1 Novitäten als Raketen

Die moderne Literatur, das hält Friedrich Schlegel 1797 in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie fest, ist von einer eigentümlichen Temporalität geprägt. Denn sie strebe, so Schlegel, »unersättlich« nach »dem Neuen, Pikanten und Frappanten, bei dem dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt«. Der Hunger wird nie gestillt, und der Geschmack ist verwöhnt, die Literatur muss sich ständig erneuern. Dies liegt aus Schlegels Sicht daran, dass bei jedem noch so neuen, pikanten und frappanten Werk das spezifisch Neue schnell altert, das eigentümlich Pikante langweilt und das im Moment Frappante bald niemanden mehr überrascht. Die »Popularität« dieser Texte im »Publikum« sei nur kurzfristig gegeben, da dieses sich zwar mit der »gröbern Kost« begnüge, aber dennoch immer hungrig sei: »unbefriedigt«.Footnote 1 Was eben noch ein populärer Reiz gewesen ist, findet nun kaum mehr Beachtung. »Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf«.Footnote 2

Ein Jahrhundert später liefert Eduard Reyer, promovierter Jurist, Professor für Geologie in Wien, vor allem aber Initiator der ›Bücherhallenbewegung‹ zur Errichtung von Volksbibliotheken, einen empirischen Beleg für Schlegels Bonmots. Reyer hat Berichte städtischer Bibliotheken Österreichs, Deutschlands, Englands und der USA statistisch ausgewertet und so einen Eindruck davon gewonnen, welche Autoren, Gattungen, Genres tatsächlich gelesen oder nicht gelesen werden. »Nehmen wir den Bericht der Volksbibliothek von St. Louis zur Hand, so sehen wir, daß wie bei uns Novitäten einen großen Reiz ausüben.«Footnote 3 Genau dies hatte Schlegel postuliert: Dass das moderne Publikum nach immer neuen Reizen, immer neuen Novitäten verlange – und die moderne Literatur dieser »Sehnsucht« auch nachkomme, während ›klassische‹, also für alle Zeitalter vorbildliche, gleichsam zeitlose Werke weder nachgefragt noch produziert würden. »Die Autorität der Alten« sei unter der Ägide des »Interessanten« verloren gegangen.Footnote 4 Die Antike hat Klassiker hervorgebracht, die Moderne dagegen »interessante« Stoffe.Footnote 5

Reyer, der sich auf die Bibliothekare der großen Bibliotheken verlässt, die in ihren Jahresberichten festhalten, welche Werke mit wie vielen Exemplaren angeschafft worden sind und was wie oft ausgeliehen worden sei, stellt zum Thema der Novitäten fest:

»Natürlich bestehen viele dieser litterarischen Produkte die Probe nicht. Nach einem Jahr, ja nach wenigen Monaten zeigt es sich, daß die Novität kein Stern erster Größe, sondern nur eine Rakete war.«Footnote 6

Der Reiz des Feuerwerks, so ließe sich ganz im Stile des frühen Schlegel paraphrasieren, sei zwar für einen Moment groß, aber auf Dauer hält sich die »Novität« nicht in der Gunst des Lesepublikums – und das Buch wird schließlich nicht mehr entliehen. Auf die schnelle und erfolgreiche Popularisierung folgt eine rasche Depopularisierung – neue Novitäten nehmen den Platz der veralteten Neuigkeiten ein.

2 Die Verteilung von Beachtung und Status in der Bibliothek

Eduard Reyer beginnt seinen Aufsatz Was das Volk liest, den die Deutsche Lehrerzeitung im Jahr 1892 abdrucken lässt, auf den ersten Blick vollkommen konventionell mit der Unterscheidung des Geschmacks des ›Volkes‹ von den Vorlieben der besserverdienenden Schichten, den ›vermöglichen Leuten‹:

»Die Anzahl der Auflagen, welche ein Buch erfährt, ist nicht schlechtweg ein Maßstab für dessen Volkstümlichkeit; denn nur die vermöglichen Leute kaufen Bücher und ihr Geschmack ist nicht notwendig gleich jenem des Volkes.«Footnote 7

An mehreren Stellen im Text wird der »Geschmack des Volkes« von »jenem der klassisch gebildeten Kreise«Footnote 8 differenziert. Das Volk umfasst niemals das ganze Volk, sondern nur seinen größten Teil – und die »gebildeten« Schichten zählen nicht ohne weiteres dazu. Diese stratifizierende und quantifizierende Aufteilung der Bevölkerung in ›ungebildete‹ Massen (viele) und ›gebildete‹ Kreise (wenige) prägt noch die Populärkulturforschung des zwanzigsten Jahrhunderts.Footnote 9 Kultiviert und gebildet seien die höheren, bildungsfern und kulturindustriell geprägt seien die unteren Schichten, so heißt es häufig. Die Zahlenverhältnisse (kleine Elite, breite Masse) mögen sich in den letzten hundert Jahren ein wenig verschoben haben, aber an der Stratifikation hat sich anscheinend wenig geändert, wenn die »Sozialstruktur der Spätmoderne« durch die »kulturelle Polarisierung« zwischen einer »neuen Mittelklasse und einer neuen Unterklasse« geprägt sein soll.Footnote 10 Die sogenannte »Hoch- und Elitenkultur« auf der einen steht der sogenannten »Massenkultur« auf der anderen Seite gegenüber.Footnote 11 Wenn die Gesellschaft von einer derartigen, wie man heute gerne sagt,Footnote 12 »Spaltung« dominiert ist, dann liegt die Forderung nahe, den klaffenden Graben (›the gap‹) zuzuschaufeln, um die Polarisierung zu überwinden.Footnote 13

Für Reyer scheint die Grenze zwischen dem Volk und den gebildeten Schichten nicht unüberwindlich zu sein, hält er sie doch bereits 1892 für durchlässig. Denn immerhin konzediert er, dass es durchaus Schnittmengen zwischen den Lektürevorlieben des ›Volkes‹ und der Auswahl der ›vermöglichen Leute‹ gebe, denn »ihr Geschmack ist nicht notwendig gleich«. Die Selbstverständlichkeit, mit der Reyer das »Volk« von den »gebildeten Kreisen« unterscheidet, findet sich in der vorsichtigen Formulierung nicht wieder, dass ihr Geschmack »nicht notwendig gleich« sei, also variieren könne, aber folglich nicht in jedem Fall müsse.

Reyers Ansatz ist aber ohnehin ungewöhnlich, denn was ein »populärer« Lesestoff sei, leitet er nicht von der Inferiorität der Texte ab, die vom wenig gebildeten Volk konsumiert würden, sondern von der Anzahl der Leute, die ein Buch gelesen haben. Und diese Zahl lässt sich, so warnt er vor einem Trugschluss, anhand der »Anzahl der Auflagen, welche ein Buch erfährt«, nicht ermitteln, da die vermögenderen Stände ihre Bücher kaufen – und das einfache Volk die Bücher ausleihe. Daher sei die Auflagenhöhe eines Buches »nicht schlechtweg ein Maßstab für dessen Volkstümlichkeit« – denn ein Buch mit viel geringerer Auflage könnte viele Dutzend- oder Hundertmal ausgeliehen worden und daher weitaus populärer sein als eines mit höherer Auflage.

»Will man wissen, welche Bücher wirklich populär sind, so muß man die Statistik der Volksbibliotheken verfolgen.«Footnote 14

Reyers Argumentation setzt voraus, dass es sich bei jenen Büchern, die die »vermöglichen Leute kaufen«, und den Büchern, die in den Volksbibliotheken ausgeliehen werden, um dieselben Werke handeln könnte. Denn nur dann trifft der Hinweis zu, die Auflagenhöhe sei für die Ermittlung der Popularität kein sicherer »Maßstab«. Andernfalls ließe sich ja umstandslos ermitteln, was das Volk und was die gebildeten Kreise lesen, indem man allein die Titel in den Volksbibliotheken als Lektüre des Volkes gelten ließe und unterstellte, dass jene Bücher, die die vermögenden Leute erwerben, dort nicht zu finden seien. Was »wirklich populär« ist, so lautet die populärkulturelle Devise, müsse gezählt werden – und der ›gelesenen Literatur‹Footnote 15 komme man über die Anzahl der »Buchbenutzungen«Footnote 16 eher auf die Spur als über die Zahl der Auflagen.

Was als ›populär‹ galt, wurde auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch in aller Regel qualitativ bestimmt, und zwar vor allem abwertend; ›populär‹ zu sein, implizierte gemein, vulgär, schlicht, aufreizend, banal und/oder trivial zu sein – und daher von den ungebildeten Schichten präferiert zu werden.Footnote 17 Das Populäre wende sich an die Sinne, nicht an den Verstand.Footnote 18 Populär waren die ›illegitimen‹ Vergnügungen der Unterschichten, nicht aber die ›legitime Kultur‹ der Oberschicht.Footnote 19 Reyer dagegen betont die quantitative Dimension der Popularität. Er wertet Statistiken aus, in denen ausgezählt wird, was populär ist. Populär sind Bücher von Autoren, die »1000 bis 5000mal gelesen« worden sind.Footnote 20 Nicht populär sind dagegen beispielsweise solche Schriften »religiöser und theologischer« Natur, die zwar 10 % des Bestandes der Bibliotheken stellen, jedoch nur »0,6–0,9 %« der Ausleihen ausmachen, während nur »10 oder 20 %« des Bestandes, aber »3/4 bis 4/5« der Ausleihen auf »Bücher der litterarischen Gruppe« fallen.Footnote 21 Romane sind populär, wissenschaftliche, geistliche und philosophische Werke werden dagegen nur selten ausgeliehen, obschon diese Bücher von beflissenen Bibliothekaren in großer Zahl angeschafft worden sind und gelesen werden könnten oder gar sollten.Footnote 22 Was aus der Perspektive der »Geistesaristokraten«Footnote 23 Beachtung zu finden hätte, bleibt jedoch häufig einfach liegen; und was von »verschrobenen Bildungsfanatikern für nichts geachtet« wird und von den Leserinnen und Lesern unbeachtet bleiben sollte, wird gerne gelesen.Footnote 24 Die »Popularisierung erster Ordnung«, die aus erzieherischen, volkspädagogischen, politischen oder religiösen Gründen betrieben wird, um die Beachtung für bestimmte Werke zu steigern und die Beachtung anderer Werke zu verhindern,Footnote 25 scheint angesichts der Korrelationen von angebotenen und nachgefragten Werken in den allgemein zugänglichen Leihbibliotheken gescheitert zu sein. Reyer macht auf dieses Problem aufmerksam:

»Die Thatsache, daß 70–80 % aller gelesener Werke dieser Gruppe [Belletristik] angehören, hat seinerzeit manchen würdigen Bibliothekar und Menschenfreund erschreckt; doch ist diese Thatsache gewiß nicht befremdlich, wenn man beachtet, was die gebildeten Stände konsumieren. Wenn wir nach des Tages Mühen gern ein erquickendes oder anregendes Buch, eine gute Novelle, eine Biographie, eine Reisebeschreibung oder eine Revue zur Hand nehmen, werden wir wohl füglich nicht verlangen, daß das Volk zur Erholung nur wissenschaftliche Werke lese.«Footnote 26

Die gebildeten und ungebildeten »Stände« haben also die Eigenschaft gemeinsam, zur Unterhaltung zu lesen – und nicht zum Zweck der wissenschaftlichen Fortbildung oder theologischen Belehrung. Für diese These spricht auch die statistische Beobachtung, dass alle jene »Gegenstände, die in der Schule mit Nachdruck gepflegt und gefördert werden«, in den Bibliotheken kaum »Benutzungen« aufweisen.Footnote 27 Die von den höheren Schulen eigens ›gepflegte‹ Kultur ist nicht populär; die ›ungepflegte‹ KulturFootnote 28 der »Litteratur, Romane und Jugendschriften« ist dagegen populär.Footnote 29

Ob die »Statistiken«, die Reyer anführt, den Anforderungen empirischer Bibliometrie standhalten, ist unwahrscheinlich, aber auch gar nicht entscheidend. Wichtig ist, dass Reyer zunächst die Frage der Verteilung von Beachtung quantitativ angeht und es für eine »Thatsache« hält, dass »70–80 % aller gelesener Werke« zur Belletristik zählen. Innerhalb dieser populärsten »Gruppe« wird wiederum unterschieden nach den populärsten Werken eines jeden Genres. Reyer lobt die finanzielle Ausstattung und Beschaffungspolitik der »englischen und amerikanischen Büchereien«, die viele und ausreichend Exemplare von ein und demselben beliebten Werk vorrätig halten, um so auch anhand der Leihstatistik ein »gutes Bild der Beliebtheit verschiedener Autoren und Werke« zu vermitteln. Beliebt meint hier: populär; und populär sind für Reyer nicht etwa volkstümliche oder allgemeinverständliche Bücher, sondern im zählbaren Sinne schlicht solche Werke, die häufiger entliehen werden als andere.

Auch für »unsere deutschen Leihbibliotheken« wünscht sich Reyer die materiellen Voraussetzungen, um eine statistische »Rangordnung der Beliebtheit« zu erstellen, ein Ranking also, das sich an der Popularität der Werke orientiert wie eine Hitparade oder eine Bestsellerliste.Footnote 30 Die Bibliothek von St. Louis (USA) dient ihm als Beispiel. Reyers Quellen zufolge umfasst diese Einrichtung 1892 etwa 163.000 Bände bei einem jährlichen Zuwachs von 6640 Büchern. Jedes Jahr werden 174.000 Bände in den Lesesälen benutzt; 471.000 mal werden Journale für die Lektüre in der Bibliothek ausgeliehen.Footnote 31 Zum Vergleich: Die Hofbibliothek in Wien nennt 500.000 Bände ihr eigen, verzeichnet aber nur 50.000 Benutzungen. Die zehn Wiener Volksbibliotheken besitzen zusammen viel weniger Bände, nämlich 27.000, kommen jedoch im Jahr auf 235.000 Benutzungen.Footnote 32 Darauf kommt es an: Auf die hohe Zahl der Ausleihen, nicht auf die Gesamtzahl der Bücher.Footnote 33 Wenige Bücher werden häufig entliehen, hier werden Doubletten angeschafft, um der Nachfrage entgegenzukommen, während viele Bücher kaum gelesen werden.Footnote 34 Die Titel, die das Ranking anführen, werden von Hunderten rezipiert, die meisten Werke kommen hingegen statistisch auf eine einzige Nutzung in zehn Jahren. Viele Bücher seien »in der Praxis todt«, blieben also ohne jede Rezeption.Footnote 35 Diese langen Reihen ungelesener Bücher würde man heute »long tail« nennen und die Regale mit den beliebtesten Werken an der Spitze des Rankings »head«.Footnote 36

Im Fall von St. Louis teilt Reyer einige Zahlen mit, um seine These zur bibliometrischen »Rangordnung der Beliebtheit« zu entfalten:

»Bellamys bekanntes Werk wurde in der Volksbibliothek von St. Louis zum Schlusse des Jahres 1889 pro Monat 50-, ja 70mal ausgegeben, im folgenden Frühjahr war das Buch aber schon aus der Reihe der gelesenen Werke verschwunden und hat den Platz nicht wieder erobert. Ein neuer Roman von Mark Twain, desgleichen Robert Elsmere hielten sich einige Monate unter den ersten und verschwanden dann aus den vorderen Reihen.«Footnote 37

Das Beispiel belegt nicht nur die These, dass die Beachtung der Leserinnen und Leser auf die Werke der Bibliothek ungleich verteilt ist – und manche Werke »pro Monat 50-, ja 70mal ausgegeben« werden und andere nie. Überdies wird die Zeitlichkeit der Rangliste zum Thema: Ein Romanautor wie Edward Bellamy, dessen Bestseller Looking Backward: 2000–1887 gerade (1888) erschienen war, erwies seine Beliebtheit zwar auch in der Leihbibliothek, verschwand aber im Frühjahr 1890 »aus der Reihe der gelesenen Werke«, ohne den verlorenen »Platz […] in den vorderen Reihen« wiedergewinnen zu können. Der ebenfalls 1888 publizierte Roman Robert Elsmere (der Autorin Mary Augusta Ward), ein Bestseller wie Looking Backward, erfährt das gleiche Schicksal: Der schnell erworbene Platz am oberen Ende der Rangfolge wird nur einige Monate besetzt, dann folgt ein Abstieg – in Richtung ›long tail‹. Dies verhält sich nicht immer so, und Reyer macht aufgrund der Ausleihstatistik auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam:

»Bleibend bewahren dagegen ihre Stellung unter den ersten einige Werke des Dickens und Scott, Uncle Toms Cabin, Ben Hur, Les Misérables, Vanity Fair, Mill on the Floss, Scarlett Lettres, Marble Farm u. a.«Footnote 38

Diese Namen können auch 125 Jahre später noch immer mit einiger Bekanntheit rechnen: Dickens, Scott, Beecher Stowe, Wallace, Hugo, Thackeray, Eliot, Hawthorne ... Sie können ihre »Stellung unter den ersten« Plätzen des Rankings über Jahre und Jahrzehnte hinweg halten. Reyer unterteilt angesichts dieses quantitativen Befunds die Werke in Dauerbrenner und Novitäten. Dies klingt nicht viel anders als bei Schlegel hundert Jahre zuvor, ist aber wissensgeschichtlich völlig anders einzuschätzen, denn Reyers Beobachtung bezieht sich mit keiner Silbe auf Schlegels Unterscheidungen von Antike und Moderne, Klassizität und Interessantheit, Form und Stoff, sondern allein auf die Häufigkeit von Ausleihen, verfolgt über größere Zeiträume und erhoben von großen Bibliotheken mit niedriger Inklusionsschwelle. Reyer argumentiert quantitativ, wenn er zu der Einschätzung gelangt, dass eine »Rakete« zwar große Beachtung erhält, aber im Moment der größten Strahlkraft verpufft, während ein Stern beständig am Firmament leuchtet und so auf lange Sicht der Orientierung zu dienen vermag.Footnote 39 Die Unterscheidung von »Raketen« und »Sternen« wird vom Publikum getroffen – und nicht von der Literaturkritik oder Ästhetik.

Eine hohe Benutzerzahl zu erzielen, ist also nicht die letzte Hürde, die ein Werk zu bestehen hat, um als »wirklich populär« zu gelten – denn die »Beliebtheit« könnte nur eine Saison überdauern. Nur jene Werke, die die »Probe« der Benutzungszahlen über Jahre hinweg bestehen und sich in den ersten Reihen der Rangliste halten, sind mehr als Novitäten, die allein aufgrund ihrer Neuheit »großen Reiz ausüben«, sondern »Stern[e] erster Größe«. Sterne sind populär, sie werde von vielen beachtet. Diese »Rangordnung der Beliebtheit« kennzeichnet auch die Populärkultur unserer Gegenwart.Footnote 40

Bemerkenswert an diesem Ansatz sind die Schlussfolgerungen, die von der Popularität auf die Qualität der Werke gezogen werden. Reyer fordert nicht etwa, dass ein bestimmter Klassiker aufgrund seiner literarischen Qualitäten als »Stern« zu gelten habe; vielmehr zeigt sich an der Position in der »Rangordnung« der Popularität über die Zeit hinweg was ein ewig leuchtender »Stern« sein muss und was als saisonale »Rakete« anzusehen ist.Footnote 41 Wer so argumentiert, hat nicht nur großes Vertrauen in die Benutzerstatistiken der Bibliotheken,Footnote 42 sondern auch in die Menschen, die die Bibliotheken benutzen und mit ihrem Leseverhalten die Unterscheidung von schnelllebiger »Sensationslitteratur« und Werken von Niveau begründen.Footnote 43 Und tatsächlich ist Reyer der Ansicht, dass die Auswahl des Volkes gar nicht schlecht sei, wenn das Angebot stimmt: »Wo Volksbibliotheken existieren, werden auch gute Bücher gelesen.« Die Benutzungszahlen belegen die Güte der Wahl und damit auch die Unterscheidung zwischen »Raketen« und »Sternen«:

»Befriedigung gewährt die Thatsache, daß fast ausnahmslos Werke ohne tieferen Gehalt sich trotz Reklame nur kurze Zeit halten. St. Louis ist eine jener Städte jüngster Kultur, auf welche die Geistesaristokraten von Bosten einigermaßen herabblicken, und doch werden auch in solchen Städten im allgemeinen nur gute Bücher gelesen.«Footnote 44

3 Die Zeitlichkeit des Populären

Der Wiener Geologe und Amateurbibliothekswissenschaftler denkt hier – in der Argumentation ist das zunächst nur zaghaft angedeutet und keineswegs augenblicklich offensichtlich – drei Momente zusammen, die überdies in eine ungewöhnliche Konstellation gebracht werden. Es geht ihm erstens um Popularität, also zunächst einmal um einen strikt an Quantitäten orientierten Maßstab; hinzu kommt zweitens eine dezidierte Bewertung, die sich zumindest in großen Teilen gegen den common sense der Zeit wendet, nämlich, dass dasjenige, was besonders populär sei, zugleich auch von minderer (oder gar keiner) qualitativen Wertigkeit sei. Gerade diesem engen Kurzschluss der beiden Sphären widerspricht Reyer vehement. Auch populäre Gegenstände können wertig sein, mehr noch – viele sehr populäre Gegenstände sind wertig, und die große Anzahl an Leserinnen und Leser erkennt das nicht nur, sondern honoriert es sogar. Damit ist auch schon das letzte Moment angesprochen: Reyer denkt Popularität drittens nicht statisch, sondern dynamisch, als einen Prozess, der notwendig einen zeitlichen Index hat und damit einer steten Veränderung unterliegt. Diese zunächst vielleicht etwas trivial anmutende Einsicht ist indes kaum zu überschätzen. Zum einen impliziert diese Temporalisierung, dass das Populäre nicht essentialistisch zu denken ist; es gibt kein Kategorienbündel, das eine zeitlose Definition erlauben würde. Populär ist ein Buch in jedem konkreten Moment dann, wenn es von vielen Beachtung findet – und dies könnte einmal diese (ehemalige) »Rakete«, ein anderes Mal jener (noch immer leuchtende) »Stern« sein. Zum anderen kann das, was Reyer in dem vorliegenden Aufsatz für die zeitliche Dimension des Populären anhand von bestimmten Ausleihen in öffentlichen Bibliotheken beobachtet, Anspruch auf Verallgemeinerung erheben.

Bestimmte Bände (allen voran Romane und Werke der schönen Literatur) werden kurz nach ihrem Erscheinen populär, das heißt vielfach ausgeliehen und – so zumindest die Annahme Reyers – auch viel gelesen. Der Grund hierfür ist zunächst einmal keine substanzielle Qualität, sondern der vergleichsweise kontingente Zeitpunkt des Erscheinens und Ankaufs: Der erste Grund für Popularität ist Novität. Das Neue tendiert zum Populären, könnte man sagen, ohne dass damit eine notwendige Verbindung angezeigt wäre. Novität könnte insofern eine spezifische Ermöglichungsbedingung für Popularität sein, die einzige ist sie sicherlich nicht. Ebenso gilt aber in der Folge auch, dass beinahe alles, was einmal zu einem distinkten Zeitpunkt populär wurde, diese einmal erlangte Popularität in der Folge wieder einbüßt und aus dem Rang des Populären heraus zurückfällt in einen Bereich des Nicht-mehr-Populären. Was niemand mehr ausleiht, ist nicht-populär und findet nunmehr keine oder doch nur wenig Beachtung. Die hier zu beobachtende Depopularisierung ist indes die Regel, nicht die Ausnahme. Es gibt kaum Artefakte, Programme, Parteien, künstlerische Strömungen, die gleichmäßig populär bleiben und immer wieder die Beachtung von vielen finden. Das mag vielleicht für einige bestimmte Marken oder Songs gelten, in einer long durée wären aber auch hier Zweifel angebracht.

Wir sind mit Reyer also schon sehr speziellen Formen von Popularität auf der Spur, wenn er bemerkt, dass manche der auszuleihenden Werke offensichtlich nicht im Status der »Rakete« verglühen, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg ein gewisses Maß an Popularität halten können.Footnote 45 Es sind nicht länger die Spitzenplätze, aber eine Existenz im gesicherten Mittelfeld (jedenfalls vor den Theologica und den antiken Klassikern). Nunmehr sind nur noch inhaltliche ›Vorlieben‹ innerhalb dieser Sektion zu bemerken, denn

»[n]ach zwei Richtungen weicht der Geschmack des Volkes von jenem der klassisch gebildeten Kreisen ab. Die Klassiker, welche sich durch vornehme Haltungen auszeichnen, entsprechen dem Volke weniger, während die Romantiker vom Volke mehr gelesen werden.«Footnote 46

Eine wertende Qualifizierung der einen gegenüber der anderen Präferenz nimmt Reyer indes nicht vor, er konstatiert lediglich, dass beide Gruppen, das Volk wie die gebildeten Kreise, unterschiedliche Werke favorisieren, also »mehr lesen« und damit kanonisieren. Ein Kanon entsteht also nicht durch die Übernahme antiker Gattungsnormen und Stilregeln, sondern aus den Lesepraktiken der Bevölkerung.

Dabei ist diese Ausbildung eines Kanons, dessen Werke daher als bekannt unterstellt werden können, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Jahr für Jahr von vielen ausgeliehen und gelesen werden, sicherlich die einfachste und auch erwartbarste Form der zeitlichen Überführung von Popularität in Wertigkeit (und vice versa). Durch konstant hohe Beachtung wird auf eine grundsätzliche Beachtlichkeit geschlossen. Für Reyer – und hier ist er durch und durch Optimist – setzt sich Qualität am Ende durch: auch und gerade im Bereich der Literatur. Für andere Kombinationsmöglichkeiten von Popularität mit dem Faktor ›Zeit‹ fehlt Reyer noch das Gespür, dabei ist das wechselseitige Verhältnis für viele Erscheinungsformen des Populären nachgerade konstitutiv. Zyklisch wiederkehrende Moden unterliegen dem steten Wandel von Popularität und Nicht-Popularität, Retro-Effekte lassen einstmals Populäres wieder erstehen und verhelfen ihm zu neuer Beachtung. Popularität ist also nie statisch zu denken, sondern unterliegt stetem Wandel, man könnte auch sagen, dass sich Popularität ereignet. Was heute populär ist, ist es morgen vielleicht schon nicht mehr.

Insofern scheint Eduard Reyers Einsicht durchaus nachvollziehbar, dass Formen einer aktiven Depopularisierung in aller Regel nicht nur unnötig sind, sondern vielmehr auch gar nicht im Bereich des Möglichen liegen. Interventionen in die Verteilung von Beachtung hält er für überflüssig. Beispielsweise Zensur helfe unter den Bedingungen von Popularität nicht weiter:

»Die Zensur ist unter allen Umständen ein verantwortliches oder das mißliches Geschäft; in vielen Fällen steht der Zensor eben nicht über den Verhältnissen, sondern ist in ihnen und in seinen Vorurteilen befangen; er wird durch eine einschneidende Entscheidung im allgemeinen mehr schaden als nützen.«Footnote 47

Auch wenn Reyer es nicht explizit thematisiert, ließe sich doch anmerken, dass Zensur freilich auch ein – wenn auch ungewolltes und gleichsam kontrafaktisches – Mittel der Popularisierung bestimmter Stoffe und Artefakte ist, indem es Aufmerksamkeit generiert und auf bestimmte Gegenstände hinlenkt. Dergestalt können auch unpopuläre Stoffe, also diejenigen, die nach der Auffassung bestimmter Gruppen gerade keine Aufmerksamkeit bekommen sollten, popularisiert werden. Der Zensor selbst ist eben – und das betont er dann doch – nie außerhalb der Verhältnisse und könne keinesfalls aus einer neutralen und überblickenden Position heraus urteilen. Dies sei nicht möglich, aber auch gar nicht nötig. Wichtiger ist es zum Schutze der Jugend, und das ist die einzige Ausnahme, die Reyer gelten lässt, vorausschauend und präventiv tätig zu werden, indem man allzu obszönes Schriftgut in Leihbibliotheken nicht vorhält:

»Gebet dem Volke getrost, was es gern liest und was es verlangt. Man wird die Jugendlektüre beaufsichtigen und Halbweltromane überhaupt nicht anschaffen. Im übrigen lasse man dem Volke seine Freiheit.«Footnote 48

Es sei übrigens eher die »feine Gesellschaft, welche diese Kost […] mit Begierde genießt«.Footnote 49 Das breite Publikum dagegen, das die Bibliotheken frequentiert, frage diese Pikanterien kaum nach: »Mit Befriedigung kann man feststellen, daß derartige Werke in den englischen und amerikanischen Volksbibliotheken meist gar nicht angeschafft und wo sie existieren, selten gelesen werden.«Footnote 50 Reyers Optimismus ist auch hier zu spüren: Er wünscht sich, dass das populäre Buch letztlich auch ein gutes Buch sei oder zumindest kein obszönes.

Das bringt uns zurück zu den Zahlen. Wie kann man das Populäre adäquat kritisieren, wenn deren Grundlage in erster Instanz ja gerade nicht in einer bestimmten (Minder‑)Wertigkeit besteht, sondern in einer rein quantitativen Relation – der Beachtung durch viele, die, skaliert und arrangiert in einer Reihenfolge, jene »Rangordnung der Beliebtheit«Footnote 51 ergibt, die uns heute als Spiegel-Bestsellerliste begegnet.

Diese sehr modern anmutende Frage treibt auch schon Reyer um und seine Antwort ist durchaus frappierend. Denn er setzt konsequent auf die Selbstreinigungskräfte der Leserinnen und Leser sowie auf deren Geschmack – hinzu kommt lediglich die Überprüfung der ›Zahlen‹ der Ausleihen. Diese könnten als Richtschnur für eine weitere Anschaffungspolitik dienen. Populäre Gegenstände selbst zu reglementieren oder gar aktiv aus dem Bestand auszuscheiden, sieht Reyer nicht vor. Mit dem Faktor Zeit auf seiner Seite, setzt der Geologe und Volksaufklärer darauf, dass sich allzu Minderwertiges selbst im Verlauf einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne verbrauche und aktives Eingreifen dadurch schlicht nicht notwendig sei. Depopularisierung geschieht von selbst – und wo sie unterbleibt, entsteht zurecht ein Kanon. Dieser Kanon des Populären kommt ohne jene institutionell und durch Traditionen abgesicherte »Popularisierung erster Ordnung« aus, die dafür Sorge zu tragen sucht, dass das Beachtung finde, was Beachtung verdient haben solle.Footnote 52 Was in den Schulen gelesen werden muss, so beobachtet Reyer, wird tatsächlich kaum ausgeliehen. Populär sind die Klassiker nicht. Reyer konstatiert, dass sie

»später so wenig zur Geltung kommen. In den Berliner Volksbibliotheken kommen auf griechische und römische Klassiker 1/2 %, auf Theologie und Erbauung 1/4 % und auf Philosophie gleichfalls 1/4 % Benutzungen.«Footnote 53

Die Kanonbildung, die Reyer vordenkt, löst sich völlig von der Vorstellung, man könne und müsse »Klassiker« in der Bevölkerung so verbreiten, dass sie populär werden und bleiben.

»Bleibend bewahren dagegen ihre Stellung unter den ersten einige Werke des Dickens und Scott, Uncle Toms Cabin, Ben Hur, Les Misérables, Vanity Fair, Mill on the Floss, Scarlett Lettres, Marble Farm u. a.«Footnote 54

Wirklich populär ist eben nur jene Auswahl von Werken, die von vielen gelesen wird,Footnote 55 und populäre »Meisterwerke«Footnote 56 werden sie dann, wenn ihre Beachtung länger währt als eine Saison. »Was das Volk liest«, wird kanonisch. Was die »der klassisch gebildeten Kreise« goutieren, ist für den Kanon des Populären irrelevant.