1 Einführendes

Das Fandom zu J.R.R. Tolkiens Fantasysaga The Lord of the Rings (1954, nachfolgend abgekürzt als LotR) fand seinen Ursprung bereits kurz nach der Erstveröffentlichung des dreibändigen Romans in den frühen 1960er Jahren (vgl. Brayton 2006, S. 139–141; Coker 2022, S. 526–527); schon 1969 gründete sich die Tolkien Society, viele kleinere Fanclubs folgten. Die nachfolgenden Jahrzehnte waren geprägt von einer konstanten Zunahme der popkulturellen Relevanz von Tolkiens Werk, wobei die fankulturellen Aktivitäten vergleichsweise schlecht dokumentiert wurden (vgl. Coker 2022, S. 527–528).

Anfang der 2000er Jahre sorgte das Zusammenkommen von zwei Neuerungen dafür, dass sich sowohl die Rezeption von LotR als auch die Fankultur im Allgemeinen grundlegend veränderten: auf der einen Seite die Einführung von Social Media und die damit einhergehende Verlagerung fankultureller Praktiken in den digitalen Raum sowie die generell niedrigschwelligere Zugänglichkeit von Fankultur und ihre Mainstreamisierung, auf der anderen Seite die erfolgreiche Blockbuster-Verfilmung der Trilogie (2001–2003). Rückschauend war der Zeitpunkt für den Kinostart der Filmsaga optimal für den Erfolg von LotR als Fanphänomen – analog zur sogenannten »Pottermania« rund um Joanne K. Rowlings Harry Potter, dessen erster Teil ebenso wie Fellowship of the Ring im Jahr 2001 in die Kinos kam. Die durch beide Franchises befeuerte Renaissance des Fantasygenres fiel mit der digitalen Zäsur zusammen, als zur gleichen Zeit Fans die mit der Social-Media-Revolution einhergehenden neuen Möglichkeiten der Partizipation, des kreativen Ausdrucks und der Interaktion auszuloten begannen (vgl. Coppa 2006, S. 53–58). Die neuen Technologien veränderten substantiell Praktiken und Ausdrucksformen von Fankultur. Aufgrund des medialen Wandels war es Rezipierenden, die mit und durch die Verfilmungen Zugang zum LotR-Fandom fanden, in den frühen 2000er Jahren möglich, auf Wunsch anonym, jederzeit und von überall, ohne große finanzielle Kosten und nur schwer extern kontrollier- oder steuerbar am LotR-Fandom zu partizipieren. Sie bilden seitdem eine große, globale und vielfältige Gemeinschaft von Individuen, die weitgehend ohne kommerzielle Interessen agieren und stattdessen eigene Hierarchien hervorgebracht haben, losgelöst von den Mechanismen und Regularien der »offiziellen Kultur«. Einige Fans bloggen über ihr Fandom, andere teilen Videos, machen Kunst oder werden Fanfiction-Autor:innen.

Unter Fanfiction ist eine Schreibpraxis und eine literarische Ausdrucksform innerhalb von Fankulturen zu verstehen, bei der Fans bestimmte Storyelemente oder Figuren einer fiktionalen Erzählwelt (z. B. aus Romanen, Filmen, Fernsehserien oder Comics) »ausleihen«, um hiermit ihre eigenen Geschichten zu erzählen (vgl. Bacon-Smith 1994; Pugh 2005; Thomas 2011; Jamison 2013; Hellekson/Busse 2014; Fathallah 2017; Goldmann 2022). Henry Jenkins prägte für dieses »Ausleihen« den Begriff des textual poaching (vgl. Jenkins 1992, S. 152 f.), der textuellen Wilderei. Zeitgemäßer scheint in Bezug auf das sich mit der digitalen Verbreitung und Vervielfältigung von Inhalten wandelnde Verständnis von Autorschaft sowie einer wachsenden kulturellen Bedeutung von großen Franchises mit transmedialen Erzählformen Abigail Derechos wertneutralere Definition von Fanfiction als archontische Literatur. Angelehnt an Jacques Derrida (1997) meint Derecho mit archontischer Literatur jene Texte, die das Archiv eines bestimmten fiktionalen Universums um eigene Beiträge erweitern (vgl. Derecho 2006, S. 61 f.). Dieses Archiv ist niemals abgeschlossen und strebt immerfort seine Erweiterung an.

Ausgehend vom Erfolg der LotR-Filme wurden bereits einige aufschlussreiche Studien durchgeführt, die qualitative und quantitative Forschungsmethoden kombinieren, um die Beziehung zwischen Tolkiens Büchern, Peter Jacksons Filmen und ihrem Publikum zu perspektiveren (vgl. Mikos/Eichner/Prommer/Wedel 2007; Barker/Mathijs 2012). Allerdings stellt die Komplexität der Beziehungen zwischen den offiziellen Veröffentlichungen innerhalb eines Franchises und den von Fans generierten Texten – insbesondere auf der tatsächlichen Textebene – die Forschung vor zusätzliche methodische Herausforderungen und erfordert eine weitere Bewertung.

Fanfiction zu LotR ist in großen Mengen online verfügbar. Es existieren bereits seit vielen Jahren einige dezidiert mit dem Fandom assoziierte Fanfictionwebsites wie The Library of Moria (www.libraryofmoria.com) oder Stories of Arda (www.storiesofarda.com); außerdem finden sich diverse thematisch spezialisierte Blogs mit LotR-Fanfiction auf LiveJournal oder Dreamwidth. Jedoch sind Multifandom-Fanfictionarchive wie fanfiction.net (Launch 1998) und archiveofourown.org (Launch 2009, nachfolgend abgekürzt als AO3) die relevantesten Anlaufpunkte für Fanfictionautor:innen weltweit, im deutschsprachigen Raum ist die Multifandom-Plattform fanfiktion.de (Launch 2004) noch von Bedeutung. Derzeit finden sich 4.720 LotR-Fanfictions auf fanfiktion.de in der Kategorie Der Herr der Ringe, auf AO3 sind 39.292 Texte mit dem Schlagwort The Lord of the Rings – All Media Types versehen (Stand 23.5.2023), und auf fanfiction.net sind es mehr als 50.000 Texte. Die Fantexte sind dabei so unterschiedlich wie die Community selbst – während einige sich zur Werktreue verpflichtet sehen, versetzen andere die Hobbits in den Weltraum, schreiben Crossover mit anderen Franchises oder erdenken homoerotische Romanzen. Zudem unterliegt das textuelle Archiv um LotR einem ständigen Wandel, der sich nicht allein aus neuen Beiträgen innerhalb der Fanfictioncommunity erklärt, sondern auch mit neuen offiziell produzierten Inhalten zusammenhängt – wie etwa der Amazon-Prime-Serie The Lord of the Rings: The Rings of Power, deren erste Staffel 2022 veröffentlicht wurde.

Das Ziel der vorliegenden Studie ist ein textueller Vergleich zwischen englischsprachiger LotR-Fanfiction und dem Originaltext von Tolkien. Mit Scraping-Tools, die am International Computer Science Institute in Berkeley entwickelt wurden, lässt sich der vollständige Text der auf AO3 hochgeladenen LotR-Fanfictions mit dem Romantext vergleichen. Der Analysekorpus besteht also aus den drei LotR-Romanen (verwendete Ausgabe: Tolkien 2009) sowie allen zum Zeitpunkt der Auswertung auf AO3 vorhandenen LotR-Fanfictions, die in der Kategorie The Lord of the Rings – All Media Types archiviert waren. AO3 eignet sich als Plattform für einen solchen Vergleich besonders gut aufgrund ihrer Zugänglichkeit, Größe, Relevanz für die Fanfictioncommunity, der Fülle an von den Benutzer:innen bereitgestellten Schlagworten (tags) und der Varianz der Inhalte (im Gegensatz zu fanfiction.net gibt es auf AO3 keine inhaltlichen Einschränkungen aus Gründen des Jugendschutzes oder Urheberrechts). Wir hoffen, bestimmte Figuren, zwischenmenschliche Beziehungen (Pairings) und Wortgruppen/Motive identifizieren zu können, die Fans ignorieren, aufgreifen, aus den Filmen übernehmen oder zum fiktiven Universum hinzufügen. Ziel ist es, durch diese Form des distant readings (vgl. Moretti 2013; Oberhelman 2015) genauer aufzeigen zu können, wie die Beziehung zwischen Romanvorlage und Fantext sowie der kreative Prozess des Umschreibens an sich beschaffen ist: »Readers must look at the big picture to discern how this system operates, and thus distant reading gives a broader perspective on literary interpretation« (Oberhelman 2015, S. 59).

2 Methodisches Vorgehen

Zum Zeitpunkt des Herunterladens aller unter The Lord of the Rings – All Media Types auf AO3 kategorisierten Texte am 30.7.2014 waren dort 7.924 Beiträge hinterlegt. In den vergangenen knapp neun Jahren hat sich die Anzahl der hochgeladenen LotR-Fanfictions auf AO3 also fast verfünffacht. Dass demgegenüber im Juli 2014 auf fanfiction.net etwa 45.000 LotR-Fanfictions abrufbar waren und mittlerweile lediglich etwa 5.000 weitere hinzugekommen sind, akzentuiert die große und weiter zunehmende Relevanz von AO3 für die Online-Fanfictioncommunity. Auch der Einfluss der Amazon-Prime-Serie ist auf AO3 schon nachweisbar: Bereits 1.423 Einträge (Stand 23.5.2023) sind mit dem Serientitel kategorisiert, der erste Eintrag stammt vom 26.5.2022, wobei die erste Folge der Serie am 1.9.2022 ausgestrahlt wurde.

Die 7.924 LotR-Fanfictions wurden mithilfe des Datenextraktionstools Xidel (videlibri.sourceforge.net/xidel.html) heruntergeladen. Nachdem die Fanfictions nach Sprachen gefiltert und zwei fälschlicherweise als englischsprachig getaggte Texte händisch entfernt wurden, verblieben 7.406 englischsprachige Geschichten. In einem Nachbearbeitungsschritt wurden nicht-lateinische Zeichen in den Texten ihrem passendsten lateinischen Äquivalent zugeordnet (z. B. è, é, ê, ë, ē, ę, ě, ȅ, ə → e), um das Problem mehrdeutiger Schreibweisen insbesondere bei Namen zu minimieren (z. B. Éowyn → Eowyn).

Wir verwendeten TreeTagger (www.cis.uni-muenchen.de/~schmid/tools/TreeTagger), um die Texte zu tokenisieren und sie mit Lemma- und Wortartinformationen zu annotieren. Ein Token ist ein einzelnes Wort oder Satzzeichen, das Lemma ist die kanonische Form eines Tokens (z. B. ist »go« das Lemma von »went«), und die Wortart ist die Klasse eines Tokens (Substantiv, Verb usw.). Die Lemmatisierung trägt dazu bei, falsch-negative Antworten zu vermeiden (eine Abfrage nach »go« findet auch »went«), und die Kennzeichnung der syntaktischen Klasse reduziert falsch-positive Ergebnisse (das Verb »ring« ist nicht dasselbe wie das Substantiv »ring«). Im Anschluss wurde der annotierte Text in die IMS Open Corpus Workbench (CWB) (cwb.sourceforge.net) importiert, dabei handelt es sich um eine Reihe von Analysetools zur Verwaltung und Abfrage großer Textkorpora mit linguistischen Annotationen. In gleicher Weise sind wir mit der Annotierung und Aufbereitung des Romantextes von Tolkien verfahren, der aus den drei Bänden The Fellowship of the Ring, The Two Towers und The Return of the King besteht. Der Roman weist einen Umfang von 572.588 Token auf, wohingegen der LotR-Fanfictionkorpus aus 60.682.444 Token besteht. Damit übersteigt der Textumfang der Fanfiction den Romantext um das 106-fache.

Bisher liegen distant readings von LotR kaum vor: Stefan Ekman (2013) setzte sich mit Kartierungen und Kartenmaterial auseinander, und Dennis Werbicki (2018) befasste sich mit einer grafischen Aufbereitung des Figurennetzwerks. Doch insbesondere der Einsatz von computerlinguistischen Werkzeugen zur empirischen Auswertung von Fanfiction und zum korpusanalytischen Vergleich von Fanfiction und Fanobjekt ist noch ein kaum bearbeitetes Forschungsfeld. Jun Xu (2011) arbeitete an drei verschiedenen Textkorpora sowohl die vertical intertextuality von Jane Austens Werk und seinem Fanfictionkorpus als auch die horizontal intertextuality von zeitgenössischen Liebesromanen und Fanfiction heraus. Eine empirische Auswertung von fanfiction.net mit 55.264.185.653 Tokens nahmen Smitha Milli und David Bamman (2016) vor, und sie diskutierten in einem kurzen Abschnitt an den Beispielen Sherlock Holmes und Pride & Prejudice auch erste Erkenntnisse in Bezug auf die Veränderung der Popularität bestimmter Figuren und der Bedeutung weiblicher Figuren im Verhältnis von Fanobjekt zu Fantext. Doch die meisten Studien zu diesem Beziehungsgefüge setzen qualitative Analysemethoden ein oder stützen ihre Analyse auf Metadaten, wie z. B. von Fanfictionautor:innen verwendete Schlagworte (vgl. z. B. Cuntz-Leng 2015). Beide Ansätze können zu irreführenden Ergebnissen führen bzw. stoßen aufgrund der enormen Datenmenge an ihre Grenzen. Da eine automatisierte semantische Analyse großer Textkorpora noch außerhalb der Möglichkeiten der verfügbaren Technologie liegt, kann unsere Arbeit nur einen ersten Eindruck zukünftiger Forschungsrichtungen geben. Unser Ziel ist es hierbei nicht, die bestehenden Ansätze zu ersetzen, sondern zu ergänzen.

3 Figuren

Ähnlich wie in anderen dem Fantasygenre zuzurechnenden Werken zeichnet sich LotR mit mehr als 160 handelnden oder namentlich erwähnten Charakteren durch ein großes Figurenarsenal aus. Abbildung 1 zeigt die 20 am häufigsten erwähnten Figuren in vier verschiedenen Kategorien: (1) Romane (source text), (2) Fanfiction, (3) Verschlagwortung auf AO3 nach Einzelnennung von Figuren (character tags) und (4) Verschlagwortung auf AO3 der Figuren innerhalb von Pairings (relationship tags). Die Spalte »Count« gibt die absolute Anzahl des Vorkommens eines Namens in dieser Kategorie an. Die Spalte »Ch.« (change) und die farbigen Pfeile zeigen die relative Positionsänderung in den verschiedenen Fanfictionkategorien im Vergleich zum Romantext an. Da race eine große Bedeutung sowohl in den Romanen als auch in den Verfilmungen zukommt (vgl. Kim 2004), wurde eine farblich hervorgehobene Kategorisierung der Figuren vorgenommen: Orange für Halbling (hobbit), Blau für Menschen (human), Rot für Zwerge (dwarf), Grün für Elfen (elf) und Violett für Monster (monster). Hier wird bereits auf den ersten Blick eine Verschiebung in der Beliebtheit von Figuren bestimmter Rassen von Roman zu Fantext evident.

Abb. 1
figure 1

Häufigkeit von Figurennennungen

Wie Abbildung 1 zeigt, ist Frodo mit 1.989 Nennungen – wenig überraschend – die am häufigsten namentlich genannte Figur in LotR, gefolgt von Sam mit 1.316 und Gandalf mit 1.122 Nennungen. Insgesamt sind unter den 20 am häufigsten genannten Figuren fünf Hobbits (Frodo, Sam, Pippin, Merry und Bilbo), neun Menschen bzw. menschlich-aussehende Figuren (Gandalf, Aragorn, Faramir, Saruman, Boromir, Eomer, Theoden, Denethor und Tom Bombadil), Gimli ist der einzige Zwerg, Legolas und Elrond die einzigen Elfen. Alle nicht-anthropomorphen Figuren in dieser Liste wurden als »Monster« kategorisiert: Gollum, Baumbart und Sauron. Dass unter den 20 wichtigsten Charakteren keine weiblichen Figuren auftauchen, stützt die weit verbreitete Annahme und auch Kritik, dass Frauen in LotR marginalisiert werden (vgl. Cuntz-Leng 2011, S. 31–32).

Das Figurenarsenal von LotR-Fanfiction wird um viele zusätzliche Charaktere anderer literarischer Werke Tolkiens (z. B. The Hobbit [1937]), aus anderen Franchises (z. B. Harry Potter) und um neu erfundene Charaktere (OCs) erweitert. Allein aus Tolkiens Werken ließen sich mehr als 400 Figuren identifizieren, die in LotR-Fanfiction erwähnt werden. Diese Beobachtung lässt den Schluss zu, dass innerhalb der LotR-Fanfiction die Grenzen zwischen verschiedenen Werken Tolkiens durchlässig sind und dass die Geschichten innerhalb eines größeren fiktiven Tolkien-Universums spielen.

In der Fanfiction sind immer noch alle fünf Hobbits unter den 20 am häufigsten genannten Figuren vertreten, wenn auch im Allgemeinen an weniger prominenten Positionen: Frodo (minus 1), Sam (minus 2), Bilbo (plus 4), Pippin (minus 8) und Merry (minus 11). Dass Bilbo in der Fanfiction gegenüber den Romanen an Popularität gewonnen hat, lässt sich mit der Veröffentlichung der The Hobbit-Filme erklären, die sich offenbar auch auf die LotR-Fanfictionproduktion auswirkte. Das Gleiche gilt für Thranduil, Thorin und Kili, die sich in den Romanen keinen Platz in den Top 20 sichern konnten, innerhalb der Fanfiction jedoch eine weit größere Rolle spielen.

Die Beliebtheit von menschlichen Figuren in der Fanfiction ist geteilt: Während Aragorn (plus 2), Faramir (plus 5) und Boromir (plus 5) in der Fanfiction häufiger genannt werden als in den Romanen, ist Gandalf um 13 Ränge zurückgefallen. Alle anderen Menschen (Saruman [minus 28], Eomer [minus 7], Theoden [minus 30], Denethor [minus 9], Tom [minus 48]) tauchen in den Top 20 nicht mehr auf. Gleiches gilt für Monster, die komplett aus den Top 20 verschwunden sind (Gollum [minus 44], Baumbart [minus 104], Sauron [minus 6]). Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass Fanfictionautor:innen für ihre Erzählungen jüngere und körperlich attraktive menschliche Figuren bevorzugen, die auch in den Verfilmungen prominent auftauchen.

Diese Hypothese wird teils durch einen umgekehrten »Elfeneffekt« gestützt. Statt lediglich zwei prominenten Elfenfiguren – Legolas (plus 9) und Elrond (plus 9) verbesserten ihre Positionen signifikant – sind in der Fanfiction insgesamt acht Elfen in den Top 20 vertreten: Glorfindel (plus 27), Thranduil (plus 78), Erestor (plus 68), Elrohir (plus 52), Elladan (plus 48) und Haldir (plus 15). Während sich Thranduils Beliebtheit in der LotR-Fanfictioncommunity möglicherweise auf seinen Auftritt in den Hobbit-Filmen zurückführen lässt, fällt auf, dass in der Fanfiction körperlich attraktiven Figuren viel Raum gegeben wird, die unbedeutend (Haldir) oder abwesend (Glorfindel, Erestor, Elladan, Elrohir) in den Filmen sowie von untergeordneter Relevanz in den Romanen waren. Zusätzlich zu den Top 20 lassen sich sowohl der »Elfeneffekt« als auch die sinkende Relevanz von alten und physisch unattraktiven menschlichen Figuren konsistent auf den unteren Rängen nachweisen, z. B. anhand des gondorianischen Fürsten Angbor (minus 136) und des Orks Grishnakh (minus 257) auf der einen Seite und anhand des Elfenfürsten des ersten Zeitalters Maglor (plus 147) und des Waldelfen Galion (plus 123) auf der anderen Seite. In diesem Zusammenhang macht auch der Rückgang in der Popularität der Hobbits als zentralen Handlungsträgern Sinn, da diese ebenfalls als weniger attraktiv dargestellt werden und mitunter eher als Kinder und weniger als Erwachsene gelesen werden.

Da bereits zu Beginn der Fan Studies in vielen Studien betont wurde, dass sich die Mehrheit der Fanfictionautor:innen mit dem weiblichen Geschlecht identifiziert (vgl. z. B. Jenkins 1992; Bacon-Smith 1994; Green/Jenkins/Jenkins 1998; Allington 2007; Hellekson/Busse 2014; Cuntz-Leng 2015) und auch die aktuellsten User:innen-Statistiken von AO3 diese Annahme belegen (vgl. Rouse/Stanfill 2023), hatten wir – analog zu Milli und Bamman (2016) – die Hypothese, dass weiblich gelesene Figuren in der LotR-Fanfiction eine höhere Relevanz haben würden als in Tolkiens Romanen, in denen weibliche Figuren zwar durchaus Handlungsmacht besitzen, aber eben kaum vorkommen. Die für Tolkiens Werk (und Fantasy im Allgemeinen) typische Marginalisierung von Frauen, ist häufig als Kritik am Genre formuliert worden (vgl. Neville 2005; Croft/Donovan 2015; Roberts 2022) – Peter Jacksons Filme haben diese Marginalisierung wiederholt, indem beispielsweise für den ersten Teil Fellowship of the Ring mit Arwen und Galadriel lediglich zwei weibliche Sprechrollen vergeben wurden (vgl. Cuntz-Leng 2011, S. 8).

Unsere Analyse konnte zeigen, dass die beiden wichtigsten weiblichen Figuren der Romane in der Fanfiction sogar noch weniger präsent sind: Eowyn (Rang 21 bei Tolkien, Rang 22 in der Fanfiction) und Galadriel (Rang 22 bei Tolkien, Rang 26 in der Fanfiction). Die Elfin Arwen ist hingegen deutlich präsenter in den Fantexten (Rang 53 bei Tolkien, Rang 23 in der Fanfiction), was sich mit der innerhalb der Fancommunity heftig debattierten starken Aufwertung von Arwens Rolle durch die LotR-Filme erklären lässt (vgl. Brayton 2006, S. 142). Die für die The Hobbit-Verfilmungen – hier fällt die gender bias der Romanvorlage noch stärker aus als bei LotR – neu entwickelte Frauenfigur der Elfin Tauriel belegt im Fanfiction-Ranking der Figuren Rang 59.

Es ist auffällig, dass weibliche Figuren in den relationship tags deutlich prominenter sind – Eowyn (Rang 8) und Arwen (Rang 9) –, am eigentlichen Inhalt jedoch dann geringeren Anteil haben. Daher gehen wir davon aus, dass die weiblichen Figuren meist in kanonischen Beziehungen im Hintergrund auftauchen (Nebenpairing), um die Plausibilität der Hauptfiguren und der zentralen romantischen Beziehung in der jeweiligen Fanfiction zu erhöhen (Hauptpairing). Diese Behauptung wird durch die generell höhere Position von menschlichen Figuren in den relationship tags gestützt.

Milli und Bamman (2016) konnten in ihrer Auswertung von fanfiction.net nur einen kleinen Zuwachs in der Nennung weiblicher Figuren in der Fanfiction gegenüber den literarischen Vorlagen ausmachen: »40.1 % of character mentions in the canons are to women; in fanfiction, this ratio increases to 42.4 %« (Milli/Bamman 2016, S. 2050). Wir können bestätigen, dass im Einzelfall weibliche Figuren in der Fanfiction aufgewertet werden, aber trotz hauptsächlich weiblicher Autor:innen von einer generellen Aufwertung oder stärkeren Repräsentation weiblicher Figuren nicht die Rede sein kann. Gesicherter scheint uns, von einer immensen Aufwertung bestimmter männlicher Figuren sprechen zu können, die Milli und Bamman ebenfalls in ihren Beispielen Pride and Prejudice (Mr. Darcy) und Sherlock Holmes (Watson) feststellen konnten (vgl. Abb. 2). Sowohl bei Pride and Prejudice und Sherlock Holmes als auch bei LotR-Fanfiction betrifft diese Aufwertung erwachsene, weiße, in den Romanen und/oder Filmen als körperlich attraktiv dargestellte Figuren, bei LotR insbesondere Elfen, aber auch Zwerge und Menschen.

Abb. 2
figure 2

Unterschied in der prozentualen Erwähnung von Figuren in Fanfiction gegenüber den Romanen von Pride and Prejudice und Sherlock Holmes (Milli/Bamman 2016, S. 2049)

In einer neuen Datenerhebung wäre es möglich zu sehen, inwiefern sich innerhalb der LotR-Fanfiction ein Effekt auf die Fantexte zeigen lässt, der mit den stärkeren Frauenrollen zusammenhängt, die The Lord of the Rings: The Rings of Power neben Galadriel als Hauptfigur zum Beispiel mit dem Hobbitmädchen Nori Brandyfoot, der Königin von Numenor Miriel, der Zwergenprinzessin Disa und der Menschenfrau Bronwyn noch bietet.

4 Pairings

Unter den verschiedenen Subgenres von Fanfiction ist Slash nicht nur am weitesten verbreitet, sondern auch wissenschaftlich am meisten beachtet worden. Bei Slash-Fanfictions stehen (mindestens) zwei männliche Figuren im Zentrum einer homoerotischen Romanze, die in der Vorlage in der Regel nicht in einer romantischen oder sexuellen Beziehung zueinander standen. Dieses Hauptpairing wird meist durch weitere Nebenpairings flankiert, die durchaus kanonisch sein können. Anders als offiziell produzierte erotische oder pornografische Werke, die entweder Sexualität nicht explizieren oder im Gegenteil handlungsarm sind und ausschließlich sexuelle Akte zeigen, unterliegt Slash eigenen Gesetzmäßigkeiten. Besonders auffällig ist im Slash das Ausloten der Machtverhältnisse der Figuren untereinander – mit dem Ziel ihrer Auflösung hin zum Ideal völliger Gleichberechtigung (vgl. Bacon-Smith 1994, S. 250). »Während in der Pornografie Liebe und Romantik unerheblich sind, fungieren sie in der Fanfiction trotz expliziter Schilderungen von Geschlechtsakten als die zentrale Triebfeder der Handlung. Gleichzeitig greift Slash die Körperlichkeit von Pornografie auf, die der Prätext selten in diesem Maße anbietet. Somit ist [sic] eine verlangsamte Erzählweise, extrem bildhafte, geradezu filmische Sprache und detaillierte Beschreibungen von Anatomie und Körperbewegungen ein typisches Stilmittel in Fanerzählungen« (Cuntz-Leng 2015, S. 89).

Ein Blick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit LotR-Fanfictions – beispielhaft hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Anna Smol (2004), Jennifer Brayton (2006) und Daniel Allington (2007) – hinterlässt den Eindruck, dass der Löwenanteil von LotR-Fanfictions homoerotische und pornografische Slash-Explizierungen der bei Tolkien vorgefundenen homosozialen Beziehungen zwischen den männlichen Figuren sind (vgl. zu queer reading als Strategie der Dechiffrierung von verdrängter Homosexualität und zur Sichtbarmachung des Kontinuums von Homosozialität und Homosexualität insbesondere Kosofsky Sedgwick 1985). Brayton konstatiert beispielsweise, besonders »slash-authors of The Lord of the Rings content, regardless of their medium of expression, are deliberately reinterpreting the sexuality of characters to challenge heterosexual norms embedded in the dominant narratives« (Brayton 2006, S. 150). Die Verfilmungen, die spürbar im Bewusstsein der homoerotischen Qualität von Tolkiens homosozialen Beziehungen und Seilschaften entstanden sind (vgl. Saxey 2005; Hunter 2006; Cuntz-Leng 2011), haben diese Lesarten der Fans durchaus weiter befeuert (vgl. Allington 2007, S. 51–52).

Ausgehend von dieser Grundlage wollten wir herausfinden, in welchem Ausmaß sich die interpersonellen Verbindungen der Figuren in Tolkiens Romanen und in der Fanfiction unterscheiden. Wir wählten einen kollokativen Ansatz, indem wir das Auftreten zweier Figurennamen in einem Bereich von bis zu 20 Wörtern zwischen ihnen untersuchten, um eine Korrelation zu identifizieren. Eine Kollokation bedeutet nicht, dass eine romantische Beziehung vorliegt, sie kann aber als Indikator für die Interaktion zwischen zwei Figuren dienen. Gleichzeitig sind aber die oben adressierte verschwommene Grenze zwischen Homosozialität und Homoerotik bei Tolkien sowie der Genrewechsel, den Fanfiction unter Umständen hin zu Liebesroman und pornografischer Literatur vollzieht, Faktoren, die in die Analyse der Befunde einbezogen werden müssen. Abbildung 3 ist ähnlich strukturiert wie Abbildung 1, sie zeigt aber die Häufung von Figurenkollokationen statt von individuellen Figuren. Bei den numerischen Werten handelt es sich um die absolute Häufigkeit einer Kollokation.

Abb. 3
figure 3

Kollokationen von Figurennamen

In LotR sind Frodo und Sam bei weitem die am häufigsten gemeinsam vorkommenden Figuren. Sie behalten diese Spitzenposition auch bei den Fanfiction-Kollokationen und in den von den Autor:innen gesetzten relationship tags, allerdings mit einem geringeren Vorsprung. Ebenso sind Merry und Pippin sowohl bei Tolkien (Rang 2) als auch in der Fanfiction (Rang 4) und in den relationship tags (Rang 4) beliebt. Gollums Interaktionen mit Frodo und Sam sind zentral in LotR, werden in der Fanfiction aber stark vernachlässigt (Rückgang um 135 Ränge bei den Kollokationen, 284 Ränge in der Verschlagwortung). Dass der Anteil der Hobbits an den Top-10-Kollokationen bei LotR gegenüber der Fanfiction sinkt, deutet einen Perspektivwechsel in der Fanfiction an. Die hierdurch bei der Fanfiction entstandene Lücke wird mit sieben neuen Elf/Elf-Kollokationen gefüllt, was eine elfenzentrierte storyworld nahelegt. Der gleiche Effekt lässt sich bei den relationship tags ablesen, jedoch mit anderen Pairings. Erestor/Glorfindel und Elrohir/Elladan sind sowohl im Text als auch in der Verschlagwortung beliebt, aber der drittbeliebteste relationship tag mit zwei Elfen ist Celebrian/Elrond, der in den Fanfiction-Kollokationen nur auf Rang 65 liegt. Überraschenderweise sind viele kanonische heterosexuelle Pairings in den Top-20-relationship tags zu finden: Aragorn/Arwen (Rang 3), Eowyn/Faramir (Rang 7), Celeborn/Galadriel (Rang 14). Ihre Beliebtheit lässt sich dann aber in den Fanfiction-Kollokationen nicht in gleichem Maße nachweisen: Aragorn/Arwen (Rang 28), Eowyn/Faramir (Rang 31), Celeborn/Galadriel (Rang 59). Dies stützt unsere Vermutung, dass die Fanfiction-Autor:innen kanonische Figurenkonstellationen die Haupthandlung flankierend einsetzen, um die Plausibilität des eigenen Textes zu erhöhen. Eine weitere interessante Beobachtung ist, dass mit Ausnahme von Celeborn/Galadriel jeweils die männliche Figur in der Fanfiction weit häufiger mit einer anderen männlichen Figur in Verbindung gebracht wird als mit der kanonischen Partnerin, wodurch der Schwerpunkt auf männlicher Homosozialität aus der Vorlage wiederholt wird.

Besieht man sich die einzelnen Figuren in den Top-20-Kollokationen und in den relationship tags, lassen sich drei verschiedene Typen identifizieren: (a) Figurenkonstellationen, bei denen beide Figuren meist zusammen auftreten (Merry/Pippin, Erestor/Glorfindel, Bilbo/Thorin, Elladan/Elrohir, Fili/Kili), (b) Sidekicks, die sich einem insgesamt in den Fantexten deutlich beliebteren Partner zuordnen lassen (Sam, Gimli, Elrond) und (c) eben diese bei den Fans besonders beliebten Figuren, die in verschiedenen Konstellationen Teil einer Reihe beliebter Pairings sind (Frodo, Legolas, Aragorn). Letzteres korrespondiert in Rückschau auf Abbildung 1 mit dem Ergebnis, dass Frodo, Legolas und Aragorn in der Fanfiction die beliebtesten Figuren sind. Dass Gandalf, der in den Kollokationen bei Tolkien der Kategorie (c) zugeordnet werden kann, in der Fanfiction nicht in den Top-20 auftaucht, hängt vermutlich abermals mit seinem älteren Aussehen und physischen Attraktivität zusammen; Gandalf hat seine häufigste Fanfiction-Kollokation mit Frodo (Rang 30). Wie schon bei Abbildung 1 lässt sich auch hier zeigen, dass die Grenzen zum Hobbit durchlässig sind, da mit den Pairings Bilbo/Thorin und Fili/Kili zwei Figurenkonstellationen in den Fanfiction-Top-20 auftauchen, die in LotR nicht vorkommen. Darüber hinaus sind Dreiecksbeziehungen sowohl bei Tolkien als auch in der Fanfiction erkennbar. Am auffälligsten ist, dass Aragorn/Boromir/Faramir als Zweierpairings in der Fanfiction in vergleichbarer Häufigkeit auftreten, während das Gleiche für Frodo/Sam/Gollum in LotR gilt.

Alle beliebten Kollokationen und relationship tags in der Fanfiction lassen sich anhand von LotR leicht herleiten, erklären und motivieren. Entweder sind sie Teil der ursprünglichen Handlung oder können mit Hintergrundwissen über das fiktionale Universum Tolkiens leicht konstruiert werden. So fällt beispielsweise auf, dass Sam, der bei Tolkien als Frodos Sidekick angelegt ist und nie unabhängig von Frodo agiert, in keiner anderen Fanfiction-Kollokation vertreten ist. Außerdem finden sich in der Fanfiction keine Pairings außerhalb der Gruppe der »Gefährten« (Aragorn/Legolas, Gimli/Legolas, Aragorn/Frodo und Bilbo/Thorin aus dem Hobbit), bei denen die Grenzen der Rassen überwunden werden. Daraus lässt sich schließen, dass die Fanfictionautor:innen über fundierte Kenntnisse der storyworld verfügen, die beispielsweise über die Sichtung der Filme oder die Lektüre ausschließlich von LotR hinausgehen, dass sie ihre Geschichten sorgfältig auf dieser Grundlage aufbauen und nicht völlig losgelöst davon komponieren und daher in der Regel eine gewisse Werktreue anstreben.

5 Wortfelder

Es ist kein Geheimnis, sondern wurde nicht nur von Tolkien selbst in seinem wegweisenden Essay »On Fairy Stories« (1968 [1939]) theoretisiert und ist letztlich konstituierend für das Genre der Fantasy im Allgemeinen, dass bei Tolkien das world-building weit mehr im Vordergrund steht als die Figuren. Mit der Vermutung, dass es sich aber bei einem Großteil der Fanfiction um Erotica handelt, hatten wir die Hypothese, dass sich diese unterschiedlichen Schwerpunkte in der Handlung bei einer Untersuchung der verwendeten Worte abbilden lassen würde. Um Aufschlüsse darüber zu bekommen, inwiefern sich LotR und LotR-Fanfiction in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Motive und Themen unterscheiden, haben wir aus bestimmten Worten/Wortgruppen semantische Kategorien gebildet, indem wir eine Kombination aus den Datenbanken FrameNet (framenet.icsi.berkeley.edu) und WordNet (wordnet.princeton.edu) verwendeten, die jeweils ausführlich die Wortbedeutung mit einem Netzwerk miteinander verbundener Konzepte assoziiert und beschreibt – so etwa Giving (z. B. donate, shower with, hand over) oder Natural Features (z. B. mountain, lake). Wir verwendeten primär FrameNet, da hier die übergeordneten Kategorien für unsere Zwecke bequemer gruppiert werden (z. B. werden Substantive, Verben und Adjektive zusammengefasst); lediglich bei der Kategorie Sex verwendeten wir WordNet, da dieses Wortfeld bei FrameNet nicht angelegt war. Die folgenden Ergebnisse, die insbesondere die Themenfelder Landschaft/Natur und Sexualität/Körper fokussieren, sollen einen kurzen Eindruck der Möglichkeiten bieten, welche textuellen Vergleiche mit diesen Werkzeugen möglich sind, um Unterschiede und Ähnlichkeiten von größeren Textkorpora herauszuarbeiten.

Nach dem Ausschluss von Worten, die sowohl in der Fanfiction als auch bei Tolkien meist im falschen Sinne verwendet werden (z. B. steht das Verb mount selten in einem sexuellen Zusammenhang), führten wir eine weitere Gruppierung der Kategorien von FrameNet und WordNet in Makrokategorien durch, so dass beispielsweise FrameNets Cause To Become Wet und Wetness gemeinsam in einer größeren Kategorie Wetness zusammengeführt sind. In Abbildung 4 sind nun sowohl die Häufigkeiten für jede Kategorie in LotR und in der Fanfiction ablesbar als auch die Zu- bzw. Abnahme der jeweiligen Wortfelder von Roman zu Fantext. Die letzte Spalte zeigt also das Verhältnis der relativen Häufigkeit einer Wortkategorie von Fanfiction zu den Romanen. Beispielsweise würde ein Wert von 200 % bedeuten, dass der Anteil von Worten einer bestimmten Kategorie an allen Worten im Korpus in den Fantexten doppelt so groß ist wie in den Romanen.

Abb. 4
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Vergleich von Wortfeldern in LotR und LotR-Fantexten

Aus Abbildung 4 lassen sich verschiedene Ergebnisse ableiten: Die größten Unterschiede bestehen in der Kategorie Sex, die bei Tolkien vollständig fehlt (die geringe Anzahl mutmaßlicher Beispiele werten wir als falsch positiv). Umgekehrt lässt sich ein extremer Rückgang in der Verwendung von Landschaftsmotiven in der Fanfiction nachweisen. Daran anschließend lassen sich auch die meisten weiteren Ergebnisse der Erhebung perspektivieren. Das explizite und implizite Interesse von Fans an Sexualität trägt dazu bei, dass die Wortfelder Physical Interaction (hierin sind das Berühren von Dingen und die Bewegung von Körperteilen eingeschlossen), Body Parts und Clothing etwa doppelt so häufig in Fantexten erwähnt werden wie in LotR. Im Kontext von Sexualität kann die Beschreibung von Kleidung sowohl zur Verdeutlichung des Sexappeals einer bestimmten Figur als auch zur Vorbereitung von sexuellen Handlungen dienen (im engeren Sinne passiert dies insbesondere auch in der Kategorie Using Clothes). Das Wortfeld Wetness schließt Verben wie squirt, aber auch das Antonym dry ein; die Kategorie ähnelt Clothes insofern, als dass sie auf verschiedene Weise zur Beschreibung sexueller Handlungen abzielen kann, von der direkten Benennung von Körperflüssigkeiten bis hin zur Beschreibung eines erotischen Szenenbildes, etwa über das Motiv der nassen Kleidung oder eine Badeszene.

Zum Zwecke einer genaueren Veranschaulichung, wie die Verflechtung von Worten in den ausgewählten Wortfeldern konkret in den Fanfictions realisiert ist, haben wir eine kurze Passage aus einer beliebten LotR-Kurzgeschichte (Oneshot) ausgewählt. »Nocturnal Admissions« von fennelseed wurde auf AO3 am 25.11.2015 veröffentlicht (vgl. https://archiveofourown.org/works/5284493). Es handelt sich aber nach der vorangestellten Kurzbeschreibung um die Wiederveröffentlichung – nun auf dieser Fanfictionplattform – einer Frodo/Sam-Geschichte, die bereits um 2003 entstanden ist. »Nocturnal Admissions« wurde 7.350 Mal aufgerufen, 462 Mal geliked (Kudos) und von 64 User:innen mit einem Lesezeichen gemerkt und ist damit aktuell auf AO3 in den Top-10 der LotR-Slash-Oneshots mit expliziten Inhalten und dem Pairing Frodo/Sam:

»Frodo peels off his shirt and drops it to the floor, and unbuttons his trousers. ›You know, I...I wanted you to see me naked,‹ he confesses, as he very slowly opens the folds of velvet. ›I wanted you to start thinking of me, if you hadn’t before.‹

›I had,‹ Sam interrupts. He shoves down his trousers and steps out of them, but out of a lingering shyness keeps his linens on – which is ridiculous, considering they’re sticking out a good several inches in front, with a wet spot at the tip where Sam’s been unable to keep back an overflow of excitement. Not much they’re hiding, at this rate. He sees Frodo’s eyes lock onto that, and a haze of arousal seems to cloud them.«

Aus allen sechs Wortfeldern lassen sich in der Beschreibung dieser erotischen Situation Begriffe ausmachen: z. B. arousal (Sex), see me (Physical Interaction), eyes (Body Parts), linens (Clothing), unbutton (Using Clothes) und wet (Wetness).

In Abbildung 4 lässt sich ablesen, dass demgegenüber andere Wordfelder unterrepräsentiert sind im Vergleich mit Tolkiens Romanen: Character Description, Journey, Fantasy Equipment und Landscape. Zum Teil lassen sich diese Unterschiede auf die fehlende Notwendigkeit zurückführen, eine genaue Hintergrundbeschreibung geben zu müssen, da Schauplätze und Figuren bei den Leser:innen als bekannt vorausgesetzt werden können. Nicolle Lamerichs hält hierzu mit Verweis auf die intertextuelle Qualität von Fanfictions fest, diese seien »frequently unreadable without a notion of the sourcetext. An outsider would not understand these texts; indeed, it is assumed that the reader is aware of the source at least to some degree« (Lamerichs 2009, S. 20). Betroffen hiervon ist in unserer Erhebung besonders die Character Description (mit Begriffen wie lanky oder short-haired). Obwohl das Interesse von Fans an der Genauigkeit in der Beschreibung des exakten Aussehens der Figuren beispielsweise vielfach in der Fanart (vgl. Zaremba 2014) demonstriert wird, finden sich Begriffe aus diesem Wortfeld in der von uns untersuchten LotR-Fanfiction gegenüber Tolkiens Romanen weit seltener. Worte aus den Kategorien Journey, Fantasy Equipment (z. B. rings, arms und armor) und Landscape werden noch weniger in der Fanfiction relativ zu den Romanen verwendet. Insbesondere die starke Abweichung bei Landscape (35 %) lässt sich nicht allein mit Blick auf die intertextuelle Verfasstheit der Fanfictions erklären, sondern akzentuiert auch das besondere Interesse Tolkiens am world-building (das die Fans nicht in gleicher Weise teilen oder zu kopieren versuchen) und legt Genrewechsel in Fanfictions nahe.

Denn dass in der vorliegenden Untersuchung anhand der Wortfelder gezeigt werden konnte, dass Aspekte wie Sexualität, Körperlichkeit und Körperteile sowie Kleidung in der LotR-Fanfiction eine große Relevanz haben, korrespondiert mit der These, Fanfictions seien zu einem großen Teil romance narratives und Pornografie – oder deren Amalgamierung (vgl. Driscoll 2006; Goldmann 2022).

Distant reading ist ein recht grobes Instrument, denn allein die Worthäufigkeit bestimmter Worte kann die Relevanz von Themen nicht genau wiedergeben, da diese entweder in Vordergrund- oder Hintergrundkontexten, als zentrale Handlungselemente oder als Nebenelemente verwendet werden können. Wir glauben jedoch, dass unsere Methode quantifizierbare Unterschiede in den verwendeten Worten und Motiven aufzeigt, die Hypothesen zum Verhältnis von Fanobjekt zu Fantext bestätigen können, die angesichts der enormen Menge an Fanfiction mit traditionellen Textvergleichsmethoden nicht überprüfbar waren. Zum Beispiel lassen sich über die verwendeten Worte literarische Gattungswechsel ausmachen, da für Fantasyliteratur typische generische Elemente nicht mehr so relevant für die Komposition der Erzählungen zu sein scheinen. So konnte beispielsweise damit korrespondierend auch Judith May Fathallah zeigen, dass anders als in Arthur Conan Doyles Kriminalromanen um Sherlock Holmes in der Sherlock-Fanfiction Texte besonders beliebt waren, die »the animalistic, the domestic and the bodily« fokussieren, dies demonstriert laut Fathallah einen »strong transformative effect« (Fathallah 2017, S. 66).

6 Schlussbemerkungen

Mithilfe unserer Erhebung konnten zunächst einige frühere Annahmen bestätigt werden, die durch qualitative Analysen und close readings oder quantitative Metadatenanalysen getroffen worden waren. So geht es in der Fanfiction zu LotR in der Tat sehr viel um Romantik und Sexualität. Außerdem lässt sich festhalten, dass die Verschlagwortung im Allgemeinen genaue Informationen liefert, z. B. in Bezug auf die Beliebtheit von Elfen.

Es konnte der bemerkenswerte Unterschied zwischen relationship tags kanonischer Pairings und der tatsächlichen Häufigkeit ihrer Nennung im Text herausgearbeitet werden. Dies deutet – so lässt sich vermuten – auf eine Marginalisierung weiblicher Figuren und Heterosexualität in der Fanfiction hin. Da Fanfictions umso plausibler werden, je enger ihr Bezug zum Fanobjekt ist, werden nachweislich kanonische heterosexuelle Pairings gern im Hintergrund der Fanfiction-Haupthandlung eingesetzt. Darüber hinaus lässt sich eine Marginalisierung wichtiger Charakterklassen nachweisen, insbesondere von Monstern und älteren, physisch unattraktiven Menschen. Auffallend ist, dass in Fanfiction zumeist besonders gutaussehende männliche Figuren vorkommen und die Texte in diesem Punkt nicht die gleiche Diversität aufweisen wie Tolkiens Romane. Dies bedeutet nicht, dass Autor:innen diesen nicht gut genug kennen. Im Gegenteil, sie wählen sorgfältig zum Zweck ihrer Erzählungen passende Nebenfiguren aus (z. B. mächtige Elfenkrieger) und verwandeln sie in die Protagonisten ihrer Geschichten. Dabei können sie die Textkenntnis ihrer Leser:innen voraussetzen und bestimmte Aspekte von LotR zugunsten ihrer eigenen Erzählungen posteriosieren (z. B. Beschreibungen von Landschaft). Es konnte gezeigt werden, dass die Fanfictionautor:innen viele Aspekte von Mittelerde vermischen und verflechten, die über den begrenzten Rahmen der LotR-Romane hinausgehen (z. B. aus The Hobbit oder den Verfilmungen). Auch Elemente, die nicht Bestandteile eines weiteren Tolkienverse sind, werden für die Fanfictions produktiv gemacht, indem intertextuelle Bezüge zu anderen Fandoms hergestellt werden. Wie und in welcher Intensität dies genau vonstatten geht, könnte in einer weiteren Erhebung geprüft werden. Hieran ließe sich auch eine Untersuchung anschließen, welche Elemente aus der realen Welt bzw. der Gegenwart in die LotR-Fanfictions Einzug halten, um etwa nachweisen zu können, inwiefern etwa queer- oder umweltpolitische Themen in Fanfictions verhandelt werden.

Es ließ sich mittels der erhobenen Daten nachweisen, dass die Filmadaptionen einen enormen Einfluss auf die Fangemeinde haben. Die Bedeutung der zum Zeitpunkt unserer Datenerhebung erst kürzlich abgeschlossenen The Hobbit-Filmtrilogie lässt sich anhand der Popularität bestimmter Figuren aufzeigen; und die herausragende Stellung der weiblichen Elfenfiguren Arwen und Tauriel in den Filmen hat sich auf die Fanfictionproduktion ausgewirkt. Wir vermuten, dass vor allem »new fans« (Brayton 2006, S. 144), die über die Filme ihren Weg in die Community gefunden haben, bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle spielten. Mittels einer neuen Erhebung ließe sich prüfen, inwiefern die Serie The Lord of the Rings: The Rings of Power aktuell die Fanfictionproduktion beeinflusst.

Seit dem Zeitpunkt unserer Datenerhebung hat sich viel verändert – sowohl in Bezug auf die (LotR-)Fankultur als auch in Bezug auf die Instrumente und Methoden, die in den Digital Humanities entwickelt werden, um große Datenmengen zu bewältigen und zu beforschen. Umso bemerkenswerter ist es, dass bisher wenig Tools eingesetzt wurden, um eine Plattform wie AO3 oder bestimmte Fandoms quantitativ zu untersuchen. Als aktuelle Ausnahme soll hier die kurze Studie von Thomas Schmidt, Johanna Grünler, Nicole Schönwerth und Christian Wolff (2021) zu deutschsprachiger Fanfiction auf AO3 angeführt werden. Der von uns vorgestellte Ansatz strebt also an, eine Lücke zu schließen und könnte nicht nur für die Analyse weiterer Fandoms zum Einsatz kommen, sondern auch bei der Erforschung von digitalen Kommunikationspraktiken und benutzergenerierten Textinhalten auf Social-Media-Websites im Allgemeinen nützlich sein. Wir glauben, dass der vorgestellte Ansatz dazu beitragen kann, mit qualitativen Methoden aufgestellte Theorien zu überprüfen und bisher unbekannte Zusammenhänge aufzudecken, die eine genauere Betrachtung und eine tiefgreifende Interpretation verdienen, um sie vollständig zu verstehen.