1 Einleitung: Der Hass auf Geräusche

Wer sich durch Alltagsgeräusche anderer Menschen stark gestört fühlt, teils mit Aggression oder Vermeidungsverhalten auf Kau- und Schmatzgeräusche, Atmen, Räuspern, Fußwippen oder Fingertrommeln reagiert, stößt bei entsprechender Online-Recherche schnell auf andere Betroffene. Tausende an Beiträgen auf Instagram, Twitter oder auch Reddit, in Podcasts, Selbsthilfeforen und YouTube-Videos berichten vom psychischen und auch physischen Leid, das entsprechende Alltagsgeräusche verursachen können. Die Betroffenen tauschen sich im Social Web dazu aus, welche ganz unterschiedlichen Geräusche jeweils den Ärger auslösen (»triggern«), mit welcher Unsicherheit, Scham und teils jahrzehntelanger Qual dies verbunden ist, inwiefern das soziale Umfeld mit Hilflosigkeit, Unverständnis oder auch Unterstützung reagiert, welche Umgangsstrategien erfolgsversprechend scheinen und welche Auswirkungen von sozialem Rückzug über Kündigungen am Arbeitsplatz bis hin zu massiven Partnerschaftsproblemen auftreten können. Viele Betroffene berichten weiterhin, wann ein bestimmtes Geräusch sie zum ersten Mal so stark gestört hat, wobei sie meist erst deutlich später – und das nicht selten im Social Web – erfahren haben, dass sie damit nicht alleine sind, dass Andere ganz Ähnliches empfinden und dass, was vielleicht die wichtigste Erkenntnis ist, ihr Leiden eine wissenschaftliche Bezeichnung trägt: »Miso-Phonie« – der Hass auf Geräusche.

Unter Misophonie wird ganz allgemein eine verminderte Geräuschtoleranz verstanden, die sich, ausgelöst durch ein spezifisches und in der Regel alltägliches Triggergeräusch, auf Seiten von Betroffenen in emotionalen Reaktionen wie Irritation, Wut, Aggression, Ekel oder Fluchtverhalten sowie körperlichen Reaktionen wie Blutdruckanstieg, Atemproblemen, Schweißbildung, Muskelverspannung oder auch Herzrasen äußert, wobei diese Reaktionen aus der Beobachterperspektive in einem »grotesken Missverhältnis zum wahrgenommenen Geräusch« (Schwemmle/Arens 2021, S. 4) stehen (siehe auch Ferrer-Torres/Giménez-Llort 2022). Misophonie ist dabei keine medizinisch anerkannte oder klar definierte Störung. Sie ist wenig bekannt, schwer zu klassifizieren und damit eine im Kern umstrittene Kategorie. Medizinisch wird sie als Unterkategorie der Geräuschüberempfindlichkeit mit Überschneidungen zu Hyperakusis (allgemeine Geräuschinteroleranz) und Phonophobie (Furcht oder Angst vor bestimmten Geräuschen) verstanden. Darüber, seit wann Menschen Misophonie erleiden und darüber berichten, ist kaum etwas bekannt. Lediglich bei einigen berühmten Persönlichkeiten, wie etwa Marcel Proust, ist eine starke Geräuschempfindlichkeit überliefert. Als eigenständige Diagnose wurde Misophonie schließlich erst durch soziale Medien ab den späten 1990er Jahren populär, das heißt, von Vielen beachtet (Döring et al. 2021). Der vorliegende Beitrag untersucht diese Popularisierung der Misophonie als legitime Diagnose durch Expert*innen und Lai*innen in den sozialen Medien. Wir analysieren, wie Betroffene ihren Hass bezüglich spezifischer Geräusche im Social Web diskutieren, inwiefern Expert*innen auf diese Online-Diskurse im Netz Bezug nehmen und welche Auswirkungen mit der Herstellung und Verbreitung der neuen Kategorie verknüpft sind.

Der Ausgangspunkt unserer Analyse ist ein im nächsten Abschnitt skizziertes Konzept des Wissenschaftstheoretikers und Sprachphilosophen Ian Hacking, der die soziale Herstellung einer neuen Personenkategorie mit der Formel »making up people« umschreibt. Im Gegensatz zu Hacking, der von einer starken Zurichtung von Personengruppen durch wissenschaftliche Expertise ausgeht, zeigt sich im Fall der Misophonie eine starke Involvierung der betroffenen Lai*innen, die sich etwa unter dem Hashtag #misophonie auf YouTube, Instagram oder Twitter wechselseitig vergemeinschaften und öffentlich austauschen. Die Selbstbezeichnung und -identifizierung der Lai*innen online wird damit zu einem wichtigen Element bei der Herstellung der Krankheits- und Personenkategorie. Wir geben im Anschluss einen allgemeinen Überblick zum Austausch zu Gesundheitsthemen online, um vor diesem Hintergrund die Entstehung der Misophonie-Debatte in Wissenschaft und (Internet‑)Öffentlichkeit zu beschreiben. Letztlich analysieren wir entlang einschlägigen Onlinematerials die Herstellung und Verbreitung der Personenkategorie der misophonischen Personen – sprich: das »making up misophonic people« online. Dabei gehen wir davon aus, dass sich am Beispiel des Social-Media-Austauschs zur Misophonie internetgetriebene Veränderungen des Expert*innen-Lai*innen-Verhältnisses wie durch ein Prisma aufbrechen lassen, was im Fazit weiter ausbuchstabiert wird.

2 »Making up people«: Zur Herstellung und Etablierung von Personenkategorien

Seit Beginn der 1980er Jahre hat der Kanadier Ian Hacking eine Vielzahl wissenschaftsphilosophischer Studien zur Entstehung und Entwicklung insbesondere von soziologischen und medizinischen Personenkategorien durchgeführt (Hacking 2007, S. 285 ff.). So interessiert er sich beispielsweise dafür, seit wann und entlang welcher Kriterien Menschen als »Obdachlose«, »Kriminelle«, »Genies«, »Arme«, »Homosexuelle«, »Prostituierte«, »Suizidgefährdete«, »Adipöse« oder »ADHS-ler« klassifiziert werden – und welche Effekte mit diesen Kategorisierungen einhergehen. Dabei behauptet Hacking, dass historisch neue Kategorien jeweils neue Fremd- und Selbstverständnisse implizierten, was er auf die Formel »making up people«Footnote 1 (Hacking 1986; 2006; 2007) bringt. »Making up people« bezeichnet demnach den sozialen Prozess, aus dem nicht nur eine neue Kategorie, sondern zugleich auch »a new kind of person« (Hacking 2007, S. 285), das heißt, eine bislang inexistente Art des Verhaltens und des Selbsterlebens hervorgeht.

Soziologisch betrachtet sind Klassifikationen dabei nichts Neues (vgl. Durkheim/Mauss 1987): In allen Gesellschaften lassen sich Prozesse des »making up people« beobachten, aber erst seit zwei Jahrhunderten, so Hacking (2007, S. 305), seien die Wissenschaften so zentral für unser Verständnis davon, »who we are«. Kategorien werden demnach immer stärker unter Rückgriff auf wissenschaftliche Klassifikationen erzeugt, wobei sich Hacking insbesondere für Klassifikationen aus den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Medizin interessiert.Footnote 2 Ein historisches Beispiel liefert die 1948 publizierte Studie »Sexual Behavior in the Human Male« des Sexualforschers Alfred Kinsey, die das Selbstverständnis von Menschen, die Sex mit Menschen des eigenen Geschlechts haben, manifest verändert hat (Espeland/Stevens 2008, S. 413). Der in der Öffentlichkeit sowie Wissenschaftscommunity damals stark diskutierte Kinsey-Report hält unter anderem fest, dass etwa ein Zehntel der amerikanischen Männer über längere Phasen hinweg oder dauerhaft ausschließlich Sex mit Männern hätten. Diese nüchternen Zahlen waren von umfassender Wirkmacht. Die bis dahin als kriminell oder krank stigmatisierten Menschen fühlten sich durch die Statistiken bestätigt. Die 10-Prozent-Angabe wurde verallgemeinert, vereinfacht und fand sich in Reden, auf Plakaten und bald auch in den Medien: »[T]he idea that 10 % of any population is gay […] became a taken for granted feature of how gay and lesbian people understood themselves« (Espeland/Stevens 2008, S. 413). Kinseys Arbeiten forcierten demnach ein »making up people«, das nicht nur die Kategorisierung von Homosexuellen, sondern zudem eine öffentliche Sichtbarmachung zur Folge hatte, die schließlich in die Entwicklung der Schwulenrechtsbewegung mündete (Espeland/Stevens 2008, S. 413). Im Prozess des »making up people« entwickelt sich demnach »eine besondere Dynamik von Selbst- und Fremdbeschreibung […]: Zugeschriebene Kategorien beeinflussen die kategorisierten Personen, ihre Selbstwahrnehmung und ihr Handeln oder sie eröffnen neue Möglichkeiten der Selbstidentifikation« (Bennani/Müller 2018, S. 310). Dabei wird angenommen, dass Klassifikationen und Klassifizierte in Endlosschleife interagieren, was Hacking (1986, S. 125) als den »Looping«-Effekt bezeichnet, der die Art und Weise umschreibt, »in which a classification may interact with the people classified« (Hacking 2007, S. 285). So lässt sich am Beispiel des »hochfunktionalen Autisten« zeigen, dass erst mit der Herstellung dieser Kategorie eine Idee von damit korrespondierenden Seinsweisen entstand: »Before 1950, maybe even before 1975, high-functioning autism was not a way to be a person«, so Hacking, der fortfährt: »There probably were a few individuals who were regarded as retarded and worse […]. But people didn’t experience themselves in this way, they didn’t interact with their friends, their families, their employers, their counsellors, in the way they do now« (Hacking 2006, S. 4). Vor der wissenschaftlichen Etablierung der Kategorie des »hochfunktionalen Autisten« (Asperger-Syndrom) galten Betroffene demnach fälschlicherweise als »zurückgeblieben«, es existierte kein passender Deutungsrahmen und folglich auch keine adäquate Form der Selbst- und Fremdwahrnehmung, was sich mit der Etablierung der neuen Kategorie änderte.

Generell geht Hacking dabei davon aus, dass es die wissenschaftlichen Expertinnen und Experten sind, die legitimiert durch ihre Zugehörigkeit zu etablierten Institutionen die Entstehung und Entwicklung von Kategorien vorantreiben und sowohl den wissenschaftlichen Diskurs als auch die Art und Weise des gesellschaftlichen Umgangs mit den Klassifizierten bestimmen. Expert*innengemeinschaften praktizieren demnach ein Labeling »von oben«, das heißt, sie konstruieren durch die Zuschreibung von Kategorien spezifische Wirklichkeiten. Analytisch unterscheidet Hacking (2007, S. 305) an dieser Stelle sieben spezifische Wissenschaftspraktiken, die sogenannten »engines of discovery«, die auf »the production of knowledge, understanding, and the potential for improving or controlling deviant human beings« (Hacking 2007, S. 310) zielen, so als Katalysatoren des »making up people« wirken und hier in aller Kürze erläutert werden sollen:

  • Das Zählen von Klassifizierten zielt, wie im oben skizzierten Fall der Homosexuellen, primär auf deren datenmäßige Erfassung und numerische Repräsentation, als Nennung prozentualer Anteile oder Darstellung von Entwicklungstendenzen über die Zeit.

  • Das Quantifizieren meint die zahlenmäßige Herleitung der Kategorien selbst, wenn beispielsweise Adipöse entlang des Body Mass Index oder Hochbegabte entlang ihres Intelligenzquotienten ermittelt werden.

  • Das Normieren entsteht durch eine Orientierung an Durchschnittswerten, die als Gradmesser des Normalen gelten und – wie im Fall der Körpergröße – die Ermittlung von Abweichungen und damit entlang spezifischer Grenzwerte die Zuschreibung von Anomie ermöglichen: »Irgendwo endet das normale Spektrum der Körpergröße und beginnen die anormalen Zwerge bzw. Riesen, die aber insgesamt eine verschwindende Minderheit darstellen« (Link 2014, S. 65).

  • Das Korrelieren gilt als zentrale Wissenschaftspraxis der Soziolog*innen, die umso eifriger auf die Suche nach Zusammenhängen gingen, je weniger sie wüssten. Autismus beispielsweise sei mit allem Möglichen korreliert worden, »not excluding the relative lengths of the mother’s fingers and testosterone in the foetus« (Hacking 2007, S. 309).

  • Das Medikalisieren lässt sich – im Unterschied zu den bislang dargestellten Praktiken der statistisch-sozialwissenschaftlichen Analyse – als Vernaturwissenschaftlichung sozialer Prozesse deuten, wie sie beispielsweise um 1900 hinsichtlich der in der weiblichen Mittelschicht konstatierten Negativeffekte der Verfügbarkeit großer Warenhäuser zu beobachten waren: Agoraphobie und Kleptomanie wurden zu den »mental diseases du jour, discussed not only in the popular media, but also at great length in the weighty medical and legal journals of the day« (Lenz/MagShamhráin 2012, S. 280).

  • Das Biologisieren liegt vor, wenn biologische Ursachen sozialer Praktiken in ihrer Bedeutung herausgestellt werden. Goffman (1994) beispielsweise wendet sich gegen eine Biologisierung von Elternschaftspraktiken und legt plausibel dar, dass eine Gebär- und Stillbefähigung keineswegs zwingend zur Primärverantwortung für Care- und Hausarbeit führt: »Etwas organisatorischer Aufwand wäre nötig, wenn auch unter modernen Bedingungen nicht allzuviel, wollte man spürbare soziale Folgen dieser körperlichen Gegebenheiten verhindern« (Goffman 1994, S. 106).

  • Das Genetisieren letztlich wird als Steigerungsform der Biologisierung und historisch jüngste Wissenschaftspraxis verstanden, was beispielsweise im Umgang mit »Übergewicht« zu beobachten sei, welches einst als Willensschwäche angesehen erst zur Domäne der Medizin, dann zu jener der Biologie wurde, »and at present we search for inherited genetic tendencies« (Hacking 2007, S. 294). Dass die Genetisierung mit der Abnahme von Verantwortungszuschreibungen einhergeht, lässt sich auch am Autismus aufzeigen, für welchen im Zuge der Genetisierung vormalige psychoanalytische Erklärungsversuche wie die angebliche Lieblosigkeit sogenannter »Kühlschrankmütter« als Ursache kindlicher Entwicklungsstörungen an Relevanz verloren.

Insgesamt tragen diese sozial- und naturwissenschaftlichen Praktiken zur Etablierung, Vereindeutigung und Stabilisierung von Personenkategorien bei. Dies wiederum ist die Voraussetzung für drei soziale Anschlusspraktiken, »each deriving from the engines of discovery and the knowledge that they produce, but each acting in its own specific way« (Hacking 2007, S. 310 f):

  • Das Normalisieren umfasst die zumeist von Expertenseite vorgeschlagenen Maßnahmen, Medikamente, Hilfsmittel und Copingstrategien, die auf Seiten der Klassifizierten die konstatierte Anomie beseitigen, die diagnostizierte Krankheit lindern oder auch Diskriminierung vereiteln sollen.

  • Das Bürokratisieren dient unter anderem der Umsetzung der normalisierenden Maßnahmen, institutionalisiert aber auch Entscheidungen über die Zugehörigkeit zu spezifischen Kategorien, standardisiert Prozesse im Umgang mit Klassifizierten oder weist finanzielle Mittel zu. So raten Experten der Politik und Gesellschaft bspw. dazu, die »Obdachlosen« in einer bestimmten Form zu unterstützen, die »Adipösen« medizinisch zu behandeln oder die »Prostituierten« staatlich kontrollieren zu lassen (Hacking 2007, S. 292).

  • Das Aufbegehren (»resistance«) letztlich erfolgt von Seiten der Klassifizierten, die gegenüber den durch Wissenschaft und Bürokratie gesteuerten Klassifikationen Autonomie einfordern und vielfach im kollektiven Handeln auf den Wandel von Kategorien sowie die Verbesserung ihrer Situation abzielen (Bennani/Müller 2018, S. 310). Das heißt, die Klassifizierten sind nicht immer mit den wissenschaftlichen Zuschreibungen der Expertinnen und Experten einverstanden und steuern, so Hacking (1986, S. 168), teils »von unten« gegen und versuchen, »to take back control from the experts and the institutions, sometimes by creating new experts, new institutions« (Hacking 2007, S. 311). Das »Aufbegehren« stellt demnach eine Gegenreaktion der Klassifizierten dar, die sich im Fall dysfunktionaler Klassifikationspraktiken gegen die Expert*innen zur Wehr setzen.

Wir nehmen nun an, dass sich der Prozess des »making up people« durch die Möglichkeiten der Popularisierung auf Social-Media-Plattformen grundlegend verändert hat. Sowohl für die sozial- und naturwissenschaftlichen Praktiken als auch für die sozialen Anschlusspraktiken ist davon auszugehen, dass diese nicht mehr allein von den Expertinnen und Experten bestimmt werden, sondern auch vom Social-Media-Austausch der Betroffenen und durch die Metriken der Plattformen selbst geprägt sind.

Im nächsten Abschnitt skizzieren wir vor diesem Hintergrund den allgemeinen Forschungsstand zur gesundheitsbezogenen Internetnutzung von Lai*innen, bevor wir uns der empirischen Untersuchung einschlägigen Onlinematerials zur Misophonie widmen.

3 Popularisierung und Medikalisierung im Social Web

Die Bedeutung von Internetdiensten für die Kommunikation über medizinische Themen wird bereits seit den späten 1990er Jahren anerkannt und mit Blick auf Veränderungen im Verhältnis von Expert*innen und Lai*innen diskutiert (Hardey 1999). Für die Fragen des »making up people« ist dabei besonders interessant, dass die Ausweitung und Etablierung medizinischer Kategorien nicht selten von den betroffenen Lai*innen vorangetrieben werden (Conrad/Potter 2000). So hat die soziologische Forschung zu Medikalisierungsprozessen (Conrad 2007) gezeigt, dass Patient*innen aktiv für eine Biologisierung bzw. Genetisierung ihrer Leiden kämpfen. Die soziale Konstruktion medizinischer Kategorien ist, wie Conrad es ausdrückt: »collective action« (Conrad 2007, S. 9). Das bedeutet auch, dass die Popularisierung keine simple Vereinfachung medizinischer Fachbegriffe mit anschließender Vermittlung in die Bevölkerung darstellt, sondern einen komplexen Prozess, der sich über mehrere Instanzen verteilt und von ihnen geprägt wird.

Soziale Medien verstärken demnach einen Prozess, der sich schon vorher abzeichnete. Zum einen erlangen Selbsthilfegruppen seit Mitte der 1970er Jahre nicht nur gesellschaftliche, sondern auch fachwissenschaftliche, in der Regel medizinische, Anerkennung. In den Selbsthilfegruppen organisieren sich die Betroffenen und setzen sich wiederum für die Anerkennung und Linderung ihrer Leiden durch Wissenschaft und Öffentlichkeit ein (Kofahl et al. 2016). Zum anderen berichten auch schon Printmedien über neue und vage Krankheitskategorien (Kroll-Smith 2003). Die Zusammenhänge von Medien und Medizin sind dabei vielfältig und lassen sich kaum in ein einheitliches Muster zwängen. So zeigen etwa Studien zu Autist*innen, dass diese von Social-Media-Kommunikation profitieren, weil sie von den Unwägbarkeiten direkter sozialer Interaktionen ein Stück weit entlastet ist. Social-Media-Plattformen helfen dabei, das zu definieren, was unter Autismus verstanden werden soll, und geben den Betroffenen bislang ungekannte Ausdrucksmöglichkeiten (Pinchevski/Peters 2016). So ist dann auch fraglich, ob das Aufbegehren noch als die zentrale Praxis der betroffenen Lai*innen gelten kann oder ob sich die Lai*innenpraktiken nicht grundlegend verändert haben, wenn die medizinische und gesellschaftliche Anerkennung ihrer Krankheiten eine zentrale Motivation darstellt.

Betrachtet man Misophonie aus der Perspektive der Medikalisierung und Popularisierung, so stellt sich weniger die Frage, ob der Hass auf Geräusche nun als Krankheitsbild anzuerkennen sei oder nicht. Vielmehr rücken die medialen Praktiken in den Vordergrund, durch die die Beteiligten eine medizinische Kategorie postulieren, sich in ihr verorten und für ihre Anerkennung streiten. Solche emanzipatorischen Vergemeinschaftungsprozesse zur Herstellung einer gemeinsam geteilten Personenkategorie zeigen sich häufiger in den sozialen Medien, insbesondere aber bei seltenen und umstrittenen Krankheiten. So zeigt sich im Fall der vagen Diagnose von «excessive daytime sleepiness« (Kroll-Smith 2003), dass die ärztliche Autorität durch populär gemachte Ansprüche der Betroffenen unter Druck gerät. »Making-up-people-online« wird in diesen Fällen von den Betroffenen selbst betrieben, was nicht bedeutet, dass medizinische Expertise nebensächlich wäre. Die ärztliche Autorität bleibt weiterhin zur Festigung der Legitimität der Erkrankung erforderlich, sie ist aber nicht mehr der primäre Motor zur Etablierung der Personenkategorie. Dabei lassen sich die Gruppen von Lai*innen und Expert*innen nicht immer trennscharf abgrenzen. Auch Expert*innen aus Gesundheitsberufen können betroffen sein oder sich online für die Anerkennung der Misophonie und die Unterstützung von Betroffenen einsetzen. Fach- und Betroffenendiskurse überschneiden sich mitunter, sie überlagern sich, verstärken sich wechselseitig und können die Popularisierung der medizinischen Kategorie dadurch beschleunigen.

Die Verschiebungen im Verhältnis von Expert*innen und Lai*innen in Bezug auf das Krankheitswissen deuten jedoch auf die spezifische Rolle sozialer Medien hin. Sie erlauben es insbesondere den Betroffenen, Aufmerksamkeit zu erzeugen und zu erhalten. Sie finden Beachtung nicht nur unter sich, sondern auch in der Fachgemeinschaft der Mediziner*innen und bei Angehörigen und Bekannten. Zugleich müssen sie sich mit kritischen Gegenstimmen auseinandersetzen. Der Kampf um die Personenkategorie »misophonisch« versammelt somit unterschiedliche Interessen und Personen, die heterogene Wissensbestände und -ansprüche formulieren: vom Erfahrungswissen der Betroffenen und ihrer Leidensgeschichte über die medizinische Einordnung und Beschreibung der Symptome bis zum Unverständnis der Gegner*innen, die Misophonie für eine Erfindung bzw. Einbildung halten oder als Erkrankung nicht ernst nehmen. Über die Metriken der sozialen Medien wird Misophonie zudem öffentlich zählbar: in Foren, Posts, Likes oder Retweets. Wie diese unterschiedlichen Konfigurationen von Wissen und Personen, Expert*innen und Lai*innen im Fall der Misophonie zusammenwirken, werden wir im nächsten Abschnitt näher untersuchen.

4 Misophonie im Social Web – Eine empirische Annäherung

Die medizinische Erkundung des Geräuschehassens begann vor etwa 25 Jahren: So wird der amerikanischen Ohrenärztin Marsha Johnson die frühe Beschreibung eines »selective sound sensitivity syndromes (4S)« zugeschrieben, das sie im Jahr 1997 an einem ihrer Patienten feststellte und bis zur Jahrtausendwende hundertfach diagnostizierte (Bernstein/Angell/Dehle 2013, S. 2; Ferrer-Torres/Giménez-Llort 2022, S. 5). Das Label »Misophonie« wurde erstmalig in einem im Jahr 2001 publizierten Newsletter-Beitrag der in der Tinnitus-Forschung promovierten Biologin Margaret Jastreboff und des Professors für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Pawel Jastreboff verwandt: In ihrer klinischen Arbeit war ihnen aufgefallen, dass sich mit der als Hyperakusis bezeichneten krankhaften Geräuschüberempfindlichkeit und der als Phonophobie bekannten Angst vor spezifischen Geräuschen ein Teil ihrer Patient*innenschaft nicht adäquat verorten ließ, weshalb sie für den ausgemachten Hass auf Geräusche die spezifische Bezeichnung »misophonia« erfanden:

»After reviewing various Latin and Greek prefixes, and consulting with a distinguished expert in classic Greek and Latin from Cambridge University UK, we selected the term ›misophonia‹ which translates into ›strong dislike (hate) of sound‹. As such it is close to the patients’ description of their symptoms and can encompass a variety of negative emotions generated by the sounds in question.« (Jastreboff/Jastreboff 2001, S. 1 f.)

Obwohl die Jastreboffs in ihrem kleinen Newsletter-Beitrag dringenden Forschungsbedarf ausmachten, interessierten sich im Folgejahrzehnt nur wenige Wissenschaftler*innen für die neue medizinische Kategorie. Im Folgenden analysieren wir in einem ersten Schritt, ab wann im wissenschaftlichen Diskurs eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Hass auf Geräusche auszumachen ist und welche sozial- und naturwissenschaftlichen Praktiken im Sinne Hackings zu beobachten sind, bevor wir uns näher den misophoniebezogenen Onlinepraktiken zuwenden. Die Popularisierung der medizinischen Kategorie «Misophonie«, soviel lässt sich vorwegnehmen, hängt eng mit der Entwicklung der sozialen Medien zusammen.

4.1 Der Wissenschaftsdiskurs zur Misophonie

Die Wortneuschöpfung der Jastreboffs aus dem Jahr 2001 erzeugte in der Wissenschaft erst einmal wenig Widerhall. Das heißt, die von Hacking beschriebenen Wissenschaftspraktiken blieben vorerst aus – zumindest, wenn man einer entsprechenden Analyse mit dem »Google Ngram Viewer« folgt: Mittels Data Mining lassen sich mit dem »Google Ngram Viewer« die Textkorpora einer digitalen Sammlung von in verschiedenen Sprachen gedruckten Büchern hinsichtlich des Auftretens spezifischer Worte auswerten. Das Kurvendiagramm (vgl. Abb. 1) gibt entsprechend die relative Häufigkeit an, mit der sich im englischsprachigen Textkorpus der zwischen 2001 und 2019 gedruckten Bücher das Wort »misophonia« ausmachen lässt. Unter Verweis auf die methodischen Spezifika entsprechender Big Data-Analysen (Pettit 2016) werden die vom genutzten Online-Tool erzeugten Daten hier in aller Vorsicht als Indizien für die Art und Weise der Entwicklung des Diskurses zur Misophonie gedeutet. So zeigt sich, dass der Begriff 2001 erstmals auftaucht, aber nur in schwacher Frequenz nachzuweisen ist, was ein ganzes Jahrzehnt lang weitgehend so bleibt. Erst ab 2012 ist in englischsprachigen Büchern immer häufiger von der »misophonia« die Rede – die Kurve steigt bis 2019 fortlaufend an.

Abb. 1
figure 1

Suchbegriff »misophonia« im Google Ngram Viewer. Quelle: Google Ngram Viewer, eigene Erstellung, englischer Korpus 2019, Stand: 09.03.23

Auch wenn das hier analysierte Textkorpus lediglich die Zeit bis zum Jahr 2019 abdeckt, deutet eine ergänzende Analyse darauf hin, dass die Publikationstätigkeit zur Misophonie bis heute weiter wächst. So verweist die zur wissenschaftlichen Literaturrecherche konzipierte Suchmaschine »Google Scholar« nach Eingabe des Suchbegriffs »misophonia« insgesamt auf knapp zweitausend wissenschaftliche Dokumente. Knapp die Hälfte dieser Dokumente stammt aus den Jahren 2000 bis 2019, während die andere Hälfte aus der Zeit von 2020 bis Mitte 2023 stammt. Das heißt, für die letzten dreieinhalb Jahre sind in Google Scholar ebenso viele wissenschaftliche Dokumente zur »misophonia« verlinkt, wie für die zwanzig Jahre zuvor. Ein ähnliches Bild zeigt die Recherche im Web Of Science bei einer Gesamtzahl von 217 Dokumenten (vgl. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Suchbegriff »misophonia« in der Web of Science Core Collection. Quelle: Web of Science Core Collection, eigene Erstellung, Stand: 27.04.2023

Auf dieser empirischen Basis lässt sich annehmen, dass der Expert*innendiskurs zur Misophonie um die Jahrtausendwende seinen Anfang nahm, sich spätestens seit dem Jahr 2012 intensivierte und sich in jüngster Zeit nochmals deutlich verstärkt hat. Diese Aufmerksamkeitsschübe innerhalb der Fachöffentlichkeit zeigen, dass die Etablierung der Kategorie nicht linear verläuft und damit ist auch noch nichts über die Anerkennung von Misophonie als Krankheit gesagt. Zuerst einmal zeigt sich lediglich, dass die neue medizinische Kategorie auch im Fachdiskurs zunehmende Beachtung findet.

Ian Hacking kann jedoch zeigen, wie oben ausführlich dargestellt, dass spezifische Wissenschaftspraktiken zur Etablierung neuer Kategorien beitragen können, wobei sich sozial- und naturwissenschaftliche Praktiken unterscheiden lassen. Sozialwissenschaftliche Praktiken zur Herstellung und Etablierung der Misophonie als Personenkategorie liegen dann beispielsweise vor, wenn Expert*innen die Auftretenshäufigkeit der Misophonie erforschen (Zählen, vgl. z. B. Jager et al. 2020; Rouw/Erfanian 2018; Schwemmle/Arens 2021), wenn sie insbesondere durch Tests nach quantifizierenden Diagnosekriterien streben (Quantifizieren, vgl. z. B. Jastreboff/Jastreboff 2002; Remmert et al. 2022; Swedo et al. 2022), entlang dieser Kriterien Normbereiche festlegen (Normieren, vgl. z. B. Schröder et al. 2013) und das Auftreten der Misophonie mit soziodemographischen Merkmalen oder anderen Erkrankungen in einen statistischen Zusammenhang bringen (Korrelieren, vgl. z. B. Schröder et al. 2019; Siepsiak et al. 2020). Naturwissenschaftliche Praktiken zur Etablierung der Misophonie als Kategorie liegen generell vor, wenn der Hass auf Geräusche dominant in medizinischen Begriffen gedacht wird (Medikalisieren, vgl. bereits Jastreboff/Jastreboff 2001 mit der Bezeichnung »Misophonie« und der Beanspruchung der Zuständigkeit der Medizin für die identifizierte Störung) und wenn (neuro)biologische (Biologisieren, vgl. z. B. Schwemmle/Arens 2021) beziehungsweise genetische Ursachen (Genetisieren, vgl. z. B. Sanchez/Silva 2018) des Geräuschehassens herausgestellt werden.

Als soziale Anschlusspraktiken gelten nach Hacking, wie ebenfalls oben erläutert, die Praktiken des Normalisierens, Bürokratisierens und Aufbegehrens. Praktiken des Normalisierens bestehen dabei aus Maßnahmen, Medikamenten und Copingstrategien, die auf eine Linderung des misophoniebedingten Leidensdrucks, auf eine Heilung sowie den Abbau von anomischen Fremd- und Selbstzuschreibungen zielen. Praktiken des Bürokratisierens zielen weiterhin auf eine Institutionalisierung von Tests und Diagnosekriterien sowie die Zuweisung öffentlicher Forschungsmittel. Mit dem Aufbegehren beschreibt Hacking letztlich eine spezifische Anschlusspraxis der Betroffenen bzw. Klassifizierten, die sich im Falle dysfunktionaler Klassifikationen »von unten« gegen Wissenschaft und Bürokratie wenden.

Im Folgenden gehen wir davon aus, dass die genannten Wissenschafts- und Anschlusspraktiken heute zu einem nicht unwesentlichen Anteil online stattfinden und von Lai*innen im Social Web angestoßen, flankiert, vorangetrieben und mitgestaltet werden. Das heißt, wir analysieren am Beispiel der Misophonie den sozialen Prozess des »making up misophonic people online« als interessengetriebene Popularisierung einer medizinischen Kategorie. Dabei gehen wir analytisch in zwei Schritten vor: In einem ersten Schritt untersuchen wir, inwiefern sich im Social-Media-Austausch zur Misophonie Varianten der von Hacking beschriebenen sozial- und naturwissenschaftlichen Praktiken finden lassen. In einem zweiten Schritt widmen wir uns sozialen Anschlusspraktiken im Netz, wobei wir annehmen, dass die von Hacking skizzierten Praktiken des Normalisierens, Bürokratisierens und Aufbegehrens im digitalen Zeitalter zu modifizieren beziehungsweise zu erweitern sind.

4.2 Sozial- und naturwissenschaftliche Praktiken online

Aufgrund der quantifizierenden Logik sozialer Medien ist die sozialwissenschaftliche Praktik des Zählens, die darauf zielt, die je Klassifizierten datenmäßig zu erfassen und darzustellen, im Netz omnipräsent. Da die Nutzung des Social Web fortlaufend Datenspuren hinterlässt, geht die Verwendung sozialer Medien zugleich mit der Her- und Darstellung entsprechenden Zahlenmaterials einher: »[E]very trace we enter into the digital environment of social media platforms, whether direct or indirect, visible or invisible, provides information about us« (Casagrande 2022, S. 153). In diesem Sinne lassen sich in der Social-Media-Verhandlung spezifischer Themen beispielsweise die Anzahl an Posts, die Zahl der Likes, die Follower‑, Freundes- oder Mitgliederzahlen, die Anzahl und Frequenz an Kommentaren oder auch der Umfang an Weiterleitungen im Kontext entsprechender Online-Praktiken des Zählens deuten. Anders als die standardisierten Erhebungen der empirischen Sozialforschung, wie etwa im Kinsey-Report, wurden diese Daten nicht eigens erhoben, folgen keiner methodischen Systematik und erheben auch keinerlei Anspruch auf Repräsentativität. Vielmehr weist dieser »specifically digital way of knowing« (Marres 2017, S. 37) explizit Verzerrungen auf, was sich potentiell aber auch produktiv wenden lässt (Marres 2017, S. 123). Und wenn auch nicht repräsentativ, so erlangen die von Misophonie Betroffenen und ihre Angehörigen doch zumindest einen gewissen Grad an Repräsentation und Sichtbarkeit, der sich in der schieren Menge an Zustimmung, Kommentierung und Unterstützung niederschlägt.

Mit Blick auf misophoniebezogene Online-Praktiken des Zählens lässt sich dann beispielsweise die Entwicklung und Größe der sozialen Netzwerke zum Thema als Relevanzmarker interpretieren: Die größte englischsprachige Facebookgruppe zur Misophonie beispielsweise umfasst aktuell 25.000, die größte deutschsprachige Facebookgruppe mittlerweile über 3000 Mitglieder, die weitgehend aus (Selbst‑)Klassifizierten und deren sozialem Umfeld bestehen dürften. Allein diese Mitgliederstärke der misophoniebezogenen Netzwerke, so lässt sich annehmen, trägt im Sinne des Looping-Effekts zu einem neuen Selbst- und Fremdverständnis von Betroffenen bei. Entsprechend wird beispielsweise auf der Website »Misophonia UK« festgehalten, dass die Misophonie »one of the first fully-fledged diagnoses of the Internet age« darstelle: Während die Krankheit früher »unsichtbar« war, Patient*innen nicht ernst genommen wurden und ärztliche Hilfe nicht existierte, habe sich dies mit dem Austausch und der Mobilisierung von Betroffenen in den sozialen Medien verändert. Zentral in diesem Zusammenhang sei, dass Betroffene im Netz erfahren würden, dass sich der Hass auf Geräusche mit einem Fachbegriff benennen lässt, der nicht nur eine Selbstverortung, sondern auch eine Vergemeinschaftung und Normalisierung erlaubt: »A common refrain is ›I thought I was the only one in the world, until I discovered my condition had a name. I’m so glad there are people out there who understand what I am going through‹«Footnote 3. Dass Betroffene im Online-Austausch erkennen, dass sie nicht allein sind, dass ihr Leiden einen Namen hat und dass es andere Menschen gibt, die ein ähnliches Schicksal erfahren, ist demnach ganz typisch für die im Netz dokumentierten Krankengeschichten (vgl. Goldstein Jutel 2011 für medizinische Diagnosen allgemein).

In diesem Sinne beginnt auch ein stark rezipiertes TikTok-Video von Connor DeWolfe: Mit Blick auf einen zum Mund geführten Eislöffel richtet der Protagonist an sein Gegenüber eine mit Nachdruck geäußerte, dringliche Bitte: »Don’t do it! There’s not enough noise in this room…«.Footnote 4 Die Vorstellung, ohne Hintergrundmusik oder ähnliche Geräuschkulisse den Schleckgeräuschen des Eisessens ausgesetzt zu sein, wird offensichtlich als unerträglich empfunden. Nach kurzem Zwiegespräch hält der vom Eisessen abgehaltene Gesprächspartner im 19-Sekunden-Video fest: »If you have such a strong dislike towards sounds like that, then you have Misophonia!«, woraufhin die erstaunte Antwort des solcherart Diagnostizierten lautet: »Oh, there is a name for that?«. In den über zehntausend Kommentaren zum knapp dreißigtausend Mal geteilten Video finden sich zahllose Selbst- und Fremddiagnosen, kurze Krankheitserzählungen, Erfahrungsberichte und zahllose Vergemeinschaftungsverlautbarungen wie jene von @whoskaroline.22: »I’ve found my people«.

Nach welchen Kriterien sich die Mitgliedschaft zu dieser Gruppe bestimmt, ist im Fall der Misophonie noch in einem Aushandlungsprozess. Eine medizinische Definition und Diagnose nach DSM‑V oder ICD-11 bestehen derzeit nicht (Schwemmle/Arens 2021, S. 7). Ein Beispiel für eine Online-Variante der sozialwissenschaftlichen Praktik des Quantifizierens, das heißt, der zahlenförmigen Bestimmung von Zuschreibungskriterien zu spezifischen Kategorien, findet sich hingegen auf einer britischen Misophonie-Website. Wer die Homepage von »Misophonia UK« öffnet, stößt auf eine kleine Umfrage, die den Titel »What is your worst trigger?« trägt. Als Antwortmöglichkeiten sind Atemgeräusche, Essgeräusche, repetitive Geräusche und eine Sonstiges-Option angeführt. Die verlinkte Auswertung der über 14.000 Antworten zeigt, dass gut 60 Prozent der Befragten Essgeräusche, zehn Prozent repetitive Geräusche, knapp acht Prozent Atemgeräusche und die restlichen 20 Prozent etwas anderes als schlimmsten Trigger ansehen. Unterhalb der Umfrageergebnisse finden sich knapp 200 ältere Kommentare, in denen meist die eigenen Triggergeräusche nochmals ausführlicher erläutert werden. Vielfach ist in den Kommentaren auch die Erleichterung dokumentiert, die Misophonie-Betroffene bei ihrem Erstbesuch auf der Website empfanden, da sie durch die Lektüre der verfügbaren Misophonie-Informationen erstmals in Erfahrung brachten, dass Andere Ähnliches empfinden und erleben. Indem sowohl die häufigsten Trigger (Essgeräusche) und die Variation der Trigger (unter anderem Atemgeräusche) offenbart werden, zu denen sich die Betroffenen dann zuordnen können, werden Normalisierung und Vergemeinschaftung angestoßen, während Normierungspraktiken im Sinne einer Orientierung an Durchschnittswerten oder eines Einhaltens spezifischer Grenzwerte im Fall der Misophonie (bislang) weniger zu beobachten sind. Interessant zur Veranschaulichung von im Netz beobachtbaren Praktiken des Korrelierens sind weiterhin von Expert*innen initiierte Misophonie-Plattformen wie die Online-Präsenz »Patients-like-me«: Hier lässt sich nach Menschen mit ähnlicher Diagnose recherchieren. Wer dies tut, erhält nicht nur eine Kontakt- und Austauschmöglichkeit mit anderen Betroffenen, sondern auch aggregierte Daten, die beispielsweise auf den Zusammenhang von Misophonie und Alter hinweisen. Zusammenfassend lässt sich zu den sozialwissenschaftlichen Praktiken des Zählens, Quantifizierens und Korrelierens festhalten, dass diese jeweils in spezifischen Online-Varianten zu beobachten sind und im öffentlichen Austausch zur Misophonie insgesamt einen zentralen Stellenwert einnehmen.

Die der Etablierung der Misophonie als Kategorie dienenden naturwissenschaftlichen Praktiken (Medikalisieren, Biologisieren, Genetisieren) finden hingegen im Online-Austausch eher indirekte Unterstützung. Dabei ist die Vernaturwissenschaftlichung der Misophonie fraglos im Interesse der Betroffenen: Der wissenschaftliche Nachweis einer physiologischen Ursache erleichtert die Anerkennung der Misophonie als ernstzunehmende Erkrankung und legitimiert den Leidensdruck der Betroffenen. Vielfach zeichnet sich der Social-Media-Austausch zur Misophonie durch einen hohen Grad der Expertisierung aus: Wissenschaftliche Thesen beispielsweise der Genetisierung finden Eingang in den Lai*innendiskurs und insbesondere auf Hilfeseiten wird nicht selten auf den aktuellen Stand der medizinischen Forschung verwiesen.Footnote 5 Darüber hinaus finden sich immer wieder Aufrufe durch die Betroffenen, sich intensiver und auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Störung auseinanderzusetzen. Umgekehrt fällt weiterhin auf, dass insbesondere in jüngerer Zeit in den naturwissenschaftlichen Arbeiten zur Misophonie der Social-Media-Austausch zum Thema eine relevante Bezugsgröße ist: Unter Verweis auf Diskussionsbeiträge in Onlineforen werden in den Studien die mit Misophonie einhergehenden Alltagsprobleme veranschaulicht (Siepsiak/Dragan 2019), im Rückgriff auf soziale Medien gängige Begriffe zur Umschreibung der auslösenden Geräusche plausibilisiert (Brout et al. 2018, S. 1) sowie in sozialen Netzwerken Befragte oder auch Materialien für inhaltsanalytische Untersuchungen rekrutiert (Rouw/Erfanian 2018).

Alles in allem zeigt sich, dass Expert*innen ebenso wie (expertisierte) Betroffene im Social Web sozial- und naturwissenschaftliche Praktiken an den Tag legen, die dem misophoniebezogenen »making up people« dienlich sind: So bestehen die Wissenschaftspraktiken in der von Hacking beschriebenen Form fort, werden aber zunehmend als kooperative Praktiken von Expert*innen und Lai*innen on- und offline durchgeführt. Die Herstellung der entsprechenden Personenkategorie wird demnach in hohem Maße durch den umfassenden Social-Media-Diskurs der Betroffenen geprägt. Hinsichtlich der sozialen Anschlusspraktiken, so nehmen wir an, ist die Verfügbarkeit des Social Web noch folgenreicher: Die Praktiken des Normalisierens, Bürokratisierens und Aufbegehrens selbst verändern sich.

4.3 Soziale Anschlusspraktiken online

Parallel zur Etablierung einer neuen Personenkategorie entstehen, wie oben skizziert, soziale Anschlusspraktiken, die Hacking als Normalisieren, Bürokratisieren und Aufbegehren beschreibt. Im Folgenden arbeiten wir am Beispiel der Misophonie heraus, dass und wie sich diese Praktiken durch den umfassenden Social-Media-Austausch der Betroffenen qualitativ verändern.

4.3.1 Vom Normalisieren zum Popularisieren

So lässt sich die Normalisierung der Misophonie in weiten Teilen als ein Effekt der Online-Popularisierung des Phänomens verstehen. Das heißt, während Normalisierungspraktiken vormals von Expert*innen ausgingen und Vorschläge zu Maßnahmen, Medikamenten und Copingstrategien umfassten, sind es in den Logiken des Social Web insbesondere die von Betroffenen ausgehenden Popularisierungspraktiken, die sich hinsichtlich eines Abbaus anomischer Selbst- und Fremdzuschreibungen als wirkmächtig erweisen.

Anekdotisch lässt sich hier beispielsweise eines der weit über einhundert Interviews des »Misophonia Podcasts« anführenFootnote 6, in dem eine Befragte erzählt, dass die Entdeckung einer Facebookgruppe zur Misophonie einen Durchbruch im Umgang mit ihrer Erkrankung darstellte:

»I don’t know what made me think of this, but the big breakthrough five years ago was thinking, ›Oh my gosh, I wonder if there is anything on Facebook‹ […] I didn’t look too much into like what the group was about. I just posted these pictures and introduced myself. And the response was overwhelming. And then I was like, ›Okay, wow, this is like, this is my world‹« (Jennifer C., S6E5, 15:30).

Einen Einblick in diese unbekannte Welt erhält auch die Twitter-Nutzerin @TheAmberPicota als sie in dem sozialen Netzwerk die Frage aufwirft, ob auch andere sich von Essgeräuschen angegriffen fühlten: »Tell me the truth, I can handle it. Do you feel rage when people chew food in videos/near you? I’m trying to see something«.Footnote 7 Es folgt eine große Zahl an Kommentaren, Misophonie-Diagnosen und eigenen »Entdeckungsgeschichten«, wie beispielsweise jene der Twitter-Nutzerin @SusannahElyse, die Minuten nach der Frage antwortet: »Yes it’s a real thing! I felt so vindicated when I found out it was a real disorder, take that, family who always got mad at me for getting mad at them for eating!«.Footnote 8

Durch das »Entdecken« der Misophonie-Klassifikation fühlen sich Betroffene erleichtert und bestätigt, da sie nun sicher sein können, dass sie unter einer »echten« Störung leiden, dass ihre Wut eine erklärliche Ursache hat und dass sich dem Unverständnis des sozialen Umfelds nun eine wissenschaftliche Erläuterung entgegensetzen lässt. Ganz im Sinne von Hacking bringt die Klassifikation des eigenen Leids ein neues Selbst- und Fremdbild der Betroffenen hervor, eine sichtbare und zählbare Gruppe, die allein in ihrer Online-Präsenz identitätsstiftende Effekte zeitigt. Das heißt, dem misophonischen Empfinden wird durch die dokumentierte Verbreitung, die gemessene Beachtung durch Viele, der anomische Charakter genommen. Nicht verrückt und nicht allein zu sein, sowie eine benennbare Erkrankung zu haben, schafft einen Raum, in dem Anerkennung für das eigene Empfinden möglich wird. Dass diese Erkenntnis die eigene Wahrnehmung normalisiert, zeigt auch beispielhaft ein Kommentar zur oben erläuterten Online-Umfrage, in dem die Userin Deidre ausführt: »I am so glad that I finally know that I am not insane and that this is an actual issue for others as well as me«Footnote 9. Die der Popularisierung der Kategorie geschuldete Sichtbarkeit hat demnach die erfolgreiche Selbstdiagnose als Positiveffekt.

Solche Selbstdiagnosen werden aber – insbesondere in den sozialen Medien selbst – durchaus auch negativ diskutiert. In der Misophonie-Gruppe auf Reddit beschwert sich beispielsweise eins der knapp 60.000 Gruppenmitglieder, dass im sozialen Netzwerk Facebook vielfach Menschen niedrigschwellig behaupteten, unter Misophonie zu leiden:

»Why does everyone think they have Misophonia?? As a misophoniac who’s had it pretty severe since I was 12, I can’t fucking stand it when I see articles about Misophonia and people quote it by saying ›Omg I definitely have this haha‹. Why? Because every time I see it shared as an article on facebook and I see who quoted it by saying that, it’s someone I’ve met irl and THEY’RE PART OF THE PROBLEM. This cannot just be me, I also know that Misophonia is a pretty rare neurological problem and don’t get me wrong, meeting people who’ve also self diagnosed themselves with it for years is pretty extraordinary because it’s fairly unheard of, but every time without fail on Facebook I’ll see at least 6 people shared the same article about it and quote it by saying ›I just found out I have this lol‹ but most of them are irl’s that I’m like nooooo you don’t buddy, every time I meet you, you chew on your nails and smack your gum with your mouth open Kind of a rant post and maybe some misophoniacs can’t relate, but I hope some people get what I’m trying to explain.«Footnote 10

Ausgehend von diesem Post des Users pOcha entwickelt sich eine erregte Diskussion, inwiefern die Beobachtung zutrifft und wie gegebenenfalls mit der Popularität der Selbstdiagnose umzugehen sei. Dabei lässt sich auch die unerwünschte Popularität, wie sie hier kritisiert wird, als eine Auseinandersetzung um belastbare Diagnosekriterien – und damit letztlich auch als Teil des »making up people« – verstehen.

Die lai*innenseitigen Normalisierungspraktiken decken sich somit teilweise mit denen der Expert*innen: Vermeidungsstrategien und Therapiemöglichkeiten werden ausgetauscht, um ein möglichst normales Leben mit Misophonie führen zu können. Durch Popularisierung auf sozialen Medien gewinnt die Normalisierung jedoch eine neue Dynamik. Die Vergemeinschaftungserfahrung des geteilten Leids, die gemeinsame Identifikation unter #misophonie, schafft ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer spezifischen Gruppe. Die Popularisierung über soziale Medien bildet die Basis für die lai*innenseitige Normalisierung von Misophonie als vergemeinschaftende Diagnose.

4.3.2 Bürokratisieren und Kommerzialisieren

Die sozialen Anschlusspraktiken des Bürokratisierens dienen in Hackings Konzept der Umsetzung normalisierender Maßnahmen, der Institutionalisierung von Diagnosekriterien, der Standardisierung beispielsweise von Behandlungswegen und der Zuweisung von Forschungsmitteln. Dabei werden entsprechende expert*innenseitige Bürokratisierungspraktiken online gestützt, wenn z. B. auf RedditFootnote 11 das Fehlen anerkannter Klassifikationskriterien nach ICD oder DSM beklagt oder im Netz zu Geldspenden aufgerufen wird, die unter anderem zur Förderung misophoniebezogener Forschung zum Einsatz kommen sollen.Footnote 12 Auch die Selbsthilfeorganisation »soQuiet«, ein »nonprofit built by people with misophonia for people with misophonia«Footnote 13, ruft zu Spenden auf, die jenseits der Wissenschaftsförderung aber eher der konkreten Unterstützung von Betroffenen dienen.

Neben diesen Spendemöglichkeiten findet bzw. fand sich auf mehreren Plattformen eine Art Misophonie-Merchandising. So wurden bis 2022Footnote 14 auf der Website des bereits erwähnten »Misophonia Podcasts« beispielsweise Taschen, T‑Shirts und Socken mit einem »Misophonia«-Schriftzug verkauft, was gleich mehreren Zwecken dienen sollte: »Wearing the logo supports the podcast and helps raise awareness of Misophonia. Plus, it lets other misophones know you’re one of them. All proceeds go toward production of the podcast, promoting it to a wider audience, and supporting Misophonia research.« Ähnliche Produkte hat auch die bereits erwähnte Organisation »soQuiet« im AngebotFootnote 15. Inwiefern auf Seiten der entsprechenden Anbieter*innen der Support- oder der Profitgedanke dominiert, ist schwerlich auszumachen. Die misophoniebezogenen Produkte lassen sich jedenfalls als expressive Identifikation mit der entsprechenden (Selbst‑)Diagnose sowie Unterstützung der Popularisierung verstehen. Das heißt, solange aufgrund der bislang recht schwachen Bürokratisierung eine institutionalisierte Anerkennung der Misophonie noch aussteht, verschaffen sich die Betroffenen – nicht zuletzt durch Kommerzialisierungspraktiken – selbst (internet‑)öffentliche Sichtbarkeit und Anerkennung.

So stärkt der Relevanzgewinn der sozialen Medien die Position der Lai*innen: Die Kommerzialisierung und Popularisierung der Misophonie geht in erster Linie vom Social-Media-Austausch der Betroffenen aus, was auch zur inhaltlichen Ausweitung der sozialen Anschlusspraktiken führt. Das heißt, die dominant von Expert*innen durchgeführte Bürokratisierung und Normalisierung wird mit den Kommerzialisierungs- und Popularisierungspraktiken der Lai*innen verzahnt. Letztlich verändert sich das Verhältnis der beiden Gruppierungen insgesamt, was abschließend ausgeführt werden soll.

4.3.3 Vom Aufbegehren zur Allianzbildung

Die widerständige Praxis des »Aufbegehrens« stellt in Hackings Konzeption die zentrale Anschlusspraxis von Seiten der Betroffenen dar: Die Annahme ist, dass sich Lai*innen im Fall inadäquater Kategorisierungen gegen die verantwortlichen Expert*innen auflehnen. Vor dem Hintergrund unserer beispielhaften Analyse des Social-Media-Austauschs zur Misophonie möchten wir jedoch behaupten, dass das Aufbegehren die gängigen Anschlusspraktiken von Betroffenen nicht (mehr) adäquat beschreibt. Statt eines konfrontativen Verhältnisses ist vielmehr zu beobachten, dass sich Allianzen aus Lai*innen und Expert*innen bilden, um gemeinsam die Herstellung und Etablierung einer neuen Personenkategorie voranzutreiben.

In diesem Sinne stellen wir der obigen Darstellung des wissenschaftlichen Misophonie-Diskurses im Folgenden eine Analyse des (internet-)öffentlichen Austauschs zum Thema gegenüber. Dabei zeigt sich, dass die Popularisierungspraktiken im Social Web den Wissenschaftsdiskurs zur Misophonie befeuern. Einen ersten Eindruck zum (internet-)öffentlichen Interesse am Thema Misophonie vermittelt eine Auswertung mit dem Analysetool Google Trends. Mit Google Trends lässt sich ab dem Jahr 2004 darstellen, wie sich das wöchentliche Aufkommen an Rechercheanfragen in der Suchmaschine Google zum Begriff »misophonia« in Relation zum Gesamtaufkommen der entsprechenden Google-Recherchen verhält, so dass die Popularität der Suchanfrage im Zeitverlauf erkennbar wird. Das öffentliche Interesse an »misophonia« ist demzufolge bis Mitte des Jahres 2011 sehr verhalten, steigt dann aber Ende September 2011 sprunghaft an – und verharrt bis heute wenigstens auf diesem Niveau (vgl. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Suchbegriff »misophonia« in Google Trends. Quelle: Google Trends, eigene Erstellung, weltweit, Stand: 14.11.22

Dass die Anzahl an Google-Recherchen zum Thema Misophonie im September 2011 plötzlich massiv steigt, ist sehr wahrscheinlich durch einen am 05.09.2011 publizierten Artikel in der New York Times zu erklären. Dieser Beitrag trug den Titel »When a chomp or a slurp is a trigger for outrage« (Cohen 2011), setzte das Thema der Misophonie auf die mediale Agenda und fand insbesondere in den USA schnell Verbreitung. Als Expertin findet in dem Beitrag der New York Times unter anderem die oben bereits genannte Marsha Johnson Erwähnung, wobei nicht nur auf ihre ärztliche Pionierarbeit, sondern auch auf ihre Gründung der zu diesem Zeitpunkt bereits von 1700 Personen genutzten Yahoo-Gruppe »soundsensitivity« hingewiesen wird. Es ist also eine Expertin, die die Vernetzung der Betroffenen untereinander zu einem frühen Zeitpunkt (2005) anstieß. Auch wenn diese Online-Gruppe heute nicht mehr existiert, ist nach wie vor der Social-Media-Austausch zur Misophonie höchst relevant. So diente der New York Times-Artikel womöglich als Initialzündung der öffentlichen Misophonie-Debatte, letztlich sind es aber die sozialen Medien, die spätestens seit Ende 2011 zu einem deutlichen Beachtungszuwachs des Krankheitsbilds beigetragen haben. Vor diesem Hintergrund nehmen wir nun an, dass die ab Ende 2011 steigende (internet-)öffentliche Popularität der Misophonie auch die ab 2012 wachsende wissenschaftliche Publikationstätigkeit zum Thema (vgl. Abb. 1 & 2) forciert hat. Demnach ist weniger ein Aufbegehren der (Selbst‑)Klassifizierten als vielmehr eine Allianzbildung von Expert*innen und Lai*innen zu beobachten.

Dennoch wird die Misophonie in einer neueren Überblicksstudie immer noch als eine »little-known and poorly studied disorder, which still has many information gaps« (Ferrer-Torres/Gimenez-Llort 2022, S. 18) bezeichnet. Diese Lückenhaftigkeit des wissenschaftlichen Wissens könnte es aber auch gerade sein, die der öffentlichen Debatte zur Misophonie Auftrieb gegeben hat. Ein aktueller Überblicksartikel zur Misophonie hält jedenfalls fest, dass sich eine »Imbalance zwischen popularmedialen Interneteinträgen und der wissenschaftlichen Literatur [zeige]. Vor allem Misophonie-Foren sind möglicherweise deshalb so präsent, weil der Austausch von Betroffenen immer dann auch eine große Rolle spielt, wenn die wissenschaftliche und medizinische Auseinandersetzung und Therapie zu diesem Thema eher rar sind« (Schwemmle/Arens 2021, S. 6). Der Expert*innen- und Lai*innendiskurs zur Misophonie ist demnach eng miteinander verwoben, die wissenschaftliche und mediale Agenda stärken sich gegenseitig, teils eilt die Social-Media-Debatte der Wissenschaft sogar voraus.

5 Fazit

Seit gut einem Jahrzehnt lässt sich die internetgetriebene Popularisierung der Misophonie als Krankheitsbild beobachten. Auch jenseits des Internets hat die Diagnose mittlerweile Bekanntheit erlangt, wobei die Verleihung des sogenannten Ig-Nobelpreises einen vorläufigen Höhepunkt der öffentlichen Sichtbarmachung darstellt. »Ignobel« heißt im Englischen »unwürdig«. Entsprechend zeichnet der »Anti-Nobelpreis« seit 1991 Jahr für Jahr in einem Festakt an der Harvard University Forschungsarbeiten aus, die auf den ersten Blick womöglich etwas Lächerliches haben, sich bei näherem Hinsehen jedoch als hochrelevant erweisen können. Der Preis wird demnach laut Selbstbeschreibung verliehen »for achievements that first make people LAUGH then make them THINK«. Im Jahr 2020 ging der medizinische Ig-Nobelpreis an ein belgisch-niederländisches Forschungsteam. Ausgezeichnet wurden Nienke Vulink, Damiaan Denys und Arnoud van Loon »for diagnosing a long-unrecognized medical condition: Misophonia, the distress at hearing other people make chewing sounds«Footnote 16. Einer der Geehrten, Damiaan Denys, gab zu, dass ihn die Auszeichnung erst etwas irritiert habe: »Yet we accepted it because we think it is important that this condition gets the attention«.Footnote 17 Auch wenn der wissenschaftliche Preis nicht unhinterfragt blieb, wurde es von Seiten der Nominierten offensichtlich als Wert an sich begriffen, der Kategorie der Misophonie in der Öffentlichkeit weitere Beachtung zu verschaffen.

Dass es jedoch im Großen und Ganzen weniger die Expert*innen, sondern vielmehr in erster Linie betroffene Lai*innen sind, die für eine Popularisierung des Geräuschehassens sorgen, meinen wir mit der vorliegenden Analyse aufgezeigt zu haben. Gerade für relativ neue und unbestimmte medizinische Kategorien zeigt sich, dass die Betroffenen ein ebenso großes, wenn nicht größeres Interesse als die Expert*innen an der Anerkennung eines Leidens als wissenschaftliche Tatsache haben (vgl. Fleck 1980). Entsprechend führen wir die Etablierung der Misophonie als neue Personenkategorie in erster Linie auf die Popularisierung eigener Erfahrungen im Social Web zurück. Damit bahnt die Popularisierung auf sozialen Medien dem professionellen Zugriff durch die Medizin zumindest teilweise den Weg. Die dortige Selbstklassifikation der Betroffenen harrt gewissermaßen der Legitimierung und zertifizierenden Bestätigung durch die klassischen Gatekeeper des Gesundheitssystems, die letztlich eine Institutionalisierung von Finanzierung und Therapie in Aussicht stellen können. Die medizinischen Expert*innen bringen demnach typischerweise das soziale Kapital der Profession ein, während für die betroffenen Lai*innen gilt, dass sie das popularisierende Potential sozialer Medien mit ins Spiel bringen. Das heißt, hinsichtlich der Misophonie ist weniger eine machtvolle Durchsetzung professioneller Deutungshoheit und Expertise als vielmehr eine von betroffenen Lai*innen selbst vorangetriebene Herstellung und Popularisierung der Misophonie als Personenkategorie zu beobachten. Im Prozess der Popularisierung verschränken sich die Praktiken der Lai*innen mit jenen der Expert*innen, stabilisieren sich gegenseitig und stellen so letztlich eine funktionierende Personenkategorie her.