1 Einleitung

König Hübich, eine Sagenfigur aus dem Harz, die in verschiedenen Sammlungen als Zwerg, Wichtel, Gnom, Kobold oder Waldschrat bezeichnet wird, ist nicht mehr populär. Knapp 2700 Google-Treffer, von denen die meisten auf einen nach ihm benannten Wanderweg in der Harzer Bergstadt Bad Grund verweisen oder auf den ebenfalls dort liegenden Campingplatz Hübich-Alm. In Bad Grund zumindest ist Hübich noch äußerst präsent. Einige wenige Treffer der Suche beziehen sich auf die Sagensammlungen von Hermann Harrys (1840), Heinrich Pröhle (1854a ff.), Johanna Siedler (1870), Marie und Theodor Kutschmann (1890) und anderen, in denen der Sagenkreis um Hübich primär überliefert ist. Der jüngste Fund ist ein achtzeiliger Fotobeitrag zur Corona-Pandemie aus dem Seesener Beobachter vom Juli 2020 (Rotte 2020). Wenig deutet darauf hin, dass es jemals anders gewesen ist. Zu den vielen Hübich-Dichtungen von Hermann Kiehne (1886), Clara Förstner (1889), Adolf Ey (1900) oder Adolf Klages (1900 ff.) gibt die Suche zunächst nichts aus; dass ihre Bücher zum Teil über Jahrzehnte mehrere Auflagen erfahren haben, scheint schwer vorstellbar, handelt es sich doch um allesamt vergessene Autor:innen des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. Hübich ist, anders als Frau Holle und Rübezahl, dem kollektiven Gedächtnis entglitten, denn kein heute noch prominenter Text hat seine Bekanntheit sichern können.

Dies ist insofern erstaunlich, als dass am Anfang der Schriftzeugnisse über Hübich Jacob Grimm steht: In der Deutschen Mythologie (1835), einem Aufsatz über den »Gibichenstein« (1841) und einigen weiteren Veröffentlichungen hat er Hübich wiederholt thematisiert. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch lässt sich nachvollziehen, wie von Grimms Schriften ausgehend die Popularität Hübichs auf- und ausgebaut wurde. Die altertumskundliche Forschung und die zahlreichen, zum Teil häufig aufgelegten Sagensammlungen haben dort ihren Ausgangspunkt. Auch die Verfasser:innen von explizit um Popularisierung bemühten Publikationen, ein breites Spektrum von Einführungsbänden in Mythologie und Religionsgeschichte, Anthologien und Lesebücher zu ähnlichen Themenkomplexen bis hin zu Regionalgeschichten und Reiseführern, haben sich auf Jacob Grimm bezogen. Auch in den billigen, massenhaft verbreiteten (Margarine‑)Heftchen, die Hübich ab der Jahrhundertwende in die Kinderzimmer gebracht haben, ist der Grimm’sche Ursprung noch zu erkennen. Für einen Zeitraum von 1840 bis in die 1920er Jahre lässt sich zeigen, wie Hübich zunächst innerhalb einer aufstrebenden wissenschaftlichen Disziplin – der »germanischen Altertumskunde« – Beachtung erfährt, die in den zahlreichen Sagensammlung bestätigt und ausgebaut wird, um schließlich zum Protagonisten monografischer Schriften wie auch zur Postkartenfigur zu werden. Im Hintergrund läuft dabei eine Diskussion um die Herkunft und damit das Wesen Hübichs – ist er ein naher Verwandter des Gottes Wotan bzw. Odin oder sogar dieser (in veränderter Gestalt) höchstselbst, den die Sage im Harz verortet? Nachdem diese Frage abschlägig entschieden ist, wandert Hübich zum Ende des 19. Jahrhunderts als ›niedlicher‹ Zwerge in die Postkarte und die Kinder- und Jugendliteratur ein. Von der früheren, potenziell höchsten (nationalen) Geltung ist in diesen Inszenierungen Hübichs nichts mehr zu erkennen. Die letzten Publikationen, mit denen Hübich noch einmal einem großen Publikum vermittelt wird, stammen aus den zwanziger Jahren, danach ist er zu einer lediglich noch lokal bedeutsamen Figur herabgesunken, die im nationalen Gedächtnis keine Rolle mehr spielt. So lokal sogar, dass hier wirklich nur der Ort Bad Grund gemeint ist. Ich habe im Zuge meiner Recherchen zu Hübich und weiteren Harzer Sagenstoffen einige Tage im Historischen Gebäude der Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen verbracht. Im »Lesesaal Alte Drucke« bekam ich die bestellten Bände aus dem 18. und 19. Jahrhundert ausgehändigt. Bei einem dieser Besuche trat ein Mitarbeiter zu mir an den Tisch und bemerkte interessiert, dass ich ja einige Bände zum Harz bestellt hätte, worüber er sich sehr freue – er käme aus Bad Lauterberg. Einer Kleinstadt an den Südausläufern des Oberharzes, die ebenfalls zum Landkreis Göttingen gehört, rund 34 Kilometer von Bad Grund entfernt. Ich erzählte bereitwillig von meinen aktuellen Interessen und Vorhaben, vor allem von König Hübich. Auf die Frage, was er von Hübich wisse und ob er mir nicht vielleicht noch weitere Hinweise geben könne, musste er passen – nein, leider könne er dies nicht, denn von Hübich oder Gibich, wie er mitunter auch genannt wird, habe er noch nie gehört. Dass Hübich, der immerhin das touristische Hauptaushängeschild Bad Grunds ist, in einer mehr oder weniger benachbarten, ebenfalls touristisch geprägten Stadt einem akademisch gebildeten Einheimischen überhaupt nichts sagt – dieser Befund war der Ausgangspunkt für die folgende Rekonstruktion der nur vorübergehend erfolgreichen Popularisierung Hübichs und seiner rapiden Depopularisierung. Gewiss gibt es zahlreiche Figuren aus Sagen und Märchen, die zu irgendeinem historischen Zeitpunkt eine gewisse Popularität erlangt hatten und Jahre bis Jahrzehnte später bereits kaum jemanden auch in der näheren Umgebung ihres vermeintlichen Entstehungs- oder Aktionsgebiets mehr geläufig sind. Hübich aber hatte einige gewichtige Argumente auf seiner Seite, die eine langfristige Archivierung, wenn nicht sogar Kanonisierung wahrscheinlicher gemacht hätten, als sein nahezu vollständiges Vergessen.

2 Wirkende Autorität. Jacob Grimm, seine Schüler und der altgermanistische Diskurs

Jacob Grimm hat Hübich zunächst nur beiläufig behandelt. Jacob und Wilhelm Grimm haben allerdings eminente Versuche unternommen, die deutsche Gegenwart an die ›germanische‹, pagane Vorzeit anzuschließen. Etymologie, Sprichwörter, Sagen und Märchen sind einige der Hauptwerkzeuge gewesen, um die spärliche Überlieferung vorchristlicher Kultur im deutschsprachigen Raum zu erschließen und zu interpretieren. Hübich ist eine Figur, die wie vielleicht nur wenige andere diesen Konnex zwischen paganer Vergangenheit und biedermeierlicher Gelehrsamkeit vor der Jahrhundertmitte hergestellt haben, denn mit ihm wurden sowohl der Burgundenkönig Gibich bzw. Gíuki der Völsungasaga assoziiert (dem Vater von Gunther, Giselher, Gernot und Kriemhild bzw. ihren altisländischen Pendants) als auch, und dies ist ungleich bedeutender, Wotan bzw. Odin, der Hauptgott des ›germanischen‹ bzw. nordischen Pantheons. Die Grimms haben Hübich dadurch in einen fachlichen Diskurs eingeführt, in dem er bis ins frühe 20. Jahrhundert immer wieder diskutiert worden ist. Thematisiert wurde er im Anschluss an diese Positionen vor allem in Handbüchern, Einführungen und Überblicksdarstellungen nordischer, germanischer, oder wie es auch oft hieß, ›deutscher‹ Mythologie – also vor allem in Publikationsformen, die ihrerseits um Popularisierung bemüht waren.

Ob Wotan oder Gartenzwerg, Hübich ist ohne Zweifel eine Figur, wahrscheinlich sogar eine Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts. Zwar gibt es einen Ort, dem er eng verbunden ist, den Hübichenstein bei Bad Grund, doch dieser ist über mehrere Jahrhunderte literarisch ›nackt‹ geblieben; die bildlichen wie textlichen Darstellungen sind ausschließlich geologisch und mineralogisch interessiert: In Matthäus Merians Topographia (1654) gibt es eine Karte von Grund (Merian 1654, S. 106–107), ebenso in Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebras Erfahrungen vom Inneren der Gebirge (1785) wie auch Johann Wolfgang von Goethes Interesse bei seinem Besuch im Zuge der dritten Harzreise im August 1784 nur dem Fels galt. Goethe schreibt in der Abhandlung über die Gestaltung großer anorganischer Massen: »Der Hübichenstein, Kalkfelsen am Iberg in der Nähe der Bergstadt Grund, eigentlich ein Korallenfels, an welchem die tellurischen Trennungen, obgleich unregelmäßig, zu bemerken sind.« (Goethe 1892/1970, S. 238) Ob unter dem Stein bereits ein sagenhaftes Zwergenkönigreich vermutet wird, bleibt dabei offen. Auch Georg Melchior Kraus (1737–1806), der Maler, der Goethe und Carl August auf ihrer Reise durch den Harz begleitete, macht in seiner Zeichnung des Hübichensteins keinerlei Andeutung in diese Richtung (vgl. Beutler et al. 1932, S. 95). Das Geheimnis der Kalkfelsen liegt zu dieser Zeit noch allein in den Fossilien der Meerestiere und Korallen sowie in den Tropfsteinhöhlen des dahinterliegenden Ibergs, die ein naturkundliches, aber kein folkloristisches Interesse wecken. Dass der Hübichenstein und mehrere ähnlich heißende Berge zur Zeit von Goethes Harzreisen weithin bekannt waren, davon zeugt der Eintrag in Johann Heinrich Zedlers Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Kuenste (64 Bde., 1731–1750), der 1735 zum Giebichenstein eine Liste von Namensvarianten nennt. Dieser kommt auf insgesamt 16 Schreibweisen und zeigt somit an, dass nicht nur der Grundner Stein, sondern gleich mehrere Steine bekannt und hinreichend relevant gewesen sein müssen, um einen solchen Eintrag zu rechtfertigen.Footnote 1 Realhistorisch verweist der Zedler-Artikel auf »ein altes Berg-Schloß bey Halle«, gibt aber trotz der vielen Benennungen keinen Hinweis auf einen möglichen Namenspatron. Die Hübichen- bzw. Gibichensteine sind im 18. Jh. demnach Steine ohne Namensgeber. An diesem Mangel setzt die altertumskundliche Forschung mit Jacob Grimm an – wenn es gleich mehrere Giebichen- und Hübichensteine gibt, müsse es auch jemanden, einen genius loci, geben, auf den dieser Name mit all seinen Abweichungen verweist.

Es handelt sich somit um eine historische Rekonstruktionsarbeit, die von der Zeitschrift Altdeutsche Wälder (1815) über die Deutsche Mythologie (1835) bis zum Aufsatz über den »Gibichenstein« in der ersten Ausgabe von Moritz Haupts Zeitschrift für deutsches Alterthum (1841) vollzogen wird. Jacob Grimm beginnt mit der Gleichsetzung von Gibich mit Giuki, Gibika und Kipicho. Bei ihm heißt es, »wo nicht gott selbst, ist er göttlicher, nahe auf Wuotan zurückführender held, noch die Gibichensteine bezeugen ihn« (Grimm 1992 I, S. 307). Der Stein ist Indiz, dass es sich um eine übermenschliche, entweder »heldische« oder göttliche Figur handeln müsse: »Auch darin ist das verhältnis der helden dem der götter sehr ähnlich, daß ihnen wie diesen bestimmte örtliche sitze und wohnungen angewiesen werden. gern aber scheinen solche den namen stein zu führen: Gibichenstein.« (Grimm 1992 I, S. 307) Die Verehrung weise allerdings eher auf eine Gottheit hin, denn es sei »noch zu bemerken, daß auf beinahe allen deutschen bergen spuren der götter und helden gefunden werden, die auf alte verehrungsstätten zurückweisen, z. b. auf dem Taunus von Brunhild, dem Harz von Gibich ...« (Grimm 1992 III, S. 37). Ohne dass es zu diesem Zeitpunkt bereits publizierte Sagensammlungen gibt, in denen Hübich vertreten wäre, weiß Jacob Grimm, dass »Gübich [] in den Harzsagen ein zwergkönig [ist]« und gliedert ihn in eine Reihe ähnlicher Wesen »voll zwergischer und koboldischer laune« ein, denn er sei dem Waldgeist Katzenveit auf dem Fichtelberg und Rübezahl im Riesengebirge (Grimm 1992 I, S. 397) verwandt. Aber auch, und hier wird die Bastelei erkennbar, die aus der mittelalterlichen Literatur bekannten Könige Oberon, Alberich, Goldemar, Laurin, Sinnels, Bîleî und Heiling seien ihm allesamt ähnlich. Die Erklärung für dieses Durcheinander gibt Jacob Grimm in seinem »Gibichenstein«-Aufsatz, der 1841 in der ersten Ausgabe von Moritz Haupts Zeitschrift für deutsches Alterthum erscheint, dass nämlich das Volk »Gibicho wie Sigfrid […] nicht mehr vollständig fasste« (Grimm 1841, S. 572). Gibich/Hübich wird damit zum Produkt einer ›Spätzeit‹, die ihre eigene Überlieferung nicht mehr begreift. So sei es leicht, »von dem ahnherrn eines selbst schon mythischen heldenstamms […] zu einem höheren wesen, ja zu dem höchsten geber aller güter, dotor eaon (Hermes) aufzusteigen«, während die »die hinzugefügte diminutivendung allem anschein nach den begriff des lieben, gütigen gebers hervorheben« (Grimm 1841, S. 573) soll. Das Höchste und das Verkleinerte sind in dieser Interpretation Hübichs nominell enthalten.

Bei Jacob Grimm werden in Bezug auf Gibich/Hübich drei Interpretationsansätze miteinander verschränkt: historisch verweist er auf Gibika, den Burgenden- bzw. Frankenkönig, in der Verschränkung von historischer und mythologischer Interpretation auf die Nibelungensage bzw. die altisländische Völsungasaga, die allein mythologische schließlich auf Wotan und andere Sagenfiguren, die ebenfalls als Wiedergänger Wotans gedeutet werden, z. B. Rübezahl (vgl. Kutzner 1880, S. I–VII). Ihre Materialbasis sind Personennamen (Etymologie), die verschiedenen Hübichen- und Gibichensteine als materielle Fakta und ihre Namen, dann Zwergsagen im Allgemeinen und schließlich die Bezüge auf prominente Zwergenfiguren wie Laurin oder Goldemar (die interessanterweise weit stärkere Bindungen an die mittelhochdeutsche Epik als zur eddischen Dichtung oder den isländischen Sagas herstellen).

Durch diese vielen Deutungsmöglichkeiten haben Jacob Grimms Schriften die Streuung der Hübich-Interpretationen und -darstellungen eröffnet und den sukzessiven Aufbau der Popularität durch zahlreiche offene Forschungsfragen ermöglicht, an denen sich im Ausgang von den Grimm’schen Thesen eine Reihe teils namhafter Gelehrter abgearbeitet hat.

Als entscheidende Grundlage rücken zunächst aber die Sagensammlungen in den Fokus, die für fast alle weiteren Beschäftigungen mit Hübich die Materialbasis darstellen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinen Harz-Sagen in mehreren Sammlungen und zahlreichen Auflagen. Erst darin wird Hübich konkret als Figur fassbar. Die beiden am stärksten rezipierten Sammlungen sind reich an Hübich-Material: Hermann Harrys (1811–1891), eigentlich Journalist, bezieht aus den Gesprächen mit Georg Schulze, Pfarrer in Altenau, das in der Nachfolge kanonische Wissen über Hübich. Die erste Ausgabe seiner Sammlung (Harrys 1840) umfasst insgesamt 37 Sagen auf 88 Seiten – davon entfallen drei Sagen und 16 Seiten auf Hübich, also rund ein Fünftel des Umfangs der Sammlung, die zudem mit der (Hübich‑)Sage Der Zwergkönig eröffnet wird. Darin heißt: »vor alten Zeiten hat sich in der Gegend um den Hübichenstein bei Grund der Gübich sehen lassen«, er sei »rauh von Haar wie ein Bär« und habe ein »sehr altes gesicht« besessen, »wem er gut gewesen ist, dem hat er vielen Reichthum beschert; aber wer ihn beleidigt oder sonst seinen Zorn erregt hat, dem hat er manches Ungemach zugefügt. […] Der Gübich ist eigentlich von kleiner Statur, kann sich aber auch sehr ausrecken. Früher hat er alle hundert Jahre einmal auf die Oberwelt kommen dürfen; jetzt darf er nicht mehr.« (Harrys 1840, S. 1) Auch Heinrich Pröhle (1822–1895), der in Berlin studiert und von Jacob Grimm mit der Sammlung von Sagen beauftragt wird, kehrt in die Harzregion zurück. Sechs Jahre dauert seine Sammeltätigkeit in Zellerfeld, Lerbach und Wernigerode, wo er in dieser Zeit als Lehrer tätig ist. Das Sammlungsprojekt trägt schnell Früchte und schlägt sich bald publizistisch nieder, denn Pröhle lässt seine Funde fortlaufend in immer neuen, erweiterten und überarbeiteten Ausgaben erscheinen. Pröhle ist in seiner Spurensuche stärker mythologisch ausgerichtet als Harrys, er zieht für seine Sagen auch alles heran, was er bei Tacitus gefunden hat, um neben Wotan und Donar auch die weniger gut belegten Nerthus, Saxnot und Krodo darzustellen – allesamt »zu Spukgestalten herabgesunkene Wesen« (Pröhle 1854b, S. XXXIII). Nicht zuletzt, um seinem Lehrer Jacob Grimm entgegenzukommen, hat Pröhle (auch im Zusammenhang mit Hübich) ein »recht wildes Mythologisieren« (Peuckert 1955, S. XXII) an den Tag gelegt, um die aufgezeichneten Texte mit Vorstellungen vorchristlicher Religion zu verknüpfen.

Doch bereits unter den Zeitgenossen Grimms und Pröhles ist man skeptisch, ob es sich bei Hübich tatsächlich um eine mythologische Figur handelt, die historisch bis in die schriftlose Vorzeit zurückreiche. Der Göttinger Germanist Wilhelm Müller (1812–1890) gesteht zwar zu, dass wir »aus den edden wissen, dass von Odhinn der reichthum kommt«, doch will es »dahin gestellt sein« lassen, »ob dagegen der name Gibich […] ein alter beiname Wodans« (Müller 1844, S. 187–188) sei. In den Darstellungen der Sagen erkennt Müller jedoch einige Übereinstimmungen, denn Hübich/Gibich »erscheint als alter mann mit grauem bart (wie auch Odhinn bärtig gedacht wurde), häufig mit einem tannenzweige in der hand. Bei seinem male (Harrys s. 45) lässt er sich von jungfrauen bedienen, gleichwie die Valkyrien den göttern meth einschenken.« (Müller 1844, S. 189) Es gibt zweifellos motivische Parallelen in den Darstellungen, die Müller mit Bezug auf Harrys’ Sammlung feststellt, doch dass diese für eine Identifizierung Hübichs mit Odin/Wotan ausreichen, wird tendenziell abschlägig beurteilt. Diese motivischen Verbindungen werden aber von anderen Germanisten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bereitwillig aufgenommen. Hübich als göttlicher Zwergenkönig findet sich bei Johann Wilhelm Wolf (Wolf 1852, S. 51–52), der sich bereits im Untertitel seines Hand- und Lesebuchs auf Jacob Grimm bezieht, in Max Riegers Abhandlung über die Nibelungensage (Rieger 1858, S. 171), in den Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands (1859) des Indogermanisten Adalbert KuhnFootnote 2, der den ebenfalls als mögliche Wotansfigur identifizierten ›wilden Jäger‹ mit Hübich zusammenbringt (Kuhn 1859a, S. 13) oder Otto Henne am Rhyn mit Die deutsche Volkssage im Verhältniß zu den Mythen aller Zeiten und Völker. Mit über tausend eingeschalteten Original-Sagen (1879). Weitere namhafte Germanisten wie Hugo Elard Meyer (Germanische Mythologie, 1891), Eugen Mogk, der den Teil Mythologie zu Hermann Pauls Grundriss der germanischen Philologie (1891) beiträgt, Wolfgang Golther, dessen durch unzählbare Reprints und Neuauflagen bis heute erscheinendes Handbuch der Germanischen Mythologie (1895) oder Paul Herrmanns Deutsche Mythologie in gemeinverständlicher Darstellung (1898) tragen die Vorstellung weiter, dass Hübich als eine in die Niederungen der Volkssage »herabgesunkene« Gestalt mit Odin/Wotan nahe verwandt sei.

Als prominenteste Stimme in diesem Diskurs vollzieht Karl Simrock mit seinem Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschluß der nordischen (erstmals 1855) die Gleichsetzung:

»In der neuern deutsche Saga ist Gübich berühmt, wohl aus Gibich (einem Beinamen Odins) entstellt, wie auch Gibichensteine und Gibichenkoppen bestätigen. Auch dieser Geist ist wie Hütchen §127, wie Knecht Ruprecht §142 ein verkwister (das auf das gotische frakvistnan zurückgehende niederrheinische Wort verdient in die Schriftsprache Aufnahme), verzwergter Odin. Er ist König der Harzzwerge.« (Simrock 1878, S. 433)

Simrock hat sich vor allem mit seinen Übersetzungen und Nachdichtungen einen Namen gemacht: Das Nibelungenlied (1827), die enorm populäre Ausgabe Die deutschen Volksbücher (1839–1843) erfuhr bis 1870 55 Auflagen, Das Heldenbuch (1843–1849), Die Edda (1851) und Beowulf (1859) machten den Privatgelehrten Simrock zu einer der maßgeblichen Kapazitäten im Bereich der Germanistik. Besonders wirkt sich diese Autorität im Bereich der Lexika aus, die Simrocks Interpretation übernehmen. Im Ersch-Gruber (1877) ist ein eigenständiger Gübich-Artikel von August Raszmann (Raßmann) enthalten, der Simrocks »Vermuthung« (Raszmann 1877, S. 118) mit weiteren Belegen zu stärken versucht. Simrocks Interpretation des Hübich ist auch in einem der bis heute am häufigsten aufgelegten Kompendien zur nordischen Mythologie fortgeschrieben worden: Felix und Therese Dahns Walhall. Germanische Götter- und Heldensagen. Für Alt und Jung am deutschen Herd erzählt (1884), das bis 1935 immerhin 25 Auflagen erlebte. Darin heißt es über den »Wunsch-Gott«: »Auch Gibich, der Geber (nord. Giuki), der Stammvater des Königsgeschlechts der Gibichunge (Giukunge), war der Geber-Gott Wotan; dass der alte Wotan darin verborgen war, merkte man nicht mehr« (Dahn/Dahn 1884, S. 58), aber eigentlich sei er es. Es handele sich um eine »später verderbte Sage«, die vom »Zwergenkönig« ausgeht (Dahn/Dahn 1884, S. 200), die Wissenden aber erkennen Wotan noch immer beziehungsweise erkennen sie ihn wieder, wenn die Simrock-Dahn’sche Popularisierung hinreichend erfolgreich verläuft. Diese Bücher erscheinen über Jahrzehnte in zahlreichen Auflagen, sie bringen Hübich in die Bibliotheken, private Bücherregale und in die Studierstuben. Bemerkenswert dabei ist, dass sich Verfasser wie Leser:innen lange Zeit nicht durch neue Einsichten oder andere Interpretationen verunsichern lassen.

Dabei wäre dies seit 1886 geboten gewesen. Das Ende des im engeren Sinne gelehrten Diskurses um Hübich kommt jäh mit Wilhelm Müller und dessen Mythologie der Deutschen Heldensage (1886). Vierzig Jahre nach seiner ersten Beschäftigung mit Hübich zeigt Müller nun mit entschiedener dekonstruktiver Härte, wie die Sagenfigur Hübich als dem Stein nachgängige Erfindung in die Welt gekommen ist und dass sich auch die etymologischen Herleitungen ebenso wie die motivisch bedingten Assoziationen als nicht haltbar erwiesen haben:

»Natürlich ist es auch mit dem angenommenen göttlichen oder elbischen Wesen schlecht bestellt. Um Gibiche dazu zu stempeln, hat man die Gibichensteine, namentlich den Hübichenstein bei Grund am Harze herbeigezogen, an welchen letzteren sich Volkssagen von einem Zwerge Hübich knüpfen. Dabei hat man nur nicht bedacht, dass der Zwerg von dem Felsen den Namen hat, nicht umgekehrt, wie andere Sagen von solchen Lokalgeistern beweisen. Damit ist der Annahme eines mythischen Gibiche jede Berechtigung entzogen […]« (Müller 1886, S. 55–56)

Jede Berechtigung – Müller macht damit deutlich, wie an den Ursprüngen der Philologie ausgehend von den Grimms methodologisch relativ ungehemmt nach allem gegriffen wurde, was sich anbot, um Belege dafür zu erbringen, dass die deutsche (Volks‑)Kultur noch Elemente vorchristlicher Glaubensvorstellungen enthalte und mit dem norrönen Mittelalter der Edden und Sagas unmittelbar verwandt sei. Oder mehr noch, dass die Kontinentalgermanen die eigentlich früheren Kulturträger einer gemeingermanischen Kultur (Sprache, Literatur, Religion) gewesen seien – weil die Belege ungemein rar waren (und sind), wurden Behelfsbelege herangezogen, die in einer Art Bricolage-Verfahren vieles miteinander assoziiert, was mitunter etymologisch, historisch oder geographisch weit auseinander gelegen hat. Dass Märchen und Sagen als »Beweis des ursprünglichen Zusammenhangs« (Grimms 2007, S. 22) dienen, kann Müller allerdings in der Figur Hübichs nicht erkennen, dieser erscheint ihm als ein Assoziationsprodukt, das allein auf Wunschdenken basiert.

Wenn man an andere, auf einem ähnlichen Wunschdenken basierende Erfindungen des 19. Jahrhunderts denkt, dann bringt diese Formierung Hübichs eigentlich alles mit, was eine invention of tradition im Sinne Eric Hobsbawms erfüllen muss, um erfolgreich zu sein (deren Hochzeit Hobsbawm zwischen 1870 und 1910 ansetzt): ein besonderer, ›mythischer‹ Ort als Ausgangspunkt, an den Erzählungen angelagert werden, die integral mit der Nation (Sprache, Religion) verbunden sind und über deren Interpretation retroaktiv ferne Vergangenheiten an die Gegenwart angeschlossen werden, die wiederum durch Symbole, Rituale und Lieder verstärkt werden können. (Hobsbawm 2017, S. 1–14) Der Hübichenstein, die Sagen, die ihn zu Wotan erklären, die Lieder und Musiktheaterstücke (auf die noch zu sprechen zu kommen ist), hätten in Bad Grund einen nationalen Mythos ersten Ranges verorten können. Versuche in diese Richtung hat es durchaus gegeben, eine zeittypische nationale Indienstnahme wurde in den 1890er Jahren vorgenommen, indem eine bronzene Adlerfigur mit drei Metern Flügelspannweite auf den Hübichenstein gesetzt wurde (die bis heute den größeren der beiden Felsen ziert) und eine Plakette zur Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. angebracht wurde (die jedoch bald nach 1918 verschwand). Irritierenderweise wurde zudem in den neunziger Jahren ein Tennisplatz unterhalb des Steins angelegt, der wie auch die nationalen Insignien bereits von Zeitgenossen als unpassend empfunden wurde. Hans Hoffmann hält in seinen Harzwanderungen (erstmals 1899) fest, »daß weder der dort an seinem Fuße geebnete modische Lawn Tennisplatz, noch auch die mehr patriotische als stimmungsgerechte Verzierung des Felsens […] so recht in die Naturstille der Landschaft hineinpassen. Um daher die daran geknüpfte Sage rein zu würdigen und zu genießen, mag man sich lieber an eine einsamere Stelle begeben.« (Hoffmann 1907, S. 52). Hoffmanns Wanderberichte zeigen ein anderes Paradigma an, das sich den Harzlandschaften kontemplativ zuwendet und von den nationalen Sentiments wie auch einer nationalkulturellen Rückversicherung in tiefe Vergangenheiten nichts (mehr) wissen möchte. Zu seiner Zeit besteht allerdings bereits eine Art Popularisierungskonkurrenz, die Hübich zwischen den wissenspopularisierenden Großprojekten (besonders der Dahns) und den kindgerechten Darstellungen der Sagenbücher wie der Postkartenindustrie unterschiedlich interpretiert und ins Bild setzt.

3 Massenhafte Verbreitung und Popularitätspeak 1870–1900: Postkarten und billige Heftchen

Neben die Kompendien und mythologischen Lesebücher treten mehrere literarische Hübich-Dichtungen, einige Bildpostkarten und schließlich (nach der Jahrhundertwende) auch ›billige‹ Hefte, die Hübich auf unterschiedliche Weise zu vermitteln und zu popularisieren versuchen. Zwischen diesen Zugängen und ihren Anverwandlungen besteht zumindest ab den 1870er Jahren eine Popularisierungskonkurrenz, die aus der zuvor in ihrer Gestalt nebulösen Figur Hübichs zwei vollkommen unterschiedliche Vorstellungen modelliert: auf der einen Seite die Altertumskunde und ihre populärwissenschaftliche Publizistik eine mit Göttervater Wotan bzw. Odin verwandte, vielleicht sogar mit ihm identische Wesenheit, die viele Möglichkeiten kultureller Rückversicherung eröffnet. Auf der anderen Seite finden sich sowohl die bebilderten Sagenbücher, wie etwa Johanna Siedlers Festblumen (1870), Marie und Theodor Kutschmanns Im Zauberbann des Harzgebirges (1890), Marie Eichlers Harzsagen (1893) oder Clara Förstners Sammlungen (u. a. dreibändig Aus der Sagen- und Märchenwelt des Harzes, ab 1907), die Hübich zu einer Figur der Kinder- und Jugendliteratur machen als auch die Erzeugnisse der Postkartenindustrie. Diese macht Hübich zum niedlichen Zwerg oder Wichtel, der den ebenfalls ab der Jahrhundertmitte in bürgerlichen Kreisen populär werdenden Gartenzwergen (vgl. Helmboldt 2009) angenähert wird. Die Bildlosigkeit der Mythologie-Handbücher und -Anthologien hat es ermöglicht, dass Hübich schließlich so (s. Abb. 1) aussehen konnte, wie ihn diese und ähnliche Buchillustrationen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigen:

Abb. 1
figure 1

Theodor Hosemann: »Der Hübich«, 1870, S. 85

Ein großer Teil der monographischen Hübich-Texte erscheint in den drei Jahrzehnten zwischen 1870 und 1900, aber auch einige der auflagenstärksten Anthologien, in denen Hübich vertreten ist, fallen in diese Phase. Waren es zunächst die Sagensammlungen, die eine oder mehrere der Sagen reproduzierten, ändert sich dies im letzten Drittel des Jahrhunderts, die Hübich-Texte werden länger, sie erscheinen in Form anderer Gattungen, und sie werden illustriert. Die Verbildlichungen von Theodor Hosemann und anderen sind für die weitere Verarbeitungsgeschichte äußerst wichtig, denn die ›Verzwergung‹ Hübichs, der sich in den Sagen noch aus seiner geringen Körpergröße heraus »sehr aufrecken« und zu einer Art Riese machen konnte (Pröhle 1854a, S. 56), wird bildlich (bis heute) als kleine Gestalt festgestellt. Der ›kleine‹ Wotan ist als Zwerg sehr klein geworden, und wird unverkennbar verniedlicht. Das Niedliche ist bereits das gesamte 19. Jahrhundert hindurch eine beliebte ästhetische Kategorie (vgl. Penke 2022). Bereits bei Wilhelm Traugott Krug (1770–1842), Immanuel Kants Lehrstuhlnachfolger in Königsberg, erscheint das Niedliche als Verkleinerungsform, die, wie in seiner Ästhetik von 1810 zu lesen ist, »nichts anders« sei »als das Schöne nach einem verjüngten Maaßstabe. Denn die Niedlichkeit fordert einerseits kleinere Formen und verträgt sich ebendarum andrerseits auch mit einem niedern Grade der Schönheit« (Krug 1810, S. 153). Als Beispiele führt Krug »Blümchen«, »Vögelchen« wie den »Kolibri«, Kinder und einen »wohlgestaltete[n] Zwerg, ein Miniaturgemälde« an (Krug 1810, S. 154) Anders als das bloß »Niedrige« erregt das Niedliche Wohlgefallen, es ist somit das Produkt eines Vergleichs, der voraussetzt, »dass ein ähnliches Schöne im Großen stattfinde, mit welchem das Niedliche verglichen werden könne, um es als dessen Verjüngtes« (Krug 1810, S. 154) betrachten zu können. Anstelle des mythologischen Formats eines übermenschlich-riesenhaften Wotans tritt der sukzessive verkleinerte Hübich. Auch seine Gattungen und Medien antizipiert Krugs Theorie, der für die Darstellung des Niedlichen die »tändelnden« Künste (Krug 1810, S. 155) im Blick hat, die sich in Dichtung, Malerei und Tanz gleichermaßen ausdrückten. Und, besieht man sich die Breite der für den Hübich gewählten Gattungen, dann sind es solche, die vor dem Hintergrund der Gattungsdogmatik »tändelnde« sind. Bei den monographischen literarischen Texten, die Hübich zur Hauptfigur machen, handelt es sich um überwiegend kleine Formen: Mären und Märchennovellen in Versen, Puppentheater, Chorwerke und (Musik‑)Theaterstücke für Kinder. Diese kleinen Formen erscheinen fast sämtlich in kleinen Büchern, in Oktav- oder Duodezformaten. Dies ist u. a. der Fall bei König Hübich, eine »erzählende Dichtung« von Hermann Kiehne (1886), der Hübich in der Londoner Opera im Covent Garden landen lässt, in Clara Förstners König Hübich, »ein Harzmärchen« (1889), das in 12 Gesängen abgefasst ist und die Spannung zwischen mächtigem Gott und abhängigem Zwerg zu einem zentralen Thema macht. Adolf Eys Hübich ein »Harzmärchenspiel in Versen« (1900) lässt Jugendliche kurz vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges auftreten. Ebenfalls im Jahr 1900 erscheinen Die Zwerge im Hübichenstein. Eine Harzmär. Dichtung und Musik von Adolf Klages, ein Stück, das für einen Kinderchor vorgesehen ist und bereits einige Jahrzehnte vor Disneys »Heigh-Ho« aus Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) einen Chor der Zwerge auftreten lässt. Klages Chorwerk wurde bis 1930 wiederholt aufgelegt und auch in Bad Grund zur Aufführung gebracht. In den Bereich des Kindertheaters gehören zudem Robert Hillmanns Zwergkönig Hibich. Märchenspiel in 1 Aufzug (1917) und Kurt Liebers Zwergkönig Hibich. Ein Märchenspiel. Nach einer gleichnamigen Sage bearbeitet (1921).

Ein besonderes Kuriosum erscheint bereits 1869 in München. Der als Verfasser von zahlreichen Stücken für das Puppen- und Marionettentheater bekannte Franz Pocci veröffentlicht im dritten Band seines Lustigen Komödienbüchleins »Das Märchen vom Rothkäppchen in zwei Aufzügen« (Pocci 1869, S. 94). Bei diesem Stück handelt es sich um eine Travestie (im Sinne Gerard Genettes), in der neben Rotkäppchen, dem bösen Wolf und der Großmutter auch König Gübich auftritt, der dazu abgestellt wird, den gefährlichen Wolf zu beobachten. Gübich wird durch einen Zauber vorübergehend in einen Mops verwandelt, kann aber (ähnlich wie der Mops in Goethes Märchen) erlöst werden und darf am Ende das Rotkäppchen heiraten.

Doch ob die Inszenierung Hübichs idyllisierend ausfiel oder mit kurios-absurden Zügen versehen wurde – alle diese Texte sind, wie auch die meisten derjenigen, die sie verfasst haben, heute vergessen. Das Niedliche, und damit auch der Hübich und seine »kleinen« Formen, führen auf die Isotopieebene des »Kleinen«. In den Ästhetiken des 19. Jahrhunderts (bei Franz Ficker, Karl Rosenkranz, oder Ernst Platner) wird das Niedliche als eine Art Minderwertigkeitsindikator und Dekadenz-Symptom verstanden, was sich auch in der Rede von den »verderbten« Sagen ausdrückt. Der ›verzwergte‹ Hübich, der stets niedlicher und alltagsnäher gerät, wird somit zum Symptom einer »allgemeinen Erschlaffung der Sitten« (Ficker 1840, S. 64). Die »Neigung« zum Niedlichen falle daher »nie in die Blüthenzeiten der Kunst, sondern vielmehr in die Perioden des Sitten- und Kunstverfalls« (Ficker 1840, S. 64), denn die Neigung zum Niedlichen verrät bereits eine ›schädliche‹ Disposition, da sie vom Interesse an männlich konnotierter ›Größe‹ wegführe. Somit gilt, dass das Niedliche als »das Schöne im Kleinen« lediglich »die unterste Stufe aller Kunstdarstellung« sei (Ficker 1840, S. 65). Die wenigen Rezensionen der Hübich-Stücke um 1900 (vgl. t‑n 1889, S. 335; C.M. 1889, S. 1337; Puttmann 1902, S. 611) scheinen diese Eindrücke zu bestätigen.

Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass Hübich und sein Stein auch Teil der Hausbücherei der frischen Resi geworden sind. Bei dieser Bibliothek handelt es sich um billige Heftchen der sogenannten »Thekenliteratur«, die mit den Margarine-Produkten der Resi aus Nürnberg vertrieben wurden. Wie viele andere auch als Kinder- und Jugendliteratur rezipierte Autoren – Franz Pocci, H.C. Andersen, Gottfried August Bürger, Edgar Allan Poe oder Wilhelm Hauff – erscheint in den 1920er Jahren eine Ausgabe von Heinrich Pröhles Harzsagen in dieser Reihe. Über genaue Auflagenzahlen ist in diesem konkreten Fall nichts herauszufinden, doch von anderen Printerzeugnissen der Margarineliteratur (insbesondere Der kleine Coco ab 1909 ist hier zu nennen, auch Rama vertrieb solche Kinder- und Jugendschriften) ist bekannt, dass diese zeitweilig Auflagen von acht Millionen Stück pro Nummer erreichten (vgl. Benner 2019). In das dreißigseitige Resi-Heftchen der Harzsagen sind zwar nur vier Sagen aus dem Gesamtbestand übernommen worden, von denen allerdings sechs Seiten auf Hübich entfallen. Millionen Kinder, von deren Lektüren keine Zeugnisse existieren, die etwas über Rezeption und Bewertung verraten könnten. Gleiches gilt für den 28. Band der Reihe Berliner Lesebogen, in der König Hibich 1955 neben Rumpelstilzchen, Schneewittchen oder Andersens Märchen ein eigenes Heft gewidmet wurde (vgl. Anonym 1955).

Der Weg, den der Zwerg auch allgemein von der repräsentativen Skulptur in höfischen Prachtgärten zum kleinbürgerlichen, mal niedlichen, mal neckischen Gartenzwerg zurücklegt, den jedermann käuflich erwerben kann, bildet sich auch im Postkartenformat ab. In den 1890er Jahren taucht Hübich als ein besonders »wohlgestalteter Zwerg« und beliebtes Motiv der Bildpostkarte auf. Er »grüßt« in verschiedenen Bild-Text-Arrangements aus Bad Grund und wird, wie hier (s. Abb. 2 und Abb. 3) zu erkennen ist, zum Verwandten des Gartenzwergs.

Abb. 2
figure 2

»Gruss vom König Hübich, Bad Grund«, Verlag Oscar Cohn, Halberstadt, 1897

Abb. 3
figure 3

»Gruss aus Grund«, Winkler u. Voigt, Leipzig, ca. 1902

Viele solcher Karten, die aus der Kunstverlags-Anstalt von Oscar Cohn (1853–?) aus Halberstadt stammten, übermittelten »Grüsse aus« allen möglichen Orten des Harzes (u. a. aus Bad Harzburg, Schierke, dem Bodetal, Sankt Andreasberg und Braunlage). Sie zeigen neben Waldlandschaften, Bergen, Kur- und Gasthäusern den nunmehr zum Verwandten der Gartenzwerge geschrumpften und stets verniedlichten Hübich. Auch dies ist zeittypisch, denn aus vielen anderen Harzorten, aus dem Schwarzwald, Rheinland oder der Sächsischen Schweiz grüßen um die Jahrhundertwende die Postkarten-Zwerge.

Der zunehmende Tourismus, der alle reizvollen ›natürlichen‹ Spots erschließt und bis dahin unbedeutende Kleinstädte zu heilklimatischen Kurorten umgestaltet, die steigende Verbreitung der Chromolithographie sowie von Fotodruckverfahren, aber auch Änderungen in der deutschen Rechtsordnung und im internationalen Postwesen beförderten die Produktion und den Versand von Ansichtskarten. Um 1895 beginnt mit der Gründung von philokartistischen Vereinen und Fachzeitschriften das so genannte »goldene Zeitalter der Ansichtskarten« (May 2003, S. 17), das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 andauerte. Allein 1899 wurden in Deutschland 88 Millionen Ansichtskarten gedruckt. Beliebte Motive waren ländliche Gegenden aus Harz, Schwarzwald oder Lüneburger Heide, in denen sich Flussläufe, Wald- und Wiesenlandschaften, traditionelles Handwerk, alte Bauernhäuser und ihre Bewohner darstellen ließen. Der Großteil der Postkarten setzt einen Fokus auf wohlgeordnete, in sich abgeschlossene Weltausschnitte und »heile«, meist vorindustrielle Landschaften, die ganz den Merkmalen des locus amoenus und der Idylle entsprechen, die in neuer medialer Form realisiert wurden (vgl. Penke/Werber 2022, S. 247). Wenn man, wie Heinrich Pröhle und andere, die »Zwerge mit dem Wachstume der Bäume und Wälder, ja mit der ganzen Natur in die engste Beziehung setzt« (Pröhle 1886, S. 265), dann fungieren diese Postkartendarstellungen als Garanten einer intakten Naturlandschaft – und dies erfüllt, wie bereits zahlreiche Reiseberichte seit dem 18. Jahrhundert zeigen (als einer der ersten berichtet Johann Christian Kestner von seiner Reise auf den Harz im Dezember 1763 über die vergiftete Innerste, vgl. Kestner 2013, 17), insbesondere im Harz, der für seinen intensiven und historisch weit zurückreichenden Bergbau bekannt ist, eine wichtige Funktion: Luft- und Bodenverschmutzung, vergiftete Flüsse oder entwaldete Bergzüge gehören zu den durchgängigen Topoi der Harzbeschreibungen, die für den Tourismus und die Außendarstellung der Harzorte ebenso unerwünscht wie gefährlich sind. Wenn der Harz als »Ort der Ruhe und Rekonvaleszenz« erfolgreich vermarktet wird und von Lärm wie »Rauchplage« der Großstädte gesundheitsfördernd entlasten soll, dann müssen die Industrielandschaften zugunsten des »Waldesfriedens« ausgeblendet werden. (vgl. Ude-Koeller 2004, S. 101–104)

Hübich und seine Wichtel werden hier im kleinen, bunten Bild gegen den Text der Sagen in Stellung gebracht – denn in den Sagenvarianten um den Zwergkönig und den Förstersohn hat Hübichs Verschwinden (wie generell der Auszug der Zwerge) stets mit dem frevelhaften Verhalten der Menschen zu tun, die Vögel bejagen, zu Unterhaltungszwecken mit Kanonen auf Felsen schießen, die im Inneren der Berge mit Schwarzpulver oder Dynamit operieren, die Gebote missachten und gegen Abmachungen mit den nicht-menschlichen Entitäten verstoßen. Die Postkartenzwerge als Garanten der intakten Idylle und des ungestörten »Waldesfriedens« aber verschleiern und beschwichtigen.

Da die verschiedenen Interpretationen nirgends zusammenkommen und der ›mythische Wotan-Hübich‹ nur noch im Reprint weitergetragen wird, ohne jemals institutionalisiert worden zu sein, hat sich der Gartenzwerg-Typus historisch durchgesetzt. Statt nationaler Mythenbildung hat die Verniedlichung gesiegt. Hübich ist heute noch als halb-mythisches Wesen in Bad Grund konserviert, und das in primär possierlicher Gestalt, ohne jeden Hinweis auf seine mögliche Wotan-Vorgeschichte. Der hölzerne Wegweiser in der Dorfmitte zeigt bunte, niedliche Zwerge und auch die heute noch im Umlauf befindlichen Hübich-Designs der ortsansässigen Künstlerin Hella Furtwängler, die als Keramikfiguren, Aufkleber und Plastiktütenmotive in den späten 1980er Jahren realisiert wurden, sind erklärtermaßen niedlich. In diesen Traditionslinien stehen die Hübich-Darstellungen bis heute, die über Nacherzählungen, Bilderbücher und HörspieleFootnote 3 weiter fortgeschrieben wurden, allerdings ohne jemals wieder größere Beachtung gefunden zu haben.

4 Kein nationaler Mythos, kein ›großer‹ Text – der vergessene Hübich

War es allein der entlarvte Wunschbetrug, der Hübich zur lediglich noch regional bedeutsamen Figur herabsinken ließ? Waren es die Verniedlichung oder die allzu starke Verortung in der Kinder- und Jugendliteratur, die Hübich zu einer Sagengestalt unter allzu vielen anderen werden ließen, von denen auch nur wenige überregional bekannt sind? Die Sagentexte sind es vermutlich nicht, denn die vielen Neuauflagen alter Sammlungen und neue Kompilationen alter Texte (vor allem durch Carsten Kiehne, der auch die über 31.000 followerstarke Facebook-Seite Sagenhafter Harz betreibt) zeugen von einem gleichbleibenden Interesse, das zu bestätigen scheint, was Friedrich Brederlow einst über die Hübichsagen schrieb: »Leicht mögen die Volksmährchen vom Zwergkönige Hübich […] die lieblichsten und schönsten aller Harzsagen sein« (Brederlow 1846, S. 532). Der Grund scheint also anderswo als im Textbestand der Sagen zu liegen; er wird augenfällig, vergleicht man Hübich mit Frau Holle oder Rübezahl, die beide ebenfalls als ›germanisches‹ Erbe und Verbindungsfiguren zu vorchristlichen Kulturen und Glaubensvorstellungen interpretiert wurden. Hübich hat, anders als diese beiden, keinen Eingang in die ›großen‹ Textsammlungen oder andere kanonisierte Texte gefunden, die ihm andauernde oder zumindest wiederholte Aufmerksamkeit hätten verschaffen können. Hübich taucht in den Deutschen Sagen wie auch den Kinder- und Hausmärchen der Grimms nicht auf, auf die sich Frau Holles Bekanntheit (und auch das »Frau-Holle-Land« in Nordhessen) gründet. Auch sind die Hübich-Autor:innen (Ey, Förstner, Kiehne, Klages et alii) allesamt weitestgehend vergessen und ihre Bücher seit Langem vergriffen – anders als bei Rübezahl, dem, ausgehend von Johann Praetorius’ ebenso umfangreichen wie prominenten Darstellungen (1662–1665) und Johann Karl August Musäus’ Volksmärchen der Deutschen (im zweiten Band 1786) seit dem frühen 19. Jahrhundert zahlreiche monographische Bücher (als Legenden, Märchen oder Geschichten von Rübezahl) bis hin zu Otfried Preußlers Mein Rübezahlbuch (1993) gewidmet wurden. Zwei Stellen bei Wilhelm Raabe (in der Novelle Die Innerste, erstmals 1876) haben es jedenfalls nicht vermocht, den »Zwergenkönig von Hübichenstein« (Raabe 1985, S. 275) mit dem »sich schlimm spaßen« (Raabe 1985, S. 282) lasse, literarisch in Erinnerung zu halten.Footnote 4 Bei Raabe erscheint Hübich als Teil einer alten, heidnisch codierten Harzwildnis, die durch den sozialen und technischen Fortschritt bereits zu verschwinden im Begriff ist und deren »Gespensterplunder« (Raabe 1985, S. 283) schließlich von Christentum und aufklärender Vernunft verdrängt wird.

Noch spärlicher nehmen sich die Hübich-Titel der Kinder- und Jugendliteratur hinsichtlich ihrer Verbreitung aus, wenngleich es eine ganze Reihe Veröffentlichungen jüngeren Datums gibt. Jürgen Will hat mit Faya und Welo beim Zwergenkönig Hübich (2018) ein kollaboratives Experiment durchgeführt, zu dem Schüler und Schülerinnen der Ganztagesschule Erxleben Illustrationen zu den neu erzählten Hübich-Sagen beigetragen haben. Auch im fünften Band von Jürgen Stahlbocks Reihe Mika und Co. führt Die Klassenfahrt (2015) in den Harz und macht dort mit Hübich bekannt, wenn es um den bewussten Umgang des Menschen mit seiner Mitwelt geht. Ähnliches gilt auch für Angela Scherer-Kerns Frau HOLLES Volk, (Band 3.5 Die Wette: Im Reich der Mitte von 2019), die sogar einen »Hübich Junior« (Scherer-Kern 2019, o. S.) auftreten lässt. Auch der stimmungsvolle Erzähl-Zyklus Geschichten aus dem Harz von Christine Metzen-Kabbe (Metzen-Kabbe 2018) hat bis dato wenig daran geändert, dass Hübich, der einst prominent bei einem der Gründerväter der Germanistik thematisiert wurde, historisch wie literarisch vergessen geblieben ist. Einen Avatar Odins/Wotans vermutet auch in Bad Grund niemand mehr. Eine steinerne Skulptur als Springbrunnen, der hölzerne Wegweiser mit geschnitzten Zwergenfiguren, ein Hübichweg und der Hübich-Platz halten ihn innerorts noch immer präsent. Über die Grenzen seines Duodezkönigreiches hinaus ist aber selbst die Annahme, dass König Hübich einst populär gewesen sein mag, in Vergessenheit geraten.