1 Einführung: Thesen und Überblick

Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs sind Zeiten, in denen Wissen problematisch wird. Denn indem Wissen durch gesellschaftliche Experten- und Professionellenrollen produziert, strukturiert und stabilisiert wird, geht die Durchsetzung alternativen Wissens Hand in Hand mit einem Wandel von Rollenzuteilungen, aber auch einer Veränderung von Rollenmustern und Rollenkonstellationen. Dies trifft auch – und vielleicht sogar in besonderem Maß – auf die späten 1960er Jahre zu, die durch eine bis dahin einmalige Bildungsexpansion in westlichen Industriegesellschaften (Geißler 2011, S. 273–299) geprägt sind und in denen das Konzept der Wissensgesellschaft (Drucker 1969) zum Leitbegriff moderner Gesellschaften avancierte. Gleichzeitig forderte die 1968er-Bewegung einen grundlegenden Wandel der Universitäten, sowohl im Hinblick auf ihre Strukturen, als auch im Hinblick auf die Inhalte universitärer Lehre.

Ich möchte im Folgenden untersuchen, welche Vorstellungen des Populären bei den Versuchen der Aktivistinnen und Aktivisten der bundesrepublikanischen 1968er-Bewegung wirksam waren, eine radikale Änderung des Wissenschaftssystems herbeizuführen. Thesenhaft werde ich davon ausgehen, dass es zu einer normativen Aufladung des Populären kam, die die Popularisierung von Wissen als Imperativ für die Verwirklichung einer demokratischen Gesellschaft erscheinen ließ; allerdings nicht durch eine »Popularisierung erster Ordnung«, in der Wissen »im Modell von Diffusion und Defizit« (Döring et al. 2022, S. 12) von Experten für Laien vereinfacht und verbreitetet wird, sondern durch eine »Popularisierung von unten«, in der eine Verschmelzung von Wissensproduktion und gesellschaftlicher Praxis realisiert wird.

Um diese These zu fundieren, ist es zunächst nötig, historische Kontexte und Semantiken zu rekonstruieren. Eine wichtige semantische Grundierung für das Verständnis von Popularisierungsforderungen und Popularisierungsbedürfnissen in den 1960er Jahren bildet die Unterscheidung von Massen und Eliten, deren zeitspezifische Ausformung und Relevanz für den Bildungskontext zunächst erläutert werden soll (Abschnitt 2). Einen relevanten zeithistorischen Rahmen bilden auch die in den 1960er Jahren vorherrschenden Ideen von der Wirkmacht der durch Meinungs‑, Markt- und Motivforschung informierten strategischen Kommunikation als Instrument der Manipulation (Abschnitt 3.1) und einer durch wissenschaftliche Modelle geleiteten Öffentlichkeitsarbeit als Form der Agitation (Abschnitt 3.2), denen die Vorstellung gemeinsam ist, dass öffentliche Meinung methodisch steuerbar ist. Mit anderen Worten: Popularität ist das Ergebnis strategischer Popularisierung.

Abschnitt 4 steckt den bildungssoziologischen Rahmen ab, in dem die Interaktion von Professionellen, Novizen und Laien im Hinblick auf die Bearbeitung alltagsweltlicher Fragen als Vermittlung (Abschnitt 4.1) und Popularisierung (Abschnitt 4.2) modelliert wird. Dieses Modell dient dann in den folgenden Abschnitten dazu, den von der 1968er-Bewegung intendierten Wandel von Rollenverständnissen und Popularisierungspraktiken im universitären Kontext (und darüber hinaus) als Konflikt um gültiges Wissen, aber auch als Konflikt um die gesellschaftliche Ordnung zu fassen.

Die spezifischen Praktiken, derer sich die 1968er-Bewegung bediente, entwickelten sich in den 1960er Jahren ausgehend von der Entdeckung des Performativen (Abschnitt 5.1). Konzepte aus Happening und Direkter Aktion wurden von den Protestbewegungen als Praktiken der Ausagierung alternativer Ordnungsvorstellungen und als Medien der Selbstaufklärung durch Praxis angeeignet. Am Beispiel der Störung universitärer Veranstaltungen werden Praktiken der Delegitimierung von Wissen und professionellen Rollen (Abschnitt 5.2) und schließlich die Entstehung von Antiritualen der Popularisierung in den »Kritischen Universitäten« (Abschnitt 5.3) vorgestellt.

2 Zur Semantik von Masse und Elite im bildungspolitischen Kontext

Kaum ein Begriff ist um 1968 schillernder als der der Masse. Im Plural verweist er häufig auf jenen »große[n] Teil der Bevölkerung, der aufgrund abhängiger Arbeit, geringer Bildungschancen und fehlender Partizipation an Entscheidungen und Entscheidungsprozessen unterdrückt und unfrei ist« (Kämper 2013, S. 664). Die Verbesserung der Situation der ›Massen‹, denen mit so unverhohlener wie abstrakter Sympathie begegnet wurde, ihre Erweckung zum politischen Subjekt ist Ziel der meist marxistisch inspirierten Aktivistinnen und Aktivisten. Zugleich steht Masse aber auch als Chiffre für Kritik an einer Gesellschaft ohne Individualität, ohne die Möglichkeit zu oder dem Streben nach Autonomie und Distinktion. Der ›uniformierte Massenmensch‹ in der ›Massengesellschaft‹ wird zur dystopischen Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft im Namen einer auf Selbstbestimmung zielenden Lebensform.

Auch die Universitäten werden in der negativen Semantik der Masse beschrieben. In der 1965 erschienenen Denkschrift »Hochschule in der Demokratie« von Wolfgang Nitsch, Uta Gerhard, Claus Offe und Ulrich K. Preuß dient Masse als negativierendes Determinans in Komposita wie Massenuniversität, Massenfächer, Massenvorlesung, Massenbetrieb, Massenandrang und Massenabfertigung (der Studenten) sowie Massenbedarf (an wissenschaftlich ausgebildeten Fachkräften).

In der Rede von den Massen angelegt ist freilich auch der Gegenbegriff der Eliten. Während der Begriff der Masse, soweit er auf die Situation an den Universitäten angewendet wurde, vor allem die steigenden Studierendenzahlen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die universitäre Bildung in den Blick nimmt, wird der Begriff der Elite stärker gesellschaftskritisch aufgeladen. Das Bildungsideal der deutschen Universitäten äußere sich, so die Autorinnen und Autoren der Denkschrift, »in Vorstellungen, die die Akademiker ohne weiteres zur ›geistigen Elite‹ erheben und sie einer ›ungebildeten Masse‹ gegenüberstellen.« Aus dieser Unterscheidung, die an die raummetaphorische Leitdifferenz von High und Low (Döring et al. 2022, S. 5) erinnert, werde die »Legitimation zur Führung eben jener ›unmündigen‹ Masse« abgeleitet, eine Haltung, die eine Affinität zu autoritären Praktiken impliziere (Nitsch et al. 1965, Abschnitt 0).

Eine sich demokratisierende Gesellschaftsordnung dürfe freilich den Akademiker nicht als »Vertreter einer privilegierten Führungs-Elite, sondern [muss ihn] als Staatsbürger wie jeden anderen« ansehen. Statt Akademikerinnen und Akademiker »vom gesamten Volk« zu isolieren, sei vielmehr »ihre ›Offenheit zum Volk‹ im Sinne einer lebendigen gesellschaftlichen Praxis« geboten (Nitsch et al. 1965, Abschnitt I.3.4). Zur Ausbildung von am Bild des Elfenbeinturms orientieren ästhetischen (Lohmar 1960, S. 292, Verband Deutscher Studentenschaften 1960/61) oder sozial-elitären Bildungsvorstellungen trage auch die Isolation von Universität und Studierenden auf »von der Stadt sich abschließenden Campus« bei (Nitsch et al. 1965, Abschnitt I.3.4).

Eine Überwindung des – aus Sicht der Autorinnen und Autoren – in der bundesrepublikanischen Bildungslandschaft angelegten Antagonismus von Massen und Eliten, und mit ihr der Leitdifferenz von High und Low, wird also nicht nur bildungstheoretisch, sondern vor allem gesellschaftspolitisch begründet. Zur Erreichung der geforderten Offenheit zum Volk wurden in den langen 1960er Jahren unterschiedliche Strategien entwickelt. Sie sollen im Folgenden als spezifische Formen der Popularisierung wissenschaftlicher Praxis aufgefasst werden.

3 Popularisierung zwischen Manipulation und Agitation

Diese Debatten um die Popularisierung von Wissen und wissenschaftlicher Praxis fallen freilich in eine Zeit, in der sich Markt- und Meinungsforschung professionalisieren und zu Instrumenten der Optimierung strategischer Kommunikation ausgebaut werden. So kam es in den 1960er Jahren zu einer Gründungswelle von Marktforschungsunternehmen (vgl. Koschel 2008, S. 36), bis zum Beginn der Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition 1969 wurden 41 Institute gegründet (vgl. Wettach 2006, S. 66). Zeitgleich rückte die Werbebranche zunehmend in den Fokus öffentlicher Kritik. Auslöser hierfür war das Buch »The Hidden Persuaders« (1957) des amerikanischen Journalisten Vance Packard, das ein Jahr später auch in Deutschland unter dem Titel »Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unterbewussten in jedermann« erschien (Packard 1958). Packard kritisierte darin die Methoden von Marktforschung und Werbeindustrie scharf, insbesondere die tiefenpsychologisch ausgerichtete Motivforschung (vgl. Koschel 2008, S. 35). Diese richtete ihr Interesse auf den Einfluss des Emotionalen und Unbewussten auf das Verhalten der Menschen und modellierte das Kauf- und Konsumverhalten nicht mehr als ausschließlich rationale Entscheidung (vgl. Balzer 2007, S. 47). Packard deutete den Einfluss, den Werberinnen und Werber auf Basis der Motivforschung ausüben wollten, als suggestiv, mithin als manipulative Beeinflussung, ohne dass die Manipulation als solche wahrgenommen würde oder überhaupt ins Bewusstsein treten könne (vgl. Eugster 2018, S. 88). Die Vorstellung von der Wirksamkeit subliminaler (unterschwelliger) Beeinflussung verlieh Werbern das Image »kapitalistischer Gehirnwäscher« (Eugster 2018, S. 88). Parallel zu dieser Entwicklung institutionalisierte sich die empirische Sozialforschung im Ensemble universitärer Disziplinen und erlebte ab 1965 einen Boom (vgl. Weischer 2004, S. 235–318; Jacob/Heinz/Décieux 2019, S. 18–21; Meyen 2002).

Diese Prozesse werden von der 1968er-Bewegung und ihren Vorläufern als Professionalisierung von Massenmanipulation kritisiert (3.1), andererseits aber auch mit dem Ziel der Entwicklung einer wissenschaftsbasierten Öffentlichkeitsarbeit für die außerparlamentarische Opposition aufgegriffen (3.2).

3.1 Popularisierung als Manipulation: Meinungs‑, Markt- und Motivforschung im Dienst strategischer Kommunikation

Als Anfang Mai 1964 der Bund Deutscher Werbeleiter und Werbeberater zu seiner Jahrestagung in der Stuttgarter Liederhalle zusammenkam, verlief die Veranstaltung nicht wie geplant. Bei der Eröffnungsansprache des Stuttgarter Oberbürgermeisters Arnulf Klett ertönte von der Empore plötzlich der Eingangschor von Bachs Matthäuspassion überlagert vom Surf-Rock-Titel »Surfin’ Bird« der Band The Trashmen – eine offensichtliche Referenz auf die Unterscheidung von High und Low. Zudem segelten Flugblätter ins Plenum, die die versammelten Mitglieder der Werbeindustrie als gewissenlose Manipulateure brandmarkten:

»IHR suggeriert den Leuten die Bedürfnisse, die sie nicht haben. […] Ihr habt die Lüge ›consumo ergo sum‹ zur Wahrheit inthronisiert! Deshalb seid IHR DIE PREDIGER DER UNTERDRÜCKUNG! WIR fordern euch auf: Hört auf mit der totalen Manipulation des Menschen! […] Hört auf, die Menschen als eine knetbare Masse zu betrachten, die dumpf Euren eingehämmerten Befehlen gehorcht!« (Subversive Aktion 1964)

Für die Störaktion zeichnete das 1962 gegründete Künstlerkollektiv Subversive Aktion verantwortlich. Ihm gehörten auch wichtige Leitfiguren des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und der Kommunebewegung an, namentlich Dieter Kunzelmann, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl.Footnote 1 In ihrer programmatischen Zeitschrift »Unverbindliche Richtlinien« vom Dezember 1963 hatten die Mitglieder der Subversiven Aktion bereits Kritik an Werbung geübt: »Realiter suggeriert Reklame Bedürfnisse, um wahre Wünsche nicht hochkommen zu lassen; in der verwalteten Welt tritt an die Stelle von Kommunikation Konditionierung durch Reklame.« (Baldeney/Gasché/Kunzelmann 1963, S. 23) Die suggestive Kraft der Werbung wird also in der Logik des Behaviorismus als Konditionierung von Menschen zu Konsumenten gedeutet. Reklame als Medium der Popularisierung wird entsprechend als Instrument der totalen Massenmanipulation gedeutet. Kritik ist – folgt man den Mitgliedern der Subversiven Aktion – hier wirkungslos. Sie müsse vielmehr »in Aktion umschlagen. Aktion entlarvt die Herrschaft der Unterdrückung.« (Baldeney/Gasché/Kunzelmann 1963, S. 22)

Diese Kritik am Manipulationspotenzial massenwirksamer Kommunikationsformen wurde im Verlauf des Protestgeschehens in den 1960er Jahren noch ausgeweitet. In der Berichterstattung der Massenmedien über ihre Proteste, insbesondere in der Berichterstattung der Medien des Axel Springer Verlags, erkannten die Aktivistinnen und Aktivisten der 1968er-Bewegung die gleichen Manipulationsstrategien. Durch Dokumentarfilme wie Helke Sanders »Brecht die Macht der Manipulateure« (1968), durch Veranstaltungen der Kritischen Universität, durch die Inszenierung eines Springer Tribunals aber auch durch Protest und Blockade sollten diese aufgedeckt und so die Meinungsmacht der Springer-Zeitungen gebrochen werden.Footnote 2

Dabei geriet insbesondere auch die Manipulation durch Sprache ins Visier der Aktivistinnen und Aktivisten. So stellte der Verfasser der Ankündigung des Seminar II, 2 der Berliner Kritischen Universität zum Thema »Politische Sprache und gesellschaftlich falsches Bewusstsein« fest, »Terror« gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten werde »mit sprachlichen Mitteln erzeugt«. Diese Sprache sei jedoch nicht ideologisch, weswegen man ihr auch nicht durch argumentative Kritik begegnen könne. Die politische Sprache sei vielmehr »zu einem Formel- und Signalsystem geronnen, auf das man nicht mehr mit Meinung, sondern allenfalls mit Identifikation und Abwehr reagieren kann«.Footnote 3

Die Kritik an der suggestiven Berichterstattung verweist auf Theodor W. Adornos Sprachkritk in seinem 1964 erschienenes Werk »Jargon der Eigentlichkeit« (1964). Dieser Jargon der Eigentlichkeit sei »so standardisiert wie die Welt, die er offiziell verneint; teils infolge seines Massenerfolgs, teils auch weil er seine Botschaft durch seine pure Beschaffenheit automatisch setzt und sie dadurch absperrt von der Erfahrung, die ihn beseelen soll« (Adorno 1964, S. 11). Karlpeter Arens, Ende der 1960er Jahre Mitglied des Berliner Arbeitskreises für studentische Öffentlichkeitsarbeit, bestimmte in seiner 1971 erschienenen Schrift »Manipulation. Kommunikationspsychologische Untersuchung mit Beispielen aus Zeitungen des Springer-Konzerns« den Begriff der Manipulation als »Steuerung der Individuen auf prärationale Verhaltensweisen wider ihre eigenen objektiven Interessen und Bedürfnisse« (Arens 1971, S. 8). Dieses System der social control funktioniere nur so lang, »wie der manipulativ korrumpierte Souverän sich die Ausbeutung seiner Sehnsüchte und seines Bewußtseins nicht vergegenwärtigt und seine subjektive Freiheit durch sichtbare oder erkannte Manipulation nicht zur Farce wird.« (Arens 1971, S. 8)

Die Manipulation der Bevölkerung durch Massenmedien, wie sie in der Anti-Springer-Kampagne am Beispiel der Medien des Verlagshauses ausbuchstabiert wurde, war für die Aktivistinnen und Aktivisten der 1968er-Bewegung ein ubiquitäres Phänomen mit antidemokratischem Effekt. Die Anhänger der Bewegung sahen sich daher in der Rolle einer avantgardistischen Minderheit, die die Aufklärung der Massen vorantreiben müsse. Erklärtes Ziel des Seminars »Politische Sprache und gesellschaftlich falsches Bewusstsein« war es daher, »Übersetzungstechniken für politische Aufklärungsarbeit zu entwickeln«.Footnote 4

Doch um ihr Ziel, die Aufklärung der Bevölkerung, zu erreichen, griffen die Aktivistinnen und Aktivisten auch auf Strategien zurück, die von der empirischen Sozialforschung entwickelt wurden.

3.2 Die Professionalisierung der Agitation

Als Studierendengruppen versuchten, das nach dem Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967 verhängte Demonstrationsverbot in der Berliner Innenstadt durch Diskussionen mit Passanten zu umgehen, wurden schnell Rufe nach der Professionalisierung und wissenschaftlichen Fundierung der Öffentlichkeitsarbeit laut.Footnote 5 Der Sozialdemokratische Hochschulbund SHB etwa verlangte in einem Flugblatt, parallel zur laufenden Diskussionstätigkeit müsse »ein Programm entwickelt werden, das auf lange Sicht neue Methoden der Kommunikation mit der Berliner Öffentlichkeit entwickelt.« Neue Diskussionsmethoden müssten sich auf eine »ausführliche und breit angelegte empirische Untersuchung der Struktur dieser Berliner Öffentlichkeit« stützen.Footnote 6

Zu dieser Professionalisierung der Außenkommunikation der 68er-Bewegung wollte der Arbeitskreis für studentische Öffentlichkeitsarbeit koordinierend beitragen. In einer Broschüre mit dem Titel »Was tun? Analyse und Aktionsmodell zur studentischen Öffentlichkeitsarbeit« erarbeitete er einen kommunikationswissenschaftlich fundierten Vorschlag zur Effektivierung der Kommunikation mit der Bevölkerung.

Karlpeter Arens, der bereits oben zitierte Autor dieser Broschüre, orientiert sich dabei am two-step flow of communication-Modell, das von dem Soziologen Paul Lazarsfeld formuliert wurde. Demnach hat interpersonale Kommunikation einen wichtigen Einfluss auf die Meinungsbildung, wobei sog. Meinungsführer (»opinion leaders«) als Multiplikatoren, also als Medien der Popularisierung, eine besondere Rolle zukommt: Sie fungieren in diesem Modell als Filter, indem sie aus den Massenmedien Informationen und Meinungen erhalten, und diese dann in Auswahl und Gewichtung in der Bevölkerung weiter verbreiten. Lazarsfelds Modell wurde auch in der bundesdeutschen Politik rezipiert und von der SPD in Zusammenarbeit mit dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) zur Stimmenmaximierung in den Bundestagswahlen 1961 und 1965 eingesetzt (vgl. Wettach 2006, S. 76).

Was die studentischen Aktivistinnen und Aktivisten daraus lernen sollten war Folgendes: Statt wahllos Passantinnen und Passanten auf Berlins Straßen anzusprechen, die aufgrund von Vorurteilen und selektiver Wahrnehmung ohnehin Abwehrreaktionen zeigen würden, sollten sich die Studierenden auf Meinungsführer fokussieren. Dabei dürfe man jedoch nicht »allein auf die fortschrittlichen Kräfte« setzen und »die Agitation auf die Progressiven« beschränken. Vielmehr sei es geboten, gerade auch konservative Meinungsführer zu agitieren.Footnote 7

Zunächst solle die Zielgruppe mittels einer empirischen Studie präzise eruiert und darauf aufbauend Inhalt und Form der Agitation festgelegt werden. Dann sollten die opinion leader angeschrieben und zu Hause aufgesucht werden und zwar nicht nur ein einziges Mal. Vielmehr solle deren Agitiation über längere Zeit und über mehrere Gespräche fortgesetzt werden. Erst nachdem man über einen längeren Zeitraum hinweg Meinungsführer agitiert habe, sollten die Studierenden sich wieder an die breite Öffentlichkeit wenden. Mit Hilfe der Unterstützung der opinion leader seien dann massenkommunikative Kampagnen erfolgreicher als die gegenwärtigen Flugblatt- und Diskussionskampagnen auf dem Kurfürstendamm.Footnote 8

Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist, dass Diskussion weniger als Austausch politischer Standpunkte mit einem Erkenntnisgewinn für alle beteiligten Parteien, sondern als Mittel der Agitation aufgefasst wurde.Footnote 9 Nicht mehr der konsensorientierte Austausch von Argumenten, sondern die Überredung und Indoktrinierung, verstanden als Vermittlung einer der Diskussion vorgängigen Meinung oder gar Weltsicht, war zum eigentlichen Ziel der studentischen Kommunikation mit der Bevölkerung geworden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Aktivistinnen und Aktivisten der 1968er-Bewegung damit konfrontiert sahen, dass die Verbreitung ihrer gesellschaftskritischen Ansichten auf wenig Resonanz in der Bevölkerung stieß. Dies erklärten sie damit, dass die populäre Meinung das Ergebnis von Manipulation im Sinn einer vorbewussten und prärationalen Steuerung durch wirtschaftliche, journalistische und politische Eliten sei und der eben deshalb mit rationaler Argumentation nicht begegnet werden könne. Als Strategien der Popularisierung wurde einerseits die Adaption der Agitationsstrategien ihrer politischen Gegner erwogen, namentlich die Agitation der Meinungsführer in einer wissenschaftbasierten Professionalisierung der Außenkommunikation der Bewegung. Andererseits wurde der vermehrte Einsatz aktionistischer Formen als Strategie der Entlarvung des vermeintlichen Manipulationszusammenhangs gefordert. Beide Strategien verfolgten das Ziel, die Massen, die Bevölkerung der Bundesrepublik und West-Berlins, sich ihrer eigenen Interessen bewusst werden zu lassen und sie als politisches Subjekt zu mobilisieren.

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie diese Strategien in den Universitäten als primären Handlungsfeldern in der frühen Phase der 1968er-Bewegung eingesetzt wurden, um alternativem Wissen Geltung zu verschaffen. Da sich diese Auseinandersetzung um die Geltung von Wissen in einem institutionellem Kontext vollzog, spielte dabei das Spannungsfeld zwischen Professionellen und Laien eine zentrale Rolle.

4 Popularisierung von Wissenschaft aus bildungssoziologischer Perspektive

4.1 Wissenschaft als Profession

Rudolf Stichweh hat die Entstehung des Funktionssystems Wissenschaft aus evolutionstheoretischer Perspektive als Ergebnis eines gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses beschrieben (vgl. Maeße/Hamann 2016, S. 32). Funktionale Differenzierung führt demnach zur Ausbildung spezialisierter Berufsrollen (wie denen der Professorin / des Professors). Zur Profession werden diese Rollen insofern, als sie die »für ein Funktionssystem konstitutiven Wissensbestände […] in monopolistischer oder dominanter Form« verwalten und damit auch die anderen im Funktionsbereich aktiven Berufe steuern (Stichweh 1994, S. 369; alle Hervorheb. i. O.). Der Begriff des Professionellen überschneidet sich damit von dem des Experten. Expertinnen und Experten sind Personen, »die sich […] die Möglichkeit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend für Andere zu strukturieren.« (Bogner/Littig/Menz 2014, S. 13) Es ist also nicht alleine das Verfügen über Wissen als Deutungen, sondern auch die Handlungsorientierung anderer Akteure, die die Rolle von Experten konstituiert. Professionelle sind darüber hinaus spezialisierte Berufsrollen, die den »eindeutigen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in den funktionssystemdefinierenden Handlungsvollzügen finden.« (Stichweh 1994, S. 370)

Gesellschaftliche Relevanz erhalten professionalisierte Rollen entsprechend erst durch andere Gesellschaftsmitglieder, die berechtigt sind, in einer nicht spezialisierten Funktionsrolle am Systemprozess zu partizipieren. Diese Partizipation wird als Interaktion vollzogen, in der Probleme verhandelt werden, die »Probleme der personalen Umwelt des Gesellschaftssystems« als Ganzem sind (Stichweh 1994, S. 372). In der Interaktion wird die Differenzierung von Funktionsrollen (Professionellen) und Komplementärrollen (Laien, Klienten) jeweils aktualisiert und werden die professionellen Rollen in das Gesellschaftssystem inkludiert.

Wissenschaftliche Funktionsrollen erhalten in dieser Perspektive also erst durch die Interaktion mit nicht-professionell am Wissenschaftssystem partizipierenden Rollen gesellschaftliche Relevanz, insofern sie einen Beitrag »zur Bearbeitung von Problemen der Strukturänderung, des Strukturaufbaus und der Identitätserhaltung von Personen« (Stichweh 1994, S. 372 f.) leisten. Stichweh spricht von der Undurchschaubarkeit einer Lage auf Seiten des Klienten, für die der Professionelle ein Deutungsangebot bereitstellt. Diesen Vorgang bezeichnet er als Vermittlung. Sie besteht in der Anwendung einer autonomen Sinnperspektive, für die sich der Professionelle durch Expertise qualifiziert, auf das alltagsweltliche Problem (vgl. Stichweh 1994, S. 374). Eine Gefahr der Marginalisierung besteht dann, wenn die Distanz des Professionellen zum Sachkontext der Laien sehr groß ist (vgl. Stichweh 1994, S. 373).

Vermittlung als Prozess der Interaktion zwischen Professionellen und Laien ist nach Stichweh also die Form, »in der sich Inklusion als zentraler Teil des Systemgeschehens vollzieht.« (Stichweh 1994, S. 371; Hervorheb. i. O.) Eine so verstandene Vermittlung ist Popularisierung von Wissenschaft.

4.2 Popularisierung wissenschaftlichen Wissens

Für Ludwik Fleck ist jede Form der Referenz auf Wissen dessen Popularisierung: »Wie immer man auch einen bestimmten Fall beschreiben mag, stets ist Beschreibung Vereinfachung, mit apodiktischen und anschaulichen Elementen durchtränkt: durch jede Mitteilung, ja durch jede Benennung wird ein Wissen exoterischer, populärer.« (Fleck 1980, S. 151 f.) Insofern jede Mitteilung Popularisierung ist, ist Popularisierung auch zentraler und nicht etwa nachgelagerter Bestandteil wissenschaftlicher Praxis. Popularisierung ist der Wissenschaft inhärent und variiert lediglich hinsichtlich der unterschiedlichen Öffentlichkeiten, an die Wissenschaftskommunikation gerichtet ist (vgl. Stichweh 2003, S. 213).

Stichweh (2003, S. 213) unterscheidet vier Modi der Popularisierung: Die interdisziplinäre Popularisierung versucht Verständnis für ein wissenschaftliches Problem oder einen Sachverhalt der eigenen Disziplin für eine entfernte Disziplin verständlich zu machen. Die pädagogische Popularisierung ist die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens an Studierende oder Schülerinnen und Schüler. Im Falle politischer Popularisierung wenden sich Forschende an Institutionen oder Personen in öffentlichen Funktionen, die Ressourcen bereitstellen, die für die Möglichkeit der Fortsetzung wissenschaftlicher Forschung relevant sind. Sie besteht häufig darin, die soziale Relevanz und den intellektuellen Reiz der eigenen Forschung hervorzuheben. Die allgemeine Popularisierung schließlich richtet sich an die abstrakten Öffentlichkeiten der modernen Gesellschaft, die auf der potenziellen Einbeziehung aller beruhen.

Insofern Popularisierung immer eine Übersetzung ist und sich notwendig anderer kommunikativer Formen und manchmal auch Genres bedient, ist sie eine Quelle der Innovation, die »retroactive effects […] on the core of the scientific tradition« (Stichweh 2003, S. 214) hat. Stichweh unterscheidet wiederum vier Effekttypen (ebd., S. 214–217).

Popularisierung provoziert Auswahl- und Filtereffekte (1), weil sich manche Gegenstände eher als andere (beispielsweise esoterische) für Popularisierungen eignen, was sich wiederum auf die Attraktivität bestimmter wissenschaftlicher Felder auswirkt. Popularisierung erzeugt auch Innovationen (2), insbesondere dann, wenn sie dem Modus nach interdisziplinär ist. Dies schafft wiederum Anreize für interdisziplinäres Arbeiten. Popularisierung kann auch zu einer selbstbewusst-unkritischen Präsentation (3) wissenschaftlichen Wissens führen und sich von kritisch-skeptischen Formen der Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse unterscheiden, die innerhalb von scientific communities üblich ist. Es kann aber auch umgekehrt sein, dass Popularisierung auch ein Medium der Selbstreflexion der Wissenschaft ist. Popularisierung kann schließlich auch dazu führen, dass Dissens zwischen unterschiedlichen Schulen durch konfrontative Kommunikation aus strategischen Gründen überbetont wird (4). Umgekehrt gibt es aber auch vereinheitlichende populäre Formen wie die Systematisierung von Wissenschaften für pädagogische Zwecke oder ihre Historisierung.

Popularisierung als Teil des wissenschaftlichen Prozesses ist somit immer verbunden mit einem Wandel kommunikativer Formen und damit einhergehend einem Wandel der Rollenstrukturen oder zumindest ihrer Konstellationen. Im Folgenden möchte ich versuchen, Protestpraktiken im deutschen Bildungssystem Ende der 1960er Jahre vor dem Hintergrund dieser bildungssoziologischen Überlegungen zu deuten.

5 Aktionistische Popularisierung von unten: Von der Massenuniversität zur Kritischen Universität

5.1 Die Entdeckung des Performativen in den 1950er und 1960er Jahren

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Performative zum Gegenstand philosophischer, wissenschaftlicher und ästhetischer Reflexionen, aber auch metaperformativer Inszenierungen, die benutzt wurden, die rituelle Ordnung und mit ihr die Wissensordnungen, auf denen sie beruhte, in Frage zu stellen.

Schon 1946 ging der Oxforder Philosoph John Langshaw Austin in seinem Aufsatz »Other Minds« (Austin 1946) der Frage nach, was Ausdrücke wie »ich weiß« und »ich bin davon überzeugt« unterscheidet. Die platonische Vorstellung einer linearen Gradierung der Wahrheit und Gewissheit von Wissen kritisierend argumentierte er, dass Ausdrücke wie »ich weiß« und »ich bin davon überzeugt« nicht unterschiedliche kognitive Zustände codieren, sondern sich hinsichtlich ihrer Implikationen unterscheiden. So impliziere »ich weiß, dass...« eine Autorisierung der Gesprächspartner, den Sprecher / die Sprecherin beim Wort zu nehmen, der / die gegebenenfalls ihre Reputation als glaubwürdige Quelle aufs Spiel setzt. Eine Aussage wie »ich bin überzeugt, dass …« signalisiere dagegen, dass die Person nicht beim Wort genommen werden möchte. Aus diesen Überlegungen zog Austin die Konsequenz, dass solche Äußerungen nicht als Beschreibungen eines inneren Zustands zu verstehen sind, sondern als soziale Handlungen, mit denen Sprecherinnen und Sprecher die Verantwortlichkeit für das Gesagte variieren. In seinen 1955 an der Harvard Universität gehaltenen William James Lectures prägte Austin (1962) dann den Begriff der »performative utterance« für Äußerungen, mit denen man keine Sachverhalte beschreibt, sondern eine Handlung vollzieht. Sie setzen Bedingungen, unter denen künftige Handlungen als adäquat bzw. inadäquat gelten und schaffen damit soziale Tatsachen. Sie unterliegen freilich Gelingensbedingungen, zu denen die Existenz etablierter Verfahren, gesellschaftlicher und situationeller Rollen sowie deren korrekte Anwendung bzw. Füllung in einer gegebenen Situation zählen.

Nur wenige Jahre nach Austins Vorlesungen veranstaltete Alan Kaprow, ein ehemaliger Student des Kunstgeschichtsprogramms der Columbia University, im Oktober 1959 in der Reuben Gallery in der Fourth Avenue in New York das erste Happening mit dem Titel »18 Happenings in 6 Teilen«. Im Gegensatz zum herkömmlichen Theater verzichtete das Happening auf ein überliefertes Narrativ, bezog das Publikum in den kreativen Prozess ein und versuchte, eine Situation zu schaffen, in der die traditionellen Wahrnehmungsweisen und die traditionellen Formen der Bedeutungserstellung außer Kraft gesetzt waren. Von dieser Performance leitet sich der Begriff »Happening« ab: Ursprünglich als Bezeichnung für eine sehr zielgerichtete, geprobte und heterogene Inszenierung verwendet, hat das Wort die Konnotation eines spontanen, ungerichteten Ereignisses angenommen.

Die Worte »Happening« und »Performance« wurden zu Schlagwörtern im internationalen Wortschatz der 1960er Jahre. Diese neuen Arten von Performances unterschieden sich vom traditionellen Theater dadurch, dass sie die Bühnen-Publikum-Struktur aufgaben und gleichzeitig die scharfe Trennung zwischen dem Symbolischen und dem Konkreten aufhoben. Anders als die Aktionen im traditionellen Theater sind die Handlungen in einem Happening nie nur symbolisch. Der Einsatz des Körpers, der Materialität, der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit hat Qualitäten, die mit semiotischen Kategorien nicht ausreichend beschrieben werden können (vgl. Kraus 2016).

Was Sprechakttheorie und Performance-Kunst gemeinsam haben, ist die Einsicht, dass symbolische Handlungen, Performances im Alltag ebenso wie künstlerische Darbietungen, das Potenzial haben, soziale Realität zu schaffen oder in Frage zu stellen und so neue Wirklichkeitserfahrungen zu erzeugen (vgl. Scharloth 2007). Diese Einsicht verbreitete sich schnell unter Wissenschaftlern und Theoretikern und machte die 1960er Jahre zum Jahrzehnt der Entdeckung des Performativen.

Auch die Wissenschaften partizipieren an dieser performativen Wende. In der Soziologie wird die Störung performativer Praktiken zur Methode erhoben. Harold Garfinkel (1964, 1967) setzt seine Krisenexperiment (breaching experiments) dazu ein, alltagsweltliche Methoden der Wirklichkeitsaneignung und -erzeugung erfahrbar zu machen. Wie Happenings sind Krisenexperimente eine Art von Performance, die das Publikum einbeziehen und traditionelle Regeln brechen, um eine Reflexivität über die Methoden der Sinngebung im Alltag zu schaffen.

Während Garfinkel also Krisenexperimente als wissenschaftliche Methode nutzte, um die alltäglichen Methoden zur Schaffung einer gemeinsam verstandenen Realität wissenschaftlich zu analysieren, entwickelte Victor Turner (1979, 1982) eine »performative Anthropologie«, um einen neuen Modus zum Verständnis fremder Kulturen zu schaffen. Nachdem er sich jahrelang mit den transformatorischen Wirkungen ritueller Darbietungen beschäftigt hatte, wollte er den ethnografischen Text mit der Praxis verbinden. Durch das Re-Enactment von Ritualen des zentralafrikanischen Ndembu-Stammes versuchten er und eine Gruppe von Studierenden, Zugang zur gelebten Erfahrungswelt des »Anderen« zu erhalten. Er wollte die fremde Kultur mit den Konzepten und Techniken der westlichen Theatertradition übersetzen, um die Grenzen des Verstehens und der »dichten Beschreibung« zu überwinden.

Die Ansätze von Garfinkel und Turner stehen für zwei unterschiedliche Anwendungen des Performativen als Medium der Generierung von Wissen: Die erste schafft Reflexivität über die soziale Ordnung, indem sie gängige Formen der Wahrnehmung und Interpretation in Frage stellt. Die zweite ist die Ermöglichung neuer Erfahrungsmodi auf Seiten der an der Performance Beteiligten. Beide Effekte waren wesentlich für die Nutzung performativer Praktiken durch die sozialen Bewegungen der 1960er Jahre.

Denn auch die Protestbewegungen der Nachkriegszeit und unter ihnen in besonderen Maß die 1968er-Bewegung bedienten sich performativer Praktiken mit den Zielen der Selbstaufklärung und Mobilisierung, zur Herstellung von Öffentlichkeit, zur Hinterfragung von Autoritäten und zur Kritik der symbolischen Ordnung. Für ihre Akteure ist Performanz eine bewusste Handlungskategorie und sie operierten mit dem erhofften transformatorischen Potenzial ihrer Protestinszenierungen. Etwa die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, deren Aktivistinnen und Aktivisten im Februar 1960 in Greensborough, NC, an einem Imbisstresen für Weiße Platz nahmen, die Freedom Riders, die sich im Mai 1961 in den Interstate-Bussen auf für Weiße reservierte Plätze setzten, oder die Bürgerrechtsdemonstranten 1965 in Selma, Alabama, die ihr Recht auf Wählerregistrierung kollektiv einforderten. Sie demonstrierten nicht nur symbolisch für ihre Rechte, sondern kreierten Situationen, in denen alternative Wirklichkeiten ausagiert und erprobt wurden. Sie involvierten so auch die zunächst Unbeteiligten, die sich dazu verhalten mussten, dass Schwarze für sich Räume und Rechte beanspruchten, die ihnen bis dahin vorenthalten worden waren.

Die Free-Speech-Bewegung in Berkeley 1964 und die im Jahr darauf aufkommende Anti-Kriegs- und Teach-in-Bewegung bewies, dass die von der Idee des Performativen inspirierten direkten Aktionen auch auf dem Campus durchgeführt werden konnten, um andere politische Themen auf die öffentliche Agenda zu setzen. Sie waren auch erfolgreich darin, eine große Anzahl von Menschen zu mobilisieren und für eine aktive Partizipation zu begeistern. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese politischen Strategien bald ihren Weg über den Atlantik fanden und in unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten in Europa neu kontextualisiert wurden. Künstlergruppen wie die Situationistische Internationale (SI) oder die niederländischen Provos (vgl. Pas 2011) begannen, sich dieser Methoden zu bedienen, was ihre transnationale Verbreitung weiter förderte. Dieter Kunzelmann beispielsweise, Mitglied der SI und einer der führenden Protagonisten der Kommune I in den späten 1960er Jahren, spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung performativer Protestpraktiken in der 1968er-Bewegung der Bundesrepublik (vgl. Klimke 2007, 2011). Praktiken, die auch in bundesrepublikanischen und West-Berliner Hochschulen zur Popularisierung alternativen Wissens benutzt wurden, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

5.2 Praktiken der Delegitimierung von Wissen und professionellen Rollen

Die eingangs erwähnte Denkschrift »Hochschule in der Demokratie« (Nitsch et al. 1965) reflektierte das Verhältnis universitärer Rollen in der Semantik von Masse und Elite. In Bezug auf die Situation an den Universitäten schrieben die Autorinnen und Autoren:

»Forschung wird vollends zum Privatzweck, zum Privileg einer kleinen Elite, ohne Beziehung zur wissenschaftlichen Bildung, zur Aufklärung durch die wissenschaftliche Erkenntnis. Ausbildung zerfällt in eine von ihren konkreten Adressaten gelöste Lehre, in die bloße Übermittlung von Stoff an eine anonyme, ›gesichtslose‹ Masse, und in die mechanisch-rezeptive Konsumtion, die individuelle Aneignung des Stoffes durch Hörer, die sich davon eine höhere Bezahlung beim Verkauf ihrer ›akademisch‹ aufgewerteten Arbeitskraft nach Abschluß des Studiums erhoffen.« (Nitsch et al. 1965, Abschnitt I.1)

Diesem Zerfall der ursprünglich angestrebten Einheit von Forschung und Lehre sowie dem (im Humboldt’schen Sinn) gemeinsamen Arbeiten von Lehrenden und Studierenden für die Wissenschaft suchten die Studierenden durch Störungen und Umgestaltung des regulären Vorlesungs- und Seminarbetriebs und schließlich durch Gründung alternativer Institutionen zu begegnen. Diese Praktiken sollen im Folgenden als alternative Popularisierungspraktiken beschrieben werden.

Aktivistinnen und Aktivisten der 1968er Bewegung bemühten sich, traditionelle kommunikative Gattungen der universitären Lehre als Instrumente der Unterdrückung, Freiheitsbeschränkung und Herrschaftsausübung, mithin als »repressiv« (vgl. Kämper 2013, S. 934) zu delegitimieren.

»Am unmittelbarsten wird das repressive System der Ordinarienuniversität in den Vorlesungen, Seminaren und in den Prüfungen erfahren. Daher kann eine Kampagne zur Neuorganisation der Wissenschaft an der Universität am aussichtsreichsten mit Forderungen zur Demokratisierung dieser Veranstaltung einsetzen. […]«Footnote 10

Störungen von Seminaren und Vorlesungen verliefen nach einem ähnlichen Muster.Footnote 11 Zunächst wurden die Dozierenden in eine Diskussion über aktuelle allgemeinpolitische oder hochschulpolitische Themen verwickelt. Dies konnten beispielsweise die Verhandlungen über neue Institutsordnungen, die Notstandsgesetze oder auch wissenschaftliche Themen wie die Inhalte der Lehrveranstaltung sein. Die Diskussion ging dabei häufig von den sogenannten Basis- oder ad-hoc-Gruppen aus:

»Wo Basisgruppen nicht zur Verfügung stehen, muß der Fachschaftsrat die Diskussion initiieren. Wichtigstes Ziel der Diskussion ist vorerst die Bildung von Arbeitsgruppen, welche in der nächsten Lehrveranstaltung die Diskussion fortzusetzen und zu vertiefen in der Lage sind. Diese können sich dann zu Basisgruppen konsolidieren, die in eigener Regie wissenschaftskritische, hochschul- und allgemein politische Themen behandeln und eine entsprechende Praxis im nächsten Semester vorbereiten.«Footnote 12

An der Universität Frankfurt wurden Dozierende aufgefordert, Protokolle über die Vorgänge in gestörten Lehrveranstaltungen anzufertigen. Der Professor für Englische Philologie und Dekan der Philosophischen Fakultät Herbert Rauter berichtete in einem dieser Protokolle:

»Nach dem ich den Übungsraum betreten hatte, wurde ich gebeten, anstatt über den Westfälischen Frieden über die Stufenlehrer zu diskutieren. […] ich habe eine weitere Diskussion über Stufenlehrer in meinen Lehrveranstaltungen abgelehnt. Ich habe es getan, da eine solche Diskussion […] die Freiheit der Lehre gefährdet und eine Anerkenntnis der erstrebten Umfunktionierung der Universität impliziert hätte.«Footnote 13

Oft waren die Aktivistinnen und Aktivisten gut vorbereitet und brachten zur ersten Sitzung alternative Seminarpläne und Literaturlisten mit, die insbesondere gesellschaftspolitische Dimension des verhandelten Stoffs einbeziehen wollten. So protokollierte der Jurist Adalbert Erler im November 1968:

»Ich versuchte meine Vorlesung zu halten, wurde aber durch fortgesetzten Mißbrauch des Fragerechts – ausgeübt von Fachschaftsvertretern – in meiner Vorlesung so gestört, daß ich abbrechen mußte. […] am 14.11. habe ich mein Programm dargelegt und bekam dabei auch die eigentlichen Hörer wieder in die Hand. Am 19.11. erschien in meiner Vorlesung wiederum die Fachschaft. Sie entwickelte die erwartete Gegenkonzeption wiederum im Sinne der Aktualisierung, Politisierung und des Einbaus der Soziologie.«Footnote 14

Von den Studierenden im Sinn der angestrebten Eskalation geradezu erwünscht waren ungehaltene Reaktionen der Professoren. Etwa skandalisierte der Studentenrat des Philosophischen Seminars die unwirsche Weigerung des ehemaligen Rektors der FU Hans-Joachim Lieber sich in seinem Marx-Seminar einer Diskussion über eine neue Institutssatzung zu stellen, mit folgenden Zitaten:

»Erste Begründung: Ich möchte hier mal FESTSTELLEN, Dass ich jetzt SeminAR mache !!!! Zweite Begründung (nach eindringlichen Bitten, sich zu äussern): Ich bin bereit, die Frage der Satzung in einem anderen, ANGEMESSENEN Rahmen voll zu diskutieren - (??) wenn eine ORDNUNGSgemässe Satzung besteht! Dritte Begründung (darauf aufmerksam gemacht, dass die neue Satzung laut Vollversammlung vom 11.11.68 in Kraft getreten sei): Also meine DAMEN und HERREN, wir machen jetzt Seminar über Marx! Vierte Begründung (darüber belehrt, dass dies kein Grund sei, sich nicht den Fragen des Studentenrates zu stellen): Meine Herren, das ist MEIN Seminar!«Footnote 15

Als die Vertreter des Studentenrates weiter auf einer Diskussion beharren, entzog sich Lieber der Diskussion und verließ den Seminarraum.

Als sich im Sommersemester 1969 Ludwig von Friedeburg, Professor für Soziologie und Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt, mit der Forderung der Basisgruppe Soziologie konfrontiert sah, seinen Seminarplan kritisch zu diskutieren, »würgte [er] die Diskussion mit dem ›Argument‹ ab, er treibe diese Veranstaltung, wie er ›sie einmal angekündigt‹ habe. […] der Professor ›bestimme Art und Umfang der Veranstaltung selbst‹.«Footnote 16 So zumindest berichtet es die Basisgruppe. Ein weiteres Beispiel: Als sich die FU-Professoren Horst Baader und Erich Loos in einem gemeinsam abgehaltenen Romanistik-Seminar weigerten, über den Seminarplan abstimmen zu lassen, und von den Studierenden mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, undemokratisch zu sein, antworteten sie: »Dies ist ein Hauptseminar; das hat mit Demokratie nichts zu tun. […] Hier geht es um Methodenprobleme der Literaturwissenschaft und nicht um Demokratieverständnis.«Footnote 17

Die Abstimmung über Inhalte der Lehrveranstaltung oder darüber, während der Lehrveranstaltung über universitäts- oder gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren war die zweite Eskalationsstufe der Störung. Dozierende, die so ausdrücklich auf ihrer Lehrfreiheit beharrten, dass sie keine Diskussionen zulassen wollten, oder gar in Abrede stellten, dass demokratische Verfahren in ihren Lehrveranstaltungen einen legitimen Platz hätten, konnten leicht zu Symbolen des vermeintlich autoritären Charakters der Institution stilisiert werden und damit weiteren Anlass zur Eskalation liefern.Footnote 18

Wenn es zu Abstimmungen kam, verliefen diese aber bei Weitem nicht immer im Sinn der Aktivistinnen und Aktivisten. Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme (damals Tübingen) etwa stellte selbst das Diskussionsansinnen des SDS über einen studentisch verwalteten Bereich im Institut zu Beginn seiner Lehrveranstaltung zur Abstimmung. Die Mehrheit der Anwesenden entschied sich gegen den SDS, dessen Vertreterinnen und Vertreter das Abstimmungsergebnis jedoch deshalb nicht akzeptierten, weil es vor der Abstimmung keine Aussprache gegeben habe: »Wenn von Beyme meint, formale Abstimmung könnten [sic!] eine verbindliche Diskussion ersetzen, so zeigt sich hier eine technokratische Fratze.« (Nolte 1970, S. 67) Ähnlich argumentiert die bereits zitierte Anleitung.

»Eine zumal in Vorlesungen bewährte Taktik der Professoren, Diskussionsforderungen abzuwimmeln, ist es, die Zuhörer über sie abstimmen zu lassen, ohne den Diskutanten Gelegenheit zu geben, ihre Forderungen zu begründen. Nicht selten bieten sie dabei als Alternative eine Diskussion außerhalb der Vorlesung an. Damit reproduziert der Professor die Trennung von Praxis und Reflexion, die für den gesamten universitären Wissenschaftsbetrieb konstitutiv ist.«Footnote 19

Um das Ziel der thematischen Umwidmung oder der gänzlichen Auflösung der Lehrveranstaltung zu erreichen, griffen die Aktivistinnen und Aktivisten in einem dritten Schritt zur Infragestellung der wissenschaftlichen und persönlichen Qualifikation der Dozierenden. Psychologisierend stellt etwa die Anleitung fest:

»Tatsächlich kann die Vorlesung, als autoritärste Lehrveranstaltung der Universität, der Diskussion keinen Augenblick standhalten, sie schließt als Form der Wissensvermittlung per se die Kritik aus. Daher ihre Beliebtheit gerade bei jenen Professoren, deren Autorität aufgrund psychischer Strukturen oder aufgrund der Irrationalität ihrer Disziplin am wenigsten der kritischen Anfechtung standhalten könnte. Ihnen verschafft die Zuhörermenge in ihren Vorlesungen die rational nicht zu leistende Legitimation ihrer Lehrtätigkeit. Das müssen wir verstehen, wenn wir die hypersensible Reaktion einiger Professoren auf vergangene Vorlesungsrezensionen und neuerdings ihre Aufregung begreifen wollen, sobald in den Vorlesungen Diskussion gefordert wird.«Footnote 20

Diskussionsverweigerung wird also zum Anzeichen eines Defizits eines nicht mehr legitimierbaren wissenschaftlichen Zugangs oder einer Persönlichkeitsschwäche des Dozenten umgedeutet. Beispiele für solche Attacken gegen Professoren sind zahlreich. Angriffe auf die Romanisten Baader und Loos wurden von studentischer Seite damit gerechtfertigt, dass jeder Student das Recht habe, »den Seminarleiter auf seine mangelnde wissenschaftliche Qualifikation hinzuweisen«.Footnote 21 Der Freiburger Germanist Gerhard Kaiser wurde als »Arschloch« beleidigt (Nolte 1970, S. 112 f.) und sein Kollege aus der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis als »patriarchalischer Aggressor« bezeichnet, der das »größte Maul« habe. Neben den Haupteingang des Kollegiengebäudes II malten vermutlich Mitglieder der Basisgruppe Politologie das Graffito: »Haut dem Hennis auf den Penis« (Nolte 1970, S. 120).

Solche persönlichen Angriffe auf Dozierende wurden damit gerechtfertigt, dass die Studierenden nicht anders von ihrer autoritären Fixierung befreit werden könnten. In einer Stellungnahme des AStA der Universität Frankfurt heißt es etwa: »In der Debatte mit den Studenten zeigen sich die Professoren oft darüber entsetzt, daß sie wie Angeklagte vor dem Tribunal ihrer Opfer nach deren Willen Rede und Antwort stehen müssen. Der Machtposition der Professoren in den Diskussionen müssen die Studenten nicht nur das Argument, sondern notwendigerweise emotionale Loslösung von der Bindung an Autoritäten entgegensetzen.«Footnote 22

Ziel der Provokationen war schließlich in einem vierten Schritt die Gründung von Arbeitsgruppen und die Fortführung der Lehrveranstaltung in Eigenregie. Das Problem war freilich das Prüfungswesen, das den Studierenden nicht ermöglichte, Scheine auszustellen. Doch fügte sich gerade das in ihr hochschulagitatorisches Gesamtkonzept, das exemplarisch von der Basisgruppe Germanistik an der Universität Freiburg formuliert wurde: »Es geht um die Durchsetzung einer politischen Konzeption. Es geht um die Organisierung des studentischen Widerstandes! Es geht nicht nur um widersinnige didaktische Formen. Es geht um Durchbrechung studentischer Passivität!« (Nolte 1970, S. 115). Mobilisierung größerer Teile der Studentenschaft war also das Hauptziel der Störungen, die ganz im Sinne der direkten Aktion autoritäre und undemokratische Strukturen entlarven und für die Beteiligten erfahrbar machen sollten.

Vor dem Hintergrund von Stichwehs Überlegungen zur Popularisierung von Wissen können die Störungspraktiken als Bemühungen zur Aufhebung des asymmetrischen Verhältnisses von Professionellen (Professoren) und Klienten (Studierenden) gelesen werden. Die Asymmetrie dieses Verhältnisses ist zwar theoretisch durch funktionale Expertise determiniert, sie wird jedoch durch die Studierenden durch unterschiedliche Strategien infrage gestellt.

So behaupteten sie, dass das Funktionssystem in seiner jetzigen Form ungeeignet sei, die Probleme der personalen Umwelt des Gesellschaftssystems zu thematisieren. Dies geschah etwa durch den Vorwurf, der Dozent, und mit ihm weite Teile der Disziplin, weigere sich, die kapitalistische Basis der Bundesrepublik und der wissenschaftlichen Produktionsbedingungen zu reflektieren, oder sei schlechthin irrational. Neben dem Vorwurf einer zu großen Distanz zu den Sachkontexten war auch das Absprechen der persönlichen Eignung mangels Interaktionsfähigkeit (Verweigerung von Diskussion, Kritikunfähigkeit) ein weiterer Grund, die tradierten Formen pädagogischer Popularisierung zu hinterfragen.

Mit diesen Vorwürfen wurden Praktiken legitimiert und motiviert, die die Interaktionsabhängigkeit von Professionellen und Klienten zumindest lokal auflösen sollten. Darunter fielen Diskussionen über die Inhalte von Lehrveranstaltungen, Abstimmungen zum Ändern der Lehrinhalte sowie das Bestreiken oder ›Sprengen‹ von Lehrveranstaltungen. Der Professor sollte nicht mehr als Professioneller gegenüber den Studierenden als Klienten fungieren können. Den Professoren wurde damit das Recht auf Verwaltung der für das Funktionssystem konstitutiven Wissensbestände streitig gemacht.

Die pädagogische Popularisierung wurde für gescheitert erklärt und daraus der Imperativ abgeleitet, auch die Rollendifferenzierung aufzuheben und mit ihr die Kommunikationsformen, die sie konstituierten.

5.3 Antirituale der Popularisierung: Die Kritische Universität

Alternative Formen der Popularisierung wurden in Deutschland ab dem Wintersemester 1967 in Kritischen Universitäten entwickelt. Im ersten Vorlesungsverzeichnis der Kritischen Universität der FU kritisierte der Soziologe Sven Papcke die innere Hierarchie der traditionellen Universität. Die Struktur der Lehre entspreche »dem allgemeinen Oberlehrerverhältnis« in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Die Universität propagiere »ebenso wie die schein-repräsentative Herrschaftsdemokratie im Kapitalismus ein Oberherren-Untertanenmodell.« Zudem diene sie »verschämt dem Profitprinzip des Kapitalismus«, indem sie für den Arbeitsmarkt und die Bedürfnisse der Industrie ausbilde.Footnote 23

Vorbild für die studentische Selbstorganisation des Studiums waren die von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ins Leben gerufenen Freedom Schools, die zahlreiche Nachahmer an amerikanischen Universitäten fanden. Die amerikanische Studentenorganisation Students for a Democratic Society betrieb ab 1965 ein Free University and University Reform Program, das den Aufbau von Gegenuniversitäten systematisch förderte. Dieses Programm war offenbar sehr erfolgreich. Wurden 1965 schon 50 Free Universities gegründet, waren es bis 1970 schätzungsweise 300 bis 500 (vgl. Schmidtke 2003, S. 225).

Die am 1. November 1967 im Auditorium Maximum der FU gegründete erste Kritische Universität in Deutschland startete mit 33 Arbeitskreisen in ihr erstes Semester, an denen sich schätzungsweise 600 Studierende beteiligten (Schmidtke 2003, S. 236). Von hier ausgehend verbreitete sich im Bundesgebiet die Idee der Kritischen Universität bald weiter. Noch im Wintersemester 1967/68 entstand an der Universität Hamburg eine Kritische Universität mit zunächst zehn Arbeitskreisen, die im Sommersemester 1968 expandierte.Footnote 24 Im Laufe des Jahres 1968 folgten die Kritischen Universitäten in Bochum, Kiel, Heidelberg und Erlangen (vgl. Schmidtke 2003, S. 237.) Ohne sich ›Kritische Universität‹ zu nennen, verfolgten auch andere Gruppierungen das Ziel eines praktischen Vorgriffs auf die Studienreform, etwa der Wissenschaftspolitische Club Münster, der allerdings stärker die Kooperation von Lehrenden und Lernenden betonte, und die Arbeitsgemeinschaft demokratische Universität in München, die sich als »Theorie und Praxis verbindende Selbstorganisation der demokratischen Hochschulangehörigen« und ausdrücklich auch als »Teil der außerparlamentarischen Opposition« (Koplin 1968, S. 50) positionierte. An zahlreichen weiteren Universitäten wurden zumindest vom AStA und Studentenverbänden ›kritische‹ Seminare und Veranstaltungsreihen organisiert (vgl. Schmidtke 2003, S. 237 f.).

Programmatisch formulierte die Berliner Studierendengruppe LSD in einem Flugblatt die Ziele, die mit der Gründung der Kritischen Universität verbunden waren:

  • »für jedermann zugänglich, öffentlich angekündigte Veranstaltungen;

  • statt Manipulation, offene Konfrontation der verschiedenen methodologischen Ansätze;

  • intensive Förderung der interdisziplinären und exemplarischen Arbeit;

  • Einbeziehung der bisher vernachlässigten sozio-oekonomischen Fragestellung;

  • Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen;

  • vermehrte Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik.«Footnote 25

Mehrere der angeführten Punkte lassen sich als Formen alternativer Popularisierung deuten. Die prinzipielle Offenheit aller Veranstaltungen erweiterte die Menge potentieller Laien, Novizen oder Klienten über die Klientel der Studierendenschaft hinaus. Die prinzipielle Interdisziplinarität machte eine Popularisierung der Lehrinhalte erforderlich. Die Thematisierung gesellschaftspolitischer Relevanzen kann als politische Popularisierung gedeutet werden und die Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Gruppen als Modus allgemeiner Popularisierung.

Allein der pädagogische Modus der Popularisierung wird nicht thematisiert – und dies aus grundsätzlichen Erwägungen. Die Seminararbeit nämlich sollte ohne zentrale Leitung durch einen Wechsel von thematisch und »autonom arbeitenden« Kollektivgruppen und der Diskussion der Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen im Seminarplenum beziehungsweise dem Forum geprägt sein: »Größere Studienveranstaltungen bilden kleinere Studien- und Lerngruppen neben den Plenarsitzungen. Es gibt keine ständigen Leiter der Veranstaltungen, sondern nur wechselnde Diskussionsleiter und bei größeren Arbeitsgemeinschaften oder Seminaren einen Organisationsausschuß«.Footnote 26 Gerade die Abwesenheit eines formalen Leiters, so ein Flugblatt der Organisatorinnen und Organisatoren der Kritischen Universität, ermögliche »angstfreies Verhalten und damit wissenschaftliches Arbeiten unter ständiger Kritik.« Im Gegensatz zum traditionellen Seminar, in dem der Seminarleiter einen Kompetenzvorsprung inszeniere und dadurch echte Diskussionen ersticke, werde im studentisch organisierten Seminar »der Monolog der Spezialisten […] durch Diskussion aller Beteiligten« ersetzt. Daher seien auch »Vorlesungen […] für die KU keine geeignete didaktische Methode«.Footnote 27 Gab es eine Seminarleitung, so beschränkten sich ihre Aufgaben lediglich auf Organisatorisches, sie war »›Sekretariat‹ und Koordinationszentrale der autonom arbeitenden Gruppen«.Footnote 28 Das studentische Seminar kannte also nur Teilnehmende und Diskussionsleiter/innen als kommunikative Rollen. Bei Plenarsitzungen kam noch die Rolle der Referierenden hinzu, die die Ergebnisse der Arbeitskreise dem Plenum vorstellten. Da die Arbeitskreise sich als Kollektive verstanden, kannten sie auch nicht die Rolle eines Sprechers / einer Sprecherin. Alle Ergebnisse der Arbeitskreise galten entsprechend auch als Leistung der ganzen Gruppe und nicht ihrer einzelnen Teilnehmenden.

Im Hinblick auf die Popularisierung von Wissen bedeutet dies, dass das Fehlen einer Leitungsperson nicht nur die Rollen von Professionellen und Klienten aufhebt, sondern den Fokus auf den Prozess kollektiver Wissensproduktion richtet, die sich als Netzwerkeffekt aus Popularisierungen zwischen den einzelnen Angehörigen der Gruppe ergibt und dann – so zumindest die Idealvorstellung – in ein Plenum kaskadiert.

Wenn freilich die Rollen nivelliert sind, muss auch die Inklusion ins Systemgeschehen, die im traditionellen Funktionssystem Wissenschaft durch das komplementäre Verhältnis von Professionellen und Klienten gestiftet wird, in anderer Weise erfolgen. Inklusion sollte für die Organisatorinnen und Organisatoren der Kritischen Universität durch die Verschmelzung von wissenschaftlicher Tätigkeit und (politischer) Praxis erreicht werden.

Ziel sei es, »die Schizophrenie zwischen einem intellektuell uninteressanten Fachstudium und einer davon getrennten kulturellen oder politischen Freizeit« abzubauen. Neben der Unterstützung der politischen Arbeit innerhalb der Universität sollte die Kritische Universität die Studierenden auch auf ihr politisches Leben nach der Universität vorbereiten. Ziel sei es, die Absolventen auch an ihren Arbeitsplätzen zu politisch denkenden und handelnden Menschen zu machen und damit »die Trennung zwischen politischer Freizeit und unpolitischer fremdbestimmter Arbeit« zu durchbrechen. Die »Zwecke und die Organisation der Arbeit« müssten zum Gegenstand »antiautoritärer Praxis« gemacht werden, »einer Praxis, die nur organisiert und solidarisch, nicht durch individuelle Kritik, zugleich Erfolg und Sicherheit in der Berufsposition ermöglicht.«Footnote 29

Schon in der Denkschrift »Hochschule in der Demokratie« hatten Wolfgang Nitsch, Uta Gerhard, Claus Offe und Ulrich K. Preuß formuliert, dass erst »in der Einheit von Wissen und Praxis […] die konkrete Chance zur vollen Selbstverwirklichung der Individualität des wissenschaftlich arbeitenden Studenten« bestehe (Nitsch et al. 1965, Abschnitt I.4.8). Nur in »enger Arbeitsteilung mit anderen gesellschaftlichen Institutionen« könne die Universität die Voraussetzungen dafür schaffen, »daß im Leben und in den Handlungen der Studenten eine enge Verknüpfung von Wissen und Praxis im Dienste der Menschen sich vollzieht und eine Einheit von theoretisch-›radikaler‹ Reflexion des speziellen Fach-Wissens und gesellschaftsverändernder Praxis erreicht« werde.

Die Kritischen Universitäten entwickelten sich auch tatsächlich zu Drehscheiben der Diffusion anderer Gegeninstitutionen, darunter alternative Kindergärten oder Publikationsorgane, die in den autonomen Seminaren geplant wurden. Die Kritischen Universitäten waren aber auch eine Keimzelle für neue kommunikative Praktiken mit hoher sozialsymbolischer Ladung und deren Einübung und Verfestigung zu dauerhaften Ritualisierungen. Sie waren ein sozialer Raum, »in dem die Ideen einer neuen Linken als Orientierungsmuster sozialer Praktiken wirkten.« (Schmidtke 2003, S. 239).

Die Gründung Kritischer Universitäten freilich war nur ein erster Schritt, der mittelfristig in eine grundlegende Umgestaltung der Institution Universität durch Integration der in den KUs entwickelten Ansätze münden sollte. So heißt es in den »Arbeitsblättern Universität und Politik« des Wissenschaftspolitischen Klub Münster, sozialkritische und aktionistische Formen sollten zum inhärenten Bestandteil der Universitäten werden:

»Die Entwicklungen und Differenzierungen der modernen Universität enthalten Tendenzen, nach denen sich dem traditionellen Kern mit den professionellen auch intellektuelle (z.B sozialkritische) und marginale (z. B. rebellische) Verhaltensweisen konstitutiv anlagern. Um als Institution zu überleben, muß die Universität diese Tendenzen aktiv fördern. Mit der zunehmenden sozialen Organisation dieser Verhaltensweisen würde die Gewichtigkeit bestimmter aus der traditionellen Universitätsverfassung ableitbarer Probleme (z. B. Prüfungen, Mittelbau, Habilitationen, Berufungen, Beamtenstatus) verblassen.« (Baier et al. 1967, S. 29)

6 Fazit: Das Populäre als normatives Konzept

Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen sollte in den Kritischen Universitäten also von der Begrenzung auf pädagogische Popularisierung befreit und in eine generelle Popularisierung überführt werden. Generelle Popularisierung meinte jedoch keine »Popularisierung erster Ordnung« (Döring et al. 2022, S. 12), in der Wissen von Expertinnen und Experten für Laien vereinfacht und verbreitet wird. Popularisierung als Prozess hin zu etwas, »was bei vielen Beachtung findet« (Döring et al. 2022), sollte in der Vorstellung der Aktivistinnen und Aktivisten der 1968er-Bewegung hingegen bottom-up erfolgen, nämlich im Prozess der Verschmelzung von Wissensproduktion und gesellschaftlicher Praxis, in der spezifische Wissensinhalte von vielen erfahren werden und so zur Geltung kommen. Diese Vorstellung von einer »Popularisierung von unten« basierte auf einem normativen Konzept des Populären: Populär ist nicht allgemein das, was bei vielen Beachtung findet, sondern was von den Massen für die Massen als lebensweltlich relevant erkannt wird und dadurch zur Selbstaufklärung beitragen kann. Jede Entkopplung der Popularisierungsprozesse von den »wahren« Bedürfnissen der Massen, etwa durch Werbung, Medien oder vermeintlich wirklichkeitsfremde Wissenschaft, ist Manipulation und führt zur Entfremdung.

Diese Form der Popularisierung sollte mittels der Auflösung der Rollen von Professionellen und Klienten, von Experten und Laien und die Erweiterung des Publikums (potential inclusion of everyone) erfolgen. Die Relevanz des Funktionssystems Wissenschaft sollte entsprechend durch eine Form der Inklusion erreicht werden, die sich nicht aus der Interaktion asymmetrischer Rollen ergibt, sondern aus geteilter gesellschaftspolitischer Praxis. Diese alternative Form der Popularisierung hatte freilich auch einen Effekt auf das Zentrum wissenschaftlicher Tradition. Nach Vorstellung der Akteurinnen und Akteure sollte jede Disziplin auf der Basis ihrer sozio-ökonomischen Bedingungen reflektiert werden (Selektion). Unterschiedliche Auffassungen von Wissenschaftlichkeit wurden polarisierend als Dissens markiert und konkurrierende Akteure, Methoden und Gegenstände als unwissenschaftlich diskreditiert. Im Hinblick auf die Gattungen der Popularisierung traten an die Stelle von Objektivität inszenierenden Aufsätzen und Monographien kollektive Dokumentationen von Lektüren und Diskussionen, die mit subjektiven Erfahrungsberichten und Selbstkritik durchwirkt waren.

Die spezifische Form der Popularisierung von Wissenschaft, die sich im Zuge der 1968er-Bewegung ausprägte, nutzt die Vorstellung von der vermeintlichen »Bewußtlosigkeit der systematisch entmündigten Massen« (Dutschke 1980, S. 44) als Ressource für radikale politische Forderungen. Der mangelnde Zugang zur Produktion wissenschaftlichen Wissens wurde zum Symptom einer Krise der repräsentativen Demokratie in der Bundesrepublik stilisiert. Im bürgerlichen Staat, ganz gleich »ob parlamentarisch-demokratisch oder autoritär-faschistisch«, schrieb Johannes Agnoli, »muß die Zugangsmöglichkeit der Massen zu den Zentren der Macht so weitgehend eingeschränkt sein, daß die bürgerliche Qualität des Staates konfliktlos aufrechterhalten werden kann« (Agnoli 1968, S. 50). Die Forderung nach der Popularisierung von Wissenschaft auf Basis eines normativen Konzeptes des Populären war folgerichtig auch ein Medium radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Denn populär zu sein bedeutete, einen Anspruch auf Macht zu haben.