I.

Das erste Zusammentreten des im Herbst 1816 gewählten Weimarer Landtages und der Geburtstag des Erbprinzen Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach boten am 2. Februar 1817 den Anlass für ein Schauspiel, das sich auf den ersten Blick ganz in die elegante Routine des kulturellen Lebens am Weimarer Hof einfügte, auf den zweiten Blick jedoch Fragen aufwerfen musste. Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, dessen Herzogtum 1815 zum Großherzogtum aufgewertet worden war, lud nicht nur zu einer festlichen Tafel, sondern ließ zu diesem Anlass auch Lebende Bilder stellen. Dass sich der Weimarer Hof unter der aktiven Beteiligung prominenter Mitglieder mit Tableaux vivants unterhielt, war kaum überraschend, entsprach diese Praxis doch einer langjährig vertrauten Tradition. Die Lebenden Bilder des 2. Februar 1817 warteten allerdings nicht nur mit einem anspruchsvollen, komplexen Programm auf, über das u. a. die Zeitung für die elegante Welt eine breitere Leserschaft informierte.Footnote 1 Vielmehr begegnet in der Mitte dieses Programms ein Tableau, das bei den Zeitgenossen ambivalente Erinnerungen geweckt haben muss. Nachdem einige Hofdamen zunächst Tugendallegorien nach bildlichen Vorlagen Raffaels vorgestellt hatten, die durch zwei »Nebenbilder«, eine Allegorie der Poesie nach Raffael und eine Urania nach Eustache Le Sueur, begleitet worden waren, wurde als zweites »Hauptbild« eine Darstellung von Esther vor Ahasverus nach einem Gemälde Nicolas Poussins gewählt (Abb. 1). Auf dieses Bild, dem ein Prophet nach Raffael und eine Madonna nach Poussin zur Seite gestellt wurden, folgte als letztes »Hauptbild« eine Darstellung der Heiligen Familie nach Raffael, gerahmt von einer Circe nach Guercino und einer nicht näher bezeichneten Allegorie nach einem Bild des antiken Malers Aristides von Theben.Footnote 2

Abb. 1
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Jean Pesne, Esther vor Ahasver, nach Nicolas Poussin, um 1654, Kupferstich und Radierung, 52 × 70,5 cm (Platte), Haarlem, Teylers Museum (Foto: Europeana, CC BY-NC 3.0 NL)

Das in die Mitte des Programms gerückte Bild Poussins muss vielen der Anwesenden bekannt gewesen sein. Denn die alttestamentliche Szene mit Esther und Ahasverus hatte bereits in Goethes gut sieben Jahre zuvor erschienenem Roman Die Wahlverwandtschaften einen prominenten Auftritt.Footnote 3 Dort folgt sie als Teil einer Folge von Tableaux vivants auf eine damals Anthonis van Dyck zugeschriebene Darstellung des blinden Belisar und wird durch die sog. Väterliche Ermahnung Gerard ter Borchs abgelöst; im weiteren Romanverlauf wird schließlich auch noch eine Krippenszene aufgeführt (Abb. 2). Insbesondere die ersten drei Lebenden Bilder, die von Luciane veranlasst und dominiert werden, erweisen sich als sehr ambivalente, ja abgründige Abendunterhaltungen. Sie zeugen nicht allein von Lucianes Drang zur rein äußerlichen Selbstdarstellung, sondern führen – die literaturwissenschaftliche Forschung hat das sehr differenziert untersucht – vor Augen, wie die Protagonisten durch ihre unreflektierte Verstrickung in Bilder Erstarrung und Tod heraufbeschwören.Footnote 4 Gerade weil Luciane und die anderen beteiligten Protagonisten keinerlei Bildbewusstsein zeigen und stattdessen bildliche Erscheinung und Wirklichkeit immer mehr einander annähern, droht mit der Wirklichkeit auch jegliches Leben mortifiziert zu werden. Mit dem Tableau vivant nach Poussin griff die Hofgesellschaft im Februar 1817 mithin ein heikles, fragwürdiges Vorbild auf. Die Erinnerung an die Wahlverwandtschaften, die noch dadurch verstärkt wurde, dass auch im Weimarer Festsaal der Reigen der Lebenden Bilder mit einer Darstellung der Heiligen Familie schloss, dürfte aber auch jene Betrachter irritiert haben, denen die tiefere bildtheoretische Problematik der Tableaux im Roman nicht bewusst war: Sollten sich die Gäste tatsächlich dazu aufgefordert fühlen, einen potenziell kompromittierenden Vergleich zwischen dem Weimarer Hof und der Gesellschaft im Roman zu ziehen?

Abb. 2
figure 2

Johann Georg Wille, Väterliche Ermahnung, nach Gerard ter Borch, 1765, Kupferstich, 43,5 × 33,7 cm (Platte), Detroit Institute of Art (Foto: DIA)

Dass man im Februar 1817 nochmals auf Poussins Gemälde zurückgriff, erklärt sich möglicherweise nicht zuletzt aus dem Ort, an dem die Lebenden Bilder zur Aufführung kamen (Abb. 3). Der an ein antikes Peristyl erinnernde, allseitig von ionischen Säulen umstandene Weimarer Festsaal bot ideale Voraussetzungen, um nicht nur die Figurengruppen in Poussins Bild, sondern auch dessen klassische Architektur und den Skulpturenschmuck nachzustellen. Die beiden schmaleren Seiten des Festsaales weisen vergleichsweise enge Säulenstellungen auf, wie man sie bei Poussin findet, zudem sind sie durch zwei in Wandnischen eingestellte ganzfigurige Skulpturen geschmückt. Vermutlich verdankt es sich einem gemeinsamen Vorbild, dem sog. Ägyptischen Saal in den Quattro libri Andrea Palladios (1570), dass sich die Bildarchitektur Poussins und der Festsaal in so hohem Maße ähneln (Abb. 4).Footnote 5 In jedem Fall war damit ganz ohne aufwendige Umbauten bereits der Hintergrund für eine Reinszenierung von Poussins Bild gewonnen.Footnote 6

Abb. 3
figure 3

Weimar, Stadtschloss, Festsaal, 1802, nach Entwürfen von Heinrich Gentz (Foto: Wikimedia commons, Hajotthu, CC BY-SA 3.0)

Abb. 4
figure 4

nach Andrea di Piero della Gondola, genannt Palladio, Aufriss und Grundriss eines ägyptischen Saals, 1581, Holzschnitt, 27,2 × 17,9 cm, aus: Andrea Palladio, I Quattro Libri dell’Architettura, Venedig 1581, Buch II, Kap. 10 (Foto: Wikimedia commons, CC BY-SA 3.0)

Neben solchen architektonischen Erwägungen könnten politisch-dynastische Gründe dazu geführt haben, ein Lebendes Bild nach Poussins Historiengemälde zu stellen. Denn bereits die entsprechende Szene in den Wahlverwandtschaften lässt sich als diskrete Würdigung der Weimarer Großherzogin Luise verstehen, die am 15. und 16. Oktober 1806 nach der Schlacht von Jena und Auerstedt im Weimarer Schloss Napoleon gegenüber getreten war und ihn um Schonung für ihr Land und das Herzogshaus gebeten hatte. Gisela Brude-Firnau hat darauf aufmerksam gemacht, dass es für die Zeitgenossen naheliegend gewesen sein muss, diese erniedrigende Szene, die zugleich Ausgangspunkt einer anhaltenden Verehrung für die Herzogin werden sollte, mit der biblischen Geschichte um Esther und Ahasver zu parallelisieren.Footnote 7 Wie Esther hatte die Herzogin ihr Volk durch beherztes Auftreten vor dem fremden Herrscher beschützt.Footnote 8 Doch so sehr der großherzoglichen Familie an einer subtilen Ehrerbietung gelegen gewesen sein mag: Sofern eine derartige Referenz auf die Ereignisse im Oktober 1806 sowohl den Wahlverwandtschaften als auch dem Tableau vivant vom Februar 1817 eingeschrieben war, verstärkte sie zugleich den heiklen Rückbezug auf die Protagonisten des Romans und ihre Lebenden Bilder.

Zu den Tableaux vivants von 1817, an deren Vorbereitung u. a. der Architekt Clemens Wenzeslaus Coudray maßgeblich beteiligt war, steuerte Goethe ein kurzes Gedicht bei, das auf dem Programmzettel abgedruckt wurde. Vordergründig zeugt die Stanze davon, dass Goethe darum wusste, wie weitgehend man auch die reale Architektur des Festsaals in die Lebenden Bilder einzubinden versuchte. Doch artikuliert sich in ihr zugleich nochmals die Sorge vor einer unheilvollen Verstrickung in Bilder:

Bilder-Scenen

Aufgeführt zur Feyer des 2n Februars 1817

Verse

Verse Mit Säulen schmückt ein Architect aufs beste Mit Statuen, Gemälden seine Hallen, Dann finden sich am frohen Tag die Gäste, Von Melodie bewegt einher zu wallen. Nun wirket umgekehrt, am schönsten Feste Durch Widerspruch die Kunst Ihm zu gefallen. Statt laute Freude frisch bewegt zu schildern, Erstarrt das Lebende zu holden Bildern.Footnote

Johann Wolfgang Goethe, »Bilder-Scenen«, in: Ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 11.1.1: Divan-Jahre 1814–1819, hrsg. Karl Richter, Christoph Michel, München 1998, 181.

Ganz unverkennbar legt das Gedicht den Gedanken nahe, die Lebenden Bilder als Umkehrung des vertrauten Verhältnisses von Kunst und Leben zu verstehen. Wo die Kunst sonst durch Architektur, Ausstattung und Skulpturenschmuck einen Rahmen schafft, in dem sich das Leben, etwa die Tafeln oder Bälle des Hofes, entfalten kann, gleicht sich nun das Lebendige der reglosen, statischen bildenden Kunst an. Die »holden Bilder«, die dabei entstehen, mögen zwar das »schönste[ ] Fest[ ]« auszeichnen, sie erweisen sich aber als »Widerspruch« gegen »Freude«, frische Bewegung und Lebendigkeit. Als ein Verweis auf die Wahlverwandtschaften kann die prominente Erwähnung des Architekten gelten, der in Goethes Stanze geradezu zum eigentlichen Adressaten der Inszenierung zu werden scheint.Footnote 10 Denn im Roman ist es ebenfalls ein namenloser Architekt, der wesentlich zur Einrichtung und praktischen Umsetzung der Lebenden Bilder beiträgt. Goethes Gedicht verstärkt auf diese Weise zusätzlich die Allusion auf die Tableaux vivants der Wahlverwandtschaften, die bereits mit der Wahl von Poussins Bild einhergeht.

Damit stellt sich jedoch die Frage, welches Bild im Festsaal des Weimarer Schlosses eigentlich aufgeführt wurde: Nahmen die Laienschauspieler, darunter auch Goethes Sohn August, die Rollen von Ahasverus, Esther sowie der Minister und Dienerinnen des persischen Königs ein oder spielten sie die Protagonisten der Wahlverwandtschaften bei deren Versuch, Tableaux vivants zu stellen? Vergegenwärtigten sie eine heilsgeschichtliche Szene des Alten Testaments, ein französisches Bild des Grand siècle oder ein Divertissement auf einem fiktionalen Landgut der Zeit um 1800? Die Konfusion von Realitäts- und Zeitebenen, die im Lebenden Bild ohnehin schon angelegt ist und den Erzähler der Wahlverwandtschaften davon sprechen lässt, »daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte«Footnote 11, wurde im Februar 1817 mithin nochmals erheblich gesteigert. Die radikale Verkörperung des bildlich Dargestellten mithilfe des Tableau vivant hat eine zeitliche Entdifferenzierung zur Folge, die alles in die Gegenwart des Hier und Jetzt holt. Zugleich wird aber dieses Hier und Jetzt aus dem Fluss der Zeit herausgelöst und fixiert. Während die Stasis des Bildes sonst darauf aufmerksam macht, dass das Bild nicht identisch mit der dargestellten Person oder Sache ist, droht beim Tableau vivant »das Lebende zu holden Bildern« zu erstarren, sodass Bild und Wirklichkeit ununterscheidbar verschmelzen. Goethes Stanze ist daher nicht bloß als rasch verfertigte Kasualdichtung zu lesen. Sie deutet vielmehr erneut ein Unbehagen an, dass bereits in den Wahlverwandtschaften – deutlich breiter und folgenreicher – entfaltet worden war, nun aber nicht mehr einen fiktionalen Roman, sondern die Wirklichkeit des Weimarer Hofes zum Austragungsort hat.

II.

Die Problematik und Abgründigkeit des Lebenden Bildes ist eng verknüpft mit der spezifischen Zeitlogik, die Bilder allgemein kennzeichnet. Insofern das Bild eine Darstellung von etwas ist, nutzt es seine eigene materielle, dingliche Präsenz, um Abwesendes zu vergegenwärtigen. Bereits Platon hat im Sophistes beschrieben, dass jedes Bild (eídolon) eine »Verflechtung des Nichtseienden mit dem Seienden« (symploké)Footnote 12 impliziert. Dem, was im Bild anschaulich gegeben ist, kommt Präsenz zu; allerdings verweist das Bild zugleich darauf, dass es nicht mit der Sache selbst gleichzusetzen ist. Das im Bild Dargestellte ist daher nur als ein Erscheinendes, sodass ihm wesentliche charakteristische physische Eigenschaften fehlen (da sich zum Beispiel ein im Bild dargestelltes Glasfenster nicht zersplittern lässt). Rasch zeigt sich, dass beim Blick auf Bilder unser Vorverständnis von Präsenz und Gegenwärtigkeit, das dazu tendiert, visuelle Gegenwärtigkeit als Ausweis physischer Präsenz aufzufassen, fraglich und fragwürdig wird.

Im Rückgriff auf die bildtheoretische Terminologie Edmund Husserls lässt sich dieses Problem etwas differenzierter erfassen: Was im Bild zur Darstellung kommen soll, das Bildsujet, ist in der Regel räumlich entfernt oder zeitlich distanziert. Das physische Bild mit der Materialität des Bildträgers, der Darstellungsmittel, Farben etc., ist indes im Moment der Bildbetrachtung anschaulich und dinglich gegenwärtig. Zwischen diesen beiden Instanzen vermittelt gleichsam das Bildobjekt, d. h. das »repräsentierende oder abbildende Objekt«Footnote 13, das im Bildträger erscheint und keineswegs mit dem externen Bildsujet identisch ist. Anders als (andere) Zeichen verweist das Bild nicht von sich weg, sondern lässt einen besonderen, nur sichtbaren Gegenstand, das Bildobjekt, erscheinen, dem eine eigene Gegenwärtigkeit, eine, wie Lambert Wiesing vorgeschlagen hat, rein »artifizielle Präsenz«Footnote 14 eigen ist. Wenngleich es sich dabei um eine »Präsenz ohne substantielle Anwesenheit«Footnote 15 handelt, geht der Blick auf das im Bild Erscheinende mit einem »sinnlichen Gegenwartsbewusstsein«Footnote 16 einher. Das Bildbewusstsein des Betrachters, so Husserl, ermöglicht es, das Bildobjekt als sinnlich gegenwärtig zu erfahren, ohne es mit der Gegenwart der Sache selbst zu verwechseln.Footnote 17 Sofern sich der Betrachter bewusst ist, einem Bild gegenüberzustehen, unterläuft ihm nicht der Irrtum, von der artifiziellen Präsenz des Bildobjekts auf eine physische Gegenwart des Bildsujets zu schließen. Wenn etwas im Bild präsent und anschaulich wird, kommt es mithin zur Gegenwärtigkeit des Erscheinens eines Abwesenden: Das Bildsujet bleibt abwesend, sein Erscheinen jedoch vollzieht sich in der Gegenwart des Betrachters. Diese spezifische Form von Präsenz unterscheidet das Bild von (anderen) Zeichen, die nicht etwas erscheinen lassen, sondern von sich weg auf anderes verweisen.

Da die Abwesenheit des im Bild Erscheinenden sowohl räumlich als auch zeitlich bedingt sein kann, ist häufig die Fähigkeit von Bildern hervorgehoben worden, längst vergangene Ereignisse oder verstorbene Persönlichkeiten wie gegenwärtig vor Augen treten zu lassen. Leon Battista Alberti hat in seinem Malereitraktat von 1435/36 die Leistung des Bildes gerühmt, »Abwesende [zu] vergegenwärtig[en]« und Verstorbene so überzeugend darzustellen, dass deren »Züge [...] irgendwie ein verlängertes Leben [zu] führen«Footnote 18 scheinen. Es ist dieser Topos, vielleicht sogar Albertis Bemerkung selbst, auf die sich ein sehr ähnlicher Gedanke beziehen dürfte, der sich in Goethes Wahlverwandtschaften, als Eintrag in »Ottiliens Tagebuch«, findet:

»Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abgeschiedene näher bringen. Keins ist von der Bedeutung des Bildes. Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit einem Freunde streiten. Man fühlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweien ist und doch nicht auseinander kann.«Footnote 19

Die Ottilie zugeschriebene Überlegung zeugt vom Glauben an die Macht des Bildes, die strikte Ordnung der Zeiten gleichsam zu durchkreuzen. Damit eröffnen Bilder die Möglichkeit, Vergangenes oder auch Zukünftiges in die Gegenwart zu holen. Das Zitat deutet allerdings auch an, dass diese Leistung nur um den Preis einer Gefahr zu haben ist: Wenn ein Bild Abwesendes vergegenwärtigt, droht eine Verkennung der Differenz zwischen dem physischen Bild, dem Bildobjekt und dem Bildsujet. Die materielle Gegenwart des Bildträgers, die dem Betrachter ein sinnliches Gegenwartsbewusstsein des erscheinenden Bildobjekts ermöglicht, kann dann allzu rasch mit der physischen Präsenz des Bildsujets gleichgesetzt werden. Der Tagebucheintrag von Ottilie spricht ganz in diesem Sinne von einem »geliebten Bilde«, obwohl die Zuneigung eher der im Porträt erscheinenden Person gelten dürfte. Bereits in diesem sprachlichen Detail kündigt sich eine Verwechslung der artifiziellen Präsenz des Bildobjekts mit der physischen Gegenwart des Gemeinten, d. h. des Bildsujets, an.

Lebende Bilder beschwören diese Gefahr in besonders zugespitzter Form herauf. Bei ihnen werden all jene Faktoren geschwächt und nahezu vollständig ausgeblendet, die das Bildbewusstsein wecken und stärken könnten. Ein Betrachter, der sich vor dem flächigen Bildträger eines Gemäldes bewegt, bemerkt unwillkürlich, dass die aus dem alltäglichen Umgebungssehen vertrauten Gesetzmäßigkeiten der standortgebundenen Abschattung von räumlich angeordneten Gegenständen beim Blick auf die Objekte im Bild nicht greifen.Footnote 20 Zudem kann er darauf stoßen, dass eine Änderung der realen Lichtverhältnisse nicht die Verteilung von Licht und Schatten auf den Dingen im Bild beeinflusst, sondern eine unterschiedlich starke Ausleuchtung des Bildträgers zur Folge hat. Diese Indizien, die vor Gemälden oder Fotografien fast zwangsläufig den Bildstatus der dargestellten Objekte auffällig werden lassen, entfallen beim Tableau vivant weitgehend. Im Extremfall lassen sich beim Lebenden Bild keine Unterschiede zwischen den Eigenschaften des physischen Bildes, des Bildobjekts und des mit ihm gemeinten Bildsujets ausmachen: Anders als im Gemälde Poussins wurden Esther und Ahasverus beim Lebenden Bild im Weimarer Festsaal nicht durch Farbe auf einer Leinwand vergegenwärtigt, sondern von anderen Menschen verkörpert. Nur die Stasis des Tableaus und das Wissen um die wahre Identität der Beteiligten machten in diesem Fall darauf aufmerksam, dass es sich um ein Bild, um die Erscheinung einer längst vergangenen Szene handelte.

In den Wahlverwandtschaften führt die gekonnte Umsetzung der Lebenden Bilder gleich mehrfach zu Grenzsituationen, in denen das bildlich Vergegenwärtigte und die Gegenwart der Betrachter unterschiedslos zu verschmelzen drohen. Das dritte Tableau, mit dem die sog. Väterliche Ermahnung von Gerard ter Borch (Abb. 2) nachgestellt wird, überzeugt durch seine »lebendige Nachbildung« so sehr, dass »ein lustiger ungeduldiger Vogel« aus dem Publikum die zentrale Rückenfigur durch den Ausruf »tournez s’il vous plait« zu einer Drehung zu veranlassen versucht.Footnote 21 Damit wird jedoch der Moment der stärksten Annäherung von Bild und Wirklichkeit zum Umschlagpunkt, der unwillkürlich das Bildbewusstsein der Betrachter wieder weckt. Kaum zufällig verweist der Erzähler darauf, dass es sich bei der französischen Redewendung um »Worte« handele, »die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt«Footnote 22. Der spontane Ausruf des bildvergessenen Betrachters verweist auf diese Weise unfreiwillig auf ein Blatt Papier – und damit auf jenes Trägermedium, auf dem man auch ter Borchs Gemälde, in Form eines Reproduktionsstiches von Johann Georg Wille, kennengelernt hatte.Footnote 23

III.

Die Tableaux vivants waren für Goethe nur ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die problematischen Implikationen und Effekte von Bildern. Die Grundfrage, wie das Bild mit seiner materiellen Präsenz und sinnlichen Vergegenwärtigungsleistung zur Gegenwart des Betrachters ins Verhältnis zu setzen ist, durchzieht neben den Wahlverwandtschaften zahlreiche andere Werke und Äußerungen Goethes. In seinen autobiografischen Schriften verweist er verschiedentlich auf die Gewohnheit, Szenen, Landschaften und Schauplätze in bildhafter Form wahrzunehmen; mehrfach spricht er in beinahe identischen Formulierungen von seiner »Gabe«, »die Natur [...] mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen«.Footnote 24 Während Goethe in diesen Fällen beobachtet, wie sich die Realität in der Wahrnehmung zu einer bildhaften Ganzheit fügt, hat er im Gedicht »Amor ein Landschaftsmaler« gleichsam in der entgegengesetzten Richtung entfaltet, wie ein Bild in die Wirklichkeit übergeht.Footnote 25

Besondere Aufmerksamkeit schenkte Goethe den negativen Effekten einer Annäherung von Bild und Wirklichkeit. Das Trauerspiel Iphigenie auf Tauris kann, wie Fritz Breithaupt vorgeschlagen hat, als eine Kritik an der Festschreibung der Wirklichkeit durch Schattenbilder – hier vorrangig der Erinnerung – gelesen werden. Während die zu Simulakren geronnenen Erinnerungsbilder Möglichkeiten verschließen, gilt es sich deren Bildstatus bewusst zu machen, damit sie reversibel werden und Zukunftsoffenheit zurückgewonnen wird.Footnote 26 Welche Folgen die Entdifferenzierung von Bild und Wirklichkeit zeitigt, deutet sich ebenfalls im Festspiel Pandora an, das mit Epimetheus eine von Bildern faszinierte, ja besessene Figur vorführt. Auch hier zeigt sich, was es heißt, sich von der Präsenz von Bildern, die nicht als solche erkannt werden, gefangen nehmen zu lassen.Footnote 27 Scheinbar beiläufig und unterhaltsam, aber nicht minder ernst zu nehmen sind schließlich die Hinweise auf kritische Bildpraktiken, die sich in der Erzählung Der Sammler und die Seinigen finden. In ihr wird u. a. von einem täuschend echt anmutenden Doppelporträt berichtet, das Gäste des Sammlers überraschen sollte, dann allerdings seiner materiellen Vergänglichkeit anheimfiel.Footnote 28 Und am Beispiel eines verwitweten Malers, der die Lebendigkeit und den Illusionismus seiner Porträts bis zur Vollkommenheit perfektioniert hatte, wird anschaulich, wie er nach dem Tod seiner Frau die enge Kopplung von Bild und Wirklichkeit nicht mehr zu lösen vermag. Während er zuvor mit seinen Bildnissen die Sterblichkeit des Menschen zu überwinden schien, versucht er sich nun in eine Stilleben-Produktion zu flüchten, die ihn jedoch, da er unausgesetzt Gegenstände der Verstorbenen malt, fortwährend an deren Tod erinnert.Footnote 29

An den Lebenden Bildern in den Wahlverwandtschaften zeigt sich besonders eindringlich, dass Goethe sich nicht allein an der Verwechslung von Bild und Wirklichkeit stört. Nicht nur weil sie täuschen und bildlich Dargestelltes wie wirklich erscheinen lassen, sind die betroffenen Bilder und insbesondere Bildpraktiken fragwürdig. Ein zentrales Problem solcher Simulakren sieht Goethe vielmehr darin, dass sich ihre statische, unbewegte Präsenz auf die Gegenwart des Betrachters überträgt. Da sie in keine lebendige Interaktion eingebunden sind, laden die Bilder den Betrachter zu Projektionen ein, die letztlich auch dessen Zugang zur Gegenwart und Wirklichkeit kontaminieren können. Andeutungsweise findet sich dieser Gedanke in Ottiliens Tagebuch formuliert – in einem Absatz, der unmittelbar auf die bereits zitierten Überlegungen zur vergegenwärtigenden Kraft des Porträts folgt:

»Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschäftigen: wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daß er etwas dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben bloß zu uns wie ein Bild verhält.«Footnote 30

Was zunächst wie ein von Vertrautheit getragenes Einvernehmen anmutet, das keiner Worte bedarf, erweist sich rasch als einseitige Projektion, wenn Ottilie ausdrücklich festhält, dass das Gegenüber nichts »dazu tut« und nichts »empfindet.« Auf die stumme, reglose Präsenz eines Bildes reduziert, setzt es den Projektionen und Bestimmungen des anderen keinen Widerstand mehr entgegen. Der Bildstatus steht hier für eine vollkommene Verfügbarkeit.

Die unterschiedslose Ineinssetzung von Bild und Wirklichkeit betrifft daher beide Instanzen: Zum einen wird das Bild, das als solches nicht mehr bewusst wahrgenommen und mit der Präsenz des in ihm Erscheinenden verwechselt wird, ganz auf ein Hier und Jetzt festgelegt; zum anderen droht die Gegenwart zu erstarren, wenn sie selbst wie ein Bild arretiert und verfügbar gemacht wird. In beiden Fällen mangelt es an einem Bewusstsein dafür, dass das sinnliche Gegenwartsbewusstsein, das mit der Betrachtung eines Bildobjekts einhergeht, keineswegs mit einer physischen Präsenz gleichzusetzen ist.

IV.

Fritz Breithaupt hat in exemplarischen Studien zu verschiedenen literarischen Werken und Aufsätzen Goethes nachvollzogen, wie die Wahrnehmung von Bildern die Wirklichkeit verkürzt, sofern sie ohne Bildbewusstsein erfolgt und das Bild zum Simulakrum wird. »Wirklichkeit ist für Goethe«, so Breithaupt, »nicht in den Dingen an sich gegründet, sondern in ihrer Produktion durch die Wahrnehmung«Footnote 31, mithin in den Anschauungen, Bildern und Begriffen, mit denen wir auf sie zugreifen. Wenn aber ein solches Bild, das nur eine Perspektive oder einen kontingenten Aspekt der Phänomene zur Anschauung bringe, für die Sache selbst gehalten werde, drohe die Wirklichkeit verkürzt zu werden. Da es Goethe mit seiner Bildkritik um »das Offenhalten der Wirklichkeit« und »die Möglichkeit anderer Wirklichkeiten«Footnote 32 gehe, suche er daher nach einem »Jenseits der Bilder«Footnote 33.

Breithaupt hat mit seinen Überlegungen auf ein Leitmotiv vieler Goethe’scher Texte hingewiesen, dabei aber die Kritik verbreiteter Bildpraktiken vielleicht etwas voreilig als grundlegende Bildkritik verstanden. Den von Goethe kritisch betrachteten Bildpraktiken ist gemeinsam, dass sie, indem sie Bild und Wirklichkeit verschmelzen, nicht nur das Bildbewusstsein der Betrachter schwächen oder ausschalten, sondern zugleich auch die dem Bild eigene Temporalität still stellen. Indem Goethes Protagonisten nicht zwischen der physischen Gegenwart von Dingen und dem rein sinnlichen Gegenwartsbewusstsein bei der Betrachtung eines Bildobjekts unterscheiden, verkennen sie, dass Bilder Wahrnehmungsprozesse anstoßen können, die eine eigene Zeitlichkeit aufweisen und nicht in einer undifferenzierten, unterschiedslosen Gegenwart aufgehen. Bilder können zeitlich erstreckte Vollzüge des Schauens, Deutens und Denkens anstoßen, die sich wechselseitig antreiben und in Bewegung halten.Footnote 34 So vermag ein klug komponiertes Bild mit einer Vielzahl einzelner, bedeutungsträchtiger Motive den Betrachter dazu anzuhalten, sich nicht mit der scheinbaren Präsenz des Gesehenen zufriedenzugeben, sondern das Bild – um eine Formulierung Paul Klees aufzugreifen – gleichsam »ab[zu]grasen«Footnote 35. Sofern das Bild dabei nicht zum Simulakrum wird und das Bildbewusstsein gewahrt bleibt, wird der Betrachter im Verlauf dieses Wahrnehmungsprozesses auch zwischen der Konzentration auf Objekte im Bild und der physischen Präsenz des Bildträgers wechseln. Die Temporalität der Bildbetrachtung erlaubt es, dass im Bild Erscheinende simultan mit der Wirklichkeit zu betrachten, ohne es für einen Teil der Realität halten zu müssen. Die Bildzeit kann mithin alternative Perspektiven eröffnen und so – anders als Breithaupt vermutete – die »Möglichkeit anderer Wirklichkeiten«Footnote 36 zur Geltung bringen. Der für das Bild konstitutive Widerstreit zwischen Bildträger und Bildobjekt kann, sofern er nicht zugunsten einer der beiden Instanzen verdrängt wird, nur in der Zeit ausgetragen werden. In solchen zeitlich erstreckten Wahrnehmungsprozessen wird erfahrbar, dass mit dem Bildobjekt nicht schlicht etwas gegenwärtig ist, sondern zum Erscheinen kommt.

Goethe scheint diese Möglichkeit durchaus gesehen zu haben. So liest sich sein Bericht über das sog. »Glückliche Ereignis«, mithin über die Begegnung mit Schiller und die anschließende Diskussion über Goethes Zeichnung einer »symbolische[n] Pflanze«Footnote 37, etwas anders, wenn man sich bewusst macht, dass Goethe mit dem zeitlich erstreckten Vollzug des Zeichnens eine temporale Wahrnehmung der Pflanze im Werden ermöglichte, statt die »Idee« in einer statischen Schemazeichnung zu verdinglichen.Footnote 38

Eine dezidiert verzeitlichte Bildbetrachtung hat Goethe aber insbesondere in seinem 1813 entworfenen und 1816 veröffentlichten Aufsatz »Ruysdael als Dichter« erprobt.Footnote 39 Drei Gemälde Jacob van Ruisdaels, die er in Dresden hatte sehen können, dienen ihm als Exempla, um ein Verständnis von Landschaftsmalerei vorzustellen, das die eminente Temporalität dieser vermeintlich niederen Gattung aufdeckt. Ruisdaels technische Meisterschaft und seine Genauigkeit in der Darstellung werden dabei von Goethe vorausgesetzt und explizit nicht weiter behandelt, sodass der Präsenzeffekt der Malerei nicht im Zentrum steht. Sein Interesse gilt indes der den Bildern impliziten Zeitlichkeit, die ihm Anlass ist, den »reinfühlende[n], klardenkende[n] Künstler« programmatisch als »Dichter«Footnote 40 zu bezeichnen.

Die ausführlichste der drei Bildbeschreibungen, die Goethe liefert, lässt besonders klar hervortreten, worauf es ihm ankommt. Mit der Darstellung eines Klosters gelinge es Ruisdael »im Gegenwärtigen das Vergangene darzustellen«; »das Abgestorbene« sei hier »mit dem Lebendigen in die anschaulichste Verbindung gebracht«Footnote 41 (Abb. 5). Damit ist bereits der Kerngedanke umrissen, den Goethe in einer bewusst langwierigen Beschreibung des Bildes entfaltet. Überall macht er ein harmonisches Nebeneinander von Anzeichen des Werdens und Lebens sowie von Spuren der Vergänglichkeit und des Verfalls aus. Dem ruinösen Kloster werden »wohlerhaltene Gebäude« gegenübergestellt, die Goethe als Sitz eines »Amtmanns oder Schössers«Footnote 42 deutet. Den weitgehend zerstörten Resten einer steinernen Brücke hält er entgegen, dass die Furt noch immer die Überquerung des Flusses und damit einen »lebendigen Verkehr«Footnote 43 zulasse. Während eine mächtige Buche »entblättert, entästet, mit geborstener Rinde« von Vergänglichkeit zeugt, veranschaulichen »andere noch vollebendige Bäume«Footnote 44 sowie saftiges Grün die anhaltende Fruchtbarkeit des Landstrichs. Goethe balanciert nicht nur jedes Indiz von Verfall durch Hinweise auf Wachstum und Leben aus, sondern hat in die ganze Beschreibung auffällig häufig Worte eingeflochten, die auf das Substantiv »Leben« oder das Adjektiv »lebendig« zurückgehen. Und als sei die ständige Wiederholung dieses Schlüsselwortes nicht Signal genug, bemüht er sich zudem darum, die Beschreibung des eigentlich statischen Bildes zu verzeitlichen, indem er den Vorgang der Bildbetrachtung nachformt und durch Zeitbestimmungen (»noch«, »wenn«, »schon« etc.) strukturiert.Footnote 45

Abb. 5
figure 5

Jacob van Ruisdael, Das Kloster, um 1655/60, Öl auf Leinwand, 75 × 96,3 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (Foto: Seminar für Kunstgeschichte, FSU Jena)

Ausgerechnet ein vermeintlich schlichtes Landschaftsbild, dem es an Geschehen und Ereignissen mangelt, wird auf diese Weise zum eindrucksvollen Beispiel einer genuin bildlichen Zeitlichkeit. Es ist keineswegs die bloße Vergegenwärtigung eines Anblicks, die das Bild leistet, sondern die anspruchsvolle Verschränkung der drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie wird von Goethe vor allem in der Beschäftigung mit dem im Bild Dargestellten nachvollzogen. Allerdings wird gegen Ende der Bildbetrachtung gezielt nochmals auf die spezifisch bildliche Erscheinungsweise der betrachteten Phänomene hingewiesen. Zur Figur des im Vordergrund dargestellten Zeichners heißt es ganz in diesem Sinne: »Er sitzt hier als Betrachter, als Repräsentant von Allen, welche das Bild künftig beschauen werden, welche sich mit ihm in die Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart, die sich so lieblich durch einander webt, gern vertiefen mögen.«Footnote 46 Ruisdaels Gemälde bietet damit weit mehr als eine »einfache Nachahmung«Footnote 47. Es ist ein Tableau vivant der anderen Art, ein lebendiges Bild, das die vitale Natur in einem zeitlich erstreckten Wahrnehmungsprozess erscheinen lässt.

Bereits zu Beginn des Aufsatzes fasst Goethe zusammen, worin seines Erachtens die entscheidende Leistung Ruisdaels liegt:

»Der Künstler hat bewundrungswürdig geistreich den Punkt gefaßt, wo die Produktionskraft mit dem reinen Verstande zusammentrifft und dem Beschauer ein Kunstwerk überliefert, welches, dem Auge an und für sich erfreulich, den innern Sinn aufruft, das Andenken anregt und zuletzt einen Begriff ausspricht, ohne sich darin aufzulösen oder zu verkühlen.«Footnote 48

So beiläufig diese Charakterisierung auch in den Aufsatz eingeflochten ist, erweist sie sich dennoch als zentral und anspielungsreich. Ohne dass Goethe ausdrücklich darauf hinweist, scheint sein Gedanke einem philosophischen Schlüsselbegriff, Immanuel Kants Konzept der ästhetischen Idee, verpflichtet zu sein. Kant hatte die »ästhetische Idee« als »Vorstellung der Einbildungskraft« bestimmt, »die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.«Footnote 49 Ganz offenkundig umkreist auch Goethe mit seinen Beobachtungen zu Ruisdael den Gedanken, dass es ästhetische Phänomene gibt, die zu Versuchen einer begrifflichen Bestimmung anregen und sich solcher sprachlichen Fixierung doch zugleich entziehen – und gerade deswegen zu einer zeitlichen Erstreckung des Sehens und Denkens beitragen.Footnote 50

In der Betrachtung von Ruisdaels Landschaftsbild ergreift Goethe die Möglichkeit, sich stark auf das sinnliche Gegenwartsbewusstsein des im Bild Erscheinenden einzulassen, ohne dabei dessen Bild- und Kunstcharakter zu verleugnen. Weder sieht er sich veranlasst, von dem anschaulich Gegebenen abzusehen, noch reduziert sich das Dargestellte auf ein bloßes Zeichen. Zugleich aber erschöpft sich die Landschaft für ihn nicht in der schlichten Vergegenwärtigung eines Naturausschnitts. Vielmehr scheint der zeitlich erstreckte Prozess der Betrachtung gezielt dazu genutzt zu werden, die Natur in ihrer eigenen Zeitlichkeit und Lebendigkeit erscheinen zu lassen.

Der Aufsatz »Ruysdael als Dichter« steht für einen Umgang mit der ebenso attraktiven wie potenziell gefährlichen Präsenz von Bildern, der deren Potenziale zur Geltung bringt, ohne eine fragwürdige Konfusion von Bild und Wirklichkeit zu riskieren. Vergangenheit und Gegenwart können nur deswegen »durch einander web[en]«, weil Ruisdael sich die Möglichkeit des Bildes zunutze macht, die Gegenwärtigkeit des Erscheinens eines sonst Abwesenden erfahrbar zu machen. Würde mit dem Bild lediglich zeichenhaft auf etwas Vergangenes verwiesen, so blieben Gegenwart und Vergangenheit schroff voneinander getrennt. Zugleich aber kann die Vergangenheit nur dann mit der Gegenwart verschränkt werden, wenn ihr Vergangenheitscharakter gewahrt bleibt, das Vergangene also nicht schlichtweg gänzlich vergegenwärtigt und wie gegenwärtig vor Augen geführt wird. Folgt man Goethes Interpretation, so scheint Ruisdael beiden Voraussetzungen gerecht worden zu sein. Sein Bild des Klosters exemplifiziert damit eine Form der Bildpräsenz, die die problematischen, tendenziell zur Erstarrung führenden Implikationen der Lebenden Bilder meidet. Die schwierige Frage, wie Bild und Gegenwart zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, hat für Goethe in Ruisdaels Bildern eine überzeugende Lösung gefunden.