1 Wer hätte das gedacht?

Mehrere Auflagen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Schauspielfassungen, autographe Fortsetzungen, Fanfiction avant la lettre, und das alles innerhalb weniger Jahre: Mit seinem Roman Rinaldo Rinaldini landete Christian August Vulpius einen unvergleichlichen und nachhaltigen literarischen Erfolg. Der Räuberroman fand nach seinem Erscheinen 1799 sehr viel Beachtung.Footnote 1Rinaldo Rinaldini ist ein Vorläufer des Phänomens, für das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff ›Beststeller‹ gebraucht wird.Footnote 2 Im 18. Jahrhundert gab es jedoch weder den Begriff noch wurden Ranglisten geführt, um Verkaufserfolge vergleichbar zu machen. Die Popularität des Romans ist erwiesenermaßen so groß, dass Vulpius mit Ferrandino (1800/01) bereits im darauffolgenden Jahr eine »Fortsetzung der Geschichte des Räuberhauptmanns Rinaldini« vorlegte. Rinaldini habe, so Vulpius im Vorwort der Rinaldini-Fortsetzung, »viele Freunde in der Deutschen Lesewelt« gefunden, die ihm, Vulpius, eine Fortsetzung ›abgefordert‹ hätten.Footnote 3 Wie für populäre Formate typisch, geht die erfolgreiche Räubergeschichte unmittelbar in Serie.Footnote 4

Räuber sind im 18. Jahrhundert äußerst populär. Sowohl Schillers Räuber tragen dazu bei als auch die Verklärung sozialrebellischer Räubertugenden. Hinzu kommen sozialhistorische Umstände wie die Verbreitung des Bandenwesens und die soziale Degradierung einiger Berufsgruppen, die sich daher im Räubermilieu wiederfinden.Footnote 5 Gestalten wie Käsebier, der Bayerische Hiesel, Hannikel oder Schinderhannes erfreuten sich besonderer Beliebtheit als Gesprächsstoff, mediales Ereignis oder literarische Figur.

Rinaldo Rinaldini aber sticht besonders hervor. Der Name avancierte innerhalb weniger Monate zur Marke. Vulpius firmierte fortan stets als der »Verfasser des Rinaldo Rinaldini«. Der Name des Räuberhauptmanns bedeutete Vulpius so viel, dass er seinen 1802 geborenen Sohn auf den Namen Rinaldo taufen ließ.Footnote 6 Für mehr als ein Jahrhundert gilt der Name »Rinaldo Rinaldini« als Inbegriff des literarischen Räubers.

Die Rezeptionsgeschichte des Romans ist weitläufig und changiert zwischen populärer und ernster Literatur, high und low, Kolportageheftchen und modernem Roman. Die Be- oder Weiterverarbeitungen zeugen von der typischen »Reproduktionsintensität und Differenzierungsfreudigkeit« populärer Serialität.Footnote 7 Rinaldini taucht bei August von Kotzebue und Herman Melville, Wilhelm Raabe und Robert Walser auf.Footnote 8 Im vorabendlichen Fernsehprogramm der ARD-Sendeanstalten wurde 1968/69 die Farbfilmserie Rinaldo Rinaldini, frei nach dem Roman von Vulpius, ausgestrahlt. Anfang der 1970er Jahre besang Renate Kern den Räuberhauptmann in einem Schlager. Ihr Lied beginnt mit dem Vers: »Man spricht noch heut’ von Rinaldo Rinaldini«.Footnote 9 – Heute nicht mehr. Von dem rezeptionsgeschichtlichen Erfolg zeugt lediglich der Name eines Restaurants im Frankfurter Stadtteil Oberrad, ansonsten aber findet Rinaldo Rinaldini kaum noch Beachtung.Footnote 10 Die einstige Popularität ist einer Nicht-Beachtung gewichen. Diese Depopularisierung des Romans ist angesichts des vorausgegangenen Erfolgs bemerkenswert, mit Blick auf die im 18. Jahrhundert populären Autoren wie Iffland, Kotzebue oder Vulpius allerdings kein Einzelfall. »Ihre Spuren haben sich verloren und sind heute nur noch den Fachleuten bekannt.«Footnote 11 Solche Depopularisierungen sind besonders deshalb so frappierend, weil die Nicht-Beachtung selbst keine Beachtung findet. Rinaldo Rinaldini ist doppelt vergessen. Selbst dass er vergessen wurde, ist vergessen. Wer hätte das gedacht?

2 De/Popularisierung erster und zweiter Ordnung

Popularität ist flüchtig, unbeständig, wankelmütig. »[W]as vor Jahren noch populär war, kennen heute möglicherweise nur noch wenige«.Footnote 12 So schnell wie Lieder, Bücher, Helden in den Scheinwerferkegel der allgemeinen Beachtung geraten, so schnell werden sie auch wieder vergessen und verlieren die einstmals gewonnene Beachtung. Ob und wodurch etwas oder jemand populär wird, ist kontingent.Footnote 13 Und ob und wodurch etwas in einen Strudel der Depopularisierung gerät, ebenfalls. Auch ob Popularität etwas Gutes oder Schlechtes ist, hängt vom Einzelfall ab.

Die neuere Populärkulturwissenschaft unterscheidet, um solche Prozesse zu erklären, zwei Modi der Popularisierung: die Popularisierung erster Ordnung und die Popularisierung zweiter Ordnung. Die Popularisierung erster Ordnung stützt sich auf »qualitativ-normative«Footnote 14 Kriterien. Mittels dieser Kriterien unterscheiden die Akteure und Institutionen der Popularisierung erster Ordnung zwischen dem, was Beachtung finden soll, und dem, was keine Beachtung finden soll. Feuilleton, Kritiker:innen, Schulen und Universitäten, Museen trennen traditionell zwischen high und low, Hoch- und Populärkultur, dem Klassischen und dem Trivialen, dem Leichten, Schnellen, Oberflächlichen und dem Schweren, Voraussetzungsreichen, Avancierten. Ein einfaches Beispiel: Schillers Räuber gehören zum Kanon der Schullektüre, das Werk gilt als repräsentativ für die von Schiller propagierten Ideale der Autonomie und des Universalismus, Vulpius’ Rinaldo Rinaldini gehört nicht zum Kanon, sondern steht gemeinhin für Trivialität, Massentauglichkeit, Unterhaltung, Heteronomie.

Solche hierarchisch konnotierten Unterscheidungen geraten unter den Bedingungen der Popularisierung zweiter Ordnung unter Legitimationsdruck. Die Autorität der dominanten hochkulturellen Geschmacksträger:innen, die mit ihrem Urteil über high und low entscheiden, stößt dort an ihre Grenzen, wo mit der Popularisierung zweiter Ordnung die »quantitativ-nominelle Dimension des Populären«Footnote 15 an Relevanz gewinnt und ihre numerische Evidenz behauptet. Hier zählt nicht das kulturelle Kapital des Kanons und des Klassischen, des Tradierten und der Kennerschaft, sondern die Quantifizierung von Popularitätswerten.Footnote 16 Es geht darum, ob etwas mehr oder weniger Beachtung findet, ohne zu bewerten, warum etwas Populäres populär geworden ist und ob es diese besondere Beachtung verdient oder nicht. Zur Popularisierung zweiter Ordnung gehört es, dass Popularität »erhoben, verglichen und popularisiert«Footnote 17 wird. Dies geschieht durch die »Veröffentlichung von quantifizierten Popularitätsrelationen«Footnote 18 in Charts, Rankings und – wenn es um Literatur geht – Bestsellerlisten. Die Quantifizierung des Populären und ihre Darstellung in Ranglisten machen Popularität vergleichbar, und natürlich besteht ein Interesse daran, eine Spitzenplatzierung so zu kommunizieren, dass sie von möglichst vielen beachtet wird.

Die Unterscheidung zwischen der Popularisierung erster und zweiter Ordnung erweist sich als besonders aufschlussreich, wenn die beiden Dimensionen des Populären miteinander konfligieren. Das ist zum Beispiel dann der Fall, »wenn Gegenstände ins Spiel kommen, die viel Beachtung finden, aber keine Beachtung finden sollen, weil sie als niveaulos und unterkomplex gelten.«Footnote 19Rinaldo Rinaldini ist solch ein Fall missliebiger Popularität. Die zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse aus den Rezensionsorganen, die Erika Thomalla und Roberto Simanowski in ihren Beiträgen zum Rinaldini zitieren, zeugen von der literaturkritischen Diskreditierung des Romans und seines Verfassers als ebenso ›geist-‹ wie ›planlos‹.Footnote 20 Etwas (Rinaldo Rinaldini), das keine Beachtung finden sollte, findet bei vielen Beachtung.Footnote 21 Dieser Widerstreit zwischen den beiden Modi der Popularisierung ist der Debatte über Trivialliteratur inhärent. Die normative Einschätzung wird in vielen Forschungsbeiträgen zum Roman perpetuiert und der Rinaldo als Beispiel für das Genre der Unterhaltungs- oder Trivialliteratur behandelt.Footnote 22

Gegen einen normativ fundierten Begriff von Trivial‑, Schema- oder Unterhaltungsliteratur hat Helmut Kreuzer eingewandt, dass sich Trivialliteratur weder über ein Bündel von Stilmerkmalen noch über ihren Warencharakter definieren lässt, sondern dass dies nur »unmittelbar« literarhistorisch möglich sei als »Bezeichnung des Literaturkomplexes, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren.«Footnote 23 Das bedeutet, dass die Kategorisierung eines Werkes als low, trivial, unterkomplex sich an historisch variablen Kriterien orientiert. Kreuzer argumentiert historisch-geschmackssoziologisch. Die Gemeinsamkeit des Verdikts »Trivialliteratur« besteht in der »Negation«. Das »Niedere« ist nicht zeitlos oder werkimmanent bestimmbar, sondern wird dadurch gekennzeichnet, dass etwas von den Kunstauffassungen oder Geschmacksnormen abweicht, die in einem begrenzten historischen Zeitraum dominieren.Footnote 24 Daher spricht Kreuzer von ›Auf- und Abstiegsprozessen‹,Footnote 25 in denen die unhaltbare kategoriale Grenze zwischen den Bereichen Kunst und Kitsch, Hoch- und Populärkultur überschritten wird.Footnote 26

Diese Erkenntnis greifen die Vertreter:innen einer »Transformation des Populären« auf, indem sie zwischen der Popularisierung erster und zweiter Ordnung unterscheiden, um mit der Axiologie von high und low zu brechen.Footnote 27 Die Unterscheidung der Popularisierungsmodi ermöglicht – ganz im Sinne Kreuzers – einen von normativen Vorannahmen freien Zugang zu Texten, die wie Rinaldo Rinaldini unter Trivialitätsverdacht standen oder stehen. Sie fanden zwar sehr viel Beachtung, aber lediglich als Exemplare literarischer Kulturindustrie.

Die Unterscheidung zwischen qualitativ-normativer und quantitativ-nomineller Popularisierung stellt nicht nur eine Möglichkeit dar, Kreuzers Bestreben, den Begriff der Trivialliteratur zu historisieren und normativ zu neutralisieren, genauer zu fassen. Die Unterscheidung ist zudem gut geeignet, zwei verschiedene Formen der Depopularisierung zu postulieren – äquivalent zu den beiden Ordnungen der Popularisierung. Die Semantiken und Praktiken der Abwertung und Diskreditierung, die auf missliebige Popularität reagieren, stellen Beispiele für eine Depopularisierung erster Ordnung dar, die sich aus dem Vokabular der Kulturkritik bedient: erwartbar, kitschig, verbraucht, standardisiert, schematisch, massenkonform, anti-aufklärerisch, kulturindustriell, liegestuhltauglich. Unter Depopularisierung zweiter Ordnung wäre stattdessen der schleichende oder abrupte Verlust von Popularität, das Verschwinden aus dem kulturellen Gedächtnis zu verstehen. Ein Werk, ein Objekt oder eine Person wird von immer weniger Leuten immer weniger beachtet und rückt in den Beständen des populärkulturellen Archivs immer weiter nach hinten. Lediglich Spezialist:innen, Nerds, Liebhaber:innen oder Restaurantbesucher:innen durchforsten es noch nach Spuren des Räuberhauptmanns.

3 Rinaldo Rinaldini – Popularität als Programm

Die Gründe dafür, dass etwas populär wird und etwas anderes nicht, sind vielfältig und teils widersprüchlich.Footnote 28 Geschichten, Figuren, Werke, Personen, Redewendungen sind populär, wenn und weil sie viel Beachtung finden, und dann noch mehr und noch mehr, und wenn man vergleicht, mehr als alle anderen. Eine gute Voraussetzung für Popularität ist also Popularität, wenn zum Beispiel alle Leute von jemandem sprechen. Damit beginnt die Vorrede des Romans.

3.1 Vorrede

In der Vorrede des Romans Rinaldo Rinaldini wird die Popularität des Helden vorausgesetzt. »Ganz Italien spricht von ihm« (RR, 9), lautet der erste Satz des kurzen Prologs. Noch bevor die Geschichte beginnt, ist ihr Held schon überall bekannt: »[Die] Apenninen und die Täler Siziliens hallen wider von dem Namen Rinaldini.« (RR, 9) Bislang werden diese Geschichten in mündlichen Formen tradiert, »in den Canzonetten der Florentiner, in den Gesängen der Kalabresen, und in den Romanzen der Sizilianer« (RR, 9). Das Populäre kursiert im Medium des Volkslieds. Gesungen – oder jedenfalls sangbar – sind die Geschichten unmittelbar und sinnlich erfahrbar und allen Ständen gleichermaßen zugänglich. Die Performanz des Volkslieds setzt die Präsenz in der Gemeinschaft voraus. Von Rinaldini hört man in der »Versammlung« vor den Häusern in den Städten, »im Zirkel seiner Bekannten«, auf den Schiffen bei den »Seeleuten« (RR, 9). In der Vorrede des Romans werden die typischen Parameter populärer Kulturen im späten 18. Jahrhundert aufgerufen, die maßgeblich von Herders Poetik des Volkslieds geprägt wurden: Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit, Mündlichkeit.Footnote 29

Der Verfasser der Vorrede entwickelt darüber hinaus eine genaue Vorstellung davon, welche Funktionen von populären Räubergeschichten erfüllt werden. »Vergnügen« stiften, sich »wechselseits« mit Abenteuern »unterhalten«, für Belebung sorgen, »Entzücken« wecken, »munter erhalten«, »Stoff zur Unterhaltung« geben, »Langeweile« vertreiben (alle Zitate RR, 9). Das Populäre unterhält, vergnügt, macht Spaß. Es richtet sich als ›volksmäßiger‹ Zeitvertreib an den ›großen Haufen‹ des Volkes, der in den zeitgenössischen Debatten in Differenz zu den ›Gebildeten‹, ›Kennern‹, ›Vortrefflichen‹ und ›Edlen‹ steht.

In der Vorrede des Romans wird sowohl auf die Rezeptions- und Funktionsweise als auch die literarischen Formen des Populären eingegangen. Bemerkenswert ist, wie die vorangestellten, programmatischen Überlegungen im Roman an mehreren Stellen literarisch verarbeitet und poetologisch reflektiert werden. Der erste Satz der Vorrede, »Ganz Italien spricht von ihm«, kann als Motto des Romans verstanden werden. Es wiederholen sich Szenen, in denen Rinaldini selbst, seine Taten und seine Abenteuer Gegenstand des Gesprächs sind. Alle sprechen von Rinaldini. Zumeist ist er dabei verkleidet und daher unerkannt zugegen.Footnote 30

3.2 Bänkelsang

Besonders signifikant und aufschlussreich für die immanente Poetologie des Romans ist eine Bänkelsang-Szene:

»Zu Cesena fand er [Rinaldini, verkleidet als Graf Dalbrogo, Anm. MS] einen Bänkelsänger, der Rinaldinis Taten auf einem offenen Platze unter einer bemalten Leinwandtafel absang. Das um ihn herum versammelte Volk hörte diesem Manne mit großer Aufmerksamkeit zu, und Rinaldo drängte sich in den Kreis, zu hören, was man von ihm sang.« (RR, 58)

Beim Bänkelsang handelt es sich um eine populäre Kunstform im Sinne der Vorrede. Es wird gesungen, und das Volk ist versammelt. Illustriert wird die Geschichte des Bänkelsängers mit einer »bemalten Leinwandtafel«, die ein typisches Element des Bänkelsangs in seiner szenisch-audiovisuellen Konstellation darstellt.Footnote 31 Vulpius zeichnet in der Szene ein »recht realistisches Bild des Bänkelsangs«.Footnote 32 Darüber hinaus aber weist die Szene eine selbstreferenzielle »Mise-en-abyme-Struktur«Footnote 33 auf: »Die Geschichte Rinaldos ist bereits im ›Rinaldo‹-Roman zum Spektakel geworden«.Footnote 34 Die Bänkelsang-Szene schildert eine Situation, die zeigt, wie Räubergeschichten erzählt und rezipiert werden. Zugleich ist die Episode als eine Art Selbstkommentierung des Romans zu lesen, die sich zum Geschehen auf dem »offenen Platze« (RR, 58) kritisch verhält. Mehrere Aspekte sind für poetologische Dimension dieser Szene von Bedeutung:

Erstens stellt der Bänkelsang keine autonome, ›hohe‹ Kunst dar, sondern steht generell im Dienst heteronomer Zwecke, moralischer oder religiöser Belehrung einerseits und kommerzieller Interessen andererseits.Footnote 35 In den im Roman abgedruckten, letzten Strophen des Liedes wird der sterbende Rinaldini besungen, der seine Taten bereut und um Erbarmen bittet. Zunächst fordert der Bänkelsänger seine Zuhörer:innen auf, für den »armen beichtenden Rinaldini« (RR, 58) zu beten, dann lässt er seinen Hut herumgehen mit den Worten: »Selig sind, die da geben!« (RR, 59) Die abschließende Moralstrophe enthält eine Bitte um Erlösung vom Bösen. Aber bevor der Bänkelsänger das Lied überhaupt beendet, leert er seinen mit Münzen gefüllten Hut und streicht »das Geld zusammen« (RR, 59). Geld und Gebet sind in dieser Szene nicht nur für den Bänkelsänger eng miteinander verquickt. Auch die religiösen Akteure machen die Geschichte von Rinaldos vermeintlichem Tod zu Geld. »Ein Franziskaner erbot sich, ein paar Messen für [den totgeglaubten, Anm. MS] Rinaldini zu lesen, und erhielt Geld. Rinaldo selbst gab ihm etwas dazu und beförderte also seine Exsequien bei lebendigem Leibe.« (RR, 60)

Zweitens akzentuiert das hier zitierte Ende der Episode die metanarrative »Mise-en-abyme-Struktur« des Romans. Rinaldo ist dabei, wenn Geschichten über ihn erzählt werden. Lied und Roman sind durch den gemeinsamen Helden metaleptisch ineinander verschachtelt. Zugleich markiert dieses »Spiel mit den Erzählebenen«Footnote 36 die Differenz von Leben und Tod. Im Lied berichtet der Bänkelsänger von Rinaldos Tod, doch der Räuberhauptmann wohnt dieser Situation »bei lebendigem Leibe« bei. Diese existenzielle Differenz hallt sowohl in der Diegese wider, in der Rinaldo wiederholt für tot gehalten wird, als auch in der Fortsetzungslogik des Romans. Die Erstausgabe endet mit dem Tod Rinaldinis, für die Fortsetzung aber wird er wieder lebendig. Dianora »küßte zurück ins Leben seinen fliehenden Geist« (RR, 321), wird zu Beginn der Fortsetzung rückblickend erläutert.

Drittens ist auch die ergriffene Reaktion des Publikums auf Rinaldos Geschichte ein Bestandteil der Szene. »Die Zuhörer waren alle erbaut und gerührt, nur Rinaldini nicht« (RR, 59). Das Publikum schätzt die unterhaltsame und rührende Geschichte so sehr, dass sie dem Bänkelsänger folgt, um »die Geschichte noch einmal zu hören« (RR, 59). Das Vergnügen auch an der Wiederholung ist ein gutes Indiz für die Qualität der Geschichte und ihres Helden. Sie wird gern ein zweites oder drittes Mal gehört.

Es fällt auf, dass Rinaldini sich dem Geschehen gegenüber distanziert verhält. Alle sind »erbaut und gerührt«, Rinaldo nicht. Er tut zwar, »was die andern taten« (RR, 58), aber nur, »um nicht aufzufallen« (RR, 58). Man könnte diese Haltung als Ausdruck des Befremdens darüber deuten, dass Rinaldo beobachtet, wie sein vermeintlicher Tod genutzt wird, um Geld zu verdienen und moralische Abschreckungseffekte zu erzielen. Aber ausgehend von der Mise-en-abyme-Struktur erscheint es ebenfalls plausibel, Rinaldos distanzierte Haltung als metonymischen Kommentar des Romans zum populären Spektakel des Bänkelsängers zu verstehen.

Das führt viertens zur Kritik des Romans an der heteronomen Überlagerung der Codes von Unterhaltung, Erlösung und Kommerz sowie an der ergriffen-affektiven Rezeptionshaltung der Zuhörer:innen. Vulpius wird in der Regel eine »Orientierung am Geschmack eines möglichst breiten Publikums sowie an kommerzieller Verwertbarkeit der literarischen Produktion«Footnote 37 unterstellt. Die heteronome Ausrichtung des Romans sollte man aber nicht zu hoch einschätzen. Alle waren »erbaut und gerührt, nur Rinaldini nicht« (RR, 59). Vulpius mag den monetären Ertrag seiner Werke hochschätzen, der Roman jedoch folgt nicht schlicht den Gesetzen des Marktes, sondern setzt sich selbstreflexiv mit den Funktionsweisen des Populären im späten 18. Jahrhundert auseinander. Er macht das Wissen darum zum Gegenstand des Erzählens.

3.3 Populäre Serialität und narrative Kontingenz

Zwischen Roman und Bänkelsang bestehen nicht nur strukturelle Äquivalenzen,Footnote 38 sondern vor allem auch Differenzen, was die Aspekte ›Serialität‹ und ›Kontingenz‹ anbelangt.

Der Bänkelsänger wiederholt seine Geschichte immer aufs Neue, der Roman variiert sie. Im Roman wird Redundanz mit Varianz angereichert. Dadurch öffnet sich das Erzählverfahren der Serialisierung. Immer gleich bleibt im Verlauf des Romans, dass sich Rinaldo in Liebschaften verstrickt, die Frauenfiguren aber variieren: Aurelia, Olimpia, Dianora (Gräfin Martagno), Laura, Violanta, Leonore, Margalisa. Für seine Tarnungen nutzt Rinaldo ein variantenreiches Repertoire an Verkleidungen und Pseudonymen. Er tritt in Erscheinung als Graf Dalbrogo, Marchese Saligno, als Pilger, in Bauerntracht mit falscher Nase, als Graf Mandochini, als Jäger, als Ritter della Cintra, als Baron Tegnano. In diesen Rollen mischt er sich unter die Leute, verfolgt – gut getarnt und daher unerkannt – die Gespräche, die über ihn geführt werden, aber immer wieder bekennt er sich schließlich, ob gewollt oder nicht, zu seiner wahren Identität: »Ich bin Rinaldini«.Footnote 39 Das Identitätsbekenntnis fungiert als Leitmotiv. Rinaldini schickt sein Gegenüber damit jedes Mal buchstäblich in den Abgrund (mise en abyme) der Erzählkonstruktion, wenn sie gewahr werden, dass derjenige, von dem gesprochen oder erzählt wird, unter ihnen anwesend ist.

»Variierende Wiederholung«Footnote 40 ist das Grundprinzip der episodischen Fortsetzungsserialität des Romans.Footnote 41 Rinaldo möchte ein bürgerliches Leben führen, verkleidet sich, integriert sich ins Leben verschiedener sozialer Milieus, verliebt sich, offenbart sich, kehrt ins Räuberleben zurück, wird gefangen genommen und wieder befreit, flieht mit seinen Gefährten, da capo.Footnote 42 Diese Erzählstruktur, die Redundanz und Varianz relationiert, konstituiert eine »im Grunde ad infinitum fortführbare Abenteuerkette«.Footnote 43

Das Erzählverfahren schwächt zwar die motivationale Struktur des Romans. Die einzelnen Episoden sind lose aneinandergereiht. Sie ergeben sich also nicht auseinander, sondern folgen lediglich aufeinander. Dieses »Strukturprinzip einer schier unendlichen Episodenreihung abenteuerlicher Begebenheiten«Footnote 44 ist Einfallstor für teils harsche Kritik: »[E]s fehlt durchaus an einem geordneten, zusammenhängenden Geflecht der Begebenheiten, und die ewige Wiederholung plumper Abenteuerlichkeiten wird bis zum Eckel ermüdend.«Footnote 45 Die seriellen Erzählverfahren markieren aber zugleich eine narrative Kontingenz, die überhaupt erst immer neue Fortsetzungen durch Variation zulassen. Es gibt Stellen, an denen die Kontingenz des Erzählens ausdrücklich thematisiert wird. Bei Rinaldo ist immer alles auch anders möglich. Keine stabile transzendente oder metaphysische Ordnung gibt dem Geschehen Ziel oder Orientierung. Rinaldo lässt es auf den Zufall ankommen:Footnote 46 »Tausend Entwürfe und Entschließungen durchkreuzten seine Seele, welchen konnte er fassen? Er mußte alles auf den Zufall ankommen lassen, aber diesen aufs beste zu benutzen, war sein ernster Wille, sein fester Entschluß.« (RR, 332) Die Kontingenz der Welt wird nicht nur in diesem Gedankengang zum Thema, sondern sie tritt besonders durch die Offenheit des seriellen Erzählverfahrens und die »kontingenten Ereignisketten«Footnote 47 des Romans spürbar hervor. Die Kontingenz der Welt und des Erzählens manifestiert sich also in der literarischen Form.

Im immer wieder angestrengten Vergleich mit Schillers Räubern ist der formale Gegensatz – neben vielen anderen – der größte Unterschied zwischen dem Drama und dem Roman: Die Motivierung des Geschehens durch Liebe, Intrige und Rache mit einer abschließenden Restitution bürgerlicher Ordnung bei Schiller steht die minimal motivierte Episodenreihung mit wie aus dem Nichts eintretenden Wendungen und »einem beliebig erweiterbaren Personal«Footnote 48 bei Vulpius gegenüber.Footnote 49

3.4 Populär über den Tod hinaus

Das unglückliche Ende des Räuberhauptmanns allerdings ist bei aller Kontingenz unvermeidlich: »O Rinaldo! Du kannst nicht glücklich enden!« (RR, 229), und »Mein Untergang ist gewiß« (RR, 236), prophezeit er sich selbst, während ihn ansonsten ein »Unbewußtsein seiner selbst« (RR, 241) bestimmt. In seinen Augen wie in den Augen anderer ist Rinaldo der »Unglückliche«, der kein glückliches Ende finden kann. Er ist ein Melancholiker, der nirgendwo ankommt, mit seinem »Schicksal« und »Leichtsinn« (RR, 14) hadert und von Anfang an in Todesahnung lebt. Nicht dass, sondern nur wann, wo und wie, steht infrage: »O! […] welchen Tod werden wir sterben?« (RR, 14)

Selbst Rinaldinis Tod, mit dem der Roman endet, steht – jedenfalls in der von Vulpius neu bearbeiteten, im Jahr 1824 erschienenen Fassung – im Zeichen seiner Popularität. Der Roman endet mit einem Zeitsprung: Rinaldini flieht vor Soldaten. Dann bricht der Erzähler plötzlich ab und setzt mit einem »Führer« neu an, »der die Fremden umherführt« (RR, 538). Der Ort, an dem Rinaldo starb, ist zur touristischen Attraktion und Pilgerstätte geworden. »Sehen Sie, mein lieber fremder Herr!« Der Fremdenführer erläutert, wie Rinaldini von Soldaten erschossen wurde und zeigt ihm sein Grab. »[H]ier, wo wir stehen, unter uns, liegt Rinaldini.« »Unglücklicher!«, erwidert der Fremde. »Jawohl, unglücklich!«, antwortet der Fremdenführer. Irgendwann muss der Roman einfach enden, auf seinen Helden blickt er als einen »Unglücklichen«. Entscheidend aber ist, dass das Interesse für sein Schicksal seinen Tod überdauert.

Wie ist dem Roman Popularität eingeschrieben? Das Verhältnis des Romans zu seiner Popularität ist transzendental. Im Erzählen bringt der Roman die Popularität Rinaldinis, die er voraussetzt, selbst hervor. Diese Facette des Romans ist faszinierend, weil auf diese Weise die Bedingungen der Möglichkeit der Popularität des Romans anhand der im Roman erzählten Räubergeschichten thematisiert wird. Das Erzählen von Rinaldo Rinaldini kommt einer metanarrativen Beobachtung zweiter Ordnung gleich. Der Roman erzählt davon, wie Räubergeschichten erzählt und rezipiert werden. Durch dieses Prinzip stellt der Text die Bedingungen her, die Fortsetzungen ermöglichenFootnote 50 und letztlich Popularität begründen.

Beim Publikum kam dieses Verfahren vorwiegend gut an.

»Diese serielle Erzählweise […] erschien […] nur einem kleinen Teil der Leserinnen und Leser unzeitgemäß oder geschmacklos. Beim breiten Publikum erwiesen sich gerade das scheinbar veraltete Romanmodell und das damit verbundene Fehlen großer erzählerischer Bögen als Erfolgsrezepte.«Footnote 51

Erika Thomallas Beobachtung stellt Rinaldo Rinaldini als einen der spannungsreichen Konfliktfälle heraus, die viel Beachtung finden, also erfolgreich im Sinne der Popularisierung zweiter Ordnung sind, zugleich aber aus Sicht einiger weniger, elitärer Akteure keine Beachtung finden sollen (Depopularisierung erster Ordnung).

4 Erste Reaktion – Goethe

Am 12.6.1799 teilt Heinrich Gräff, der Verleger des Rinaldini, in der Allgemeinen Literatur-Zeitung mit, dass die ersten beiden Teile des Romans Rinaldo Rinaldini erschienen seien. Kurze Zeit darauf, am 7. August, macht er das Erscheinen des dritten Teils bekannt.Footnote 52 Am gleichen Tag, dem 7. August 1799, schreibt Goethe, Vulpius’ Vorgesetzter und späterer Schwager,Footnote 53 in einem Brief an den Autor:

»Ihren Rinaldini habe ich mit Vergnügen gelesen, sollte sich einmal eine neue Ausgabe nöthig machen, so wäre es wohl der Mühe werth, daß Sie ihn nochmals durcharbeiteten; ich würde dabey gern mit meinen Bemerkungen dienen.«

Die Antwort klingt zunächst wie ein wohlwollendes Kompliment (»mit Vergnügen gelesen«). Goethe erahnt möglicherweise den bevorstehenden Erfolg (»eine neue Ausgabe«). Der zweite Teil des zitierten Schreibens stuft das Lob allerdings herab. Trotz des Lesevergnügens scheint der Text verbesserungswürdig. Es würde sich lohnen, den Text durchzuarbeiten, meint Goethe. Mit Verbesserungsvorschlägen würde er gern »dienen«, vielleicht um an dem potenziellen Erfolg, den Goethe vorauszuahnen scheint, mit seinen »Bemerkungen« zu partizipieren. Lange Zeit hielt sich das dahin gehende Gerücht, Goethe habe Teile zum Roman beigesteuert. Dieses Gerücht hat sich nicht bewahrheitet.Footnote 54 Bewahrheitet hat sich jedoch eine ungeheure, sensationelle Popularisierung (zweiter Ordnung) des Romans. Räubergeschichten waren ohnehin beliebt und erfolgreich,Footnote 55 aber der Rinaldini-Roman schwingt sich zum Maßstab und Prototypen des Genres auf. Insbesondere der »wohlklingende«Footnote 56 Name wird zum Markenzeichen.

5 Popularitätstrittbrettfahrer

Für Die deutschen Kleinstädter in August von Kotzebues gleichnamiger Komödie ist der Rinaldo Rinaldini das Nonplusultra der ›schönen Literatur‹. Olmers, der aus der Residenzstadt hinzukommende »Fremde«, scheint aus Sicht der Kleinstädter in Person von Sperling, eines poetischen Dilettanten, für Belletristik »wenig Sinn zu haben«.Footnote 57 »Er hat ja nicht einmal den Rinaldo Rinaldini gelesen«,Footnote 58 erwidert sein Gesprächspartner, der Herr Vizekirchenvorsteher Staar, Bruder des Bürgermeisters. In der Satire des ebenso kleinstädtischen wie kleingeistigen Krähwinkel gilt der Räuberroman als Inbegriff der populären Literatur im doppelten Sinne. Es ist der Vertreter des modischen Genres des Räuber- und Banditenromans,Footnote 59 der am meisten Beachtung findet (quantitativ) und diese auch verdient (qualitativ). Den Rinaldini zu lesen, ist für die satirisch gezeichneten Kleinstädter Mindestanforderung.

Zwischen der Veröffentlichung des Romans (1799) und dem Erscheinen von Kotzebues Drama im Druck im Jahr 1803Footnote 60 vergehen vier Jahre. In dieser Zeit wird Vulpius’ Roman bereits mehrfach neu aufgelegt.Footnote 61 Außerdem fügt Vulpius der Geschichte Rinaldos mit dem Ferrandino (1800/1801) einen neuen Teil hinzu als »Fortsetzung der Geschichte des Räuber-Hauptmanns Rinaldini von dem Verfasser derselben«. Die Namensänderung ist ein geschickter Kniff, um das Problem zu lösen, dass Rinaldo am Ende des dritten, und zunächst abschließenden Bandes tot ist oder jedenfalls tot zu sein scheint. Erst im Verlauf der Fortsetzung stellt sich heraus, das Ferrandino kein anderer als Rinaldo ist.Footnote 62 »Ferrandino: Ich danke dem Himmel, daß ich nicht mehr Rinaldini bin! / Sanardo: Du hast nur die Namen gewechselt.«Footnote 63

Neben dieser autographen Fortsetzung erscheinen zwischen 1799 und 1803 mindestens sieben weitere Werke, die den Namen (Rinaldo) Rinaldini im Titel – zumeist im Untertitel oder als Teil der Gattungsbezeichnung – tragen. Vulpius’ Titelheld ist der konstante paratextuelle Referenzpunkt solcher allographer Bearbeitungen, die »auf unterschiedlichen Ebenen die unrealisierten Möglichkeiten« des Rinaldini-Romans erkunden.Footnote 64 Bei Johann Jakob Brückner steht Dianora, Gräfin von Martagno im Mittelpunkt, also »Rinaldo Rinaldinis Geliebte«, wie der Titel angibt. Der Text wird als »Anhang zu Rinaldo Rinaldini« bezeichnet.Footnote 65 Ernst Theodor Jünger stellt mit dem Titel Carolo Carolini eine klangliche Äquivalenz zum Namen des Vorbilds her. Sicherheitshalber wird der Roman außerdem als »Gegenstük zu Rinaldo Rinaldini« präsentiert. Dolko, der Bandit von Johann Friedrich Ernst Albrecht ist ein »Zeitgenosse Rinaldo Rinaldini’s«. Heinrich August Kerndörffer legt mit Lorenzo, der kluge Mann im Walde ein »Seitenstück zum Rinaldo Rinaldini« vor. Außerdem erscheinen Das Nordhäusische Wundermärchen mit dem Untertitel »ein weiblicher Rinaldo« von Johann Ernst Daniel Bornschein, sowie Der Sohn des Waldes, oder Bastard und Kronenräuber in einer Person, der Vater des berühmten Rinaldo, erneut von Johann F. E. Albrecht. Die Liste ließe sich fortsetzen.Footnote 66 Worauf es ankommt, ist, dass solche paratextuellen Referenzen – Anhänge, Gegen- oder Seitenstücke – die Popularität des Romans beweisen und sie vergrößern. Es gibt zwar keine Bestsellerlisten, aber die genannten Titel zeugen davon, dass Rinaldo Rinaldini offensichtlich sehr viel Beachtung gefunden hat, so viel, dass es sich lohnt, seinen Titel aufzugreifen oder zu zitieren, um an Rinaldinis Popularität zu partizipieren. Sehr schnell setzt sich Rinaldini als Appellativum für Räuber, Räuberhauptmänner und Räuberromane durch.

Die Nachfolger, die sich Rinaldo Rinaldinis Popularität paratextuell zunutze machen, hoffen auf Partizipationseffekte bei der Popularisierung zweiter Ordnung. Rinaldini, der Roman und die Figur, finden sehr viel Beachtung und soll auch ihnen Beachtung bescheren. Sie werden jedoch von Seiten der Literaturkritik harsch angegangen, sehen sich also einer Depopularisierung erster Ordnung ausgesetzt.

Über Albrecht und Dolko, der Bandit heißt es, er sei mit seinen vorausgegangenen Werken mittlerweile »schon so tief gesunken, dass er nun selbst als ein Nachahmer des Rinaldo Rinaldini auftritt; und – o Schande! – sogar hinter diesem Urbilde noch zurückbleibt«.Footnote 67 Diese literaturkritischen Verurteilungen, die Vulpius und Albrechts Werke gleichermaßen diskreditieren, konnten der beachtlichen Reichweite von Rinaldinis Popularität nichts anhaben. Er bleibt der Maßstab aller Räuberromane.

Ein Beitrag »Über den alten Räuberroman Rinaldo Rinaldini«, der am 27. April 1856 im Weimarer Sonntagsblatt erscheint, schaut zurück auf die Erfolgsgeschichte des Romans. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gehöre der Roman »zu denjenigen Büchern, deren Titel jedem bekannt ist […], wie wohl die Wenigsten sich mit dem Inhalt derselben bekannt gemacht haben«.Footnote 68 Der Titel sei zwar bekannt, also populär, wecke aber die Vorstellung von »etwas Abschreckendem, Verwerflichem, Lächerlichem, wohl auch, in besserem Sinne, von etwas besonders Charakteristischem«.Footnote 69 Otto Roquette, selbst ein populärer Schriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, differenziert die Popularität des Romans nach soziokulturellen Kriterien. Bei Gebildeten würde die Frage, ob sie den Roman gelesen haben, »ein ablehnendes Lächeln hervorrufen«.Footnote 70 Unter »den niedern Ständen« aber hat »dieser Roman sein großes Publicum« und »stets erneute Auflagen zeigen seine Verbreitung. In den Leihbibliotheken kleiner Städte ist er noch heut eins der gelesensten Bücher.«Footnote 71 Roquette blickt von zwei Seiten auf die Popularität des Romans: Einerseits handele es sich um tatsächlich gelesene Literatur unter den »niedern Ständen«, andererseits werde der Roman von den »Gebildeteten« abgewertet, ohne ihn zu lesen. Die Trennung von oben und unten, high und low ist Mitte des 19. Jahrhunderts fest etabliert.

Bemerkenswert daran ist, dass Roquette hervorhebt, dass der Name und der Ruf des Romans wichtiger seien als sein Inhalt, und dass er diese Beobachtung in Beziehung zur Romanfigur des Räuberhauptmanns Rinaldini setzt, »dessen Ruf bedeutender erscheint, als seine Fähigkeit«.Footnote 72 Einerseits sei der Roman immer noch beliebter Lesestoff, andererseits verselbstständige sich der ›berüchtigte‹ Name mehr und mehr. Er zieht – wie sich zeigen wird – sehr weite, sogar transatlantische Kreise.

6 Terrible Prestige. Auf See und im Wald

Im Wikipedia-Eintrag zu Rinaldo Rinaldini findet sich der nicht näher konkretisierte Hinweis darauf, dass Rinaldini in Herman Melvilles Roman Moby-Dick (1851) genannt wird. Ein Blick in den Roman zeigt, dass es auch bei Melville lediglich um die Reputation des Räuberhauptmanns geht, nicht um einen Rückgriff auf die Details des Romans. In Kapitel 45 »The Affidavit« geht es darum, wie ein Pottwal, der an verschiedenen, möglicherweise weit voneinander entfernten Orten gesichtet wird, als derselbe wiedererkannt werden kann. Es liege nicht zuerst an körperlichen Merkmalen.

»No: the reason was this: that from the fatal experiences of the fishery there hung a terrible prestige of perilousness about such a whale as there did about Rinaldo Rinaldini, insomuch that most fishermen were content to recognize him by merely touching their tarpaulins when he would be discovered lounging by them on the sea, without seeking to cultivate a more intimate acquaintance.«Footnote 73

Damit erntet Vulpius’ Räuberhauptmann weltliterarischen Ruhm. Unter dem Gesichtspunkt seines »terrible prestige« ist es allerdings ernüchternd und vielleicht ein erster Wink der Depopularisierung, wie der Kommentar der englischsprachigen Ausgabe diese Referenz einordnet. In der erläuternden Fußnote heißt es: »Knight in Italian Renaissance epics Orlando Furioso (1532) by Ludovico Ariosto (1474–1535) and Rinaldo (1562) by Torquato Tasso (1544–1595).«Footnote 74 Der Kommentar schickt die Leser:innen auf einen Irrweg. Tatsächlich kommen zwar in beiden Epen Figuren mit dem Namen »Rinaldo« vor (bei Ariost ist Rinaldo ein Cousin des »Rasenden Roland«, bei Tasso ist er ein Kreuzritter, bekannt durch die Beziehung zwischen Rinaldo und Armida), der Name Rinaldo Rinaldini allerdings stammt von Vulpius. In Wirklichkeit spielt Melville hier also nicht auf Ariosts oder Tassos Werk an, sondern auf Vulpius’ Räuberroman. Der Kommentar der deutschen Ausgabe bekräftigt den Irrtum, ergänzt jedoch die Bemerkung »in Deutschland populär geworden durch den Räuberroman von Goethes Schwager Christian August Vulpius (1799)«.Footnote 75

Mit den Helden der italienischen Ritterepen allerdings teilt Rinaldini lediglich den Vornamen.Footnote 76 Man kann auch nicht behaupten, dass sie durch den Roman populär würden. Allein Rinaldini wird immer populärer. Diese Popularität reicht offenbar bis zu Melville, der den fürchterlichen Ruf eines berüchtigten Pottwals mit dem eines Rinaldo Rinaldini vergleicht. Rinaldo Rinaldini verfestigt sich zum Appellativum des Räubers.

In Wilhelms Raabes Erzählung »Horacker« (1876) sind es lediglich die Gerüchte, die die eigentlich harmlose und bedauernswerte Hauptfigur Cord Horacker zu einem Räuber machen. Ganz ähnlich wie in der Vorrede des Rinaldini-Romans heißt es bei Raabe: »Dorf und Stadt, Berg und Tal hallten […] wider von dem kuriosen Wort und Namen: ›Horacker! Horacker! Cord Horacker!‹«Footnote 77 Der Name Horacker ist zwar weder so wohlklingend noch ist die Figur dieses Namens ähnlich umtriebig wie Rinaldini und seine Bande,

»aber Fama verfügt, wie wir auch aus der Mythologie wissen, über viele tausend Zungen; und von Tag zu Tage nahmen die Horackerhistorien kühnere und grellere Formen und Farben an. Horackers Taten bildeten das Gespräch in der Schenke wie im Klub der Honoratioren, Horacker wurde in der Küche und in der Putzstube verhandelt, von Horacker unterhielt die Gattin den Gatten, das Kind die Eltern, die Großmutter die Enkel und die Enkel den Großvater.«Footnote 78

Wie Rinaldini sorgt auch Horacker überall für Gesprächsstoff, allerdings nicht landesweit (»[g]anz Italien«), sondern in einem begrenzten Raum von ein paar Dörfern und der Kreisstadt. Der Unterschied zu Vulpius’ Vorrede besteht darin, dass Raabes Erzähler den Fokus auf die verfremdende und fabulierende Zuspitzung der Geschichten über die »mannigfaltigen Schandtaten Horackers«Footnote 79 legt, die sich, wie sich herausstellt, allesamt als unhaltbare Gerüchte erweisen. Der wirkliche Horacker tritt nicht als schreckliche, respekt- oder furchteinflößende Gestalt in Erscheinung, sondern »zitternd, abgezehrt, zerfetzt«.Footnote 80 Dennoch haben die ausufernden Räubergerüchte dazu geführt, dass einem der beiden Lehrer, die Horacker im Wald begegnen, zunächst eine im 19. Jahrhundert berühmte Volkslied-»Romanze« in den Sinn kommt, die aus dem Rinaldo Rinaldini stammt. Eckerbusch, der »Konrektor«, ›stammelt‹ die erste Strophe: »In des Waldes tiefsten Klüften und in Höhlen tief versteckt, Ruht der allerkühnste Räuber, bis ihn seine Rosa weckt!«Footnote 81 Um der Erscheinung des vermeintlichen Räubers zu begegnen, wird auf das Archiv der Populärkultur zurückgegriffen. Das Lied »erfreute sich einer ausgesprochenen Beliebtheit im 19. Jahrhundert«, wird von Bänkelsängern vorgetragen und bis heute tradiert.Footnote 82 Mit der Rinaldini-Referenz baut Raabe eine humoristische Fallhöhe zwischen den Gerüchten rund um Horacker, dem »malerischen deutschen Rinaldini«,Footnote 83 und seiner tatsächlichen Erscheinung auf. Auch hier erweist sich Rinaldini als Umschreibung der Gesamtheit der Räuberhauptmänner.

7 Moderner Zauberklang

Ähnlich wird Rinaldini Mitte der 1920er Jahre in Robert Walsers Roman Der Räuber funktionalisiert. Auch hier dient der berühmte Räuber der Markierung einer Differenz zwischen Vorbild und Figur:

»Welch ein Unterschied besteht zwischen unserem Bürschchen und einem Rinaldini, der ja doch wohl seinerzeit Hunderten von guten Staatsbürgern den Kopf gespaltet hat, der Reichen den Reichtum abzapfte und solchen der Armut zugut kommen ließ. Muß das ein Idealist gewesen sein. Der hiesige und unserige tötete bloß etwa im Wiener Café bei den Klängen einer ungarischen Kapelle die Seelenruhe eines schönen Mädchens am Fenster mit dem hineinstechenden Strahl seiner Unschuldsaugen und mit hinstrebenden Gedankenübertragungen.«Footnote 84

Von Rinaldinis Geschichte bleiben nur ein paar räuberische Gemeinplätze, keine Details, sondern Vermutungen (»ja doch wohl«). Der Räuber bei Walser ist auch kein idealistischer Robin Hood, sondern eine (vermeintliche) Künstlerfigur, die sich an »literarischen Ausführungen«Footnote 85 versucht und in ihrer »Genügsamkeit«Footnote 86 ihre »Pflicht als Mitglied der Gesellschaft«Footnote 87 nicht erfüllt. Der Räuber hat in der Moderne einen schweren Stand.

Walter Benjamin schließlich fasst zusammen, was in den mittlerweile 130 Jahren seit dem Erscheinen des Rinaldini in der klassischen Moderne aus dem Namen des Helden geworden ist: ein »onomatopoetischer Ausdruck«. Benjamin verwendet diese Formulierung in der Rezension einer 1929 erschienenen und immer noch zitierten Studie von Curt Elwenspoek, in der dieser die historischen Quellen und Vorbilder des Rinaldini untersucht. Einleitend beschreibt Benjamin, was an Rinaldo Rinaldini fasziniert:

»Rinaldo Rinaldini – es gab keinen, der so hieß. Der Name ist eine Erfindung von Vulpius. Aber offenbar war er mehr als eine gelungene modische Prägung der empfindsamen Zeit. Offenbar ist er ein onomatopoetischer Ausdruck – nicht zwar des Räuberlebens, aber der ewigen Sehnsucht nach ihm. In diesem Namen wohnt das Waldesecho des vieux souvenir, von welchem Baudelaire gedichtet hat, es dringe ›wie Hornruf‹ zu uns. Die Leitmotive ›Einsamkeit‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Freiheit‹ sind in diesem Zauberklange verschmolzen.«Footnote 88

Die Kraft des Namens liegt in seinem Klang. Benjamin skizziert, wie der Klang des Namens sich verselbstständigt. In ihm steckt der Mythos von der Sehnsucht nach dem Räuberleben. Die Popularität des Rinaldini lebt vom ›Zauberklange‹ nicht nur seines Namens, sondern auch von dem des Liedes »In des Waldes finstern Gründen«, auf das Benjamin ebenfalls zu sprechen kommt. In dem rezensierten Buch sei »das berühmte Räuberlied« mit abgedruckt, das Benjamin als »wundervollen Singsang […] beschreibt, mit welchem das Banditenleben aus dem Schlaflied aufsteigt, um in großem, romantischem Bogen in das Eiapopeia der Liebe zurückzusinken«.Footnote 89 Der Klang und der Gesang sind der Ausgangspunkt und das Medium dieses populären Mythos. Damit führt Benjamin die Popularität des Räubernamens auf die Merkmale populärer Literatur zurück, die Vulpius bereits in der Vorrede des Rinaldini postuliert hatte.

Das Nachleben Rinaldinis in der Moderne beschränkt sich aber nicht auf den Klang des Namens, auch die Lektüre bleibt offenbar von Bedeutung. Zwei Jahre vor Benjamins Rezension war Rinaldo Rinaldini. Der größte Räuberhauptmann der Abruzzen als Heftroman im Neuen Volksroman-Verlag Leipzig erschienen. Diese 100 Hefte mit insgesamt 2400 Seiten zeugen von Rinaldinis anhaltender Popularität. Auf der Rückseite der ersten 99 Hefte heißt es ganz im Benjamin’schen Sinne: »Rinaldo Rinaldini! Schon dieser Name allein genügt, um die Herzen höher schlagen zu lassen. […] Noch heute nach 100 Jahren ist Rinaldo Rinaldini unvergessen.«Footnote 90

Der Paratext jeder einzelnen Ausgabe (abgesehen von der letzten) erinnert daran, dass zwischen dem Ursprungstext und der Adaption in Form des Heftromans eine historische Distanz von 100 oder fast 130 Jahren liegt. Allerdings bedeutet das »Noch heute […] unvergessen« eine andere, nämlich historische und erinnernde Position dem Helden gegenüber als bei Vulpius, der mit seinem »Ganz Italien spricht von ihm« von der Präsenz des Räuberhauptmanns ausgehen konnte. In der Moderne wird die Popularität des Helden trotz oder gerade wegen mehrerer tausend Seiten Heftroman zunehmend prekär. Sein Name klingt noch nach, jetzt aber nicht mehr in den mündlich tradierten Romanzen und Canzonetten, die Rinaldo vergegenwärtigen, sondern als ursprungsloses ›Waldesecho‹ (Benjamin) aus der Vergangenheit, das seine Geschichte dem Vergessen anheim gibt.

8 Am Ende von Rinaldinis Popularität

In den 1960er bis 1980er Jahren gibt es mehrere Versuche, die Erinnerung an Rinaldini auf unterschiedlichen medialen Kanälen lebendig zu erhalten beziehungsweise seine Geschichte zu repopularisieren. 1964 erscheint eine Taschenbuchausgabe bei List,Footnote 91 die auf eine bereits 1959 erschienene »Geschenkausgabe« im Karl Rauch Verlag zurückgeht. Das Nachwort bringt eine Mischung aus krasser Abwertung und zugleich geheimer Bewunderung, die als »Belustigtheit« getarnt wird,Footnote 92 zum Ausdruck. Die Ausgabe wird in diesem Nachwort ausführlich gerechtfertigt. Zum wird die Publikation des einstmals populären Räuberromans damit legitimiert, dass Rinaldo »ein klassisches Paradigma« aller Räuber und Räuberliteratur sei. Zum anderen ermögliche der historische Abstand eine Art Camp-Haltung zum Roman: »Was am Schund und Kitsch der eigenen Zeit notwendigerweise verdrießt, läßt sich, den gehörigen Abstand vorausgesetzt, in eine Quelle komplexen Genusses verwandeln. Das Verlogene und Falsche daran denunziert sich selber im nachhinein so augenfällig, daß die Lektüre gewissermaßen dauernd in der zweiten Potenz erfolgt.«Footnote 93 Anders, mit Susan Sontag formuliert: It’s good because it’s awful. Das Nachwort zeugt mithin davon, wie nachhaltig die Depopularisierung erster Ordnung wirkt, also das Urteil der ausgewiesenen und institutionell gestärkten Akteur:innen, dass dieser Roman keine Beachtung finden soll.

Der Räuberhauptmann fasziniert jedoch noch immer. Zwischen dem 9. November 1968 und dem 1. Februar 1969 wird Rinaldo Rinaldini. Der Räuberhauptmann als »Farbfilmserie« ausgestrahlt. Es handelt sich um eine deutsch-jugoslawische Produktion, die laut Vorspann »frei nach dem Roman von Chr. A. Vulpius« gestaltet ist. Die drei Autoren der einzelnen Folgen haben den Roman kaum beachtet.Footnote 94 Das führt zu einigen Veränderungen gegenüber der Romanvorlage.Footnote 95 Anders als im Roman hat Rinaldini in der Serie einen bzw. zwei Gegenspieler; sein Handeln wird durch eine Vorgeschichte plausibilisiert; und es gibt eine letztlich zur Festnahme Rinaldinis führende Eifersuchtsintrige. Zudem wird Rinaldinis Popularität – anders als bei Vulpius – von Beginn an als Problem markiert. »Dieser Rinaldini ist ja ungeheuer populär«, entfährt es dem Geheimsekretär Serpentino bereits zu Beginn der ersten Folge.Footnote 96

Aus Sicht seiner Gegenspieler ist Rinaldinis Popularität bedrohlich und unerwünscht. Der Serie gelingt es nicht, dieser bedrohlichen Popularität eine positive entgegenzustellen und auf diese Weise die immanente Popularitätsemphase des Romans aufzugreifen. Weder vom terrible prestige noch vom Zauberklange hallt hier etwas nach. Stattdessen wird die Geschichte in recht konventioneller Mantel-und-Degen-Kostümfilm-Gestaltung abgedreht. Rückblickend ist hier allenfalls eine Rezeption als Camp angebracht, wie es das Nachwort der Rinaldini-Neuausgabe vorschlägt. Hinzu kommt, dass die Konstellation von Held und Antagonist der Geschichte in der Vorabendserie durch die strikte Opposition die narrative Offenheit verstellt, die im Roman eine potenziell unendliche, populäre Serialität strukturell ermöglicht. Der Roman, so wurde in Kapitel 3 gezeigt, verhält sich transzendental zur eigenen Popularität. Im Roman wird das Wissen um Formen und Funktionen des Populären zum Gegenstand des Erzählens. Die Nachfolger:innen scheitern auch deshalb, weil sie diese Facette des Romans, das Serialität ermöglichende Strukturprinzip und die immanente Poetologie vernachlässigen.

1970 folgt eine Hörspiel-Bearbeitung für Europa, die auch heute noch über Streaming-Plattformen abrufbar ist. 1972 singt Renate Kern den eingangs erwähnten Schlager, den man auf YouTube nachhören kann. 1974 ediert Hans-Friedrich Foltin eine Faksimile-Ausgabe der Erstausgaben in drei Bänden. 1980 bringt Karl Riha eine Taschenbuch-Ausgabe im Insel Verlag heraus, die der letzten von Vulpius bearbeiteten Fassung entspricht. Diese nur noch antiquarisch zu erwerbende Ausgabe kann als Abschluss der Bemühungen um Rinaldo Rinaldinis Popularität gewertet werden.

Keinem dieser medialen Formate gelingt es, Vulpius’ Erfolge auf dem Feld der Popularisierung zweiter Ordnung fortzuschreiben oder an sie anzuschließen, aber auch keinem gelingt es, die festgefahrenen Pfade der Depopularisierung erster Ordnung zu verlassen. Sowohl Foltins Vorwort als auch Rihas Nachwort aktualisieren die althergebrachte Bewertung des Romans als trivial, einfach, kommerziell.Footnote 97 Ihr Verdienst besteht darin, die Geschichte weiter verfügbar zu halten. Sie verfehlen jedoch den zweifachen Reiz des Romans, der sich erschließt, wenn man zwischen De/Popularisierung erster und zweiter Ordnung unterscheidet.

Dieser Reiz besteht zum einen darin, von den Erscheinungsweisen und Ermöglichungsbedingungen des Populären zu erzählen und diese zu reflektieren. Er ergibt sich zum anderen aus der offenen Erzählstruktur und narrativen Kontingenz, die es ermöglichen, alternative Handlungsverläufe, Fortsetzungen, Fanfiction anzuschließen. Rinaldo Rinaldini dient als Medium für immer neue Formen seiner Geschichte. Diese Anschlussfähigkeit besitzen die Serie und das Hörspiel nicht.

Die nachgezeichnete Rezeptionsgeschichte des Mythos Rinaldini zeugt schließlich von einer doppelten Depopularisierung. Die Depopularisierung erster Ordnung setzt unmittelbar ein, kann die außergewöhnliche Popularisierung zweiter Ordnung jedoch nicht aufhalten. Alle sprechen von Rinaldini, der zum Prototyp und Appellativum des Räuberhauptmanns avanciert. Der Zauberklang des Namens Rinaldini entfaltet eine frappierende transatlantische Ausstrahlungskraft. Der schleichend langsame Sog der Depopularisierung zweiter Ordnung schließlich, der bedeutet, dass der Roman und sein Held immer weniger und heute einfach keine Beachtung mehr finden, scheint dennoch unaufhaltsam. Er reißt die Bemühungen der gut gemeinten Repopularisierung – die Fernsehserie, das Hörspiel – ebenso wie die Versuche der nachträglichen Kanonisierung – mit den an ein wissenschaftliches (Foltin) beziehungsweise an ein breiteres Publikum (Riha) adressierten Editionen – mit sich in den Abgrund der Nicht-Beachtung.