicher sozialer Ebene: »Diese Geschichte der Kunst weihe ich der Kunst und der Zeit und besonders meinem Freunde, Herrn Anton Raphael Mengs.«Footnote 224 Zu den amikalen Praktiken von Gelehrten gehören in dieser Zeit Drucke in geringer Auflage, die im kleinen Kreis zirkulieren, der Austausch von Schriften, öffentliche Danksagungen darin, Zueignungen u.a.m. Auch die Korrespondenz ist in diesem Sinn mehrschichtig: Sie dient der fachlichen Kommunikation, hat somit ihren professionellen Nutzen, und kultiviert zugleich freundschaftliche Beziehungen, die weit mehr sind als kollegiale Kontakte. Das amikale Gebaren ist dabei oft auf einen hohen Ton gestimmt; der Kult der männlichen Freundesbeziehung im 18. Jahrhundert versucht eine Art Neuauflage der antiken rituellen Freundschaft; sie beruht – der Idee nach – auf Reziprozität unter Gleichrangigen und stellt eine entscheidende Art von Sozialität diesseits rechtlicher und ökonomischer Verpflichtungen sowie als informelle Gemeinschaft eine Sozialität am Rande von Institutionen dar. Mit der von Aristoteles charakterisierten philia, deren Modell hier aktualisiert wird, kehrt das Prinzip eines wechselseitigen, auf gleicher Ebene stattfindenden Gabentauschs wieder.Footnote 225 Die Freundschaftsemphase gehört zu einem umfassenden Kulturprojekt, und zugleich ist sie intrinsisch mit der ästhetischen Sensibilisierung und dem Rekurs auf antike Skulpturen verbunden.Footnote 226 Die Kenner und Liebhaber der griechischen Kunst bilden eine »Republik der Gebildeten«,Footnote 227 die eine Keimzelle zur noch zu schaffenden Kulturnation darstellt; letztere ist nicht institutionalisierbar – so wie eine auf Gaben-Beziehungen beruhende Sozialität es nicht ist.

Bei Winckelmann gibt es dazu freilich noch eine andere Komponente; die schwärmerische Freundschaft camoufliert – oder artikuliert – gelegentlich auch homophile Liebe, womit sie sich freilich wiederum auf der Linie der griechischen Kultur sehen kann. Diese Liebe wird u.a. nach dem Vorbild Pindars und mit dessen Worten in Metaphern der Ökonomie gefasst. So enthält die 1763 erschienene Abhandlung von der Empfindung des Schönen eine Zuschrift an Friedrich Reinhold von Berg mit einem Zitat des antiken Poeten, und auf der ersten Textseite folgt ein weiteres Zitat dieses eminenten Vertreters von charis und Gabentausch.Footnote 228 In Winckelmanns freier Übersetzung lautet es, »die mit Wucher bezahlete Schuld […] hebet den Vorwurf«.Footnote 229 Pindar hatte, so erläutert der Verfasser selbst, einen »mit der Gratie übergossen[en]« jungen Mann auf »eine ihm zugedachte Ode lange […] warten lassen«.Footnote 230 Analog enthebt hier der Essay den Säumigen des Vorwurfs der Verspätung, denn auch die dem Livländer Baron gewidmete Abhandlung kam später als vorgesehen.

Erneut ist eine Schrift eine Gabe, diesmal die eines (einseitig) Liebenden. In einer erotischen Beziehung werden nicht Äquivalente getauscht, sondern absichtlich Asymmetrien erzeugt, die einer Ökonomie der Schulden ähneln.Footnote 231 Nur wird der (überhöhte) Zins nicht vom jeweiligen Gegenüber erhoben, sondern freiwillig entrichtet. Liebende überbieten einander darin, dem anderen mehr zu geben als das nur Angemessene. Der Liebende hier gibt ein Vielfaches von dem, was er versprochen hat; eine ursprünglich als Brief vorgesehene Lehrschrift ist zu einem eigenständigen Text angewachsen.Footnote 232 Er zahlt von sich aus Wucherzinsen, um seine Schuld, die Fristüberschreitung, abzutragen; damit aber stellt er keinen Zustand der ausgeglichenen ›Konten‹ her, sondern generiert eine Schuld des Empfängers. Eine Gabe nötigt normalerweise zu einer Reaktion, eine übermäßige Gabe sucht eine solche zu erzwingen. In diesem Fall funktioniert es jedoch nicht. Der Geliebte hat auf die zugeeignete Schrift »nicht einmahl geantwortet«.Footnote 233

Die unerwiderte Liebesgabe und die Metapher des Wuchers verdecken freilich, dass es auch in diesem misslungenen Tausch Gewinner gibt: Von der ›Schuld‹ der Verzögerung und dem zu bezahlenden ›Zins‹ profitieren der Schriftsteller selbst und nicht zuletzt seine Leser.