1 Expertenwissen: Ein Bürgermeister und seine Verwaltung

»Große Resonanz auf Geisweider Bürgergespräch« – unter diesem Titel berichteten die Stadt Siegen und der Bürgermeister der Stadt, Steffen Mues, auf ihren Websites am 7. April 2017 über eine öffentliche Veranstaltung in dem genannten Stadtteil. In dem Bericht des Bürgermeisters heißt es dazu:

Bürgermeister Steffen Mues (CDU) und weitere Fachleute der Stadtverwaltung nahmen zu aktuellen Themen aus dem Stadtteil im Rahmen des »Geisweider Bürgergesprächs«, zu dem die Stadtverwaltung eingeladen hatte, Stellung. Mehr als 150 Bürgerinnen und Bürger waren am Dienstag, 4. April 2017, ins Rathaus gekommen.

Bürgermeister Steffen Mues begrüßte die Bürgerinnen und Bürger im voll besetzten Großen Sitzungssaal des Geisweider Rathauses: »Es ist besser miteinander, statt übereinander zu sprechen und in einen Dialog zu treten.« Oft bestünden falsche Vorstellungen über Handlungsmöglichkeiten einer Kommune, deshalb habe er die Initiative zu diesem Bürgergespräch ergriffen. Rund zweieinhalb Stunden dauerte der anschließende Informations- und Diskussionsabend. Zunächst berichteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung – Stadtbaurat Henrik Schumann, Dr. Imke Schneider, Leiterin der Rechtsabteilung, und Isabel Briese, stellv. Leiterin der Abteilung Stadtentwicklung und -planung – aus »erster Hand« über den Stand von für Geisweid wichtigen Themen und Projekten.

Dazu gehörten u. a. die aktuelle Rechtslage bei Vergnügungsstätten und Wettbüros, die Steuerung von Spielhallen und Wettbüros durch die Bauleitplanung sowie der Sachstand zur Vollsortimenter- und Discounter-Ansiedlung im Zentrum. Stadtbaurat Henrik Schumann betonte, dass in den vergangenen Jahren besonders viele Städtebaufördermittel in verschiedene Geisweider Projekte geflossen sind.

Nach den kurzen Impulsvorträgen eröffnete Bürgermeister Mues das Diskussions- und Frageforum: »Ziel sollte sein, gemeinsam zu überlegen, was wir unternehmen können, um Ihre Hinweise auf Missstände in Ihrem Stadtteil sowie Ideen und Vorschläge in Angriff zu nehmen und, wenn immer möglich, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.« Es entstand eine intensive und engagierte Diskussion.

Fragen zu »ihren« Themengebieten beantworteten die ebenfalls anwesenden, zuständigen Verwaltungsfachleute: Dezernent André Schmidt für den Geschäftsbereich Kinder, Jugend und Familien, Bildung, Soziales, Wohnen, Michael Langenbach, Leiter der Ordnungs- und Stadtreinigungsabteilung, Anke Schreiber, Leiterin der Straßen- und Verkehrsabteilung, Elmar Diehl, Leiter der Arbeitsgruppe Stadtreinigung, Christoph Schmelzer, Leiter der Arbeitsgruppe Gewerbe, und Reinhard Schneider von der Bauaufsicht. (Quelle: Stadt Siegen)Footnote 1

Mit der Veranstaltung knüpften Bürgermeister und Stadt implizit an öffentliche Unmutsäußerungen über einige der erwähnten Themen im Stadtteil an, auch noch auf der Veranstaltung selbst monierten Teilnehmende im Publikum die Verunstaltung des Stadtbilds durch Spielhallen, Wettbüros, Shisha-Bars oder Billard-Cafés. Alles »Taugenichts-Geschäfte«, wie einer der Zuhörer deutlich wurde.Footnote 2

In dieser politisch aufgeheizten, von latenter sozialer Ausgrenzung und Behördenkritik gekennzeichneten Situation ergriffen Stadt und Bürgermeister, so ihre oben zitierte Interpretation der Veranstaltung, die »Initiative«, indem sie selbst zu einem »Informations- und Diskussionsabend« einluden und in diesem Kontext die Themen der Bürger aus ihrer Sicht perspektivierten und in größere Zusammenhänge einbetteten (Geschichte und Identität des Stadtteils; Projekte der Stadtentwicklung; Supermarkt- und Discounter-Ansiedlung; diverse »Missstände, »Ideen«; »Vorschläge« aus Bürgersicht).Footnote 3 Auch sollten, wie der Bürgermeister in seiner Rede zu Beginn der Veranstaltung ankündigte, unwahre Gerüchte korrigiert werden, etwa der »Mythos«, die Stadt sei an Spielhallten finanziell interessiert, oder die Annahme, die Stadt könne die Ansiedlung von Gewerben nach Belieben gestatten oder verbieten.

Die (Interpretation der) Veranstaltung zeigt exemplarisch einige Charakteristika gegenwärtiger Kommunikation in deutschen Kommunen, die im Folgenden im Überblick skizziert werden.

Herausgehobene Stellung des Bürgermeisters.

Im politisch-kommunikativen Kräfteverhältnis zwischen (1) Bürger*innen, (2) Bürgermeister*in, (3) Kommunalverwaltung und (4) Kommunalrat nehmen die Bürgermeister*innen auf der kommunalen Ebene eine herausgehobene Stellung ein (Kost 2012, S. 5). Diese fußt nicht nur auf der »Kompetenzausstattung« ihres Amtes (u. a. als Leiter*innen der Verwaltung), sondern auch auf der Kommunalverfassung nach dem »süddeutschen« Modell Baden-Württembergs, die seit 1990 in den neuen Bundesländern und schließlich in allen deutschen Flächenländern etabliert wurde (ebd.; Gehne 2012, S. 23): Entsprechend dieser Verfassung werden Bürgermeister*innen direkt von den Bürger*innen gewählt, was ihre Legitimation und Durchsetzungsfähigkeit in dem skizzierten Kräftefeld in verschiedene Richtungen potenziell erhöht (Kost 2012, S. 5). In der Folge gelangen v. a. hauptamtliche Bürgermeister*innen verstärkt ins »Licht der kommunalen Öffentlichkeit« und können der kommunalen Politik ihren Stempel aufdrücken (Kost 2012, S. 6).

Neue Formate der Bürgerbeteiligung.

Zudem wurde in die Ordnungen der Gemeinden das Element von Referenden, wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, eingeführt, was wiederum die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger*innen vergrößerte (ebd.). Neben solchen rechtlich garantierten Partizipationsformen kommt es – vor dem Hintergrund längerfristiger kultureller Entwicklungen, von denen noch zu sprechen sein wird (vgl. Abschnitt 2) – in Kommunen heute zu vielfältigen weiteren Formaten der Bürgerbeteiligung (vgl. z. B. Breitkopf/Börner in Vorb.). Diese können von Bürger*innen initiiert sein oder von den offiziellen Akteuren (vgl. Gehne 2012, S. 104). In die zweite Kategorie fallen etwa Bürgersprechstunden des Bürgermeisters, mit denen allgemein ein Signal der ›Ansprechbarkeit‹ (vgl. Gehne 2012, S. 102) verbunden ist, wie es unter den Näheverhältnissen der Kommunalpolitik viel eher möglich ist als auf anderen Ebenen des politischen Systems. Auch das Bürgergespräch in Geisweid (dessen Bezeichnung variierte) gehört zu den innovativen Formaten der Partizipation, die Bürgermeister*innen und Kommunen, durchaus auch programmatisch, ins Leben rufen. Dementsprechend heißt es in der (Selbst‑)Darstellung des Bürgermeisters auf der Website der Stadt Siegen unter der Überschrift »Im Dialog«:

Um beispielsweise neue Projekte in der Siegener Stadtplanung und Stadtentwicklung vorzustellen und mit Bürgerinnen und Bürgern direkt ins Gespräch zu kommen, initiiert der Bürgermeister unter anderem sogenannte Bürgerinformationsabende. Ein solches »Bürgergespräch« fand zum Beispiel im Geisweider Rathaus statt. Der Bürgermeister und die Fachleute aus den verschiedenen Abteilungen der städtischen Verwaltung stellen sich dabei den direkten Fragen und Anliegen ihrer Zuhörerschaft. Es ist besser miteinander statt übereinander zu sprechen, lautet eine Maxime des Bürgermeisters.Footnote 4

Verwaltungsexperten im öffentlichen Bürgergespräch.

Bemerkenswert mit Blick auf die Experten-Laien-Thematik ist an dem Geisweider Beispiel, dass der Bürgermeister nicht nur selbst als Verwaltungsfachmann und »Gallionsfigur« [sic] der Verwaltung (Gehne 2012, S. 10) in Erscheinung tritt (vgl. die eingangs zitierte Darstellung, wonach »Bürgermeister Steffen Mues (CDU) und weitere Fachleute der Stadtverwaltung […] zu aktuellen Themen aus dem Stadtteil […] Stellung« nahmen). Vielmehr fungierte er auch als popularisierender Vermittler zwischen den Fragen und Anliegen der Bürger*innen und den Expert*innen aus der Verwaltung, indem er beide miteinander in ein Gespräch brachte und deren Perspektiven thematisch aufeinander bezog. Dabei traten die Fachleute, die im Alltag vor allem innerhalb der Bürokratie und in offizieller Bürger-Verwaltungskommunikation Probleme bearbeiten, ihrerseits als Expert*innen in die Öffentlichkeit, nicht nur im Kommunalrat, sondern auch in dem populäreren Format des Bürgergesprächs, in dem sie »aus erster Hand« Auskunft geben sollten.Footnote 5 Die Popularität des Bürgergesprächs wurde durch Messung der Publikumsresonanz belegt und in dieser Form zur weiteren Erlangung von Aufmerksamkeit medial inszeniert (wir kommen in Abschnitt 2 auf derartige Logiken der Herstellung von Popularität zurück): »Mehr als 150 Bürgerinnen und Bürger waren am Dienstag, 4. April 2017, ins Rathaus gekommen« (Websites des Bürgermeisters und der Stadt Siegen).Footnote 6

Die Rolle der Experten aus der Verwaltung lässt sich mit Stehr/Grundmann (2010) begrifflich präziser bestimmen. Die Autoren beziehen den Expertenbegriff für die Gegenwartsgesellschaft nicht nur auf Wissenschaftler*innen und prominente Ratgeber und Berater in Politik und Wirtschaft, vielmehr werden Expert*innen allgemeiner bestimmt als

Personen, von denen angenommen wird, dass sie aufgrund ihres routinemäßigen Umgangs mit bestimmten Themen Erfahrungen in relevanten Handlungskontexten gesammelt haben und daher Vertrauen sowie gesellschaftliches Ansehen genießen. (Stehr/Grundmann 2010, S. 9)

Charakteristisch für Expert*innen (in diesem Kontext referenzidentisch auch: Berater, Ratgeber) ist dabei, dass sie in unterschiedlichsten Rollen und Funktionen als »Vermittler« auftreten (ebd., S. 18 f., S. 43), indem sie Wissen zu Ressourcen des Handelns und Gestaltens (um-)formen und den Klient*innen bereitstellen (vgl. ebd., S. 12, S. 20):

Zu diesen Aufgaben gehört, Handlungsprioritäten für die Klienten zu setzen, Situationen zu definieren und insbesondere die Interpretationsspielräume uneindeutigen und oft auch strittigen Wissens zu reduzieren. (Ebd., S. 48)

Expertenwissen verringert also Komplexität und erhöht die Sicherheit von Entscheidungen (ebd., S. 45).Footnote 7 Dies gilt nicht zuletzt auch für den Kontext der Bürokratie, die mit Weber als »Herrschaft kraft Wissen« definiert wird (Weber 1976, S. 52, zitiert nach Stehr/Grundmann 2010, S. 52).

Bürokratisierung von Politik, Politisierung von Bürokratie.

Im Zuge des Dialogs wurden auf der Diskurs- und Wissensebene politische Probleme in bürokratisch (teilweise nicht) zu lösende transformiert, wie sich etwa auf der lexikalischen Ebene an rechtlich-administrativer Terminologie zeigte (Vergnügungsstätten; Steuerung durch Bauleitplanung; Vollsortimenter- und Discounter-Ansiedlung; Städtebaufördermittel, mündlichFootnote 8 auch: Händlerbesatz; Trading down-Effekt). Umgekehrt wurde das bürokratische Wissen in den Kontext politischer Argumentation (korrigierende, werbende, legitimierende etc.) gestellt und als Lösungsressource für politische Konflikte eingesetzt. Im Ergebnis verschob sich die (geteilte) Definition ›der Probleme‹Footnote 9 in eine Richtung, die von Ausgrenzungen und Schuldzuweisungen wegführte und praktische Gestaltungsmöglichkeiten in den Fokus rückte. Ob hierbei auch vermittelt bzw. verstanden wurde, dass das Recht nicht nur ein Hemmschuh bei der Umsetzung von Bürgerinteressen ist, sondern einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Bürgerinteressen herstellt, erscheint allerdings insofern fraglich, als andere Interessen, etwa die von Betreibern der kritisierten Gewerbe, in der Diskussion wohl nicht repräsentiert waren.Footnote 10

Wenn Bürokratie als ›Herrschaft kraft Wissen‹ (Weber 1976) verstanden wird, stellt sich die Frage, welche Akteure im kommunalpolitischen Kräftefeld von der expertischen Wissensvermittlung durch Verwaltungsfachleute im Bürgerdialog machtbezogen profitieren. Als Alternative zu Habermas’ Unterscheidung zwischen technokratischem, dezisionistischem und demokratischem Wissensgebrauch im Kontext politischer Entscheidungen fassen Stehr/Grundmann den »Gebrauch von Wissensansprüchen zum Erreichen politischer Ziele« als »Wissenspolitik« (Stehr/Grundmann 2010, S. 83), mit prinzipiell offenem Ausgang: Zwar nähmen Expert*innen durch den Modus operandi ihrer Tätigkeit »oft eine führende Rolle in der Definition von Fragen und in der Identifizierung möglicher Lösungen« ein:

Es sind jedoch die involvierten Laien und die breitere interessierte Öffentlichkeit, die schlussendlich über die Glaubhaftigkeit der verschiedenen Vorschläge entscheiden. Solche Veränderungen der öffentlichen Glaubhaftigkeit werden nur sehr unwahrscheinlich einem Konsens-Modell folgen. Es ist realistischer anzunehmen, dass die eine Seite schließlich die Oberhand über die andere gewinnen wird. (Stehr/Grundmann 2010, S. 84)

In diesem Sinn könnten Bürgerdialoge zu jener »Demokratisierung« und Pluralisierung von Beratung einen Beitrag leisten, die »für unser Zeitalter […] typisch« sei (ebd., S. 18).

Allerdings kann mit Blick auf die herausgehobene Stellung der Bürgermeister*innen sicher auch auf den allgemeinen Umstand hingewiesen werden, dass politisch Mächtige zumeist über die Fähigkeit verfügen, »Expertise durch Gegenexpertise in Zaum zu halten und beide bei Bedarf gegeneinander auszuspielen« (ebd., S. 60). Zudem kann Beratung von Regierenden funktional darauf verkürzt werden, wissensbasierte Entscheidungen weniger in der Sache, als durch den indexikalischen Verweis auf expertische Autorität zu legitimieren (ebd., S. 47). Dem wiederum können sich seriöse Experten entgegenstellen, wenn sie in der »Rolle des ehrlichen Maklers […] keine Verengung der Optionen vorzunehmen, da dies einer Parteinahme gleichkäme« (ebd., S. 48 mit Bezug auf das Buch The Honest Broker von Pielke 2007). Letztlich handelt es sich also um ein mikropolitisches Spiel der Kräfte, das in der Interaktion bzw. in dialogischen Formaten des öffentlichen Diskurses ausgehandelt wird.

Mikro-Organisation von Beteiligung.

Entsprechend einer vorab geplanten und zu Beginn der Veranstaltung öffentlich kommunizierten Struktur führte in der SituationFootnote 11 nach »Impulsvorträgen« der Expert*innen das Gespräch im »Diskussions- und Frageforum« – abgesehen von einigen auf Nachfrage ergänzten Informationen – von den ursprünglichen thematischen Anlässen für die Veranstaltung rasch weg, hin zu einem breiten Spektrum von Sorgen der Bürger*innen, darunter Straßenqualität, kommunale Finanzsituation, Stadtreinigung, »Taubendreck«, Werbedisplays und ÖPNV. Die diversen Anliegen wurden – zum Teil unter Einbindung weiterer Verwaltungsfachleute, die sich bereitgehalten hatten – in der Situation kommunikativ und – auf der Wissensebene – bürokratisch bearbeitet, wobei der Bürgermeister in seiner Moderation zwischen generelleren Aufgaben/Maßnahmen und dem In-Aussicht-Stellen individueller Hilfe unterschied. Der Bürgermeister schloss mit einem nachdrücklichen Kontaktangebot und Informationen über diverse Kommunikationswege. Eine genaue Untersuchung der Organisation von Partizipation auf der Mikroebene der Interaktion (vgl. z. B. Mondada/Svensson/van Schepen 2015) ist freilich nur auf der Basis von Gesprächsaufzeichnungen möglich, die in dem Geisweider Beispiel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich waren. Wir kommen in Abschnitt 4 auf diese Ebene zurück.

Beide Gegenstandsbereiche der Bürgermeisterkommunikation – die Ebene des Diskurses (Begriffe, Argumentation etc.) und die Ebene der Interaktion (Interaktionsorganisation; Wissensverarbeitung) – stehen mit Blick auf verschiedene Kommunikationsformen (Face-to-face; Presse; Soziale Medien u. a.) im Mittelpunkt des germanistisch-sprachwissenschaftlichen Projekts C04 »›Einer von uns‹ – Diskursive Konstruktionen, Medien der Partizipation und sprachliche Praktiken der Bürgermeisterkommunikation in der Krise politischer Repräsentation« im Sonderforschungsbereichs 1472 »Transformationen des Populären«.Footnote 12 Der vorliegende Beitrag widmet sich der (sich wandelnden) Rolle von Experten- und Laienwissen in kommunaler Politik und Verwaltung von einer ethnomethodologisch inspirierten und interaktionslinguistischen Warte aus. Bevor in Abschnitt 4, anknüpfend an das Geisweider Beispiel, ein Bürgerbeteiligungsformat – der »Vereinsfrühschoppen« in einer anderen Kommune – betrachtet wird, werden die für eine entsprechende Analyse erforderlichen theoretisch-begrifflichen Grundlagen zu Wissenszuschreibungen, epistemischen Positionierungen und Common ground in der Interaktion in einem kurzen Überblick rekapituliert (Abschnitt 3).

Da in der Analyse besonders das Handeln des Bürgermeisters fokussiert werden soll, wird zuvor noch der erste Abschnitt zum Thema »Expertenwissen: Ein Bürgermeister und seine Verwaltung« durch eine komplementäre Betrachtung des Themas »Laienwissen: Die Bürger*innen und ihr Bürgermeister« ergänzt (Abschnitt 2). In diesem Zusammenhang werden der vorliegende Beitrag und das Projekt zur Bürgermeisterkommunikation auch zu den Fragestellungen des Sonderforschungsbereichs 1472 »Transformationen des Populären« in ein Verhältnis gesetzt.

2 Laienwissen: Die Bürger*innen und ihr Bürgermeister

Gegenstand des Sonderforschungsbereichs »Transformationen des Populären« ist die Untersuchung von Ursachen und Folgen der »sich historisch wandelnden Beobachtungs‑, Inszenierungs- und Mitteilungsmöglichkeiten des Populären« (Döring et al. 2021, S. 5). Unter dem Begriff einer »Popularisierung zweiter Ordnung« richtet sich der Blick für das 20. Jahrhundert und die Gegenwart hierbei auf »Popularisierungsverfahren, die Populäres herstellen, indem sie seine Beachtung durch viele feststellen und ausstellen« (ebd., S. 13). Dabei, so die Heuristik, sei das Kriterium, »[o]b etwas oder jemand bei vielen Beachtung findet, […] mehr und mehr zu einem prägenden, schließlich entscheidenden Faktor gesellschaftlicher Entwicklung geworden« (ebd., 3). Für die Politik ist hier neben klassischen Wahlen etwa an Demoskopie und Publikumsforschung zu denken (vgl. ebd., S. 9). Hieraus resultierende »unerwünschte Popularität«, die ihrerseits politisch instrumentalisiert und befeuert werden kann, fordert etablierte Institutionen heraus und wird dementsprechend von diesen teilweise mit negativer Bewertung als »Populismus« charakterisiert (vgl. ebd., S. 17).

Popularisierung und Populismus werden maßgeblich getragen von einer Performativität des Quantitativen, die kulturelle Relevanz an gemessene und inszenierte Beachtung bindet. Dies kann traditionelle Institutionen unter den Druck bringen, sich selbst als populär zu erweisen, alternativ findet sich auch der Versuch, die überlieferten Wertsetzungen im Rahmen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in der Moderne resilient oder resistent als Geltungsansprüche in Praxis und Diskurs aufrechtzuerhalten (vgl. ebd., 6). In den damit einhergehenden Aushandlungen kommt das politische Leitbild der Partizipation, das mit diversen Anstrengungen einer Popularisierung einhergeht, gegenwärtig verstärkt zum Tragen (Albrecht-Birkner et al. in Vorbereitung).

In der Folge von »1968« geht es zum einen um verstärkte Anstrengungen zur Inklusion breiter Bevölkerungsschichten, zum anderen um die identitätspolitische Dimension eines »hedonistischen Selbstverwirklichungsstils«, der in politische Forderungen mündete (vgl. Scharloth 2011; vgl. auch Scharloth, in diesem Heft). Im Schnittpunkt beider lag eine Form der »Selbstaufklärung« (Scharloth 2011, S. 69), die sich aus verschiedenen Quellen speiste: Die Rede ist von der »Entdeckung des Performativen« (ebd., S. 68-75), die ausgehend von Sprachphilosophie (Austin), Mikrosoziologie (Garfinkel) und Linguistik (Hymes), von künstlerisch-intellektuellen Ansätzen (Fluxus, Performancekunst) bei Akteuren wie der »Situationistischen Internationale« und der »Subversiven Aktion« sowie politischen Aktionsformen (»direkte Aktion«) der Bürgerrechtsbewegung in den USA in Praktiken der Studentenrevolte mündete. Diese sollten der kapitalistischen Entfremdung durch eine »Störung der rituellen Ordnung« (Scharloth 2011, S. 68) entgegentreten, und zwar mit Blick auf das Innenleben der Beteiligten (Bedürfnisse, Gefühle) wie auf die sozialen und politischen Verhältnisse (vgl. ebd., S. 69, S. 71). Die performativen Störungen sollten wie in den amerikanischen Protestbewegungen als Mittel fungieren

zur Selbstaufklärung und Mobilisierung, zur Herstellung von Öffentlichkeit, zur Hinterfragung von Autoritäten und zur Kritik der symbolischen Ordnung. Für ihre Akteure ist Performanz eine Handlungskategorie und sie operieren mit dem erhofften transformatorischen Potenzial ihrer Inszenierungen. (Ebd., S. 69)

Im historischen Ergebnis wirkten nicht nur die kurzfristige Revolte, sondern auch ihre dauerhaften und gesamtgesellschaftlichen Folgen tief in den Alltag hinein und veränderten die (kommunikative) Praxis in verschiedenen Institutionen zugunsten von (inszenierter) Egalität, Beteiligung und Popularisierung nachhaltig. Dabei wurde das Performative »von größeren Bevölkerungsgruppen als Handlungskategorie entdeckt« (ebd., S. 68).

Derartige Entwicklungen gingen tendenziell mit einer Delegitimierung von Herrschaft – speziell auch in Form von »Technokratie« (Stehr/Grundmann 2010, 81) – einher, aber auch mit komplementären Anstrengungen zu deren Umgestaltung oder Wiedererlangung durch »(mehr) Partizipation«. Im politischen Kontext steht neben »Partizipation« die Forderung bzw. Ermöglichung von »Teilhabe« – diese hat zum Ziel, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, von der Sozialhilfe bis zum subventionierten Theater, zu inkludieren (vgl. Burzan et al. 2008). Im Kontext liberaler Verwaltungsreformen wird zudem gefordert, dass die Verwaltung möglichst »bürgerfreundlich« agiert, was wiederum eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an (verständigungsorientierter) Interaktion relevant macht (vgl. Rosenberg 2014; Albrecht-Birkner et al. in Vorbereitung).

Auf der Ebene der Kommunalpolitik wurden, wie bereits erwähnt (vgl. Abschnitt 1), ausgehend vom »süddeutschen Modell« seit 1990 die Kommunalverfassungen zunächst in den neuen Bundesländern, dann in einer weitreichenden Reform in ganz Deutschland in einer Weise (um-)gestaltet, die der Bevölkerung und dem von ihr direkt gewählten Bürgermeister gegenüber der Verwaltung und dem Kommunalrat, aber auch gegenüber den Parteien einen größeren Einfluss verschaffen sollten (vgl. Gehne 2012, S. 23, S. 132). Im Ergebnis sei, so David Gehne in einer instruktiven Überblicksdarstellung (ebd., S. 133), zumeist

der Bürgermeister die bekannteste Person in Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Durch die Direktwahl hat er eine besondere Verbindung zur Bürgerschaft, die auch den Einfluss von Parteien begrenzen kann. Denn er verdankt sein Amt dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Das schafft auch eine besondere Verpflichtung, für die Bürgerschaft da zu sein. Diese hat nicht immer ganz widerspruchsfreie Erwartungen an ihren Bürgermeister. Er soll »Einer von uns« sein, also nicht distanziert. Er soll aber auch »Einer für uns« sein, nämlich als führungsstarke Persönlichkeit Entscheidungen treffen. Vor allem die unangenehmen. Dieser Widerspruch lässt sich wahrscheinlich nicht völlig auflösen, Offenheit, Glaubwürdigkeit und Kommunikation können aber dabei helfen.

Weit mehr als politische Akteure auf der europäischen, der Bundes- oder der Landesebene, können Bürgermeister*innen – »vor allem in kleineren und mittleren Städten und Gemeinden, die immer noch das Bild von Kommunalpolitik in vielen Regionen Deutschlands prägen« (Gehne 2012, S. 52) – auf einer interpersonalen Ebene auch »menschlich« (Weber 2017) mit Bürger*innen in Kontakt kommen. Formate wie das Geisweider Bürgergespräch weisen dabei einen hybriden Charakter auf: Während der Informationsteil eher eine klassische Popularisierungsanstrengung (in SFB-Diktion: »erster Ordnung«) darstellt, indem aus Institutionssicht relevantes Fachwissen für ein breiteres Publikum aufbereitet wird, ermöglicht der Diskussionsteil die Erfahrung, bis zu einem gewissen Grad aktiv in organisationale Entscheidungen der Verwaltung durch Interaktion eingebunden zu werden (vgl. Hausendorf 2008).

Mit derartigen Sozialformen und einer öffentlichen Popularisierung (»zweiter Ordnung«), die ihre beträchtliche Resonanz (quantitativ) ausstellt und vergrößert, reagieren Kommunen auf den Anspruch der vielen, die ihnen zustehende Beachtung nicht nur in relativ seltenen und abstrakten Wahlen zu finden, sondern auch zu den Zeiten und in denjenigen aktuellen Kontexten, in denen sie sich kollektiv artikulieren. Schließlich wird im Dialog nicht nur das angewandte Expertenwissen durch Politisierung populär, sondern auch das transformierte Laienwissen durch Bürokratisierung expertisch. Da Wissen im Zuge seiner Vermittlung und Anwendung immer auch handlungsbezogen transformiert wird (vgl. Stehr/Grundmann 2010, S. 44), ist die Wissenskommunikation eingebettet in einen politischen Verhandlungsprozess mit dynamischen Gewinnen und Verlusten auf allen Seiten (vgl. ebd., S. 83).

3 Die »Mikroebene«: Wissen in Interaktionsprozessen

Die epistemische Dimension von Interaktion gehört, anknüpfend an klassische psycholinguistische Studien (z. B. Clark 1996), zu den etablierten Gegenstandsbereichen der linguistischen Gesprächsanalyse (z. B. Reineke 2016).Footnote 13

Kommunikatives, soziales Handeln beruht auf Annahmen über das Wissen des anderen, auf dem mit eigenen Äußerungen und Handlungen aufgebaut werden kann (vgl. Tomasello 2009, S. 85-93). Dieses vorausgesetzte Wissen kann gestützt sein auf eine gemeinsame, sich entfaltende Situation, eine längere interpersonale Interaktionsgeschichte oder (vermeintlich) geteiltes kulturelles Wissen (z. B. von Einwohner*innen einer Kommune oder Angehörigen einer politischen Partei). (Annähernde) Sicherheit über das Wissen des anderen bieten – neben der gemeinsamen Erfahrung – nur wissensbezogene Äußerungen (vgl. Reineke 2016, S. 9; S. 15): In dialogischer Kommunikation wird wechselseitiges Verstehen explizit (z. B. durch Hörersignale) oder implizit (z. B. durch den weiteren Gebrauch einer Fachsprache) aufgezeigt (vgl. Reineke 2016, S. 39), im Ergebnis dieses als Grounding bezeichneten Prozesses kann geteiltes Wissen – ein Common ground – interaktiv konstituiert werden:

»Two people’s common ground is, in effect, the sum of their mutual, common, or joint knowledge, beliefs, and suppositions« (Clark 1996, S. 93).

Andererseits können sich – etwa im Small Talk am Arbeitsplatz – Annahmen über geteiltes Wissen im Verlauf der Interaktion als falsch, u. U. auch als sozial inakzeptabel erweisen (vgl. etwa Holmes 2005, S. 354).

Wie sicher jemand hinsichtlich seines Wissens ist, kann er oder sie durch eine epistemische Modalisierung seiner Äußerungen sprachlich ausdrücken (vgl. Reineke 2016: 41): Mittel zum Ausdruck der epistemischen Modalität (Epistemic modality) sind nach Reineke (2016) z. B.

  • Modalverben (»Diese Gewerbeansiedlung dürfte einen Trading down-Effekt nach sich ziehen«),

  • Satzadverbien (»Diese Gewerbeansiedlung zieht vermutlich einen Trading down-Effekt nach sich«),

  • Modalpartikeln (»Diese Gewerbeansiedlung zieht wohl einen Trading down-Effekt nach sich«),

  • Verbmodus (»Er sagte, dass diese Gewerbeansiedlung einen Trading down-Effekt nach sich ziehe«) und

  • Verben mit wissensbezogener Bedeutung (»Ich vermute, dass diese Gewerbeansiedlung einen Trading down-Effekt nach sich zieht«).

Teilweise wird in der Literatur zwischen epistemischer Modalität mit Bezug auf den Gehalt der Aussage und evidentieller Modalität (Evidential modality) mit Bezug auf deren Quellenabhängigkeit unterschieden, wobei in den meisten Fällen kontextabhängig die eine und die andere Interpretation möglich sind (vgl. Scharloth/Obert/Keilholz 2019, Abschnitt 5). Auf diese Feindifferenzierung wird in den folgenden Analysen verzichtet.

Auf Wissen und Quellen bezogene Sicherheit und Geteiltheit können in der Interaktion zum Gegenstand von Aushandlungen und Differenzierungen werden (vgl. Reineke 2016, S. 12, mit Bezug auf Clark 1996).

Mit dem Ausdruck einer wissensbezogenen Einstellung oder Haltung (Epistemic stance) zu einem Gegenstand oder Sachverhalt, die oft auch mit einer evaluativen Einstellung (Evaluative stance) verwoben ist (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021, S. 68), gehen soziale Positionierungen einher: Insofern sich das herangezogene Wissen z. B. auf Gruppenzugehörigkeiten oder interpersonale Beziehungen stützt, bringen Sprecher*innen gleichzeitig zum Ausdruck, wo sie sich in der Gesellschaft verorten bzw. wo sie verortet werden wollen (Selbstpositionierung) (vgl. Hrncal 2020, S. 36). Zugleich positionieren sie ihr Gegenüber im Verhältnis zu sich selbst und zum Gegenstand und können umgekehrt von diesem positioniert werden (Fremdpositionierung) (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021, S. 65; 70-71; Reineke 2016, S. 46). Das Einnehmen und Aushandeln der Evaluative (und Epistemic) stance wird als Stance taking bezeichnet (vgl. Hrncal 2020, S. 39), Du Bois (2007) konzeptualisiert diesen Zusammenhang als ein Dreieck zwischen dem Subjekt, das eine entsprechende Interaktion initiiert, dem zu bewertenden Objekt und den Interaktionspartnern, die adressiert werden und daran anschließen. Positionierungsprozesse gehen mit sozialen Kategorisierungen einher (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021, S. 39).

In der Interaktion sind epistemische Positionierungen mit Zuschreibungen des epistemischen Status (Epistemic status) der Beteiligten verbunden (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021, S. 65 f.). Der epistemische Status bezieht sich auf Wissensbestände und -zugänge, die jemandem in der Interaktion zugeschrieben werden. Vom epistemischen Status hängt ab, welche Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten eine Person aufgrund ihres Wissens in der Interaktion zukommen (vgl. Hrncal 2020, S. 35). Dabei ist der epistemische Status keine fixe, innere Eigenschaft von Personen, sondern er wird relativ zu anderen Interaktionsteilnehmenden in der Interaktion dynamisch hergestellt und dargestellt. Das Wissen der Beteiligten kann zwischen den Polen vollständiges Wissen (K+) bis völlige Unkenntnis (K-) lokalisiert werden (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021, S. 66). Der – seinerseits dynamische – primäre Zugang einer Person zu situativ relevantem Wissen wird als epistemische Autorität (Epistemic authority) bezeichnet (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021, S. 66-67).

4 Zur wissensbezogenen Mikro-Organisation von Beteiligung: Ein »Vereinsfrühschoppen«

Die Aufnahme, die dem folgenden, durch ein Transkript repräsentierten Gesprächsausschnitt zugrunde liegt, entstand im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Vereinsfrühschoppen« einer deutschen Kommune. Vereinsvorsitzende werden hier regelmäßig dazu eingeladen, sich mit dem Bürgermeister, TS, und Mitgliedern der Stadtverwaltung auszutauschen. Öffentlich zur Sprache gebracht werden können u. a. aktuelle »Probleme«, in dem vorliegenden Fall während der Zeit der COVID 19-Pandemie.

In dem präsentierten Ausschnitt berichtet der Leiter einer Coronarsportgruppe, TH, von dem Problem seines Vereins, dass ein fester Ort für das Vereinsangebot aktuell nicht zur Verfügung steht. Den damit verbundenen Einschränkungen wird der durch Expertenwissen begründete Anspruch entgegensetzt, dass es sich um einen medizinisch verordneten Sport handelt, der selbst in Pandemiezeiten stattfinden darf (und muss). Eine zentrale Rolle im Umgang mit den Ansprüchen des Vereins spielt im Kontext des Vereinsfrühschoppens der Bürgermeister. Die folgende Analyse fokussiert darauf, welche Rolle Wissenszuschreibungen und epistemische Positionierungen, speziell der Umgang mit Experten- und Laienwissen, als Ressource des politischen Problemlösungsprozesses spielen.

Transkriptausschnitt:Footnote 14 »Verfügbare Flächen«

001 TH: wir HAM, 002     im prinZIP, 003     KEIne probleme; 004     mit der coROn- 005     ä:h coROna, 006     PANdemie. 007     wir DÜRfen; 008     unsern spOrt beTREIben. 009     weil das ja ÄRZTlich verordneter sport ist. 010 p : (1.2) 011 TH: wir haben nur ein proBLEM 012     geHABT; 013     im letzten JAHR, 014     zuNÄCHST mal, 015     mit dem Übungsplatz; 016     denn wir waren in der HOLZsporthalle. 017     wurden AUSquartiert, 018     und landeten im BÜRgerhaus, 019 p : (1.3) 020 TH: und DANN; 021     haben wir plötzlich FESTstellen müssen; 022     dass der eine oder andere Abend ausfallen musste; 023     weil DORT- 024     STADTverordnetenversammlung war oder; 025 UB: oah. 026 p : (1.8) 027 TH: SOLche [DINge, ] 028 UB:        [(SOwas.)] 029 k : ((leises Lachen am Tisch)) 030 TH: ja, 031 UB: (SOwas machen wir nicht) 032 TH: so WAR das, 033 p : (1.5) 034 TH: wir HAben uns dann, 035     gott sei DANK; 036     mit einem andern verEIN, 037     ä:h arranGIERT, 038     die SAMMlerinnung hat uns das geLÄNde 039     zur verfügung gestellt; 040     sodass wir auch im SOMmer; 041     (unser_n) sport dort TREIben konnten. 042     und wir sind jetzt wieder im (-) BÜRgerhaus; 043     haben aber das proBLEM; 044     dass wir natürlich im augenblick WACHsen. 045     das HEISST, 046     wir KOMmen; 047     haben sehr viel NEUe; 048     TEILnehmer; 049     di:e, 050     mit ärztlicher verORDnung kommen; 051     und wir können zum TEIL, 052     die leute schon nicht mehr AUFnehmen, 053     weil der PLATZ nicht ausreicht. 054     das ist unser HAUPTproblem. 055     im AUgenblick. 056     (punkt.) 057 k : ((leises Lachen)) 058 TH: vielLEICHT noch n anderes problem, 059     am RANde. 060     unsere SPORTgeräte, 061     LAgern zum großteil noch; 062     in der HOLZsporthalle. 063     das HEISST; 064     wenn wir irgendwas BRAUchen; 065     müss_ma uns das immer HOlen. 066     das ist ALso ein; 067     größres proBLEM, 068     IMmer wIEder. 069     sonst haben wir KEIne; 070     gott sei DANK. 071 TS: da vielleicht nur kurz als EINschub, 072     ä:hm; 073     ALso. 074 p : (1.0) 075 TS: das is nich immer EINfach, 076     dafür zu SORgen; 077     dass SIE weiterhin im bürgerhaus; 078     äh- 079     SEIN können. 080     an DIEsem; 081     NACHmittag oder Abend, 082     der druck ist SEHR sehr groß. 083     AKtuell auf die; 084     verSCHIEdenen; 085     FLÄchen die_s in zenstadt gibt. 086     weil wir halt mit der LOHwandhalle; 087     komplett eine halle NET haben. 088     damit die verLAgerung in die HOLZsporthalle; 089     (ja) und so WEIter; 090     und MANCHmal hat, 091     in den geSAMTbetrachtungen; 092     also der (-) STADTverordnetenvorsteher= 093     hat verSTÄNDnis für die situation; 094     das ist jetzt net (-) FALSCH adressiert, 095     aber es gibt STADTverordnete, 096     DIE se, 097     die !SELBST!verständlich; 098     mir gegenüber AUFtreten; 099     und SAgen, 100     na ja also wenn die STADTverordnetenversammlung 101     tagt, 102     oder n AUSschuss. 103     dann müssen die halt dann GEhen, 104 p : (1.9) 105 TS: und dann muss ICH dann, 106     oder das AMT. 107     dann n bisschen KÄMPfen, 108     und SAgen, 109     Ä:H äh. 110     man kann A net so sch- 111     coroNARsportgruppe grad irgendwo; 112     woAnersch HINverlege das; 113     geht A net. 114     ALso, 115     das is net ganz (-) EINfach; 116     das wollt ich einfach nur mal geneRELL sagen; 117     äh ham ja verSCHIEdene, 118     äh sind ja DA, 119     äh auch (!LEID!en da) drunter. 120     wir verSUchen das möglichste; 121     was die FLÄchen betrifft. 122     aber wenn halt eine komPLETte HALle; 123     LANge (-) FEHLT, 124 TH: warum FEHLT [die so ] LANge? 125 TS:             [DAS ist]; 126 TH: DAS ist die frAge, 127     [die !WIR! uns], 128 TS: [ja DAS ist ]; 129 TH: und unsere MITglieder haben. 130     waRUM ist die loh- 131     LOHwandhalle nicht LANGsam- 132     SO WEIT dass (sie gemacht wird)? 133 TS: das, 134     würde jetzt einen FACHvortrag; 135     von mir erFORdern. 136 k : [((Lachen)) ] 137 TS: [( ) ] !LEI!sten will? 138     aber ich GLAUB; 139     das WÜRD jetzt das; 140     ETwas, 141     äh überZIEhen; 142     das GANze. 143     wir HOFfen, 144     dass wir im SOMmer nächsten jahres; 145     die halle wieder zur verFÜgung haben. 146     und DANN; 147     geht_s wieder WEIter. 148 TH: gut; 149     ne AUSsicht.

Der Vereinsvorsitzende, TH, nimmt in einer globalen Einschätzung zur Lage seines Vereins in der Corona-Krise Bezug auf das als geteilt unterstellte Fachwissen, dass das vom Verein organisierte Angebot »ja ÄRZTlich verordneter sport ist« (Z. 009), der von den seuchenrechtlichen Verboten klar ausgenommen ist (»wir DÜRfen; unsern spOrt beTREIben.«, Z. 007 f.). Durch die medizinische und rechtlich-bürokratische Attribuierung, die hier als »wissenspolitische« Handlungsressource im Sinne von Stehr/Grundmann (2010, S. 83) genutzt wird, wird für das Vereinsangebot ein besonderer relevanzbezogener Status hergestellt, was auch im weiteren Verlauf der Diskussion noch eine Rolle spielen wird. Der im folgenden dargestellte Problemkomplex – unter anderem die Umquartierung vom bisherigen Übungsplatz Holzsporthalle ins Bürgerhaus, Ausfallen von Übungsabenden im Bürgerhaus durch Priorisierung der dort stattfindenden Stadtverordnetenversammlung, räumliche Kapazitätsgrenzen, mit der Nutzung des Ausweichquartiers verbundener Transportaufwand bei Sportgeräten – wird als neues Wissen für den Adressat*innenkreis in der erforderlichen Ausführlichkeit und organisatorisch-analytischen Klarheit berichtet. Durch die Abtönungspartikel »natürlich« (Z. 043) wird die Zunahme der Nachfrage »im Augenblick« (d. h. im Corona-Kontext) zudem als zwangsläufig und daher erwartbar charakterisiert. Dabei markiert der wissensbezogen redundante, erneute Verweis auf das Erscheinen der neuen Mitglieder »mit ärztlicher verORDnung« (Z. 049) nochmals die besondere, medizinische Relevanz und den besonderen bürokratisch-rechtlichen Status des Vereinsangebots und untermauert so an dieser Stelle rhetorisch die Problempräsentation. Dagegen kann die unspezifische Kategorisierung »solche Dinge« im Zusammenhang mit der Stadtverordnetenversammlung als Ausdruck einer leicht despektierlichen Haltung gegenüber kommunalen Autoritäten wahrgenommen werden und löst daher in der Redekonstellation – mit Anwesenheit des Bürgermeisters – beim Publikum eine gewisse Erheiterung aus (vgl. Z. 029). Insgesamt positioniert sich der Vereinsvorsitzende wissensbezogen als eine zivilgesellschaftliche Führungspersönlichkeit, die aufgrund der Aneignung praktisch relevanten Expertenwissens (Medizin, Recht), ihres organisatorischen Überblicks über das Vereinsgeschehen und ihrer praktischen Problemlösekompetenz (Arrangement mit einem anderen Verein, vgl. Z. 034 ff.) gegenüber der Stadtverwaltung selbstbewusst auftreten und Erwartungen wirkungsvoll artikulieren kann.

Der Bürgermeister nimmt in seiner Erwiderung demgegenüber zunächst eine Perspektive ein, die durch die bürokratisch-jargonhafte Ausdrucksweise (»druck […] auf die verSCHIEdenen FLÄchen, die_s in zenstadt gibt«, Z. 82 ff.) und die explizite Kategorisierung als »geSAMTbetrachtungen« (Z. 091 ff.) als der Exekutive zugehörig und daher sachlich und herrschaftsbezogen übergeordnet legitimiert wird. In seiner – später noch einmal wiederholten – Lageanalyse der Raumsituation wird durch die Abtönungspartikel »halt« (Z. 086; Z. 122) der längerfristige Ausfall der Lohwandhalle als prinzipiell bekannt und als unabänderlich markiert. Die politische Aufgabe, die legitimen Interessen des Vereins soweit wie möglich durchzusetzen (vgl. Z. 75 ff.), wird – implizit um Verständnis für Kompromisse werbend – zweimal als »nich immer« bzw. als »net ganz […] EINfach« (Z. 075; Z. 115) charakterisiert.

Wie man sich das kommunikative Handeln des Bürgermeisters in diesem Kontext, das als »n bisschen KÄMPfen« kategorisiert wird (Z. 107), konkret vorzustellen hat, wird in Form einer direkten Redewiedergabe eines Gesprächs szenisch ansprechend stilisiert: In diesem erzählten Gespräch taucht die Abtönungspartikel »halt« in dem Beitrag eines Stadtverordneten auf, der damit die Priorisierung der Ratssitzung gegenüber dem Sportvereinstermin als selbstverständlich markiert (»dann müssen die halt dann GEHen«, Z. 103). Der Bürgermeister, der sich sowohl als Person (»ICH«, Z. 105) als auch als Institution (»das AMT«, Z. 106) kategorisiert, stilisiert sich auf der persönlichen Ebene als Dialektsprecher und daher (auch wissensbezogen) adressatennah, sowohl intradiegetisch in dem erzählten Gespräch mit dem Stadtverordneten als auch extradiegetisch in der laufenden Kommunikation mit den Adressat*innen seiner Erzählung im Rahmen des Vereinsfrühschoppens. Gleichzeitig greift der Bürgermeister auf beiden Ebenen die offizielle medizinische Kategorisierung des Vereins als »coroNARsportgruppe« (Z. 111) auf und erhöht damit seinerseits den Status des Vereins in dem politischen Verhandlungsprozess auf beiden Ebenen der Erzählung. Dabei wird das Wissen über einen legitimen, dem Status entsprechenden kommunalen Umgang mit dem Verein als allgemein zu akzeptieren und nicht verhandelbar präsentiert (»man kann A net so sch- coroNARsportgruppe grad irgendwo; woAnersch HINverlege das; geht A net.«, Z. 110 ff.).

Der Vereinsvorsitzende akzeptiert offenbar die administrativen Zwänge und das ebenso sachkundige wie engagierte Handeln des Bürgermeisters, schiebt allerdings die kritische Folgefrage nach, warum die Renovierung der Lohwandhalle so lange dauert. An dieser Stelle in der Interaktion nutzt der Bürgermeister den allgemeinen Bezug auf Fachwissen ausweichend, wobei er seine Einschätzung (»das würde jetzt einen FACHvortrag; von mir erFORdern«, Z. 134 f.; »das WÜRD jetzt das; ETwas äh überZIEHen; das GANze, Z. 139) zugleich durch die modalisierende Formel »ich GLAUB« (Z. 139) konziliant als unsicher markiert. Zudem antwortet er zumindest teilweise kooperativ, indem er – die Frage des Vorsitzenden etwas umdeutend – sein Wissen über den zeitlichen Abschluss der Renovierungsarbeiten mitteilt. Dieses Wissen wird als unsicher (»wir hoFfen«, Z. 134) und als vage (»im SOMmer nächsten jahres«, Z. 144) präsentiert, aber in dieser Form vom Vereinsvorsitzenden akzeptiert (»gut; neu Aussicht«, Z. 148 f.).

Insgesamt zeigt sich, wie der Bürgermeister auf der Grundlage einer Differenzierung zwischen Person und Amt auf Laienwissen (z. B. Dialektgebrauch), bürokratisches Fachwissen (z. B. Fächenbedarf; Bauprojekte) und die kommunikative Routine des Berufspolitikers (»n bisschen KÄMPfen«) rekurriert, um zwischen pluralen, konkurrierenden Ansprüchen (die Nutzung öffentlicher Gebäude), legalen Gestaltungsmöglichkeiten (Umgang mit der Coronarsportgruppe, Rechte der Stadtverordneten) und kommunalen Entscheidungen (Hallenvergabe, Hallenrenovierung) zu vermitteln. Gleichzeitig positioniert und popularisiert er sich selbst mit Blick auf die Renovierung der Halle in absehbarer Zeit als tatkräftiger politischer (Mit‑)Gestalter.

5 Fazit

Expertenwissen in der Form bürokratischen Verfahrens- und Sachwissens stellt in der Kommunalpolitik eine zentrale Ressource dar, weil nur auf dieser Grundlage bzw. in Übereinstimmung damit legal gehandelt, gestaltet und Macht ausgeübt werden kann. Über dieses Wissen verfügen in differenzierter Form besonders die Fachleute in der kommunalen Verwaltung, die in internen Prozessen und in der Interaktion mit Bürger*innen im Alltag vor allem auf dieser Grundlage agieren (müssen). Im Zuge einer verstärkten Bürgerbeteiligung treten solche Fachleute heute auch in der Öffentlichkeit als expertische Wissensvermittler in Erscheinung. Wer von ihrem Wissen in welcher Weise und in welchem Umfang profitiert, wird in einem Kräftefeld ausgehandelt, zu dem neben den Verwaltungsfachleuten (zumindest solchen in gehobener Stellung) auch informierte Bürgerinnen und Bürger, individuelle und kollektive Akteure in Parlamenten und kommunalpoltischer Öffentlichkeit und, nicht zuletzt, die Bürgermeister*innen gehören.

Den Bürgermeister*innen kommt aufgrund ihrer Zwischenstellung einerseits eine potentiell besonders einflussreiche Stellung zu, andererseits können sie – im Zusammenspiel mit Expert*innen, Bürger*innen und Medienöffentlichkeit – auf der Basis einer Demokratisierung und Pluralisierung bürokratischer Handlungsressourcen zum Interessensausgleich in politischen Prozessen beitragen. Im ersten Fall können Bürgermeister*innen das bürokratische Expertenwissen strategisch und teilweise intransparent auswählen, bei Bedarf Expert*innen gegeneinander ausspielen und insgesamt Expertenwissen für Herrschaftszwecke instrumentalisieren. Auch kann die Expertenberatung darauf verkürzt werden, indexikalisch Autorität für Entscheidungen zu liefern.

Im zweiten Fall fungiert der Bürgermeister als Vermittler zwischen – pluralen – Laienansprüchen, legalen Gestaltungsmöglichkeiten und politischen Entscheidungen. (Höherrangige) Verwaltungsexperten können dazu beitragen, indem sie ihr Wissen nicht nur selektiv zur Verfügung stellen, sondern plurale Handlungsoptionen erschließen. Letztlich handelt es sich um ein mikropolitisches Spiel der Kräfte, dass in der Interaktion bzw. in dialogischen Formaten des öffentlichen Diskurses ausgehandelt wird.

Der vorliegende Beitrag zeigt, wie Bürgermeister*innen auf der Grundlage einer Differenzierung zwischen Person und Amt situativ und dynamisch Laien- und Alltagswissen, bürokratisches Fachwissen und das kommunikative Geschick von Berufspolitikern sprachlich ins Spiel bringen können, um zwischen pluralen Ansprüchen, rechtlichen Gestaltungsoptionen und kommunalen Entscheidungen zu vermitteln. Zugleich können Sie die partizipativen Formate nutzen, um getroffene politische Entscheidungen und sich selbst als prominente (Mit‑)Gestalter zu popularisieren.

Ob dabei auch vermittelt bzw. verstanden wird, dass das bürokratisch-rechtliche Verfahrenswissen nicht nur ein (einstweilen noch existierender) Hemmschuh bei der Umsetzung bestimmter, u. U. populistisch forcierter Bürgerinteressen ist, sondern einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Bürgerinteressen herstellen kann, hängt nicht zuletzt davon ab, wie vielfältig kommunale Bevölkerungsgruppen und ihre Diskursperspektiven in den programmatisch »partizipativen« Formaten tatsächlich repräsentiert sind.