1 Einführung: Gegenstand und Fragestellung

Vor etwa zehn Jahren tauchte in den Medien erstmals der Ausdruck ›sächsischer Bible belt‹ auf – als Bezeichnung für die Gegend vom Vogtland über das Erzgebirge bis Dresden und teils auch Gebiete östlich von Dresden, also die Gegend um Bautzen bis Görlitz (Stange 2014). Diese Bezeichnung implizierte die Annahme einer Übertragbarkeit dessen, was sie im Süden der USA meint, auf diese Region in Sachsen: einen hohen Anteil an politisch und religiös konservativ eingestellten Personen in der Bevölkerung. Ein zentraler Anlass für diese Annahme war die 2012 bei der sächsischen Kirchenleitung eingereichte, von etwa einem Fünftel aller sächsischen Kirchengemeinden und zahlreichen kirchlichen Gruppen sowie Einzelpersonen vor allem aus dem Bible belt unterzeichnete sogenannte Markersbacher Erklärung »zum familiären Zusammenleben im Pfarrhaus« – ein Votum gegen homosexuelle Partnerschaften von Pfarrerinnen und Pfarrern, die das Pfarrerdienstrecht der Evangelischen Kirche in Deutschland in eben diesem Jahr explizit gestattet hatte.Footnote 1 Die Bezeichnung Bible belt wurde verstärkt im Zusammenhang mit dem Aufkommen der islamfeindlichen Pegida-Bewegung 2014 in Sachsen (Lühmann 2016)Footnote 2 und mit den Schwerpunkten von Protesten gegen Corona-Maßnahmen ab 2020Footnote 3 diskutiert. Sie ist allerdings bis in die Gegenwart umstritten, weil der für die Bezeichnung in den USA essentielle, unmittelbare politische Einfluss evangelikaler Gruppen für Sachsen in der dortigen Breite und Intensität schwerlich behauptet werden kann.Footnote 4

Lässt man die im engeren Sinn politischen Konnotationen des Lables Bible belt zunächst beiseite und nimmt die damit verbundene Religiosität in den Blick, lassen sich für die beschriebene Region in Sachsen allerdings Merkmale ausmachen, aufgrund derer sich die Region mit als Bible belt bezeichneten Gegenden in anderen Ländern – außer in den USA etwa auch in den Niederlanden und in NorwegenFootnote 5 – vergleichen lässt. Wie bereits dem Lable selbst zu entnehmen ist, handelt es sich um die Annahme einer besonderen Konzentration von Frömmigkeitsformen, die die Bibel, genauer ein wörtliches Verständnis der Bibel jenseits historisch-kritischer Auslegungen, betonen (sogenannter ›Biblizismus‹) (Schwintek 1989, S. 62). Das primäre Aktionsfeld dieser seit den 1960er Jahren als ›evangelikal‹ bezeichneten Richtungen im Protestantismus (Bauer 2012, S. 28–34) bildet der Kampf um eine strikte, als konsequent biblisch verstandene Ausrichtung der Lebensführung, die unter anderem die schon erwähnte Ablehnung von homosexuellen Partnerschaften oder auch von Abtreibungen einschließt. Die evangelikale Bewegung ist als fundamentalistische »Protestbewegung innerhalb der Kirche« zu verstehen (ebd., S. 34), die sich gegen die vermeintliche Abkehr derselben vom ›richtigen‹ Verständnis der Bibel und daraus resultierende Liberalisierung und (Links‑)Politisierung richtet. Akteur*innen sind in den Landeskirchen sowohl Pfarrerinnen und Pfarrer als auch Mitglieder von Gemeinden.

In der DDR, zu der Sachsen von 1949 bis 1990 gehörte, institutionalisierte sich die evangelikale Bewegung 1970 in Gestalt der Gründung der »Arbeitsgemeinschaft Kirche und Bekenntnis«, wobei der Schwerpunkt der Initiative eindeutig in Sachsen lag (Bauer 2012, S. 23 f.; Holthaus 2007, S. 22). Aufgrund der gegenüber der Bundesrepublik gänzlich anderen politischen Rahmenbedingungen konnte sie sich bis zum Ende der DDR allerdings kaum als Protestbewegung innerhalb der Kirche etablieren, was sich jedoch mit dem Ende der DDR änderte. Dass die evangelikale Bewegung mit ihrem Schwerpunkt im sächsischen Bible belt auch zu diesem Zeitpunkt noch einiges Protestpotential in der Kirche entfalten konnte, erklärt sich daraus, dass der Anteil der zur Landeskirche gehörigen Bevölkerung trotz der massiven und insgesamt sehr erfolgreichen Bekämpfung der Kirchen während der DDR-Zeit mit circa 40 % hier noch relativ hoch war.Footnote 6 Träger evangelikaler Frömmigkeit sind zudem Freikirchen, die im sächsischen Bible belt ebenfalls in vergleichsweise hoher Konzentration vorkommen (Henkel 2001, S. 192).Footnote 7 Solche Konzentrationen lassen sich insbesondere auch im Blick auf die verschiedenen Formen der Brüdergemeinden (ebd., S. 201–205)Footnote 8, aber auch für Christliche SondergemeinschaftenFootnote 9 wie die Neuapostolische Kirche, die Adventisten, die Zeugen Jehovas und die Mormonen (ebd., S. 162, 217, 224, 228) feststellen.

Als zentrale Säule evangelikaler Religiosität sind in Sachsen die sogenannten Landeskirchlichen Gemeinschaften anzusehen. Dabei handelt es sich um im späten 19. Jahrhundert entstandene, ursprünglich ausschließlich innerkirchlich agierende Initiativen von Laien und Pfarrern, deren Ziel es war, bibeltreue Christen in besonderen Gemeinschaften zu sammeln und ihre Anzahl durch Evangelisation zu vermehren (Ohlemacher 2000). Seit den 1960er Jahren vollzogen die Landeskirchlichen Gemeinschaften vielfach einen Schulterschluss mit anderen konservativen Strömungen, was eine fundamentalistisch-restaurative Tendenz in bewusster Abgrenzung von den Landeskirchen und die Identifikation mit dem Label ›evangelikal‹ mit sich brachte (Busch 2000, S. 538–548). Aus den bereits angedeuteten politischen Gründen verliefen auch diese Prozesse in der DDR innerkirchlich. Der Landesverband Landeskirchlicher Gemeinschaften in Sachsen ist nach dem Altpietistischen Gemeinschaftsverband in Württemberg gegenwärtig der zweitgrößte in Deutschland (Henkel 2001, S. 113 f.), wobei sich die mit Abstand meisten Gemeinschaften im sächsischen Bible belt, insbesondere im Erzgebirge und im Vogtland, finden.Footnote 10

Der vorliegende Beitrag nimmt die Herausbildung der Konstellation sächsischer Bible belt als Prozess diskursiver Aushandlung zwischen konkurrierenden religiösen Expert*innen- und diversen Lai*innenwissensbeständen seit dem 19. Jahrhundert in den Blick und ist insofern einem wissens- und diskursgeschichtlichen Ansatz verpflichtet (Keller 2011; Landwehr 2007/2019; Mulsow 2012/2019).Footnote 11 Er untersucht diese Konstellation unter dem Aspekt der »Transformationen des Populären« als Konfliktgeschichte um Beachtung und Deutungshoheiten seit um 1800 entsprechend dem Forschungsdesign des Siegener Sonderforschungsbereichs 1472, in dem der Beitrag entstanden ist (Döring et al. 2021, S. 9, 12, 16–18, 20). Mit dem wissenssoziologischen, nach konkurrierenden Wissensbeständen und Diskursen fragenden Zugang verbunden ist der Fokus auf Expertise und Lai*innentum als Beanspruchung beziehungsweise Zuschreibung und insofern fluiden Phänomenen jenseits vermeintlich eindeutig bestimmter Gruppen von Expert*innen und Lai*innen.Footnote 12 Es geht um Kämpfe zwischen Vertreter*innen der Hochkultur in Gestalt der Sächsischen Landeskirche beziehungsweise deren Leitung und dem Populären – in Gestalt sich verändernder Inhalte und Institutionalisierungen von Lai*innenwissen innerhalb dieser Landeskirche – um den Anspruch auf Expertise und damit um Rollen und Ressourcen, Legitimation und Geltung im Bereich des Religiösen.

Die These lautet, dass sich im Zuge dieser Kämpfe unterschiedliche Typen des Verhältnisses von Expert*innen und Lai*innenwissensbeständen in der Sächsischen Landeskirche herausbildeten und mehr oder weniger dauerhaft etablierten, wobei komplementäre von interferierenden und konkurrierend-abgrenzenden Modellen unterscheidbar sind. Im Zuge dieser Untersuchung werden ältere und neuere Einzeldarstellungen zu religiösen Lai*inneninitiativen in Sachsen, vor allem im Sächsischen Bible belt, erstmals unter einem systematisierenden Zugriff miteinander in Beziehung gesetzt. Die verschiedenen Formen und Phasen der Herausbildung religiösen Lai*innenwissens sowie der Reaktionen von landeskirchlicher Seite hierauf werden zunächst in der chronologischen Reihenfolge ihres Aufkommens vorgestellt und anschließend unter Rekurs auf die genannten unterschiedlichen Typen systematisiert.

2 Expert*innen und Lai*inneninitiativen in den ›Erweckungsbewegungen‹ des 19. Jahrhunderts

Das 19. Jahrhundert führte in den protestantischen Kirchen in Deutschland insofern zu einem Umbruch in der Konstitution von Expert*innen und Lai*innen, als sich durch die Legalisierung des Vereinswesens seit der Mitte des Jahrhunderts erstmals die Möglichkeit ergab, sich als Lai*innen neben oder außerhalb der Kirche als Gruppen zu formieren und zu institutionalisieren, ohne kriminalisiert zu werden.Footnote 13 Dies führte zu einer Pluralisierung der protestantischen Landschaft, innerhalb derer den sich in Abgrenzung zu Rationalismus und historisch-kritischer Bibelexegese formierenden ›bibeltreuen‹ Christen ein erheblicher Stellenwert zukam (Albrecht-Birkner 2023). In der Kirchengeschichtsschreibung werden die dieser Richtung zuzuordnenden Strömungen des 19. Jahrhunderts als ›Erweckungsbewegungen‹ bezeichnet und sind in der Forschung vergleichsweise unterrepräsentiert, was mit einer gewissen historiographischen Ratlosigkeit vor allem gegenüber den damit verbundenen religiösen Selbstermündigungsbestrebungen von Lai*innen inner- und außerhalb der Kirche erklärbar ist (Kuhn/Albrecht-Birkner 2017).

2.1 Die Herrnhuter Diasporaarbeit

Für die Genese des sächsischen Bibel belts als Geschichte von Konkurrenzen zwischen Expert*innen und Lai*innenwissen und insofern von Transformationen des Populären seit dem 19. Jahrhundert ist zunächst auf die sogenannte Diasporaarbeit der Oberlausitzer Herrnhuter Brüdergemeine von ihrer Niederlassung in Ebersdorf im heutigen Thüringen aus zu verweisen (Hennig 1929, S. 37–54). Der 1727 von dem Juristen Nikolaus Ludwig von ZinzendorfFootnote 14 gegründeten Herrnhuter Brüdergemeine – eine in Preußen anerkannte Sonderkirche, die sich formal der lutherischen Kirche zuordnete – kam es auf das Ideal der christlichen Bruderliebe (Philadelphia)Footnote 15 an, dem gemäß nicht die Zugehörigkeit zu Konfessionen entscheidend war, sondern ausschließlich die Liebe zu Christus und untereinander. Dies implizierte eine kritische Distanz zu den Konfessionskirchen und führte zur Herausbildung des Konzepts der Diaspora – mit dem Ziel der Sammlung von in allen Konfessionskirchen verstreuten Christen zur wahren philadelphischen Kirche (Breul 2021).

In Sachsen spielte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der aus Schlesien stammende Weber Carl Friedrich Enkelmann (1788–1863) als Diasporaarbeiter der Herrnhuter Brüdergemeine eine wichtige Rolle als reisender Prediger, der Gemeinschaften Herrnhutischer Prägung ins Leben rief (Benrath 2000, S. 219 f.). Erfolgreich war er vor allem im Erzgebirge und im Vogtland, wo sich bis zum Ende der 1840er Jahre circa fünfzig solcher Gemeinschaften bildeten (Kluge 1900, S. 21). Teils handelte es sich dabei um wieder aktivierte Gruppen, die sich bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts konstituiert, in der napoleonischen Zeit aber an Relevanz verloren hatten (Dietrich/Brockes 1903, S. 142–144).Footnote 16 Frühe Darstellungen zur Erweckungsbewegung in Sachsen betonen, dass es nach dem Ende der Tätigkeit von Enkelmann Anfang der 1850er Jahre zu einem raschen Niedergang der Herrnhutischen Gemeinschaften in Sachsen kam. Die dafür angegebenen Gründe deuten auf konkurrierende laientheologische Diskurse und daraus resultierenden Praktiken: Die Rede ist von ›schwärmerischen‹ und ›enthusiastischen‹ Phänomenen einschließlich einer deutlichen Tendenz zu Sektenbildungen, bei denen offenbar insbesondere im Erzgebirge auch Somnambulismus und Geisterbefragungen eine Rolle spielten (Dietrich/Brockes 1903, S. 144; Hennig 1929, S. 172–178; Kluge 1900, S. 22; Tiesmeyer 1911, S. 231).Footnote 17

2.2 Spiritismus

Dies mag erklären, weshalb in den 1880er Jahren auch die spiritistische Bewegung in Sachsen und insbesondere im Erzgebirge in breitem Ausmaß Fuß fasste, denn hierfür war laut Diethard Sawicki eine Bedingung, dass sie »an bereits existierende Formen religiösen Dissenses« – darunter »Pietisten mit separatistischer Tendenz« – anknüpfen und »diese regionalen Traditionen […] vernetzen« konnte, »die sich dann unter dem gemeinsamen Dach des Spiritismus wiederfanden« (Sawicki 2002, S. 299–330, Zitat 311). Es entstanden mehrere Gruppierungen, »die sich bewußt von der Landeskirche absetzten und glaubten, durch spiritistische Praktiken neue Offenbarungen erlangt zu haben«, darunter der von C.G. Voigt in Chemnitz gegründete Theokratische Brüderbund (ebd., S. 251 f., 314 f., Zitat 315). Von diesem Offenbarungsspiritismus unterscheidet Sawicki den »Andachtsspiritismus kirchentreuer Protestanten« (ebd., S. 312), »der den Kirchenbehörden und den Pfarrern gleichermaßen als weitgehend harmlos und unschädlich erschienen« sei, weil die aus unteren Schichten – »›kleine Handwerker, Strumpfwirker, Bergarbeiter pp.‹« – kommenden Teilnehmer an spiritistischen Konventikeln einen »›streng geregelten Lebenswandel‹« führten und »›fleißig zur Kirche‹« gingen (ebd., S. 315 f.). Der öffentlich am meisten sichtbare Vereinsspiritismus hatte seine Schwerpunkte »in den Regionen Chemnitz, Zwickau, Glauchau«, im Mülsental und im sächsischen Erzgebirge – zugleich Schwerpunkte der Frühindustrialisierung in Sachsen (ebd., S. 316).Footnote 18 Die spiritistischen Vereine in Sachsen boten »einen außerkirchlichen Raum spiritueller Erfahrung«, aber auch »eine solidarische Gegenöffentlichkeit« sowie Unterhaltung (ebd., S. 318).

2.3 Expert*innen-Aktivitäten

Von diesen Bottom-up-Gruppenbildungen zu unterscheiden sind Ortsvereine der im frühen 19. Jahrhundert mit dem Ziel der Belebung der Kirchen und der Verbreitung des christlichen Glaubens in Leipzig und Dresden gegründeten Bibelgesellschaften und Missionsvereine (Übersicht bei Hennig 1929, S. 166 f.). Hierbei handelte es sich um Top-down-Initiativen, in denen teils Angehörige des sächsischen Adels, die herrnhutisch geprägt waren, führende Rollen spielten (Benrath 2000, S. 220 f.). Insbesondere ist in diesem Zusammenhang Detlev Graf von Einsiedel (1773–1861) zu nennen, der zwischen 1813 und 1830 als leitender Minister zugleich Vorsitzender der sächsischen Bibel- und Missionsgesellschaft war, was auch dazu beitrug, dass ›bibelgläubige Kreise‹ regierungsseitig generell geschützt wurden (Tiesmeyer 1911, S. 209 f.). Von Einsiedel war Eisenhüttenunternehmer und führte in seinem Eisenwerk in Gröditz Morgen- und Abendandachten ein.

Bemühungen um eine breite innerkirchliche ›Erweckung‹ in Sachsen, die von Pfarrern wie auch von Leipziger Theologieprofessoren ausgingen, waren seit den 1830er Jahren von dem Anliegen einer verstärkten Betonung der lutherischen Konfession gekennzeichnet. Eine Breitenwirkung solcher ›erwecklichen‹ Top-down-Bemühungen ist am ehesten anzunehmen bei intensiv rezipierten Publikationen wie der zeitweise von Moritz Meurer, Pfarrer in Kallenberg bei Zwickau, herausgegebenen Zeitschrift Der Pilger aus Sachsen. Eine religiöse Zeitschrift zur Belehrung und Erbauung vornämlich des Bürgers und Landmannes, erschienen von 1835 bis 1934.Footnote 19 Einen breiten Leserkreis sollen auch die erbaulichen Schriften des Leipziger Theologieprofessors Franz Delitzsch (1813–1890) gefunden haben (Benrath 2000, S. 223 f.). An literarischen Auseinandersetzungen um die ›richtige‹ Theologie beteiligten sich auch Laien wie z. B. der Leipziger Jurist und Ratsbaumeister Johann Wilhelm Volkmann (1772–1856) mit der Schrift Der Rationalist, kein evangelischer Christ. Ein Wort der Liebe und des Ernstes von einem Nicht-theologischen Gliede der evangelischen Gemeinde (Leipzig 1828), um die es eine längere literarische Kontroverse gab.

Aufschlussreich für die Einordnung der konfessionalistischen (top down‑)Tendenz der Erweckungsbewegung ist deren Bewertung in der Historiographie: Während die neueste Darstellung urteilt, dass die Erweckungsbewegung einen breiteren Einfluss auf Pfarrer und Gemeinden erst gewonnen habe, als sich »der lutherische Konfessionalismus mit der Erweckungsbewegung verband und bald das Übergewicht über sie gewann« (ebd., S. 222), urteilen ältere Darstellungen kritisch. So listen Dietrich und Brockes »die damalige neulutherische, hierarchisch gerichtete Strömung unter der Geistlichkeit, die im Interesse eines katholisierenden Amtsbegriffs jede ›Laienhilfe‹ in der Wortverkündigung zurückwies«, unter den Faktoren, die zum Rückgang ›erwecklicher‹ Initiativen und Versammlungen von Lai*innen geführt hätten (Dietrich/Brockes 1903, S. 144). Hennig formulierte 1929 drastischer: »Die Kirche saugte gleichsam alles während der individualistischen Erweckung entstandene Leben auf.« (Hennig 1929, S. 209). In den älteren Darstellungen zur ›Erweckungsbewegung‹ in Sachsen wird also ein Konkurrenzverhältnis zwischen theologischem Expert*innen und Lai*innenwissen und somit ein Fokus auf dem Konfliktpotential der Transformationen des Populären im Blick auf religiöse Deutungshoheiten deutlich, von dem in der neuesten Darstellung nicht mehr die Rede ist – zugunsten einer Geschichtserzählung ausschließlich aus der Expert*innenperspektive.

2.4 Die Gemeinschaftsbewegung

Von besonderem Interesse für die Genese des sächsischen Bible belts ist im Kontext der Frage nach dem Expert*innen-Lai*innen-Verhältnis in der ›Erweckungsbewegung‹ die Rolle der eingangs erwähnten Landeskirchlichen Gemeinschaften, historiographisch subsumiert unter den Begriff Gemeinschaftsbewegung. Ihre Besonderheit war, dass sie sich ab 1888 als Bündnis regionaler Verbände der einzelnen deutschen Provinzen überregional organisierte in Gestalt der sogenannten Gnadauer Pfingstkonferenzen und des »Deutschen Komitees für evangelische Gemeinschaftspflege« (ab 1897: »Deutscher Verband für evangelische Gemeinschaftspflege und Evangelisation«). 1901 benannte sich der Verband in »Deutscher Philadelphiaverein« um, der die Monatsschrift Philadelphia herausgab und zwei Reiseprediger, neun Kolporteure – also Hausierer, die evangelistische Kleinschriften in Einzellieferungen vertrieben –, vier Gemeinschaftspfleger und einen Buchhändler beschäftigte (Dietrich/Brockes 1903, S. 15–18). Der Wechsel in der Bezeichnung weist darauf hin, dass die Landeskirchlichen Gemeinschaften ebenso wie die Herrnhuter der Idee verpflichtet waren, die in den Konfessionen verstreuten, (Bibel‑)Christen zur philadelphischen Gemeinschaft als wahrer Kirche innerhalb der konfessionellen Kirchen zu versammeln.

Ebenso wie bei den Herrnhuter Diasporaarbeitern implizierte dies eine aktive Reisetätigkeit von ›Sendboten‹ (auch ›Reichsbrüder‹, ›Philadelphiaarbeiter‹ und ähnlich) mit dem Ziel, in für die Bewegung bislang nicht erschlossenen Gebieten regelmäßige Versammlungen bibeltreuer Christen zu initiieren. Diese Tätigkeit übernahmen, wie bei den Herrnhutern, Laien, wobei es das Ziel war, selbstständige Gemeinschaften zu schaffen, die keiner »Pflege und Bevormundung ihres Pfarrers oder des Reisebruders (Evangelisten)« mehr bedürfen (ebd., S. 21). Die Gemeinschaftsbewegung war insgesamt eine soziale Bewegung in der Kirche, die Laien die Möglichkeit eröffnen wollte, sich vor allem im Rahmen privater Erbauungsversammlungen durch selbstständige Bibelauslegung – »nicht im unnatürlichen Predigerton« (ebd.) – und freies Gebet aktiv am Verkündigungsdienst zu beteiligen und die Evangelisation voranzutreiben (Ohlemacher 2000, S. 398–413). Ihr Ausmaß nötigte Pfarrer und Kirchenbehörden dazu, sich mit ihr in irgendeiner Weise zu arrangieren, wobei Pfarrer teils selbst zu Akteuren derselben wurden (Dietrich/Brockes 1903, S. 17).

In den 1880er Jahren erreichten die ersten Reichsbrüder, von Württemberg kommend, Sachsen (zunächst das Vogtland), 1893 stellte das Komitee für evangelische Gemeinschaftspflege Bernhard Kühlwein (1856–1930) aus Bayern als Sendboten der Gemeinschaftsbewegung in Sachsen an. Seine Aufgaben waren Kolportage von Schriften und Einzelseelsorge, nach Möglichkeit Durchführung von Erbauungsversammlungen. 1892 wurde in Zwickau die erste sächsische Gemeinschaftskonferenz durchgeführt, 1899 wurde der Sächsische »Brüderrat für Landeskirchliche Gemeinschaftspflege« gegründet (ebd., S. 17, 145; S. 147 f. ist die Satzung des Brüderrats abgedruckt). In der Eigengeschichtsschreibung Landeskirchlicher Gemeinschaften spiegelt sich die Relevanz der Tätigkeit Kühlweins für deren Gründung, zugleich ist aber auch von Eigenaktivitäten in den Gemeinden die Rede, die durch die Tätigkeit des von außen kommenden Sendboten der Gemeinschaftsbewegung allenfalls verstärkt wurden (vgl. ebd., S. 146).Footnote 20 Die sächsische Gemeinschaftsbewegung formierte sich also nicht als reines ›Implantat‹ von außen, sondern als Synthese von regionalen und überregionalen Initiativen, vor allem von Laien.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das reisende Personal des Gemeinschaftsverbandes bald um Personen aus Sachsen selbst, genauer aus dem Erzgebirge, ergänzt wurde – 1895 um den Färbermeister Hermann Riedel aus Werdau und 1901 um Hermann Kretzschmar aus Leubsdorf (ebd., S. 146). Bis 1903 waren in Sachsen 106 Landeskirchliche Gemeinschaften mit einer deutlichen Konzentration im Erzgebirge und im Vogtland sowie in Ostsachsen entstanden (vgl. Karte ebd., S. 149).Footnote 21 Dietrich und Brockes betonen als »beachtenswerte Tatsache«, dass »die meisten Mitglieder« der sächsischen Gemeinschaften »der Arbeiterbevölkerung, teilweise dem Bergmannsstande, angehören, und daß gerade die hauptsächlichste Industriegegend Sachsens« – gemeint ist die Gegend um Zwickau – »der Hauptherd der Erweckungsbewegung ist« (ebd., S. 147).Footnote 22 Seitens der Pfarrerschaft habe anfangs Misstrauen gegenüber den Philadelphiaboten bestanden, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts aber überwunden worden sei. Einige Pfarrer seien bis zu diesem Zeitpunkt bereits aktiv in die Gemeinschaftsbewegung involviert gewesen. Das sächsische Konsistorium habe den Aktivitäten der Gemeinschaftsbewegung anfänglich zurückhaltend gegenübergestanden, bald aber wohlwollend (ebd., S. 150; Kluge 1900, S. 27). Vor dem Hintergrund dieser sich andeutenden Verbindung von Landeskirche und Gemeinschaften sei die sächsische Gemeinschaftsbewegung »[i]n verschiedenen Gemeinschaftskreisen Deutschlands« im frühen 20. Jahrhundert »als hochkirchlich« angesehen worden (Tiesmeyer 1911, S. 235).

Die explizite Zuordnung zur Landeskirche entsprach insofern der Intention der Gemeinschaftsbewegung, als die Vermeidung von Abspaltungen von der Kirche explizit zum Programm derselben gehörte. Im Blick auf Sachsen betonten die Akteure die Bedeutung des Anschlusses aller Gemeinschaften an den »Brüderrat für Landeskirchliche Gemeinschaftspflege«, »da die Erfahrung« hier gezeigt habe, »daß eine religiös so bewegliche Bevölkerung wie die der Industriebezirke des Voigtlandes und des Erzgebirges leicht allerlei Einflüssen zugänglich ist« (ebd.) – namentlich »Werbeversuchen der so lebhaft agitierenden spiritistischen und sabbatistischen Sendlinge« (Dietrich/Brockes 1903, S. 149). In derartigen Formulierungen klingt deutlich an, dass namentlich die Gegend, die heute als sächsischer Bible belt bezeichnet wird, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von weitergehenden heftigen Konkurrenzen zwischen religiösen Laiendiskursen geprägt war. Spiritistische Kreise wurden bereits erwähnt, mit ›Sabbatisten‹ waren Adventisten gemeint. Darüber hinaus ist von »sämtliche[n] Richtungen« außerkirchlicher Gemeinschaften vor allem im westlichen Sachsen die Rede (ebd., S. 151). Explizit erwähnt werden Methodisten, Baptisten, die Neuapostolische Kirche (›Irwingianer‹) und Mormonen (ebd.; Kluge 1900, S. 22; Tiesmeyer 1911, S. 231).

In dieser Gemengelage avancierten die Landeskirchlichen Gemeinschaften in der sächsischen Kirche zu den Schlüsselakteuren einer Vermittlung zwischen ausgeprägten Formen von Lai*innentheologie und -formierung vor Ort und einer landeskirchlichen Expertentheologie, die mit ihrer zunehmend dezidiert lutherischen Ausrichtung auch ein hierarchisches Amtsverständnis forcierte.Footnote 23 Als Transformation des Populären implizierte diese Entwicklung dreierlei: Zum einen wurden die Gemeinschaften aufgrund ihrer quantitativen Relevanz zu einem wesentlichen Faktor der theologischen Meinungsbildung innerhalb der Landeskirche. Zum anderen kann andersherum eine Präferenz für hierarchische Leitungsmodelle auch in den Gemeinschaften beobachtet werden. Zum dritten bedingte deren ›Zuständigkeit‹ dafür, dass laientheologische Aktivitäten vor Ort nicht zu Separationen von der Landeskirche führten, auch die Tolerierung ihrer partiellen ›Durchlässigkeit‹ für außerkirchliche Gemeinschaftsbildungen durch die Landeskirche.Footnote 24 Es ist evident, dass Wissenskonkurrenzen hier massive Konflikte um Beachtung und weitgehende religiöse Deutungshoheiten implizierten.

3 ›Sekten‹-Bildungen im frühen 20. Jahrhundert

Außerkirchliche Gemeinschaftsbildungen auf der Basis laientheologischer Entwürfe als spezifische Form der Transformationen des Populären im Bereich von Religion haben im sächsischen Bible belt aber weiterhin eine Rolle gespielt und im frühen 20. Jahrhundert zu bis in die Gegenwart bestehenden, markanten Institutionalisierungen geführt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang vor allem die Gemeinschaft in Christo Jesu, auch bekannt unter dem Namen Lorenzianer, die 1922 als Verein gegründet wurde und ihr ›Zentralheiligtum‹ in einem Ortsteil des erzgebirgischen Pockau-Lengefeld hat (sogenannte Eliasburg) (Obst 2000, S. 455–486; Schubert 2021). Die Anzahl ihrer Mitglieder wird gegenwärtig mit circa 3.500 angegeben, in den 1920er Jahren waren es circa 5.000. Ihre Vorgeschichte reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, im Zuge der eigentlichen Konstituierung wurden Mitglieder insbesondere aus den Landeskirchlichen Gemeinschaften gewonnen. Es handelte sich um »Arbeiter, Handwerker, kleine Beamte und Gebirgsbauern« (Obst 2000, S. 466).

Maßgeblich für das Selbstverständnis dieser Gemeinschaft ist, dass neben der Bibel sogenannte Pergamente als göttliche Offenbarung angesehen werden. Hierbei handelt es sich um Aufzeichnungen von Visionen des Drechslers und Fabrikanten Hermann Lorenz (1864–1929), der von den Lorenzianern als größter Prophet der Endzeit und »Vollendungsbote« verehrt wird, aus der Zeit des beginnenden Ersten Weltkriegs. Bis in die Gegenwart werden diese vor der Außenwelt streng geheim gehalten.Footnote 25 Kernpunkt der Lehre der Lorenzianer ist eine biblizistische apokalyptische Endzeiterwartung, im Rahmen derer der Gemeinschaft eine exklusive Rolle zugeschrieben wird, was strikte Anforderungen an den Lebenswandel ihrer Mitglieder impliziert. Dies verbindet sich mit einem dualistischen Weltbild. Dabei wird dem Heiligen Geist eine besondere Relevanz als Gegenpol zum satanischen Geist, der sich des Spiritismus bediene, zugeschrieben. Helmut Obst konstatiert, dass sich die »Faszination«, die Lorenz »auf einfache erzgebirgische Menschen ausübte«, dadurch erklärt, dass er »einer der Ihren und doch ein ganz anderer« gewesen sei (ebd., S. 478). Er habe »religiös suchende Menschen über das [erzgebirgische] Milieu, über kirchliche und gesellschaftliche Bindungen« hinausgeführt, »ohne damit sofort radikal zu brechen« (ebd.).

Im Hintergrund letzterer Formulierung steht im Blick auf die kirchliche Seite die Tatsache, dass die Lorenzianer einen Bruch mit der Landeskirche von Anfang an vermeiden wollten, was andersherum auch das Anliegen der Landeskirche war (ebd., S. 465). 1922 begann die Gemeinschaft jedoch, eigene Abendmahlsfeiern durchzuführen, weil einige ihrer Anhänger von ihren zuständigen Ortspfarrern aufgrund ihrer Aktivitäten in der Gemeinschaft vom Abendmahl ausgeschlossen worden waren. Hierauf reagierte die Landeskirche allerdings weiterhin nicht restriktiv. Erst im Jahr 1989, unter Verweis auf mehrere stattgefundene Gespräche und die Beobachtung, dass das »Verhältnis […] seit langem unter spürbaren Belastungen« stehe, stellte die Kirchenleitung der sächsischen Landeskirche fest, dass sie sich nicht mehr in der Lage sehe, »Lehre und Praxis der ›Gemeinschaft in Christo Jesu‹ mitzuverantworten« (Kirchenleitung 1989). Gleichwohl könnten Mitglieder der Gemeinschaft »auch weiterhin zur Landeskirche gehören; es sei denn, sie vollziehen von sich aus die Trennung« (ebd.). Im Gegensatz zu den Pfarrer*innen als theologischen Expert*innen vor Ort, die die Lorenzianer wegen deren religiösen ›Doppellebens‹ aus der Kirche vor Ort ausschlossen, also zu einem restriktiv-ausgrenzenden Umgang tendierten, favorisierte die Landeskirchenleitung einen toleranten Umgang im Sinne einer »legitimen Vielfalt« innerhalb der Kirche (ebd.). Auch noch in ihrer Verlautbarung von 1989 hielt sie insofern an diesem Konzept fest, als sie nicht für einen Ausschluss der Lorenzianer aus der Landeskirche plädierte, sondern nur feststellte, dass sie für Lehre und Praxis der Gemeinschaft keine Verantwortung (mehr) übernehmen könne.

Entsprechend ihrer im 19. Jahrhundert entstandenen Vermittlerrolle zwischen laientheologischen Aktivitäten vor Ort und landeskirchlicher Expertentheologie nahm die Kreisbrüderkonferenz Pockau der Landeskirchlichen Gemeinschaft schon früh Kontakt zu den Lorenzianern auf. Nach einer Unterredung, die im Februar 1924 stattgefunden hatte, schrieb sie am 7. März 1924 einen Brief an Hermann Lorenz, in dem sie schwere Vorwürfe gegen denselben erhob. Diese betrafen einen faktischen Spiritismus, Fehlinterpretationen von für die Lehre der Gemeinschaft zentralen Passagen der Bibel, Gotteslästerung aufgrund von Selbststilisierung als Prophet sowie den Anspruch, das bereits vollkommene Erlösungswerk Christi vervollkommnen zu wollen (ebd., S. 482 f.). Die Brüderkonferenz sei von Gott beauftragt, Lorenz zu warnen. Man wünsche, dass er aus seinem Betrug herauskomme und andere nicht länger verführe – stattdessen möge er »mit uns das Reich Gottes bauen« (ebd., S. 482). Zugleich verwies man auf frühere, gescheiterte Bewegungen »fast genau wie ihre«, die »viele Menschen direkt in den nackten Unglauben« getrieben hätten (ebd., S. 483). Hierauf antwortete der Vorstand der Gemeinschaft am 19. März 1924 mit einer deutlichen und selbstbewussten Zurückweisung aller Vorwürfe (ebd., S. 483–486). Dabei argumentierte er ebenso biblisch wie die Kreisbrüderkonferenz und wies hinsichtlich der Rahmenbedingungen darauf hin, dass die Gemeinschaft bereits seit sechzig Jahren und somit länger als die Landeskirchlichen Gemeinschaften bestehen würde – stellte also die Legitimation letzterer in Frage, sich ein theologisches Urteil über die Lorenzianer zu erlauben. Dabei richtete man im Blick auf deren Anspruch, einen göttlichen Auftrag erhalten zu haben, Lorenz zu warnen, das zentrale Argument der Gotteslästerung gegen die Brüderkonferenz selbst: Es handle sich um eine »rein menschliche Anmaßung« (ebd., S. 485). Zugleich berief man sich auch auf das Vereinsrecht und verbat sich »jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten unserer Gemeinschaft« (ebd., S. 483). Zur Verehrung von Lorenz als Prophet hieß es nur knapp: »wie Sie darüber denken, ist uns vollständig gleichgültig« (ebd., S. 485). Über das »unchristliche[…] Vorgehen« der Brüderkonferenz werde man alle Mitglieder der Gemeinschaft in Christo Jesu informieren.

Der Konflikt verweist auf heftige Konkurrenzen zwischen Laienorganisationen im sächsischen Bible belt, sowohl hinsichtlich ihrer theologischen Diskurse als auch ihrer daraus resultierenden Praxen. Im Fall der Lorenzianer erklären sich diese daraus, dass die Gemeinschaft strukturell nicht weit von den Landeskirchlichen Gemeinschaften entfernt war: Auch wenn die Lorenzianer offensichtliche Abweichungen vom kirchlichen Lehr-Mainstream vertraten, verstanden sie sich ebenso wie die Landeskirchlichen Gemeinschaften doch als Teil der sächsischen Landeskirche, wogegen sich diese nicht wehrte.

Ein Gegenbeispiel bildet die 1894 durch den Weber August Hermann Hain (1848–1927) als charismatischer Führergestalt mit quasigöttlichem Anspruch in Meerane bei Zwickau gegründete Christliche Gemeinschaft Hirt und Herde (ebd., S. 487–516), der gegenwärtig circa 2.000 Anhänger*innen zugerechnet werden. Verbunden mit einer spiritualistischen Theologie, konzentrierte sich die Lehre Hains dezidiert auf Pfarrer- und Kirchenkritik, was auch soziale Aspekte einschloss. Korrespondierend mit dem sozialen Fokus der Kirchenkritik wurde die Gruppe »zu einem Kristallisationspunkt für religiös suchende, von der Kirche enttäuschte Arbeiter« (ebd., S. 493). 1911 geriet die Gemeinschaft in den Fokus der Kirche und nach einem von einem Pfarrer gestellten Strafantrag wegen Religionsvergehen auch in den des Staates. 1913 wurde Hain kurzzeitig verhaftet, während des Ersten Weltkriegs war die Gemeinschaft verboten. Waren die Mitglieder der Gruppe trotz aller Kirchenkritik zunächst noch Kirchenmitglieder geblieben, trat Hain mit seiner Familie 1921 aus der Kirche aus. Bis 1925 war die Gemeinschaft auf 3.000 Mitglieder angewachsen und bildete somit »die drittstärkste Religionsgemeinschaft Sachsens« (ebd., S. 498).

4 Die charismatische Bewegung der 1950er bis 1980er Jahre

Eine Transformation des Populären in qualitativ und quantitativ wesentlich größerem Ausmaß stellte die von den 1950er bis in die 1980er Jahre in Sachsen virulente sogenannte ›charismatische Bewegung‹ dar, die ihre maßgebliche Institutionalisierung und Repräsentanz in dem 1945 gegründeten Volksmissionskreis, in dem Pfarrer*innen ebenso wie Lai*innen engagiert waren, fand (Schmidt 2017). Der Gemeinschaftsverband erhob gegen den Volksmissionskreise 1949 »den Vorwurf ›irgendwelcher Schwärmerei‹« (ebd., S. 124). Dahinter stand der Verdacht, dass der Volksmissionskreis durch die Pfingstbewegung geprägt sei – eine seit dem frühen 20. Jahrhundert, von den USA kommend, auch in Deutschland zunehmend relevante Bewegung. Gegen diese hatte der Gnadauer Gemeinschaftsverband sich trotz vergleichbarer Anliegen im Blick auf eine kirchliche ›Erweckung‹ bereits 1909 als Irrglaube abgegrenzt, weil sie wegen der Fokussierung auf direkte Erfahrungen des Heiligen Geistes als unmittelbar mit dem Spiritismus verbunden eingeschätzt wurde (Ohlemacher 2000, S. 440–443).Footnote 26 In Reaktion auf diese Abgrenzung hatte die Gemeinschaftsbewegung und somit auch die Kirche zahlreiche Mitglieder an die außerkirchlich organisierte Pfingstbewegung verloren. Der Einzug der charismatischen Bewegung in Sachsen war für die Gemeinschaften nicht zuletzt deshalb besonders problembehaftet, weil die geographischen Schwerpunkte dieselben waren, so dass der nicht unbegründete Eindruck entstand, dass die Werbung der Pfingstbewegung um Mitglieder in besonderer Weise auf die Gemeinschaften zielte (Kirchner 1986, S. 103).

Die Landeskirchenleitung reagierte auf die charismatische Bewegung mit dem Versuch der Integration. So wurde der Volksmissionskreis 1951 per Vertrag an das Landeskirchliche Amt für Innere Mission angegliedert (Schmidt 2017, S. 87 f.). Diese Strategie schien sich zu bewähren. So formulierte einer der Protagonisten im Rückblick: »›Standen wir in den ersten Jahren in einer Frontstellung zur Kirche und ihren liturgischen Ordnungen und zu ihrem Sakramentsverständnis, so lernten wir als ein Teil dieser Kirche in ihr und für sie zu leben‹« (zitiert nach Schmidt 2011). So harmonisch, wie es hier klingt, war das Verhältnis von charismatischer Bewegung und Landeskirche aber weder in der Praxis und noch in der Theorie. So ließen sich der Pfarrer und einige Gemeindeglieder in Markersbach im Erzgebirge, das sich rasch zu einem Zentrum der charismatischen Bewegung entwickelt hatte, im Zuge des Besuchs einer pfingstlichen Prophetin 1952 ein zweites Mal taufen. Der Pfarrer wurde daraufhin von seinem Amt suspendiert und Baptistenprediger. Der Bischof kümmerte sich persönlich um die Wiedereingliederung der gewissermaßen irrtümlich ein zweites Mal getauften Gemeindeglieder in die reguläre Kirchengemeinde (Schmidt 2017, S. 147–151).

Derart drastische Ereignisse waren die Ausnahme, das dahinterstehende Kirchenverständnis aber prägte die charismatische Bewegung in Sachsen langfristig und entfernte den Volksmissionskreis ab den späten 1950er Jahren von seinem anfänglichen Engagement »in kirchlichen Arbeitsgruppen und Gremien« (ebd., S. 102). Das Kirchenverständnis der charismatischen Bewegung speiste sich aus kommunitären und apostolisch-katholischen Einflüssen, denen gemäß ein Nebeneinander der kirchlich-offiziellen Struktur mit ihren Ämtern und der wahren Kirche mit (unsichtbaren) charismatischen Ämtern gedacht wurde. Entscheidend war aus der Perspektive der charismatischen Bewegung der Dienst an der wahren, übergemeindlichen Kirche als mystischem Leib Christi und damit der verfassten Kirche übergeordneter Größe (ebd., S. 133–146, 189–200).Footnote 27

Praktisch bedeutete dies, dass in den Gemeinden sogenannte Kerngemeindekreise ›erweckter‹ Christen als sichtbare Gestalt der charismatischen Kirche etabliert wurden, um die wahre Kirche in der falschen und über diese hinausgehend zu etablieren. Die sogenannten Kerngemeindekreise verstanden sich tatsächlich als Kern der Gemeinde und somit als eigentliche Expert*innen des christlichen Glaubens, unabhängig davon, ob der jeweilige Pfarrer sich auch diesem Kreis zurechnete oder nicht (ebd., S. 151 f.). Dies implizierte eine erhebliche Aufwertung der Lai*innen, die zugleich klassifiziert wurden in ›echte Christen‹ (als neue Expert*innen) und ›falsche Christen‹. Zeitgenössisch wurde aus kirchlicher Perspektive analysiert, dass die Zugehörigkeit zum Kerngemeindekreis »eine Art Elite-Bewusstsein« implizierte (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 1980, S. 34). Innerkirchlich konnte dieses geistliche Elitebewusstsein »gerade bei Jugendlichen zu einem unreflektierten Sendungsbewusstsein« führen, bis hin zu dem Anspruch, die eigentlichen Leiter von Gemeinden zu sein (Schmidt 2017, S. 146 f.).

Aus politischen Gründen musste sich die Kirchenleitung als theologisches Expertengremium gegenüber der charismatischen Bewegung, die ein einzigartiges spirituelles Expert*innentum von Pfarrer*innen und Lai*innen beanspruchte, so integrativ wie möglich zeigen (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 1980, S. 29–31, 38 f.).Footnote 28 Der integrative Grundansatz führte dazu, dass die charismatische Bewegung in Gestalt des Volksmissionskreises und des Konzepts der Kerngemeindekreise intensive innerkirchliche Wirkungen entfalten konnte (ebd., S. 16 f., 26).Footnote 29

Der Gemeinschaftsverband hielt lange an seiner Ablehnung der charismatischen Bewegung fest, auch wenn es in Sachsen seit 1973 Gespräche zwischen beiden Richtungen gab (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 1980, S. 31 f.; Kirchner 1986, S. 102–104).Footnote 30 In den 1980er Jahren ist sogar ein dezidiertes Interesse des Gemeinschaftsverbandes an der sogenannten dritten Welle der charismatischen Bewegung zu erkennen. Es speiste sich aus der größeren Attraktivität derselben für Jugendliche, die für den vor einem Generationswechsel stehenden Gemeinschaftsverband besonders problematisch war, und führte auch hier zur Adaption von Elementen charismatischer Jugendarbeit (Bauer 2012, S. 134–138). Die Konkurrenz zur gerade als Lai*innenbewegung nun eindeutig erfolgreicheren charismatischen Bewegung nötigte die sich auf die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zurückführende Gemeinschaftsbewegung ab den 1970er Jahren also zur Aufgabe ihrer rein abgrenzenden Position.

5 Arbeitsgemeinschaft Kirche und Bekenntnis – Bekenntnisinitiative

Ende 1970 entstand auf sächsische Initiative, wie eingangs bereits erwähnt, die »Arbeitsgemeinschaft Kirche und Bekenntnis«. Diese lud erstmals zum 9. Januar 1971 zu »›einer programmatischen gottesdienstlichen Veranstaltung‹« in die Petrikirche in Karl-Marx-Stadt ein (Hermle 2012, S. 337), »›besorgt um den Weg unserer Kirche in die Zukunft‹« hinsichtlich deren Bindung an Bibel und Bekenntnis angesichts einer vermeintlichen Liberalisierung und Verweltlichung (Schwintek 1989, S. 71). Die Initiative aus Pfarrer*innen und Lai*innen beanspruchte, »so etwas wie das geistlich-theologische Gewissen der Kirche« zu sein (ebd.), und führte unter anderem den Landesverband landeskirchlicher Gemeinschaften, den Volksmissionskreis Sachsen und die sich auf die Bekennende Kirche in der NS-Zeit zurückführende »Bekennende Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsens« zusammen (Bauer 2012, S. 23).

Der Rückgriff auf den Begriff »Bekenntnis« implizierte den Anspruch, an die Tradition der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit anzuknüpfen, was die ostdeutsche Gründung mit ihrem westlichen PendantFootnote 31 verband. Faktisch ging es aber eher um die Aufnahme eines Begriffs von Bekenntnis, wie er in der konfessionellen Erweckung des 19. Jahrhunderts geprägt worden war, und vor diesem Hintergrund um eine Synthese aus pietistischen, lutherisch-konfessionalistischen und restaurativen Interessen (Busch 2000, S. 541–543). Mit der inhaltlichen Fokussierung auf ein wörtliches Verständnis der Bibel und einen durch Bekehrung und Wiedergeburt gefestigten persönlichen Glauben an Jesus, der sich in einer unmittelbar an der Bibel orientierten Lebensführung äußert, war das Anliegen der Mission beziehungsweise Evangelisation verbunden (ebd., S. 544; Bauer 2012, S. 40 f.). Die Tatsache, dass die Sächsische Landeskirche 1976 den Karl-Marx-Städter Pfarrer Theo Lehmann als Landesevangelisten anstellte, zeigt den Stellenwert des evangelistischen Impulses speziell in dieser Landeskirche – ausgehend vom sächsischen Bible belt.Footnote 32

Die Geschichte des Evangelikalentums in Sachsen ist nicht erforscht, deutlich ist aber, dass die in den 1960er Jahren entstandene Bekenntnis- und Evangelisationsbewegung als breite Initiative von Pfarrer*innen und Lai*innen die bis in die Gegenwart wirksamste Form von Transformationen des Populären ist und ihren Schwerpunkt im sächsischen Bible belt hat. Im Hintergrund stand bei evangelistischen Initiativen die in der DDR 1956 gegründete sogenannte Evangelistenkonferenz als Zusammenschluss hauptamtlicher Evangelisten aus Landes- und Freikirchen sowie landeskirchlichen Gemeinschaften (Fischer 2009). Deren laientheologisches Potential mit dem Anspruch eines neuen Expert*innentums konnte sich erst nach dem Ende der DDR entfalten.Footnote 33 So führt sich das 2005 gegründete, in Königshain bei Chemnitz ansässige »Evangelisationsteam Hauptsache Jesus« (Stange 2014, S. 11 f., 28, 30 und öfter) historisch auf die 1975 durch Theo Lehmann begonnenen Evangelisationen zurück, finanziert sich aber bereits seit 2001 als GmbH und beschäftigt zahlreiche Personen ohne beziehungsweise nicht mehr vorhandenem landeskirchlichen Bezug, die vor allem aus dem sächsischen Bible belt stammen.Footnote 34 Das Evangelisationsteam, in dem sich auch Pfarrer aus dem Bible belt engagieren, ist Mitglied der Evangelistenkonferenz.Footnote 35

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im Blick auf die »Bekennende Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsens« feststellen. Hinsichtlich deren Verhältnisses zur Landeskirche während der DDR-Zeit, in der eine organisatorische Verselbständigung nicht möglich war, heißt es in der Eigendarstellung derselben vielsagend: »Auch wenn die BK meist mit der sächsischen Kirchenleitung an einem Strang zog, gab es hin und wieder doch Reibungspunkte.«Footnote 36 Die organisatorische Loslösung von der Landeskirche in Gestalt einer Konstituierung als Verein, verbunden mit einer Umbenennung in »Evangelisch-Lutherische Bekenntnisgemeinschaft Sachsens« folgte 1996 (Klipphahn/Zschuppe 2020) und wurde so begründet: »Damit wir auch vom Namen her nicht eine Kirche in der Kirche sind […].«Footnote 37 Die organisatorische Verselbständigung änderte aber nichts an dem Anspruch, im Sinne eines eigentlichen Expert*innentums die Kirche von innen heraus zu verändern. So heißt es in der Selbstbeschreibung: »Wir sehen es weiter als unsere Aufgabe an, für die Reinheit der Lehre einzutreten, wachsam zu sein gegenüber Irrlehren und der Gesellschaft, besonders ausgelöst durch Zeitströmungen«. Unter der befürchteten »Anpassung der biblischen Botschaft an immer neue Zeitströmungen« werden unter anderem Abtreibung und »Segnung von homosexuellen Paaren« gelistet.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum sich der 2012 gegründete Zusammenschluss, der die eingangs erwähnte Markersbacher Erklärung auf den Weg gebracht hat, »Sächsische Bekenntnis-Initiative« nennt.Footnote 38 Deren breite Unterstützung in Sachsen, vor allem im sächsischen Bible belt, spiegelt das quantitative Ausmaß des Anspruchs auf tatsächliche Expertise in Sachen Kirche und Christentum in Abgrenzung zur Landeskirche, der eine solche Expertise abgesprochen wird. Die »Evangelisch-Lutherische Bekenntnisgemeinschaft Sachsens« ist ein Teil dieser Initiative, quantitativ spielen der Sächsische Gemeinschaftsverband sowie dessen Jugendverbände (CVJM und EC) und die eingangs erwähnten Kirchengemeinden besonders zentrale Rollen (Stange 2014, S. 17 f.). Die Speerspitze aber bildet das Evangelisationsteam, das explizit die geistliche Legitimation der Kirchenleitung in Frage stellte (ebd., S. 19 f., 33 und öfter).Footnote 39

6 Resümee

Es lässt sich resümieren, dass im sächsischen Bible belt seit dem 19. Jahrhundert vielfältige Transformationen laientheologischer Wissensbestände stattgefunden haben, die zu massiven Konkurrenzen um Rollen, Ressourcen und Deutungshoheiten im Bereich des Religiösen zwischen theologischen Lai*innen und Expert*innen wie auch zwischen unterschiedlichen Lai*innengruppierungen geführt haben. Dabei hat die Expertenseite – institutionalisiert in Gestalt der lutherisch geprägten Sächsischen Landeskirchenleitung – weitestgehend akkommodierend-partizipativ auf die Ansprüche theologischer Lai*innengruppierungen auf theologische Expertise reagiert.Footnote 40 Systematisiert man die dargestellten Formen und Phasen der Herausbildung religiösen Lai*innenwissens im Blick auf das Verhältnis von Expert*innen- und Lai*innenwissensbeständen entsprechend den eingangs benannten Typen (komplementär, interferierend, konkurrierend-abgrenzend), ist festzustellen:

Die markantesten Beispiele für das komplementäre Modell bilden die Herrnhuter Brüdergemeine, die in Gestalt ihrer Diasporaarbeit im frühen 19. Jahrhundert die erste greifbare Institutionalisierung von Laientheologie darstellte, und die in den 1880er Jahren etablierte Gemeinschaftsbewegung. Beide kennzeichnen ausgeprägte laientheologische Diskurse und Praxen, die die Landeskirche als theologische Experteninstitution aber nicht in Frage stellen, sondern nominell ergänzen – obwohl mit dem philadelphischen Kirchenkonzept im Hintergrund ein zur Konfessionskirche konkurrierendes theologisches Modell steht. Dabei ist durch die quantitativ breite Verankerung der Landeskirchlichen Gemeinschaften in den Gemeinden einerseits von einem erheblichen Einfluss derselben auf die Landeskirche und andererseits von der Adaption hochkirchlicher Elemente durch dieselbe und somit von fließenden Übergängen zum interferierenden Modell auszugehen. Der komplementäre Aspekt kommt vor allem zum Tragen in der Zuschreibung einer Art Zuständigkeit für die Auseinandersetzung mit und Abwehr von konkurrierenden religiösen, außerkirchlichen Lai*innenbewegungen, von denen die Gemeinschaftsbewegung selbst aber nicht unbeeinflusst ist – was wiederum für das interferierende Modell spricht. Im Sinne einer Popularisierung erster Ordnung, also der Verbreitung von hochkultureller Expertise, wurden von Seiten der Landeskirche im 19. Jahrhundert Bibelgesellschaften und Missionsvereine als Top-down organisierte Lai*innengruppierungen im Sinne des interferierenden Modells initiiert.

Primär dem interferierenden Modell zuzurechnen sind die charismatische Bewegung der 1950er bis 1980er Jahre sowie die seit den 1960er Jahren virulente Bekenntnisbewegung. Ausdruck des interferierenden Potentials ist die Tatsache, dass in diesen Bewegungen auch Pfarrer*innen zentrale Rollen spielen, wobei es teils zu einer Vermischung zwischen einer charismatisch und einer konfessionell-hierarchisch konnotierten Fokussierung auf Führungsgestalten kommt. Bei der charismatischen Bewegung ergibt sich die interferierende Dynamik vor allem durch die Verortung in sogenannten Kerngemeindekreisen, wobei im Hintergrund ein in subtiler Konkurrenz zur verfassten Landeskirche stehendes Kirchen- und Ämterverständnis im Sinne eines spirituellen Expert*innentums auszumachen ist. Bei der Bekenntnisbewegung dominiert das Moment offener Konkurrenz innerhalb der Landeskirche, was bereits in dem Label ›Bekenntnis‹ als Ausdruck der Beanspruchung (eigentlicher) theologischer Expertise im Gegensatz zum etablierten landeskirchlichen (vermeintlichen) Expertentum zum Ausdruck kommt. Es manifestiert sich in fundamentalistischen ethischen Positionen, die als dem biblischen Befund einzig gemäße verstanden sowie in der Landeskirche vertreten werden und zu Resistenzen auf kirchenleitender Experten-Seite führen. Gegenüber dem evangelistischen Anliegen der Bekenntnisbewegung hingegen ist ein eher akkommodierendes Verhaltensmuster auf Seiten der Landeskirche erkennbar. Die Tatsache, dass das konkurrierende Potential der charismatischen und der Bekenntnisbewegung in der DDR aus politischen Gründen nicht zu alternativen Institutionalisierungen führen konnte, verstärkte das mit der etablierten Kirche interferierende Potential, das auch mit den nach 1990 erfolgten außerkirchlichen Institutionalisierungen weiterhin besteht.

Dem konkurrierenden Modell zuzurechnen sind außerkirchliche Gemeinschaftsbildungen mit Übergängen zu spiritistischen Gruppierungen im 19. Jahrhundert, wobei zwischen dezidiert außerkirchlichen spirituellen Angeboten (Offenbarungs- und Vereinsspiritismus) und einem Andachtsspiritismus unterschieden werden muss. Letzterer wurde kirchlicherseits akkomodiert, da sich die Teilnehmenden kirchlich unauffällig verhielten, so dass das Phänomen nicht als Konkurrenz angesehen wurde. Die im frühen 20. Jahrhundert entstandene und als Verein organisierte Gruppierung der Lorenzianer verfolgte ursprünglich ein komplementäres Modell, was vor Ort aber weder von der Landeskirchlichen Gemeinschaft noch von der Pfarrerschaft akzeptiert wurde, wogegen die Landeskirchenleitung die Lorenzianer explizit erst Ende der 1980er Jahre als komplementäres Modell zurückwies. Die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Gruppierung Hirt und Herde ist von Anfang an als zur Konfessionskirche konkurrierende soziale Einheit angetreten und von Seiten der Landeskirche auch so behandelt worden.

Die Untersuchung zum sächsischen Bible belt zeigt, dass der historiographische Zugriff auf religiöse Selbstermündigungsbestrebungen von Lai*innen im protestantischen Raum seit dem 19. Jahrhundert unter dem Aspekt der Transformationen des Populären in Gestalt diskursiver Aushandlungsprozesse zwischen religiösem Lai*innen- und Expert*innenwissen ertragreich ist. Dabei können die laientheologischen Formationen im sächsischen Bible belt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer quantitativen Relevanz durch das Zusammenkommen ursprünglich unterschiedlicher laientheologischer Strömungen teils einer Popularisierung zweiter Ordnung, also der Verbreitung von Beachtungserfolgen, und aufgrund ihres für die Landeskirche partiell bedrohlichen Potentials wegen der Inanspruchnahme eines die Landeskirchenleitung relativierenden Expert*innentums als populistisch eingeordnet werden.Footnote 41