Fritz Breithaupt hat in exemplarischen Studien zu verschiedenen literarischen Werken und Aufsätzen Goethes nachvollzogen, wie die Wahrnehmung von Bildern die Wirklichkeit verkürzt, sofern sie ohne Bildbewusstsein erfolgt und das Bild zum Simulakrum wird. »Wirklichkeit ist für Goethe«, so Breithaupt, »nicht in den Dingen an sich gegründet, sondern in ihrer Produktion durch die Wahrnehmung«Footnote 31, mithin in den Anschauungen, Bildern und Begriffen, mit denen wir auf sie zugreifen. Wenn aber ein solches Bild, das nur eine Perspektive oder einen kontingenten Aspekt der Phänomene zur Anschauung bringe, für die Sache selbst gehalten werde, drohe die Wirklichkeit verkürzt zu werden. Da es Goethe mit seiner Bildkritik um »das Offenhalten der Wirklichkeit« und »die Möglichkeit anderer Wirklichkeiten«Footnote 32 gehe, suche er daher nach einem »Jenseits der Bilder«Footnote 33.
Breithaupt hat mit seinen Überlegungen auf ein Leitmotiv vieler Goethe’scher Texte hingewiesen, dabei aber die Kritik verbreiteter Bildpraktiken vielleicht etwas voreilig als grundlegende Bildkritik verstanden. Den von Goethe kritisch betrachteten Bildpraktiken ist gemeinsam, dass sie, indem sie Bild und Wirklichkeit verschmelzen, nicht nur das Bildbewusstsein der Betrachter schwächen oder ausschalten, sondern zugleich auch die dem Bild eigene Temporalität still stellen. Indem Goethes Protagonisten nicht zwischen der physischen Gegenwart von Dingen und dem rein sinnlichen Gegenwartsbewusstsein bei der Betrachtung eines Bildobjekts unterscheiden, verkennen sie, dass Bilder Wahrnehmungsprozesse anstoßen können, die eine eigene Zeitlichkeit aufweisen und nicht in einer undifferenzierten, unterschiedslosen Gegenwart aufgehen. Bilder können zeitlich erstreckte Vollzüge des Schauens, Deutens und Denkens anstoßen, die sich wechselseitig antreiben und in Bewegung halten.Footnote 34 So vermag ein klug komponiertes Bild mit einer Vielzahl einzelner, bedeutungsträchtiger Motive den Betrachter dazu anzuhalten, sich nicht mit der scheinbaren Präsenz des Gesehenen zufriedenzugeben, sondern das Bild – um eine Formulierung Paul Klees aufzugreifen – gleichsam »ab[zu]grasen«Footnote 35. Sofern das Bild dabei nicht zum Simulakrum wird und das Bildbewusstsein gewahrt bleibt, wird der Betrachter im Verlauf dieses Wahrnehmungsprozesses auch zwischen der Konzentration auf Objekte im Bild und der physischen Präsenz des Bildträgers wechseln. Die Temporalität der Bildbetrachtung erlaubt es, dass im Bild Erscheinende simultan mit der Wirklichkeit zu betrachten, ohne es für einen Teil der Realität halten zu müssen. Die Bildzeit kann mithin alternative Perspektiven eröffnen und so – anders als Breithaupt vermutete – die »Möglichkeit anderer Wirklichkeiten«Footnote 36 zur Geltung bringen. Der für das Bild konstitutive Widerstreit zwischen Bildträger und Bildobjekt kann, sofern er nicht zugunsten einer der beiden Instanzen verdrängt wird, nur in der Zeit ausgetragen werden. In solchen zeitlich erstreckten Wahrnehmungsprozessen wird erfahrbar, dass mit dem Bildobjekt nicht schlicht etwas gegenwärtig ist, sondern zum Erscheinen kommt.
Goethe scheint diese Möglichkeit durchaus gesehen zu haben. So liest sich sein Bericht über das sog. »Glückliche Ereignis«, mithin über die Begegnung mit Schiller und die anschließende Diskussion über Goethes Zeichnung einer »symbolische[n] Pflanze«Footnote 37, etwas anders, wenn man sich bewusst macht, dass Goethe mit dem zeitlich erstreckten Vollzug des Zeichnens eine temporale Wahrnehmung der Pflanze im Werden ermöglichte, statt die »Idee« in einer statischen Schemazeichnung zu verdinglichen.Footnote 38
Eine dezidiert verzeitlichte Bildbetrachtung hat Goethe aber insbesondere in seinem 1813 entworfenen und 1816 veröffentlichten Aufsatz »Ruysdael als Dichter« erprobt.Footnote 39 Drei Gemälde Jacob van Ruisdaels, die er in Dresden hatte sehen können, dienen ihm als Exempla, um ein Verständnis von Landschaftsmalerei vorzustellen, das die eminente Temporalität dieser vermeintlich niederen Gattung aufdeckt. Ruisdaels technische Meisterschaft und seine Genauigkeit in der Darstellung werden dabei von Goethe vorausgesetzt und explizit nicht weiter behandelt, sodass der Präsenzeffekt der Malerei nicht im Zentrum steht. Sein Interesse gilt indes der den Bildern impliziten Zeitlichkeit, die ihm Anlass ist, den »reinfühlende[n], klardenkende[n] Künstler« programmatisch als »Dichter«Footnote 40 zu bezeichnen.
Die ausführlichste der drei Bildbeschreibungen, die Goethe liefert, lässt besonders klar hervortreten, worauf es ihm ankommt. Mit der Darstellung eines Klosters gelinge es Ruisdael »im Gegenwärtigen das Vergangene darzustellen«; »das Abgestorbene« sei hier »mit dem Lebendigen in die anschaulichste Verbindung gebracht«Footnote 41 (Abb. 5). Damit ist bereits der Kerngedanke umrissen, den Goethe in einer bewusst langwierigen Beschreibung des Bildes entfaltet. Überall macht er ein harmonisches Nebeneinander von Anzeichen des Werdens und Lebens sowie von Spuren der Vergänglichkeit und des Verfalls aus. Dem ruinösen Kloster werden »wohlerhaltene Gebäude« gegenübergestellt, die Goethe als Sitz eines »Amtmanns oder Schössers«Footnote 42 deutet. Den weitgehend zerstörten Resten einer steinernen Brücke hält er entgegen, dass die Furt noch immer die Überquerung des Flusses und damit einen »lebendigen Verkehr«Footnote 43 zulasse. Während eine mächtige Buche »entblättert, entästet, mit geborstener Rinde« von Vergänglichkeit zeugt, veranschaulichen »andere noch vollebendige Bäume«Footnote 44 sowie saftiges Grün die anhaltende Fruchtbarkeit des Landstrichs. Goethe balanciert nicht nur jedes Indiz von Verfall durch Hinweise auf Wachstum und Leben aus, sondern hat in die ganze Beschreibung auffällig häufig Worte eingeflochten, die auf das Substantiv »Leben« oder das Adjektiv »lebendig« zurückgehen. Und als sei die ständige Wiederholung dieses Schlüsselwortes nicht Signal genug, bemüht er sich zudem darum, die Beschreibung des eigentlich statischen Bildes zu verzeitlichen, indem er den Vorgang der Bildbetrachtung nachformt und durch Zeitbestimmungen (»noch«, »wenn«, »schon« etc.) strukturiert.Footnote 45
Ausgerechnet ein vermeintlich schlichtes Landschaftsbild, dem es an Geschehen und Ereignissen mangelt, wird auf diese Weise zum eindrucksvollen Beispiel einer genuin bildlichen Zeitlichkeit. Es ist keineswegs die bloße Vergegenwärtigung eines Anblicks, die das Bild leistet, sondern die anspruchsvolle Verschränkung der drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie wird von Goethe vor allem in der Beschäftigung mit dem im Bild Dargestellten nachvollzogen. Allerdings wird gegen Ende der Bildbetrachtung gezielt nochmals auf die spezifisch bildliche Erscheinungsweise der betrachteten Phänomene hingewiesen. Zur Figur des im Vordergrund dargestellten Zeichners heißt es ganz in diesem Sinne: »Er sitzt hier als Betrachter, als Repräsentant von Allen, welche das Bild künftig beschauen werden, welche sich mit ihm in die Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart, die sich so lieblich durch einander webt, gern vertiefen mögen.«Footnote 46 Ruisdaels Gemälde bietet damit weit mehr als eine »einfache Nachahmung«Footnote 47. Es ist ein Tableau vivant der anderen Art, ein lebendiges Bild, das die vitale Natur in einem zeitlich erstreckten Wahrnehmungsprozess erscheinen lässt.
Bereits zu Beginn des Aufsatzes fasst Goethe zusammen, worin seines Erachtens die entscheidende Leistung Ruisdaels liegt:
»Der Künstler hat bewundrungswürdig geistreich den Punkt gefaßt, wo die Produktionskraft mit dem reinen Verstande zusammentrifft und dem Beschauer ein Kunstwerk überliefert, welches, dem Auge an und für sich erfreulich, den innern Sinn aufruft, das Andenken anregt und zuletzt einen Begriff ausspricht, ohne sich darin aufzulösen oder zu verkühlen.«Footnote 48
So beiläufig diese Charakterisierung auch in den Aufsatz eingeflochten ist, erweist sie sich dennoch als zentral und anspielungsreich. Ohne dass Goethe ausdrücklich darauf hinweist, scheint sein Gedanke einem philosophischen Schlüsselbegriff, Immanuel Kants Konzept der ästhetischen Idee, verpflichtet zu sein. Kant hatte die »ästhetische Idee« als »Vorstellung der Einbildungskraft« bestimmt, »die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.«Footnote 49 Ganz offenkundig umkreist auch Goethe mit seinen Beobachtungen zu Ruisdael den Gedanken, dass es ästhetische Phänomene gibt, die zu Versuchen einer begrifflichen Bestimmung anregen und sich solcher sprachlichen Fixierung doch zugleich entziehen – und gerade deswegen zu einer zeitlichen Erstreckung des Sehens und Denkens beitragen.Footnote 50
In der Betrachtung von Ruisdaels Landschaftsbild ergreift Goethe die Möglichkeit, sich stark auf das sinnliche Gegenwartsbewusstsein des im Bild Erscheinenden einzulassen, ohne dabei dessen Bild- und Kunstcharakter zu verleugnen. Weder sieht er sich veranlasst, von dem anschaulich Gegebenen abzusehen, noch reduziert sich das Dargestellte auf ein bloßes Zeichen. Zugleich aber erschöpft sich die Landschaft für ihn nicht in der schlichten Vergegenwärtigung eines Naturausschnitts. Vielmehr scheint der zeitlich erstreckte Prozess der Betrachtung gezielt dazu genutzt zu werden, die Natur in ihrer eigenen Zeitlichkeit und Lebendigkeit erscheinen zu lassen.
Der Aufsatz »Ruysdael als Dichter« steht für einen Umgang mit der ebenso attraktiven wie potenziell gefährlichen Präsenz von Bildern, der deren Potenziale zur Geltung bringt, ohne eine fragwürdige Konfusion von Bild und Wirklichkeit zu riskieren. Vergangenheit und Gegenwart können nur deswegen »durch einander web[en]«, weil Ruisdael sich die Möglichkeit des Bildes zunutze macht, die Gegenwärtigkeit des Erscheinens eines sonst Abwesenden erfahrbar zu machen. Würde mit dem Bild lediglich zeichenhaft auf etwas Vergangenes verwiesen, so blieben Gegenwart und Vergangenheit schroff voneinander getrennt. Zugleich aber kann die Vergangenheit nur dann mit der Gegenwart verschränkt werden, wenn ihr Vergangenheitscharakter gewahrt bleibt, das Vergangene also nicht schlichtweg gänzlich vergegenwärtigt und wie gegenwärtig vor Augen geführt wird. Folgt man Goethes Interpretation, so scheint Ruisdael beiden Voraussetzungen gerecht worden zu sein. Sein Bild des Klosters exemplifiziert damit eine Form der Bildpräsenz, die die problematischen, tendenziell zur Erstarrung führenden Implikationen der Lebenden Bilder meidet. Die schwierige Frage, wie Bild und Gegenwart zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, hat für Goethe in Ruisdaels Bildern eine überzeugende Lösung gefunden.