1 Spracheinzelphänomen, Sprachgebrauchsmusterwissen und ihre korpushermeneutische Relevanz

Wie arrangieren Linguist:innen eigentlich ihre Untersuchung – und warum hat das Wechselverhältnis zwischen Spracheinzelphänomen und Sprachgebrauchsmusterwissen bereits beim Finden einer Forschungsfrage korpushermeneutische Relevanz? Es scheint in der Linguistik viele Wege zu geben, eine Fragestellung zu finden, einer davon ist, dass das sprachwissenschaftlich geschulte Auge oder Ohr in der alltäglichen Kommunikation Phänomenen begegnet, die abweichen, und zwar abweichen von Mustern, die in unserem Sprachgebrauchswissen kognitiv gespeichert sind. Dieses Sprachgebrauchswissen ist von einer Ambivalenz zwischen Wissen und Nichtwissen geprägtFootnote 1, von vagem implizitem, vielleicht auch zum Teil wieder vergessenem Wissen einerseits, aber auch von elaboriert und spezialisiert explizitem Wissen andererseits. Das linguistische Sprachgebrauchswissen unterliegt der innerfachlichen Spezialisierung, ist geprägt von der eigenen Forschungsbiographie, Lehrsätzen und Schulen, von denen wir in zentralen Phasen unseres Werdegangs gehört bzw. gelesen oder diese selbst durch gemeinsames Forschen erlebt haben. Wir haben uns im Verlauf unserer sprachwissenschaftlichen Arbeit also nicht nur Wissen angeeignet und Kompetenzen erlangt, sondern begegnen immer auch unserem Unwissen, der damit verbundenen Unsicherheit und Unvermögen, dem wir stets versuchen entgegenzuwirken. Es scheint ein Allgemeinplatz, dass in der Wissenschaft nicht alles gewusst werden kann, dass Wissenschaft eben Wissen schafft, dass Wissen stets perspektiviert und von unseren (inter‑)subjektiven Forschungszusammenhängen geprägt ist. Wofür diese knappe Darlegung jedoch sensibilisieren möchte, ist, dass diese fachkulturspezifischen (Nicht‑)Wissensvoraussetzungen,Footnote 2 dass diese fachkulturspezifischen Präsuppositionen beim Finden einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung von korpushermeneutischer Relevanz sind.

Bevor dies genauer erläutert wird, soll aber zunächst das Konzept der Korpushermeneutik, wie es in dem hier vorliegenden Beitrag zugrunde gelegt wird, kurz skizziert werden. Zunächst hilft eine Zerlegung des Determinativkompositums in seine Morpheme. Unter Korpus bzw. Textkorpus versteht die Korpuslinguistik allgemein eine »Sammlung schriftlicher und gesprochener Äußerungen«, die als eine »Stichprobe (eines Ausschnitts) des Sprachgebrauchs« Primärdaten, Metadaten und Annotationen enthält (Perkuhn et al. 2012, S. 45). Mit dem Begriff der Hermeneutik gehen allerhand Forschungstraditionen und Wissenschaftsansichten einher.Footnote 3 In dem vorliegenden Beitrag wird der Fokus auf ein Verständnis von Hermeneutik gelegt, das in der Linguistik vertreten wird, nämlich, dass die Linguistik eine »Verstehenswissenschaft ist« (Hermanns 2003/2009, S. 179; vgl. auch Holly/Hermanns 2007) und dass Sprachverstehen unmittelbar an Textinterpretation gebunden ist. Busse skizziert die Hermeneutik als eine Interpretationslehre, als »Praxis, […] Theorie und Methode der Textauslegung« (2015, S. 13), in der Verstehensprozesse eng an Auslegungsprozesse gebunden sind und sich nicht separiert voneinander vollziehen: Beim Verstehen wende ich Interpretationskategorien an, beim Interpretieren vollziehen sich Verstehensprozesse. Obwohl Scharloth 2018 in seinem Beitrag zur Korpuslinguistik und Grounded Theory auf das induktive, datengeleitete Vorgehen abhebt und den dreistufigen Prozess des Kodierens als mögliches Verfahren skizziert (offenes, axiales und selektives Kodieren), den Begriff der Hermeneutik meidet und den der Interpretation wählt, deuten sich auch bei Scharloth Prozesse des Verstehens an, die unmittelbar an das Interpretieren gebunden sind. Er spricht davon, dass »die Forschenden grundsätzlich offen für unterschiedliche Lesarten sein müssen« (2018, S. 68) und integriert damit implizit das Verstehen von Daten in den Prozess des Interpretierens.

Mit dem Konzept der Korpushermeneutik wäre dann eine Forschungsperspektive verbunden, die für das Wechselverhältnis zwischen dem verstehenden und interpretierenden Menschen und der rechnenden Maschine sensibilisiert und darauf aufmerksam macht, dass die beiden Bereiche nicht klar voneinander zu trennen sind, dass sie sich überlappen. Wenn das Korpus in Hinblick auf Musterbildung gemessen wird, so unterliegen die Wortlisten, Keywords, N‑Gramme, statistischen Maße ebenso einem Verstehens- und Interpretationsprozess wie die Korpuserstellung und -aufbereitung sowie die Auswahl des/der Analysetools. Und der Umgang mit Einzelbelegen kann wiederum nur vor dem Hintergrund seiner Musterbildung im Korpus gedeutet werden, der durch frequenz- und distributionsorientierte Verfahren hergestellt wird. Das menschliche Verstehen und Interpretieren der Korpusdaten (gemeint sind hier nicht nur die Rohdaten und Metadaten, sondern bereits maschinell oder manuell hinzugefügte Annotationen) sind also eingebettet in deren maschinelle Umgebung und damit verbundenen Berechnungsmöglichkeiten.

Aber was hat nun dieses Konzept einer Korpushermeneutik mit dem eingangs dargestellten Szenario beim Finden einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung zu tun? Warum sollen fachkulturspezifische Präsuppositionen beim Finden einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung bereits von korpushermeneutischer Relevanz sein?

Wenn wir einem sprachlichen Phänomen in seiner alltäglichen Verwendung begegnen und bei uns selbst Irritation wahrnehmen, und zwar, indem wir eine Abweichung von einem vertrauten Sprachgebrauchsmuster registrieren, so stellt sich doch die Frage, vor welchem Hintergrund wir dies tun. Bevor wir Linguist:innen ein Untersuchungskorpus zusammenstellen, rufen wir vor unserem inneren Auge bzw. in einem mentalen Vorgang weitere Sprachgebrauchskontexte ab, in denen das sprachliche Phänomen vergleichbar auftritt. Dabei stellen wir fest, dass das sprachliche Ausgangsphänomen, dem wir beim Finden einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung zuallererst begegnet sind, von denen abweichen, die wir uns in einem zweiten Schritt vor unserem inneren Auge vorstellen, obwohl die Gebrauchskontexte ähnlich sind. Wir begegnen also einem einzelnen Sprachphänomen (vergleichbar mit einem Einzelbeleg in einem Untersuchungskorpus) und verstehen und interpretieren dieses nicht für sich, sondern vor dem Hintergrund unseres Sprachgebrauchsmusterwissens (vergleichbar mit einem Untersuchungskorpus). Wir rufen also unser Sprachgebrauchsmusterwissen ab, um die Irritation über das abweichende sprachliche Ausgangsphänomen einordnen zu können. Dieses Sprachgebrauchsmusterwissen wird hier als Teil des Sprachwissens aufgefasst, das quer zum mentalen Lexikon und zur mentalen Grammatik liegt. Es umfasst für jedes Sprachgebrauchsmuster (z. B. Zähne putzen) sogenannte Sprachgebrauchskontexte (in der Korpuslinguistik wird häufig von Kotext gesprochen; das Wort putzen ist Kollokator von Zähne im Unterschied zu waschen). Linguist:innen haben sich dieses wie andere Individuen der Sprachgemeinschaft in ihrem Spracherwerb und ihrer sprachlichen Sozialisation angeeignet, es ist in diesem Zuge auch durch die sprachwissenschaftliche Profession geprägt. Dieser Gedanke scheint mit Ansätzen bzw. Modellen der kognitiven Linguistik kompatibel und erklärbar zu sein. Im usage-based-model wird davon ausgegangen, dass Sprachwissen durch einen induktiven Aneignungsprozess erlangt wird. Sprachmuster werden durch ihren redundanten Gebrauch kognitiv abgespeichert (Tomasello 2003; Langacker 2009). Das Sprachgebrauchsmusterwissen umfasst auch das Wissen um die Regelhaftigkeit von Sprachgebrauchsmustern. Es umfasst eine Art Etabliertheitssensor. Wenn wir unser Sprachgebrauchsmusterwissen befragen, können wir grob bestimmen, ob das sprachliche Phänomen, dem wir begegnen, überdurchschnittlich häufig auftritt und als mehr oder weniger etabliert eingeordnet werden kann – wir berechnen das vor unserem inneren Auge nicht so exakt, wie wir das tun, wenn wir ein Untersuchungskorpus auswerten, aber wir scheinen ein intuitives Gefühl für statistische Maße zu haben. Das Sprachgebrauchsmusterwissen umfasst aber nicht nur grobe Mengenangaben. Neben das Wissen um Sprachgebrauchsmuster (im Sinne von Kotexten) tritt auch das Wissen um Gebrauchskontexte. Wir stufen das sprachliche Ausgangsphänomen, dem wir beim Finden einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung zuallererst begegnet sind, in Hinblick auf Register, Text- und Gesprächssorte, Interaktionstyp, soziale Rolle u. a. ein, um es mit denen zu vergleichen, die wir uns in einem zweiten Schritt vor unserem inneren Auge vorgestellt haben (vergleichbar mit Annotationsverfahren bei einem Untersuchungskorpus).

Zu Beginn einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung, wenn Linguist:innen einem potentiellen Forschungsgegenstand im Sprachalltag begegnen, stehen zwar nicht Mensch und reale Maschine in Wechselwirkung, weil noch kein Untersuchungskorpus gewählt oder zusammengestellt wurde, das mit der Maschine befragt und ausgewertet wird. Der Mensch (hier Linguist) greift aber auf sein Sprachgebrauchsmusterwissen zurück, indem er sich vor seinem inneren Auge weitere Ko- und Kontext vorstellt. Wir stufen das sprachliche Ausgangsphänomen, dem wir beim Finden einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung zuallererst begegnet sind, vor dem Hintergrund unseres Sprachgebrauchsmusterwissens ein und begegnen diesem verstehend und interpretierend. Die Geburtsstunde einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung ist also bereits vor der Erstellung und Aufbereitung des Untersuchungskorpus von korpushermeneutischer Relevanz.

2 Abduktion als korpushermeneutischer Vorgang der Exploration

Das, was im Kapitel zuvor als Abweichungsirritation beschrieben wird, hat Charles Sanders Peirce in seiner Auseinandersetzung mit der Abduktion als Überraschungserfahrung beschrieben. Er stellt den erkenntnistheoretischen Begriffen der Deduktion und Induktion die Abduktion zur Seite. »Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be.« Peirce: Collected Papers (1931, CP Vol. V, § 4, S. 171).Footnote 4 Die Abduktion wäre demnach ein »process of forming an explanatory hypothesis« (1931, CP Vol. V, § 4, S. 171). Und so beschreibt er die Abduktion als Überraschungserfahrung:

Abduktion ist jene Art von Argument, die von einer überraschenden Erfahrung ausgeht, das heißt von einer Erfahrung, die einer aktiven oder passiven Überzeugung zuwiderläuft. Dies geschieht in Form eines Wahrnehmungsurteils oder einer Proposition, die sich auf ein solches Urteil bezieht, und eine neue Form von Überzeugung wird notwendig, um die Erfahrung zu verallgemeinern.(1931, CP Vol. V, § 4, S. 171)

Dass die Abduktion in linguistischen Arbeiten ein hochgradig interpretatives Verfahren darstellt, hat Felder bereits dargestellt, indem er sich mit Peirces Konzept der Abduktion und der Auseinandersetzung durch Wirth 1993 befasst (Felder 2012, S. 125 f.):

Unter linguistischem Blickwinkel führt Abduktion von Wahrnehmungsurteilen über beobachtete Äußerungsspezifika vorläufig zu einer allgemeinen Regel – besser gesagt im Hinblick auf sprachliche Phänomene zu Vermutungen über Regularitäten im diskursiven Sprachgebrauch. Einer solchen vermuteten Regularität kann der Status einer abduktiven Regel zugesprochen werden. […] Die Erklärungsmächtigkeit der abduktiven Regel nimmt zu, wenn zahlreiche Phänomene identifiziert werden können, welche die Regel bestätigen. (Felder 2012, S. 126)

Wir können linguistische Hypothesen über sprachliche Regularitäten, also wie etwas in Sprache sein kann, nur vor einem bestimmten Wissenshorizont, den wir uns über Zeichen verstehend und interpretierend angeeignet haben, aufstellen. Und wir können die Erklärungsmächtigkeit der abduktiven Regel im Rahmen einer linguistischen Fragestellung durch Korpusarbeit angehen. In dem vorliegenden Beitrag soll der Vorgang von der Exploration sprachlicher Phänomene bis zur Etablierung einer linguistisch adäquaten Methode beleuchtet werden, in der die Abduktion im Sinne von Peirce zu Beginn steht.

Diese erste Begegnung mit einem potentiellen Forschungsgegenstand im Sprachalltag kann unterschiedlich komplex ausfallen. Wird in einem Text standardmäßig ss anstelle β geschrieben, so können wir auf der Grundlage unseres (linguistischen) Sprachwissens unterschiedliche Szenarien entwerfen und unsere anfängliche Abweichungsirritation entgegenwirken, indem wir in unserem kognitiven Korpus bei einigen Gebrauchskontexten die Kategorie (Annotation) »Schweizer-Standard-ss-Schreibung« zuweisen. Der Fall ist – je nach linguistischem Erkenntnisinteresse – relativ zügig geklärt. Vollzieht sich das sprachliche Phänomen allerdings flächig über mehrere Marker im Einzeltext, und zwar in der Weise, dass nicht eine punktuelle Beschreibung in Form einer einzigen linguistischen Kategorie ausreicht,Footnote 5 sondern dass vor allem die Relationen zwischen den Markern, die das sprachliche Phänomen konstituieren, in ihrer sukzessiven Folge relevant sind, so ist die erste Begegnung mit einem potentiellen Forschungsgegenstand im Sprachalltag bzw. die erste explorative Auseinandersetzung wesentlich komplexer. An das linguistische Verfahren sind besondere Herausforderungen gestellt, vor allem wenn die Analyse nicht ausschließlich qualitativ durchgeführt werden soll.

Im Folgenden soll dies anhand einer konkreten Studie gezeigt werden. Dafür werden Ausschnitte aus einem größer angelegten Projekt vorgestellt, in dem es um Versprachlichung von Zeit geht.Footnote 6 In diesem Forschungsvorhaben zeigt sich, wie ein sprachliches Phänomen, nämlich das der Zeitversprachlichung, nicht nur über eine Analyse des Tempus inkl. Temporaladverbien und -präposition, Modus, AspektualitätFootnote 7 oder Deixis – also den Klassikern der linguistischen Zeitforschung – erfolgen kann. Die Versprachlichung von Zeit baut sich sukzessiv über – wenn der Fokus auf der Schriftlichkeit liegt – den Text auf, sie wird über die Linearisierungen der Zeichenketten sozusagen prozessiert. So wird sie zum einen an weiteren Stellen im Text sichtbar (u. a. Lexik, Metaphern, am-Progressiv-Formen, substantivierte Infinitive, Funktionsverbgefüge) und zum anderen wird die Versprachlichung von Zeit, und das ist in dem beschriebenen Projekt mindestens so relevant, durch die Relationen zwischen diesen Markern und ihrer sukzessiven Folge greifbar (vgl. Jacob 2023).

Ich möchte die erste Begegnung mit einem potentiellen Forschungsgegenstand im Sprachalltag, meiner Abweichungsirritation bzw. Überraschungserfahrung und mein Umgang mit den fachkulturspezifischen Präsuppositionen bzw. mit der Ambivalenz zwischen Wissen und Nichtwissen an einem Beispiel aus der Literatur beginnen, und zwar mit den ersten Zeilen aus Christa Wolfs Störfall. Nachrichten eines Tages:

Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. Ich werde vermieden haben, zu denken: »explodiert«; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen konnte. Das Grün explodiert: Nie wäre ein solcher Satz dem Naturvorgang angemessener gewesen als dieses Jahr, bei dieser Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter. Von den viel später sich herumsprechenden Warnungen, die Früchte zu essen, deren Blüte in jene Tage fiel, habe ich an dem Morgen, an dem ich mich wie jeden Morgen über das Treiben der Nachbarshühner in unserer frischen Grassaat ärgern mußte, noch nichts gewußt. Weiße Leghorn. Das beste, was man von ihnen sagen kann, ist, daß sie auf mein Klatschen und Zischen hin angstvoll, wenn auch verwirrt reagieren, immerhin ist eine Mehrheit von ihnen aufgescheucht in Richtung auf das Nachbargrundstück gelaufen. Eure Eier, habe ich gedacht, schadenfroh, werdet ihr womöglich für euch behalten können. (Wolf 1987, S. 9)

In der Erzählung erfolgt die Schilderung eines Tages in einem mecklenburgischen Dorf, in der die Erzählerin aus der Ich-Perspektive zum einen den Reaktorunfall in der ukrainischen Stadt Tschernobyl am 26. April 1986 reflektiert, vor allem seine Folgen für die Gesellschaft. Zum anderen schildert sie die Operation am Gehirn des Bruders, hier vor allem ihren Umgang und ihre Bewertung des medizinischen Eingriffs. Beide Ereignisse fallen an diesem Tag zusammen und die Ich-Erzählerin verbindet ihre Auseinandersetzung mit dem übergeordneten Thema des technischen Fortschritts, mit den Chancen und Risiken, die mit den beiden neuen Technologien verbunden sind. Parallel zu diesen Reflexionen werden Nachkriegserinnerungen angesprochen.Footnote 8

Die Erzählung zeichnet sich nicht nur durch eine literarische Verarbeitung von Rück- und Vorschau in einem Tag aus, sondern – wie die ersten Zeilen zeigen – zugleich durch eine metareflexive Auseinandersetzung mit der Tempusverwendung. Zunächst irritiert die Verwendung von Futur II (werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein und werde vermieden haben), deren Begründung zwar metareflexiv angedeutet wird (über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann), aber von üblichen Gebrauchstexten der Alltagskommunikation abweicht. Die Abweichungsirritation nimmt jedoch relativ zügig ab, denn das sprachwissenschaftliche Auge ordnet den Text der Wissensdomäne Literatur zu,Footnote 9 wodurch andere, bisweilen für die gewohnte Alltagskommunikation ungewohnte Verwendungsweisen der Zeitformen zu erwarten sind, die wiederum Interpretationshypothesen zulassen, beispielsweise, dass durch diese ersten Zeilen

die Grundhaltung, die sich durch das gesamte Werk zieht, sichtbar [wird]: eine Vorschau, in der Folgen in der Zukunft als abgeschlossen verarbeitet werden. Die Erzählerin reflektiert durch Präsensverwendung im Jetzt des Tages (schreiben kann), erachtet Futur II aber als angemessener, weil es um eine Auseinandersetzung mit den Folgen neuer Technologien geht, beschreibt die Abläufe des Tages aber in Perfekt, unter Hinzunahme des Präteritums, um eine Erzählhaltung mit einem gewissen zeitlichen Abstand einzunehmen. (Jacob 2023)

Was sind meine Schlussfolgerungen aus dieser Abweichungsirritation? Tempusformen werden in ihrer textuellen Verarbeitung mitnichten gleichförmig verwendet, obwohl eine Tempuskontinuität, um den Sachverhalt darstellen zu können, möglich wäre, und in der Textlinguistik auch als zentrales kohäsions- bzw. kohärenzstiftendes Kriterium genannt wird (u. a. Brinker 2010). Wir können uns den Beginn von Wolfs Erzählung auch durch eine einheitliche Tempusverwendung vorstellen. Im Folgenden sei diese zum besseren Nachvollzug einmal durchgespielt:

Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, [blühen Kirschbäume auf]. Ich [vermeide], zu denken: »explodiert«; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen [kann]. Das Grün explodiert: Nie ist ein solcher Satz dem Naturvorgang angemessener als dieses Jahr, bei dieser Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter. Von den viel später sich herumsprechenden Warnungen, die Früchte zu essen, deren Blüte in jene Tage [fällt], [weiß] ich an dem Morgen, an dem ich mich wie jeden Morgen über das Treiben der Nachbarshühner in unserer frischen Grassaat ärgern [muß], noch nichts. Weiße Leghorn. Das beste, was man von ihnen sagen kann, ist, daß sie auf mein Klatschen und Zischen hin angstvoll, wenn auch verwirrt reagieren, immerhin laufen eine Mehrheit von ihnen aufgescheucht in Richtung auf das Nachbargrundstück. Eure Eier, [denke ich], schadenfroh, [könnt] ihr womöglich für euch [behalten]. (Wolf 1987, S. 9; die meisten durch eckige Klammer markierten Tempusformen sind durch die Autorin des Beitrages verändert)

Wäre ich Wolfs ersten Zeilen auf diese Weise begegnet, hätte ich vermutlich die Tempusform als historisches Präsens gedeutet oder als eine mögliche Form, eine Ich-Erzählung literarisch umzusetzen. Tempusformen sind also an -funktionen geknüpft. Sie dienen neben anderen möglichen Zeitmarkern dazu, eine Referenz zur Zeit herzustellen, Hans Reichenbach unterscheidet zwischen Ereignis‑, Sprech- und Referenzzeit (point of event, point of speech und point of reference; vgl. Reichenbach 1947), Bernard Comrie spricht vom »the grammaticalisation of location in time« (1985, S. 9). Zugleich werden dadurch Wahrnehmungsperspektiven, Verarbeitungspraktiken, Vorstellungsinhalte versprachlicht (vgl. Köller 2019), die je nach Wissensdomäne einer spezifischen soziokulturellen Prägung unterliegen.

Neben dieser diskontinuierlichen Tempusverwendung erfolgt meine Abweichungsirritation und die daraus abgeleitete abduktive Regel noch auf einer weiteren Ebene. Und zwar, dass sich Zeitversprachlichung linguistisch nicht nur durch einen oben genannten Klassiker der linguistischen Zeitforschung (Tempus wäre ein Klassiker) abbilden lassen, sondern dass zwischen diesen Klassikern (hier zwischen Tempus und Aktionsart) Relationen bestehen, die in der Prozesshaftigkeit des Textes wirksam werden. Es scheint noch weitere Marker zu geben, die die Zeitversprachlichung in dieser Textpassage maßgeblich prägen (hier die Zeitlexik). Ohne weitere literarische Interpretationen aufstellen zu müssen, wofür die Explosion der Kirschbäume stehen könnte, lässt sich auf der Ebene der Aktionsarten zwischen den Verben aufblühen und explodieren ein Unterschied feststellen. Folgen wir der Unterteilung, die in der Germanistik mit Bezugnahme auf die deutsche Sprache diskutiert werden (vgl. u. a. Heinold 2015, S. 28), so können wir in Hinblick auf den zeitlichen Ablauf (durativ versus transformativ (und hier: ingressiv, inchoativ, egressiv), quantitativer Ablauf (iterativ) und Intensität (intensiv versus diminutiv)) die beiden Verben konträr einordnen. Während das Verb aufblühen den Beginn eines Vorgangs thematisiert und als ingressiv (zum Teil auch als durativ) eingeordnet werden kann, so fokussiert das Verb explodieren das Ende eines Ablaufs oder Zustands und kann daher als egressiv eingestuft werden. Von der Intensität stehen sich die beiden auch konträr gegenüber: Das Verb explodieren markiert einen höheren Intensitätsgrad als das Verb aufblühen. Dieses textuelle Prinzip der Zeitkontraste (Anfang versus Ende; dauernder Prozess versus punktuelle Ereignisse; intensiv versus nicht intensiv) setzt sich fort, und zwar vor allem in der Zeitlexik: nach dem endlos langen Winter werden die Früchte thematisiert, deren Blüte in jene Tag fiel. Die Versprachlichung von andauernden Prozessen werden kontrastiert mit punktuellen Ereignissen. Das Treiben der Nachbarshühner wird durch Klatschen und Zischen unterbrochen. Diese Zeitkontraste werden flächig über die sprachliche Oberfläche des Textes entfaltet. Sie deuten sich bereits in der diskontinuierlichen Tempusverwendung an, beispielsweise durch die Verwendung von Futur II (Endpunkte werden in Geschehensabläufe der Zukunft gesetzt) oder der Wechsel zwischen Perfekt (i. d. R. mit Bezug zur Gegenwart) und Präteritum (i. d. R. ohne Bezug zur Gegenwart), wodurch der Eindruck einer Ambivalenz zwischen Zeitspanne und -punkten erweckt wird.

Die Zeitmarker bauen also im Textverlauf aufeinander auf und konzeptualisieren in ihren Relationen zueinander Zeit als etwas, das durch Zeitkontraste (Anfang versus Ende; dauernder Prozess versus punktuelle Ereignisse; intensiv versus nicht intensiv) geprägt wird. Die gesamte Erzählung von Wolf versprachlicht musterhaft Prozesse in Form von Handlungsabläufen und Denkvorgängen, die durch wahrnehmbare Ereignisse unterbrochen und erschüttert werden (vgl. Jacob 2023, S. 46 f.).

Der Einstieg über dieses Beispiel sollte zeigen, dass das sprachwissenschaftliche Auge mit linguistischem Vorwissen, aber auch Wissenslücken sowie mit Erwartungshaltungen an Sprache und Literatur im Alltag herantritt und diese Schritt für Schritt hermeneutisch erfasst und interpretatorisch erschließt. In dieser frühen Anfangsphase wird vor allem das Sprachgebrauchsmusterwissen, verstanden als ein Ausschnitt unseres Sprachwissens, das das mentale Lexikon, die mentale Grammatik, aber auch Textkonstitution und Textsortenwissen umfasst (vgl. Lewandowski 1990, S. 953) und das sich v. a. aus unserer empirischen Spracherfahrung in Abgleich mit der interaktiven Sprachpraxis im sozialen Miteinander speist.

In einem sich daran anschließenden Schritt erfolgt ein weiterer korpushermeneutisch relevanter Arbeitsschritt, in dem die Erklärungsmächtigkeit der abduktiven Regel durch Hinzunahme weiterer Daten überprüft wird. Dies erfolgt parallel zur Lektüre relevanter Forschungsbeiträge, die ebenfalls hochgradig durch hermeneutische Prozesse geprägt ist.

3 Expansion der Datengrundlage durch Tiefe und Breite und Fragen der Korpusaufbereitung

Um nun die Erklärungsmächtigkeit der abduktiven Regel zu verfolgen, werden in dem hier skizzierten Fall weitere sprachliche Phänomene in der Wissensdomäne Literatur hinzugenommen, und zwar mit dem Ziel, eine Textsammlung (ein Korpus) zu erstellen, die weitere Studien zur oben skizzierten diskontinuierlichen bzw. inkohärenten Tempusverwendung und zur prozessualen bzw. flächigen Entfaltung von relational zueinander stehenden Zeitmarkern im Text ermöglichen. Für die Wissensdomäne Literatur werden beispielsweise der Roman von Michael Ende (1973) Momo, von Martin Suter (2012) Die Zeit, die Zeit oder von Christoph Ransmayr (2016) Cox oder Der Lauf der Zeit ergänzt, aber auch die Beiträge zur Feuilleton-Debatte »Krise (in) der Germanistik«. Das Korpus umfasst also händisch ausgewählte Erzählungen bzw. Beiträge, in denen die Zeit explizit thematisiert wird oder Vorschau bzw. Rückschau textkonstitutiv sind. Auf diese Weise wird bei der Korpuserstellung bezogen auf eine Wissensdomäne eine Tiefe der Datengrundlage hergestellt. Um dem Prinzip der Ausgewogenheit annähernd gerecht zu werden, wird außerdem die Datengrundlage in ihrer Breite ergänzt. Textsammlungen aus weiteren Wissensdomänen werden der Literatur zur Seite gestellt, wie beispielsweise die Wissensdomänen

  • Politik (Reden verschiedener Bundespräsidenten, -kanzler und Bundestagspräsidenten, 1977–heute),

  • Wirtschaft (Jahresgutachten des Sachverständigenrats, 1964–heute),

  • Recht (Verfassungsbeschwerden, 1998–heute),

  • Medizin (Gesundheitsblatt und Epidemiologisches Bulletin des RKI von 1990–heute),

  • Biologie (Fachvermittlungs- und Pressetexte zur Chronobiologie),

  • Physik (Fachvermittlungstexte)

  • Geschichte (Debatte zwischen Historikern, Philosophen und anderen Autoren in Fach‑/Zeitungsartikeln und Leserbriefen, 1986–1987 und anschließende Rezeption),

  • Germanistik (Fach- und Feuilletonbeiträge zur Krise der Germanistik; 1964–heute; linguistische/interdisziplinäre Tagungskommunikation) oder

  • Medien (Spiegel-Kolumne »Früher war alles schlechter«, 2016–2019; Reportagemagazin GEO; Pressetexte zur Coronapandemie)

Ein evaluierender Blick auf die Datengrundlage zeigt unmittelbar, dass sich die Teiltextsammlungen, die als Korpora stellvertretend für eine Wissensdomäne ausgewählt wurden, unter korpuslinguistischen Vorzeichen nicht oder nur teilweise vergleichen lassen. Alle Texte können zwar dem Gegenwartsdeutschen, frühestens beginnend mit den 1960er Jahren bis heute zugeordnet werden, die Texte sind aber innerhalb dieser Zeitspannen aus unterschiedlichen Phasen. Zudem haben wir es bezugnehmend auf Koch/Oesterreicher (1985) nicht nur mit konzeptionell schriftlichen Daten zu tun, sondern auch mit konzeptuell mündlichen (Tagungskommunikation). Obwohl es korpuslinguistische Verfahren gibt, unterschiedlich große Korpora miteinander zu vergleichen, so sind die Teiltextsammlungen im Rahmen des hier skizzierten Vorhabens in markanter Weise unterschiedlich groß, dass ihre Größe Einfluss auf die Fundstellen hat. Wir haben zwar das Maß der relativen Häufigkeit, die Korpusgrößen in einem gewissen Spielraum auszugleichen. In dem hier vorliegenden Datensatz sind die Größendiskrepanzen aber derart hoch, sodass in einer Teiltextsammlung bestimmte Phänomene aufgrund der Korpusgröße gar nicht vorkommen. In einer idealen Welt, in der es keinerlei ressourcenbeschränkende Faktoren bezüglich der Korpusrecherche, -zusammenstellung und -aufbereitung gäbe, könnten diese sprachlichen Phänomene in einem umfassenderen Korpus aber vorkommen und mit ähnlichen in anderen Teiltextsammlungen verglichen werden.

Ein weiteres Problem ist das der Zeitversprachlichung in Texten und Reden selbst. Der Gegenstandsbereich ist derart breit (explizite versus implizite Zeitversprachlichung, Zeit als Text- bzw. Redethema, Rückschau oder Vorschau als textsortenkonstitutives Prinzip u.v.m), dass manche Teiltextsammlungen eher dem einen oder eher dem anderen Bereich (z. B. Rückschau wie beim Historikerstreit) oder mehreren Bereichen (z. B. Rück- und Vorschau wie bei den Jahresgutachten des Sachverständigenrats) zugeordnet werden können. Aufgrund des hier skizzierten Forschungsvorhabens, Zeitversprachlichungsprinzipien in Text und Reden herauszuarbeiten, ist es jedoch nicht möglich, den Gegenstandsbereich enger zu fassen. Wie bereits oben skizziert wurde, fokussiert die Fragestellung das Tempus inkl. Temporaladverbien und -präposition, den Modus, die Aspektualität oder Deixis ebenso wie weitere lexikalisch-semantische oder syntaktische Fragestellungen (Lexik, Metaphern, am-Progressiv-Formen, substantivierte Infinitive, Funktionsverbgefüge). Das Vorhaben ist mit der Wahl seines Gegenstands also an der Schnittstelle zwischen Grammatik, Semantik und Pragmatik zu verorten, und zwar bezogen auf Texte und Reden. Und nun ist es so, dass in manchen Teiltextsammlungen überwiegend lexikalisch-semantische Fragestellungen von Interesse sind, weil das Tempus aufgrund der Textsortenbedingung kontinuierlich und daher eher unauffällig verwendet wird. Diese lassen sich auf der Ebene der sprachlichen Oberfläche selbstredend nur sehr schwer mit rein grammatischen, die Verbflexion betreffenden Fragestellungen in Verbindung bringen. Auf der Ebene der interpretativ gewonnenen Kategorien (beispielsweise statisch versus dynamisch, punktuell versus prozessual, Anfang versus Ende) können lexikalisch-semantische aber durchaus mit grammatisch-morphologischen Zeitmarkern verglichen werden. Mit anderen Worten: Die Teiltextsammlungen lassen sich nicht immer auf der Ebene der sprachlichen Oberfläche, sondern vor allem auf der Ebene der interpretativen Kategorien vergleichen. Dafür ist aber nicht unbedingt oder nur zum Teil nötig, die Rohdaten maschinell vor zu annotieren. Zu einem wesentlich ausgeprägteren Teil ist eine manuelle Annotation und deren statistische Auswertung nötig. Denn es soll nicht nur eine Aussage über Einzelphänomene gemacht werden, sondern über mögliche routinierte Text- und Redeprozeduren, die aufgrund ihrer Musterhaftigkeit quer zu verschiedenen Wissensdomänen liegen, und zwar nicht auf der Ebene der sprachlichen Oberfläche, sondern auf der der linguistischen Interpretation, also Kategorienbildung.

Ein weiteres für den Gegenstand der Zeitversprachlichung typisches Prinzip ist das der Text-Bild-Beziehungen. Und auch hier lässt der erste evaluierenden Blick auf die Teiltextsammlungen vermuten, dass wir Texte mit hohem Bildlichkeitsgrad haben (z. B. Hefte aus dem Reportagemagazin GEO oder Spektrum der Wissenschaft im Unterschied zu Verfassungsbeschwerden). Auch dieses Unterscheidungskriterium spricht für eine manuelle Annotation, und zusätzlich einer, in der die Rohdaten zum Teil selbst annotiert werden, also Text und Bild zum Zweck der maschinellen Bearbeitung nicht voneinander getrennt werden, weil sie sich in einigen Teiltextsammlungen überlappen, d. h. in einem engen Interaktionsgefüge stehen. Mit diesem Charakteristikum ist auch ein weiteres, die Datengrundlage prägendes verbunden: der Fachlichkeitsgrad. Mit der Wahl der Fach- bzw. Wissensdomänen (siehe Fußnote 9) sind bereits Prämissen, die die Schriftlichkeit und Mündlichkeit sowie die Adressierung betreffen, verbunden. Die Teiltextsammlungen sind auf einem Kontinuum zwischen Fachlichkeit und Öffentlichkeit zu verorten mit all seinen linguistischen Konsequenzen. Auch vor diesem Hintergrund lassen sich die Teiltextsammlungen nur punktuell vergleichen.

Und damit stellt sich nun eine zentrale Frage: Warum wird die Datengrundlage sowohl in ihrer Tiefe als auch in ihrer Breite ausgedehnt, wenn manche Texte bzw. Reden innerhalb einer Teiltextsammlung zu einer Wissensdomäne (beispielsweise Literatur), aber auch die Teiltextsammlungen zu allen Wissensdomänen schwer einheitlich bzw. vergleichend untersuchen lassen?

Ziel des hier dargestellten Forschungsvorhabens ist es, nicht nur Einzelphänomene zu untersuchen, sondern Musterbildungen im Bereich der Zeitversprachlichung, also Zeitversprachlichungsprinzipien in Texten und Reden. Um also Routinen bei der Versprachlichung von Zeit aufspüren zu können, ist eine größere Datengrundlage nötig, die innerhalb des Gegenwartsdeutschen eine Spannbreite an unterschiedlichen Wissensdomänen in Tiefe abgedeckt, und zwar die Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit also Text- bzw. Gesprächssorten betreffend, die Medialität (text-, bild-lastig, mit oder ohne Diagrammen o. Ä.) betreffend, den Fachlichkeitsgrad betreffend, den thematischen Fokus betreffend. Demzufolge ist es nötig, die Datengrundlage in ihrer Tiefe und Breite auszudehnen, wodurch eine rein qualitative und eine, aufgrund der soeben dargestellten Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands, rein quantitative Analyse ausgeschlossen ist. Zum einen ist das höchst komplexe und anspruchsvolle Verfahren der sich gegenseitig spiralzirkulär ergänzenden Methoden der qualitativen und quantitativen Analyse von Bedeutung. Zum anderen muss sich bei einer derart heterogenen Datengrundlage der methodische Umgang von Teiltextsammlung zu Teiltextsammlung unterscheiden, und zwar nicht nur in der Art und Weise wie qualitative und quantitative Analysephasen aufeinander folgen bzw. parallel laufen, sondern vor allem auch in Hinblick des hermeneutischen und interpretatorischen Prozesses. Das Ziel kann daher nicht sein, jede Teiltextsammlung einer Wissensdomäne an jeder Stelle in der Datengrundlage in gleicher Weise hermeneutisch zu erfassen und interpretatorisch auszuwerten, um dann die Teiltextsammlungen aller gewählten Wissensdomänen exakt zu vergleichen. Es müssen innerhalb einer Teiltextsammlung Beispielanalysen durchgeführt werden, die interpretativ erarbeiteten Kategorien sollten mit anderen Beispielanalysen in Verhältnis gesetzt werden. Diese Art der Übertragung von Analyseergebnissen von einer Textstelle auf die nächste, von einer Wissensdomäne auf die nächste erfordert einen korpushermeneutisch sensiblen Umgang, und zwar nicht nur, weil die Einzelbelege ebenso verstehend erfasst und interpretatorisch ausgewertet werden wie die Messergebnisse statistischer Auswertung. Gerade weil die Kategorienbildung durch manuelle Annotationen sukzessiv von Text- bzw. Redestelle zu Text- bzw. Redestelle, von Wissensdomäne zu Wissensdomäne weiter entwickelt werden, ist eine korpushermeneutisch wachsame Heuristik erforderlich, in der die Textstellen in derselben oder anderen Wissensdomäne angewendet, überprüft, übertragen, modifiziert oder verworfen werden.

Aufgrund der Heterogenität der Datengrundlage und der damit einhergehenden Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstands erscheint es daher sinnvoll, Zeitversprachlichungsprinzipien in Texten und Reden herauszuarbeiten und in einem korpushermeneutisch sensiblen Umgang durch weitere Analysen zu plausibilisieren. In dem hier vorliegenden Beitrag sollen die beiden folgenden Prinzipien der Zeitversprachlichung genauer in den Blick genommen werden, wie sie bereits oben am Beispiel der Wissensdomäne Literatur erläutert wurde: (1) diskontinuierliche bzw. inkohärente Tempusverwendung und (2) prozessuale bzw. flächige Entfaltung von relational zueinander stehenden Zeitmarkern. Eine Beobachtung im Bereich der Wissensdomäne Literatur war die sprachliche Herstellung von Zeitkontrasten (Anfang versus Ende; dauernder Prozess versus punktuelle Ereignisse; intensiv versus nicht intensiv). Dazu wird nun die Teiltextsammlung Politik herangezogen und zwar die sogenannte »Ruck-Rede« von dem damaligen Deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog am 26. April 1997 im Hotel Adlon,Footnote 10 im Folgenden ein vielzitierter Ausschnitt:

Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verloren gegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland.

Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen

Tempuskontinuität wird in der Linguistik als ein kohäsionsstiftendes Prinzip genannt (Brinker 2010, S. 38), wie die Passagen aus Christa Wolffs Störfall und der sogenannten »Ruck-Rede« von Roman Herzog allerdings zeigen, scheint eine diskontinuierliche bzw. inkohärente Tempusverwendung an Textstellen musterhaft zu sein, wenn Zeit selbst zum Thema gemacht wird bzw. metareflexiv thematisiert wird. Aber eben nicht nur, auch die implizite Thematisierung von Zeit führt zu einer Tempusdiskontinuität, indem Roman Herzog ausgehend von der Gegenwart auf Vergangenes verweist und Zukünftiges entwirft. Er evaluiert im Jetzt (Aufgaben sind gewaltig), durch Perfektverwendung (hat sich aufgestaut) reflektiert er die Vergangenheit mit Gegenwartsbezug und wirft gleichzeitig einen Blick in die Zukunft (wird Kraft kosten). Der saliente politischen Satz Durch Deutschland muß ein Ruck gehen (zu salienten Sätzen siehe Klein 2017) zeigt anschaulich die in der Forschung diskutierten Zeitimplikationen der Modalverben. Durch das Modalverb müssen wird die Durchführung eines durch das Verb markierten Geschehens in einen Forderungsmodus gesetzt. Formseitig (also die morphologisch markierte Verbsemantik betreffend) haben wir es bei muß mit dem Präsens zu tun, funktionsseitig markiert das Verb durch seine lexikalisch markierte Verbsemantik die Zukunft, in Reichenbachs Terminologie gesprochen liegt die Sprechzeit vor der Ereignis- und Referenzzeit (S<E;R; vgl. Reichenbach 1947). Zukünftiges wird in den seltensten Fällen durch Futur ausgedrückt, in der Regel wird Präsens in Verbindung mit Temporaladverbien (z. B. zukünftig, morgen, bald) verwendet. Interessant an dem Satz Durch Deutschland muß ein Ruck gehen ist, dass sich die Zukunftsfunktion aus dem Modalverb und der prospektiven Einbettung des Satzes in die Rede ergibt.

Auch eine prozessuale bzw. flächige Entfaltung von relational zueinander stehenden Zeitmarkern kann in diesem Redeabschnitt beobachtet werden. Im Folgenden möchte ich lediglich die Aktionsart der Verben überlasten, aufstauen, vorantreiben in Verbindung mit den Substantiven Aufbruch und Ruck in den Blick nehmen. Sie konstituieren die zeitrelevanten Aspekte der Bewegung und Intensität. Sie lexikalisieren Zustände, die mit Dichte assoziiert werden (überlasten, aufstauen), wodurch ein Druck präsupponiert wird, der zu Bewegung führen kann (vorantreiben), der auch impulsartig durch Aufbruch und Ruck versprachlicht wird. Während die prozessuale bzw. flächige Entfaltung von relational zueinander stehenden Zeitmarkern in der Textstelle aus Christa Wolfs Störfall Zeitkontraste hervorgebracht hat, so zeigt sich hier in der Art und Weise der Zeitversprachlichung eine Zeitkulmination.

4 Toolpluralität als methodische Sensibilisierungs- und Analysetaktik

Je nach Datentyp (beispielsweise Plenarprotokolle des Deutschen Bundestages, Pressekorpora, Artikel aus dem Reportagemagazin GEO oder populärwissenschaftlichen Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft) gestaltet sich die Analyse im hier skizzierten Habilitationsprojekt (in Vorb.; siehe Fußnote 6) anders, was zur Folge hat, dass zwar die übergeordnete Methode bzw. die forschungstheoretische Verortung einheitlich sein sollte, nicht aber die konkreten methodischen Schritte.

Stehen die Texte bzw. Reden in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Bildern, wie dies beispielsweise bei GEO oder Spektrum der Wissenschaft der Fall ist, sind andere Anforderungen an die Korpusdarstellung und -interpretation gestellt als bei reinen Textkorpora. Im Folgenden wird dies veranschaulicht durch eine Textpassage aus dem Heft »Chronobiologie. Unser innerer Rhythmus« von Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT (2018), zunächst die Textstelle:

Kinder lassen sich zunächst eher dem frühen Chronotyp zuordnen, ihre Uhren sind auf einen zeitigen Tagesbeginn eingestellt. Noch im Kindergartenalter werden viele morgens bereits gegen sechs Uhr wach und sind abends entsprechend früh müde. Doch schon bei Schulkindern verschiebt sich der Zyklus merklich nach hinten, und für Eltern wird es zusehends schwieriger, den Nachwuchs zügig durch die Morgenroutine zu navigieren.

Pubertierende Teenager sind dann oft extrem späte Chronotypen. Ließe man der Natur freie Hand, würden die meisten von ihnen bis mindestens 10 Uhr im Bett liegen. Jeden Montag aber erzwingt der frühe Schul- oder Arbeitsbeginn eine abrupte Verschiebung ihrer natürlichen Schlaf-wach-Zeiten. Weil hier eine Rhythmusstörung durch gesellschaftlichen Druck verursacht wird, sprechen Fachleute von einem »sozialen Jetlag«. […]

Erst nach der Pubertät, etwa mit 20 Jahren, verlagert sich die zirkadiane Rhythmik wieder deutlich nach vorne und mündet im Alter schließlich erneut im frühen Chronotyp. (Oster 2018, S. 20)

Rechts von dieser Textpassage werden in einer Spalte durch einen Rahmen markiert gesondert der »zirkadiane Rhythmus« und der »Chronotyp« kurz erklärt:

ZIRKADIANER RHYTHMUS Ein durch innere Uhren gesteuerter Rhythmus mit einer Periodik von gut einem Tag. Bekanntestes Beispiel: der Schlaf-wach-Rhythmus. Er bleibt auch ohne äußere Zeitgeber erhalten. So schlafen die meisten Menschen unter Isolationsbedingungen (in Räumen ohne Uhr und Tageslicht) im 25-Stunden-Takt. (Oster 2018, S. 20)

CHRONOTYP Bezeichnet den zirkadian gesteuerten Beginn des Schlaf-wach-Rhythmus: Frühe Chronotypen (»Lerchen«) stehen früh auf und gehen früh ins Bett, späte Chronotypen (»Eulen«) neigen zum Gegenteil. (Oster 2018, S. 20)

Auf der darauf folgenden Seite folgt eine Skizze eines menschlichen Kopfs im Querschnitt, die mit Begriffen, kurzen Begriffserklärungen und einer längeren Beschreibung den Einfluss des SCN (Suprachiasmatischen Nukleus) auf die Schlaf-wach-Regulation ergänzt ist. Der gesamte Artikel zwei Seiten zuvor beginnt mit einem engen Konglomerat aus Text-Bild-Beziehung. Auf Seite 18 wird ein Bild gezeigt, auf dem eine Person auf einem Stuhl sitzt und eine Uhr vor ihren Kopf hält. Auffällig an diesem Bild ist die Farbgebung: von weiß, über hell- und dunkelgrau bis schwarz. Ohne dies im Rahmen des vorliegenden Beitrags durch eine linguistische Detailanalyse genauer skizzieren zu können, zeichnen sich hier die Zeitversprachlichungsprinzipien

  • Zeitkontraste (morgens versus abends; schlafen versus wach sein),

  • Zeitzirkulation (beispielsweise markiert durch das Lexem Rhythmus, die Darstellung von morgens, mittags, abends als wiederkehrende Zeitverläufe, ebenso die Lebensphasen Kindheit, Jugendzeit, Zeit als Erwachsene:r, Zeit im hohen Alter als Lebenszyklus) verbunden mit

  • Zeittaktung (die Lexeme Rhythmus wie auch Uhr präsupponiert die unterteilende Bewegung, die an die Seite der kreisenden Bewegung der Zeitzirkulation rückt),

ab, die nicht nur textuell hergestellt werden, sondern auch vor allem auch bildlich, wie die Abbildung der Uhr (Zeitzirkulation, -taktung) und die Gegensätze der Farben in Schwarz und Weiß mit grauen Zwischenstufen (Zeitkontraste) anschaulich darstellen. Das Zeitversprachlichungsprinzip der Zeitkulmination, wie es bei der sogenannten »Ruck-Rede« in der Wissensdomäne Politik herausgearbeitet wurde, ist in dieser Textpassage weniger relevant.

Diese enge Verzahnung von Text und Bild erfordert, wenn die Analyse von Einzelphänomenen durch eine Textkollektion verlassen werden soll, ein Tool, das die vorliegenden PDF-Dateien sowohl auf Text- als auch auf Bild-Ebene annotieren und statistisch auswerten lassen. Im Zuge des hier vorliegenden Vorhabens wird MAXQDA gewählt, weil diese nicht nur eine breite Palette von Datentypen zulässt, sondern in den letzten 10 Jahren zu einem leistungsstarken Tool geworden ist, das eine Mixed Methods Ansatz ermöglicht (simple korpuslinguistische Auswertung bezogen auf die Textrohdaten sind ebenso möglich, wie die statistische Auswertung des manuell erarbeiteten Annotationssystems).

Vor dem Hintergrund der dargestellten Beispielanalysen, die im Kontext eines größeren Forschungsvorhabens skizziert wurden, und weil damit ein korpushermeneutisch sensibler Umgang vonnöten ist, wird hier nicht nur ein Mixed Methods Ansatz für sinnvoll erachtet, sondern damit einhergehend auch eine Toolpluralität als methodische Sensibilisierungs- und Analysetaktik. Eine Analyse zu zeitthematisierenden Schlüsselbegriffen (wie Zeitenwende), Phrasemen (in Zeiten von) und salienten Sätze (wie Durch Deutschland muss ein Ruck gehen) in den Plenarprotokollen des Deutschen Bundestages oder in Pressekorpora werden entweder über CQPweb auf Discourse Lab auf der Grundlage bestehende oder eigens recherchierter Korpora (https://www.discourselab.de/cqpweb/) oder mittels Cosmas II auf der Grundlage von Ausschnitten des DeReKo (https://www2.ids-mannheim.de/cosmas2/web-app/) analysiert (vgl. Jacob/Landschoff 2022; vgl. Jacob et al. in Vorb.). Teiltextsammlungen, wie beispielsweise die Jahresgutachten des Sachverständigenrats (1964–heute) werden korpuslinguistisch über CQPweb analysiert und zugleich über MAXQDA, weil die Rohdaten in unterschiedlich gut digitalisierter Form vorliegen (die Aufgabe der OCR stellt sich als Herausforderung dar) und die Textsorte und deren Muster eine enge Verzahnung zwischen Textpassagen, Abbildungen und Diagrammen aufweisen (OCR sorgt dafür, dass die Rohdaten in einer Weise zerlegt wird, die dem Gegenstand nicht gerecht wird). Neben diesen genannten Tools wird Sketch Engine herangezogen, um ohne größeren Aufwand Hypothesen korpuslinguistisch zu überprüfen und erste Indizien für Musterbildungen zu identifizieren.

5 Etablierung einer linguistisch adäquaten Methode

In der Explorationsphase greifen empirische Erkundungen mit der Lektüre forschungsrelevanter Literatur Hand in Hand. Das hier skizzierte Vorhaben schließt an die linguistische Zeitforschung mit Fokus auf die deutsche Gegenwartssprache an.Footnote 11 Wie bereits erwähnt sind grammatische, semantisch-lexikalische und pragmatische Phänomene wie Tempus inkl. Temporaladverbien und -präposition, Modus, Aspektualität oder Deixis zum Deutschen, aber auch zu anderen Sprache sowie sprachvergleichend breit erforscht und diskutiert (u. a. Ehrich/Heinz (Hg.) 1988; Leiss 1992; Klein 1994, 2018; Klein/Li (Hg.) 2009; Hennig 2000; Weinrich 2001; Welke 2005; Harweg 2014; von Stutterheim 1997). Was allerdings zu fehlen scheint, ist eine systematische Auseinandersetzung mit Zeit(lichkeit) in Texten und Reden, die die verschiedenen relevanten Phänomene einerseits in Relation setzen und ihre Prozessierung im Text- und Redeverlauf beachten, und andererseits weitere Formen der Versprachlichung von Zeit hinzunehmen (Zeitlexikalisierungen, Metaphern, Vertextungsstrategien).Footnote 12 Diesem Desiderat widmen sich die hier vorgestellten Beispielanalysen im Kontext des hier skizzierten Forschungsvorhabens. Wie die Darstellung zur Toolpluralität gezeigt hat, muss je nach Datengrundlage die methodische Ausrichtung angepasst werden. Dennoch scheint eine übergeordnete Methode bzw. die forschungstheoretische Verortung des Vorhabens notwendig, um die Analyse von einzelnen Text- und Redepassagen miteinander zu verbinden. Bezugspunkt ist hier die kognitive Linguistik orientiert an Embodied Cognition, also einerseits die kognitive Semantik im Sinne von Gumperz/Levinson und Talmy, im deutschsprachigen Thiering 2018 und Ziem 2008, und andererseits die Konstruktionsgrammatik im Sinne von Fillmore, Lakoff und Langacker, im deutschsprachigen Raum Ziem/Lasch 2013.

Dass sich linguistische Untersuchungen im korpushermeneutischen Paradigma lohnen, zeigt eine an der Universität Heidelberg entstehende Dissertation zur Twitterkommunikation (vgl. Landschoff in Vorb.). Ziel der Arbeit ist es, ein iteratives Verfahren zu entwickeln und zu reflektieren, in dem zunächst durch Lektüre von Beispielthreads (Unterhaltungsstränge auf Twitter) einerseits und durch frequenz- und distributionsorientiere Korpusanalyse andererseits ein informierter Eindruck der Datengrundlage hergestellt und mittels Abduktion Hypothesen aufgestellt werden, wie sich Meinungsdynamiken in Form von Argumenten innerhalb von Beispielthreads vollziehen. In einem iterativen Verfahren erfolgt dann zunächst eine Analyse der realen Interaktion, indem Argumente in ihren Interaktionsstrukturen identifiziert werden. In einem zweiten Schritt erfolgt sodann eine Analyse, an welchen sprachlichen Oberflächenphänomenen sich diese Argumente in den Interaktionsstrukturen erkennen lassen. Diese wiederum werden als Marker für die Entwicklung korpuslinguistischer Suchanfrage verwendet, um von den Einzelbelgen abzuheben und Musterbildung im Korpus ausfindig zu machen und diese mit korpuslinguistischen Verfahren zu messen. Am Ende dieses korpushermeneutischen Prozesses der methodischen Iteration werden in einem weiteren Analyseschritt Sprachgebrauchsmuster als argument- und meinungsanzeigende Indizes einerseits mit den Texten (Tweets), in denen sie vorkommen, andererseits mit den Autoren dieser Texte verknüpft, um die Untersuchung sowohl in eine Analyse der Interaktionsstruktur als auch in eine Akteurs(netzwerk)-Meinungsanalyse münden zu lassen.

Sowohl das Forschungsvorhaben zur Zeit(lichkeit) in Text- und Redesammlungen verschiedener Wissensdomänen als auch die Dissertation zur Twitterkommunikation zeigen, dass korpushermeneutische Faktoren bereits bei der ersten Begegnung mit dem Forschungsgegenstand im Sprachalltag, bei der Bildung und Überprüfung einer abduktiven Regel sowie bei der Entwicklung einer Fragestellung ebenso zentral sind wie im Rahmen der Korpusrecherche, -erstellung und -aufbereitung und beim interpretatorischen Vorgehen manueller Annotationen, der Analyse von Einzelbelegen sowie Prozessen der korpuslinguistischen Auswertung.