1 Eine neue Fanliteratur

Die Liebe von Fans ist ambivalent. Sie bringen ihren Gegenständen eine quasi-religiöse Form der Verehrung und ein uneingeschränktes Interesse entgegen. (Vgl. Jenkins 1992, S. 12) Fans sind bereit, alle Informationen, Details, Nebenprodukte und Randerscheinungen, die mit ihren Vorlieben in Verbindung stehen, unterschiedslos zur Kenntnis zu nehmen.Footnote 1 Doch in dieser Kennerschaft liegt immer zugleich das Potenzial einer Übertretung, die den Fan zu einer ›skandalösen Kategorie‹ (ebd., S. 15) werden lässt: Auch wenn sich die Leidenschaft von Fans nicht nur auf die Produkte selbst, sondern gleichermaßen auf deren Urheber richten kann, droht ihre Expertise beständig mit jener der ersten Schöpfer in Konkurrenz zu treten.

Fanfiction ist der genuine Ausdruck dieser Übertretung. Es handelt sich um Texte, die bereits existierende fiktionale Charaktere weiterentwickeln, indem sie deren Geschichte fortschreiben, ihnen ein anderes Ende verleihen, sie von Neben- zu Hauptfiguren machen oder ihre Vorgeschichten erzählen. (Vgl. Schwabach 2011, S. 8) Fanfiction beruht auf der Annahme, dass es in einem publizierten fiktionalen Text unrealisierte Möglichkeiten oder Lücken gibt, die von der fremden Hand eines leidenschaftlichen Fans womöglich besser ausgefüllt werden können als vom Autor oder der Autorin selbst. Die Zwangsläufigkeit von Handlungsverläufen wird dadurch infrage gestellt. Fan-Texte sind in der Regel programmatisch der Treue zu den Charakteren verpflichtet – und geraten gerade dadurch gelegentlich in einen Konflikt mit deren Autorinnen und Autoren. Dies zeigen nicht nur die zahlreichen Fanfictions unzufriedener Game of Thrones-Fans oder die prominenten Spin Offs zu Lord oft the Rings und Harry Potter.Footnote 2 Bereits um 1800 schrieben Leserinnen und Leser eigenwillig Fortsetzungen zu Romanen oder Dramen, mit deren Handlungsverlauf sie nicht zufrieden waren, deren Charakteren sie sich aber verpflichtet fühlten und denen sie gerade deshalb eine alternative Hintergrundgeschichte oder ein anderes Ende verleihen wollten.Footnote 3

Die Möglichkeiten für die Veröffentlichung solcher Aneignungen haben sich allerdings verändert: Fortsetzungen und Adaptionen von Goethes Debütroman Die Leiden des jungen Werthers oder Schillers Drama Die Räuber konnten noch überwiegend regulär verlegt werden, auch wenn sie teilweise bereits als illegitime Aneignung kritisiert wurden.Footnote 4 Und selbst im frühen 20. Jahrhundert herrschte mitunter noch ein entspanntes Verhältnis zu Fanfiction. So zeigte sich Otto Eicke, der Mitherausgeber der Karl May-Gesamtausgabe – ebenso wie große Teile der Leserschaft – so enttäuscht von dem symbolischen Spätwerk des Autors und dessen Abkehr vom Abenteuerroman, dass er eigenmächtig versuchte, den »Bruch im Bau« (Eicke 1930) des Werks zu reparieren. Eickes Fortsetzungsband zu der Reihe Im Reiche des silbernen Löwen sollte zunächst in die Werkausgabe eingehen und blieb schlussendlich nur aufgrund von Auseinandersetzungen zwischen den Verlagsmitarbeitern unveröffentlicht. (Lorenz 2015)

Demgegenüber ist Fanfiction, die sich dezidiert der Originalcharaktere bedient und urheberrechtlich geschützte Stoffe fortschreibt, heute grundsätzlich auf Veröffentlichungsformate jenseits des offiziellen Buchmarkts angewiesen. Dennoch gibt es auch in der Gegenwart Grauzonen und Übergänge zwischen dem inoffiziellen Bereich der Fanliteratur und dem offiziellen Buchmarkt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele Fanfiction-Autorinnen und -Autoren eine eigenständige Buchpublikation anstreben. Auf Seiten wie fanfiktion.de wird ausdrücklich darauf hingewiesen, wenn eine Autorin oder ein Autor sich den »Wunsch nach einem eigenen Buch […] endlich« erfüllen konnte. (Stein 2023) Diese ›eigenen‹ Geschichten sind von Fanfiction im engeren Sinn insofern unterschieden, als sie keine bereits existierenden Charaktere aufgreifen. Sie erweisen sich aber dennoch häufig stark von populären Bestsellern inspiriert: So entwickelte die US-amerikanische Autorin Cassandra Clare, die mit dem Schreiben von Fanfiction begann, ihre erste Romanreihe City of Bones etwa aus dem inzwischen über offizielle Fanfiction-Seiten nicht mehr verfügbaren Harry-Potter-Spin-off The Draco Trilogy, das eine alternative Entwicklung der Romanreihe mit Draco Malfoy als Hauptfigur erzählt. City of Bones beruht nicht nur auf den Charakteren der Fanfiction, sondern greift auch einige Elemente auf, die eindeutig auf J. K. Rowlings Romanreihe zurückgehen.Footnote 5

Nicht nur Selbstpublishing-Anbieter, auch Verlage, die auf Jugend- und Genreliteratur spezialisiert sind, haben sich in den letzten Jahren verstärkt das Potenzial von Fanfiction- und Social Reading-Communities zunutze gemacht. Dies zeigt nicht zuletzt die Struktur der Verlagsprogramme. Der Loewe Verlag etwa präsentiert sein Verlagsprogramm auf der eigenen Homepage nicht mehr mithilfe von traditionellen Genrebezeichnungen, sondern stattdessen mit Rubriken wie »Bücher wie Harry Potter«, »Bücher wie Tribute von Panem«, »Bücher wie Twilight« oder »Bücher wie Das Schicksal ist ein mieser Verräter«.Footnote 6 Es gibt im Bereich der Unterhaltungsliteratur offenbar ›Klassiker‹, die so prägend und stilbildend waren, dass sie ein umfangreiches Korpus an Nachfolgeliteratur produziert und gleichsam eigene Genrekategorien hervorgebracht haben. (Vgl. Thomalla 2018) Bei den Büchern, die so sind ›wie‹ Harry Potter oder Twilight handelt es sich nicht – wie bei Empfehlungen von Filmen und Büchern auf Netflix oder Amazon – lediglich um vergleichbare Produkte, sondern um dezidiert epigonale Literatur. Die Texte machen keinen Hehl daraus, durch welche Vorlagen sie inspiriert wurden.

Aus verlagspolitischer Sicht dient die Markierung solcher Nachfolgeprodukte dazu, die Fans der großen Bestseller zu mobilisieren und als Leserschaft zu gewinnen. Dies geschieht nicht allein über die Inhalte der Bücher, sondern auch durch ein ganzes Set an Marketingstrategien, die ähnliche Rezeptionspraktiken ermöglichen und für Übertragungseffekte zwischen Primärtext und Adaption sorgen sollen. Gleichzeitig müssen die Verlage und Autorinnen schon aus urheberrechtlichen Gründen eine gewisse Eigenständigkeit der jeweiligen Publikationen behaupten. Dieses Changieren zwischen Imitation und Originalität erweist sich, wie im Folgenden gezeigt wird, auch als herausfordernd für die Rezeption der Texte. Die Frage, wie Bücher sein sollten, die ›wie‹ Harry Potter oder Die Tribute von Panem sind, ist aus der Perspektive der Fankultur betrachtet gar nicht so einfach zu beantworten.

Die Fangemeinschaften, die die Bücher auf Portalen wie Lovelybooks, Booktube oder Vorablesen rezipieren, geben sich mit bloßen Kopien der von ihnen favorisierten Originalbücher keineswegs zufrieden. Ihre Anforderungen an das Verhältnis von Anlehnung und Abweichung sind teilweise sehr differenziert. Die Unterscheidung zwischen dem, was als gelungene Adaption akzeptiert oder als einfallslose Übernahme diskreditiert wird, sowie die Frage, wo die Kriterien des jeweiligen Genres kunstvoll erfüllt, wo sie hingegen klischeehaft umgesetzt wurden, sind Gegenstand einer kritischen Aushandlung. Der Blick auf die Rezeption verlegter Fanliteratur wirft damit auch ein anderes Licht auf die Beurteilungspraxis in digitalen Lesegemeinschaften. Werden Rezensionen auf Social Reading-Portalen in der Forschung oft als unkritisch, durchweg positiv und rein identifikatorisch beschrieben,Footnote 7 so wird bei der Rezeption der Fantexte, die an die Genreklassiker angelehnt sind, eine genuine Kompetenz der lesenden Fans ersichtlich.

2 Von Ravenclaw zu Ravenhall

Am 22.2.2023 postet die Buchbloggerin Julia Kuhn auf TikTok ein kurzes Video, mit dem sie eine Neuerscheinung ankündigt: In der ersten Einstellung ist ein Bücherregal zu sehen, das mit unterschiedlichen Editionen der Harry Potter-Reihe sowie zugehörigen Harry Potter-Devotionalien gefüllt ist: Miniaturen der Romanfiguren, der magische Bus, der die Zauberer im Roman transportiert, oder kleine Fläschchen mit Zaubertränken (Abb. 1). Über dem Bild ist ein Kommentar eingeblendet: »Ich suche Harry Potter Fans, denn ...«.Footnote 8 In der nächsten Einstellung hält Kuhn ein Buch vor das Regal, das erkennbar nicht aus der Harry Potter-Reihe stammt. Auf dem blaugrauen Cover ist ein großer Rabe zu sehen, der seine Flügel ausbreitet, der Titel lautet: Ravenhall Academy. Verborgene Magie. In dem darüber eingeblendeten Textfeld wird der in der ersten Einstellung zu lesende Halbsatz vollendet: »Ich habe ein Buch für euch geschrieben.« (Abb. 2)Footnote 9

Abb. 1
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Harry Potter-Fans gesucht

Abb. 2
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Ein Buch wie Harry Potter

Kuhn ist seit März 2019 als Buchbloggerin unter dem Namen july_reads auf Instagram aktiv, wo sie eine Fangemeinde von knapp 46 000 Followern hat. Auf TikTok, wo sie seit 2020 ebenfalls einen Account pflegt, folgen ihr mehr als 55 000 Personen. Sie kooperiert seit längerer Zeit mit diversen Verlagen, unter anderem mit dem Carlsen Verlag, der die Harry Potter-Reihe in deutscher Übersetzung herausgegeben hat. Kuhns Harry Potter-Sammlung kommt in zahlreichen Videos vor – unter anderem in einer eigenen Harry Potter-Bookshelf-Tour. In mehreren, als »Werbung« gekennzeichneten Posts werden zudem Neuerscheinungen vorgestellt, etwa die 2020 erschienene »Schmuckausgabe« von Quidditch im Wandel der Zeiten.Footnote 10 Auch Verlosungen und Gewinnspiele im Auftrag des Carlsen Verlags hat Kuhn bereits durchgeführt.

Kuhn zählt zu den erfolgreichsten Buch-Influencerinnen Deutschlands – und zugleich zum Kreis jener Bücherfans, die schließlich selbst Autorinnen werden. (White 2016) Im englischsprachigen Raum sind Kooperationen zwischen Verlagen und Bloggerinnen oder Bloggern schon seit längerer Zeit etabliert. Doch auch in Deutschland wird das Marktpotenzial begeisterter Leserinnen und Leser, die sich durch die ästhetische Inszenierung und die Besprechung von Büchern bereits eine eigenständige Fangemeinde erarbeitet haben, bei der Akquise neuer Debütautorinnen und -autoren zunehmend erkannt und strategisch genutzt. Waren die lesenden Laien, die vom Social-Media-Star zum Autor oder zur Autorin werden wollten, anfangs weitgehend auf Self-Publishing-Formate angewiesen, so werden sie inzwischen längst gezielt von Verlagen angesprochen.Footnote 11 Für diesen Karriereweg gibt es zahlreiche Beispiele: die Buchbloggerin Ayla Dade, die mit ihren Romance- und Fantasy-Romanen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste landet und von Verlagen wie Penguin Random House oder Carlsen verlegt wird; oder der Booktuber und Blogger Andreas Dutter, dessen Romane bei Droemer Knaur und Piper erscheinen.Footnote 12

Auch Kuhns Ravenhall Academy zeigt beispielhaft, wie erfolgreich der Übergang von der Buch-Influencerin zur Buch-Autorin verlaufen kann: Der Roman stieg unmittelbar nach seinem Erscheinen auf dem zweiten Platz der Spiegel-Bestsellerliste ein – gleich hinter Sebastian Fitzek, wie die Autorin stolz verkündete.Footnote 13Social Reading-Portale haben, wie nicht zuletzt die von TikTok im Jahr 2023 begründete eigenständige Bestseller-Liste zeigt, auf die Verkaufszahlen populärer Belletristik einen wachsenden Einfluss. (Vgl. dpa via SZ 2023)

Ravenhall Academy wurde vom Verlag wie auch von der Autorin schon vor dem Erscheinen als ein deutsches Pendant zu Harry Potter vermarktet. Dafür gibt es gute Gründe: Der Roman, der in London spielt, erzählt eine Geschichte, die sich in vielen Punkten an die berühmte Vorlage anlehnt. Protagonistin ist die siebzehnjährige Lilly Campbell, die vielleicht nicht ganz zufällig denselben Vornamen trägt wie Harry Potters Mutter. (Kuhn 2023) Schon seit längerer Zeit hat sich Lilly über einige magische Phänomene in ihrer Umgebung gewundert. Von ihrer »Grandma«, die eine Buchhandlung besitzt, in der Lilly während der Ferien arbeitet, erfährt sie, dass sie eine Hexe ist. Wie alle Hexen in Ravenhall Academy – und wie alle Hexen und Zauberer in der Harry Potter-Reihe – hat Lilly eine tierische Gefährtin: eine Hündin mit dem Namen Mrs. Blueberry. Auf der »Ravenhall Academy«, einem Internat für Hexen, soll Lilly ihre magischen Kräfte entfalten lernen. Nicht nur der Name dieser Schule erinnert an das Hogwarts-Haus »Ravenclaw«. Ravenhall ist überdies wie Hogwarts in einem Schloss angesiedelt und für normale Menschen nicht sichtbar. In dieser Schule lernt Lilly den geheimnisvollen Jason kennen, den Sohn des Direktors, der sie fasziniert, der aber bereits einem anderen Mädchen namens Vicky versprochen ist. Schließlich entdeckt Lilly, dass es an der Ravenhall Academy dunkle, bedrohliche Kräfte gibt, die das Erbe der Hexen bedrohen. Der erste Teil des Romans endet mit einem Cliffhanger, ein zweiter Teil ist für den Herbst 2023 angekündigt.

Diese offensichtlichen Parallelen, die durch kleinere Anleihen verstärkt werden, sind weniger Ausdruck mangelnder Originalität als die konsequente Erfüllung eines nachgefragten Skripts. Seit dem Erfolg der Harry Potter-Romane haben sich innerhalb der Fantasy-Literatur einzelne Subgenres herausgebildet, über die in digitalen Buchgemeinschaften eigene Listen geführt werden. Dazu zählen die Genres »Fantasy Academy«, Bücher mit fantastischen Wesen, die wie Harry Potter auf einer Schule angesiedelt sind, sowie »Cozy Fantasy«, fantastische Geschichten, die eine behagliche Atmosphäre oder »a sense of belonging« schaffen – durch Schauplätze wie beschauliche Kleinstädte oder Dörfer, Tavernen, verschrobene oder exzentrische Charaktere, geheimnisvolle Bücher oder Artefakte und gemütliche Settings wie dampfende Tassen, die am knisternden Kaminfeuer bei prasselndem Regen getrunken werden usw. (Craiker o.D.)

Verbunden sind solche Elemente oft mit einem weiteren Subgenre, das wesentlich durch die Twilight-Reihe geprägt wurde: Romantasy, eine Verbindung aus Romance und Fantasy, das von eher traditionellen Beziehungsstrukturen geprägt ist, das Motiv der verbotenen Liebe sowie den Kampf gegen dunkle Mächte beinhaltet. (Reß 2019) Es ist diese Kombination vertrauter Tropen und Plot-Elemente, die sich in den Büchern, die an die Genre-Klassiker erinnern sollen, wiederfinden. Doch nicht nur die Inhalte, auch die Art der Vermarktung ist von den Vorbildern übernommen werden. Ein Roman ›wie‹ Harry Potter oder Twilight zeichnet sich dadurch aus, dass er bereits vor jeder Rezeption wie ein Kultbuch präsentiert wird.

3 Fangemeinschaft im Lieferumfang enthalten

Die inhaltliche Konzeption epigonaler Fan-Literatur korrespondiert mit einer Vermarktungsstrategie, die in vielerlei Hinsicht an das Marketing der Genre-Klassiker und deren Verfilmungen angelehnt ist. Auch dies lässt sich am Beispiel von Kuhns Ravenhall Academy gut zeigen. Der Verlag hat bereits beim Ersterscheinungsdatum eine ganze Reihe an Materialien und Sekundärinformationen zum Roman bereitgestellt, die den vermeintlichen Erwartungen der Fans entgegenkommen sollen.

So gibt es, ähnlich wie die »Karte des Herumtreibers« (Marauders Map) in den Harry Potter-Romanen, auch zur Ravenhall Academy eine Übersichtskarte, auf der das Schloss und seine Umgebung (ein Friedhof, ein See und ein verhexter Wald) abgebildet sind.Footnote 14 Auf der Seite des Verlags kann man, wie auf der von J.K. Rowling begründeten Fan-Seite pottermore.com oder der Nachfolgeseite wizardingworld.com, einen Test machen, der verrät, welches magische Tier »Dein*e magisch*e Begleiter*in an der Ravenhall Academy« ist.Footnote 15 Zusätzlich gibt es kurze Character-Sheets zu den Hauptprotagonisten Lilly und Jason. Selbst Hoodies oder »Specialboxes«, die Sticker, Notizblöcke, kleine Hexenkessel oder Kerzen enthalten, konnte man kurz nach dem Erscheinen bereits erwerben.Footnote 16 Mit anderen Worten: Der Roman wird so vermarktet, als gäbe es bereits eine breite Fan-Gemeinschaft, die sich für all diese Artefakte, Paratexte und Details interessiert.

Wurde die Seite pottermore.com zu den Harry Potter-Büchern und -Filmen erst 2009, zwölf Jahre nach Erscheinen des ersten Bands, begründet, und wurde die Produktion von Harry Potter-Merchandise erst in den 2000er Jahren im Zuge der Romanverfilmung systematisch betrieben, so haben Verlage, die an den Erfolg populärer Kultbücher anschließen möchten, inzwischen längst auf eine Strategie der »prätendierten Popularität« umgestellt: Man unterstellt, dass das Interesse am Buch so groß sein wird, dass die Merchandise-Artikel direkt mitproduziert werden. (Multhammer 2022) Im Filmbereich ist dies schon üblich, im Verlagswesen aber handelt es sich um eine jüngere Entwicklung. (Vgl. Rendler 2018) Der Carlsen-Verlag produzierte bei Kuhns Anverwandlung von Harry Potter-Motiven all jene Materialien und Gegenstände, die eine erst noch zu begründende Fangemeinde braucht. Die Emphase und Begeisterung, die der Rezeption traditionell nachfolgten, sind im Lieferumfang enthalten.

Diese verlegerische Vermarktungsstrategie passt auch zur Selbstpräsentation der Autorin. Auf ihrem Instagram-Account july_reads gibt es beispielsweise eine eigene ›Story‹, in der die Autorin mitsamt ihrem Buch nach London, »in die Heimat der Ravenhall«, reist.Footnote 17 Inszeniert wird diese Reise als ein Besuch der Originalschauplätze des Romans: So führt Kuhn die Leserschaft etwa nach Camden Town in London, wo die Protagonistin Lilly »ihr besonderes Fußkettchen gekauft« habe. Ein weiterer Weg führt zum »Tower of London«, wo auf einem Turm die »Rabendame Shadow« sitze, um »die letzten Sonnenstrahlen« zu genießen. Ein Foto aus dem Hide Park wird mit dem Hinweis versehen, dass »Lilly und Jason in einem Pub« ganz in der Nähe Essen gegangen seien. Ein anderes Bild zeigt eine Wiese mit Lilly und Jason, auf der die Academy liegen soll.Footnote 18 Den Roman trägt die Autorin dabei stets unter dem Arm (Abb. 3).

Abb. 3
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Autorinnen-Fanreise

Ravenhall Academy wird durch diese touristischen Besichtigungen schon kurz nach seinem Erscheinen von der Autorin selbst als Kultbuch inszeniert.Footnote 19 Kuhn gibt sich gleichermaßen als Autorin, die auf den Bedarf ihrer Leserschaft nach immer mehr Details und Hintergrundinformationen reagiert wie auch als größter Fan ihres eigenen Werks. Von ihrer Autorschaft scheint das Produkt dabei in bestimmten Momenten eigentümlich abgelöst zu sein. Wenn die Orte des Geschehens von ihr besichtigt und mitsamt dem Buch abfotografiert werden, ist Kuhn nicht mehr in der Rolle der Schöpferin, sondern schlüpft in die der begeisterten Rezipientin, die ihre eigene Faszination für die selbstgeschriebenen Szenen mitteilt: »Genau hier, an dieser Stelle stehen Lilly und Jason in einer meiner liebsten Szenen der Ravenhall« (Abb. 4).Footnote 20

Abb. 4
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Die ›Originalschauplätze‹ der Ravenhall Academy

Wie es sich bei einem echten Kultbuch gehört, werden von der Autorin auch einzelne Textausschnitte aus dem Roman ausgewählt, die, gleichsam wie ein Fundus von Klassikerzitaten, mit passenden Bildern versehen und in regelmäßigen Abständen als Story veröffentlicht werden.Footnote 21

Mit diesen Formen des Selbstmarketing ist Kuhn nicht allein. Es handelt sich vielmehr, ebenso wie die oben beschriebene Reise an die Originalschauplätze, um eine im Kreis von bloggenden Autorinnen und Autoren etablierte Praxis. Sie wird oftmals im Vorfeld der Publikation, aber auch nach deren Erscheinen genutzt, um das Interesse am Buch zu steigern und das Augenmerk auf einzelne Stellen und Formulierungen zu lenken. Auch an den Produktionsprozessen lassen die schreibenden Buchbloggerinnen und -blogger ihre Fans oftmals teilhaben: handschriftliche Notizbücher mit Plot-Skizzen werden ebenso präsentiert wie Prozesse des Streichens und Korrigierens.Footnote 22 Auf diese Weise lenken die Autorinnen und Autoren die Aufmerksamkeit der Fans auf die Sorgfalt des Produktionsprozesses. Die präsentierten Textstellen scheinen nicht leichtfertig hingeschrieben, sondern wohlüberlegt formuliert und mühevoll überarbeitet zu sein.

Die Strategie, eine detailverliebte Arbeit am Text auszustellen, korrespondiert mit den Lektürepraktiken, die in Social Reading-Portalen praktiziert werden. Gerade im Umgang mit ›Klassikern‹ der Genre-Literatur spielen Wiederholungslektüre, das Ausstellen einer genauen Textkenntnis und Zitationsfähigkeit eine wichtige Rolle.Footnote 23 Die digitalen Fan-Gemeinschaften beweisen ihre Kennerschaft darin, dass sie relativ voraussetzungsreich über Bücher kommunizieren – in einer Weise, die es Außenstehenden, die mit den populären Bestsellern nicht im Detail vertraut sind, teilweise schwer macht, nachzuvollziehen, von welchen Figuren, Passagen oder Teilbänden die Rede ist. Diese Expertise der Originale und Genre-Vorbilder macht sich auch bei der Diskussion und Kritik der epigonalen Fanliteratur bemerkbar. Die genaue Kenntnis von Topoi, Figuren, Plots, Motiven, stilistischen Eigenheiten und Genremerkmalen wird zum kritischen Maßstab bei der Beurteilung der Nachfolger.

4 Genrekritik

Die Vermarktung epigonaler Fan-Texte als Kultbücher und die Variation vertrauter Produkte und Genres mitsamt deren Rezeptionspraktiken ist ein gut funktionierendes Erfolgsrezept. Im Fall von Kuhns Ravenhall Academy sprechen nicht nur die Verkaufszahlen, sondern auch die zahlreichen Rezensionen, kollektiven Leserunden, Posts und Videos – die Fans etwa beim »Unboxing« der »Ravenhall Academy Box« zeigen – dafür, dass sich Leserinnen und Leser, die nach Büchern wie Harry Potter suchen, von dem Roman begeistern lassen.Footnote 24 Ein etwas anderer, differenzierter Eindruck dieser scheinbar ungebrochenen Emphase entsteht, wenn man sich ansieht, wie der Text von der adressierten Fan-Gemeinschaft kommentiert wird.

Auf der Seite Lovelybooks fand bereits im Vorfeld der Publikation eine Leserunde statt, bei der ausgewählte Leserinnen und Leser, die sich dafür beworben hatten, den Text gemeinsam lesen und Abschnitt für Abschnitt kommentieren konnten. Ein Moment solcher Leserunden ist häufig der Austausch mit den Autorinnen oder Autoren, die Fragen ihrer Fans beantworten. Auch Kuhn stellte sich vor dem Beginn der Leserunde den Fragen der Lesegemeinschaft. Auffällig ist dabei, dass das Vorbild Harry Potter, auf das der Verlag ebenso wie die Autorin bei der Vorankündigung des Romans notorisch verwiesen hatten, nicht mehr genannt wird. Auf die Frage, wie sie auf die Idee für den Roman gekommen sei, warum sie London als Handlungsort gewählt oder was sie zum Entwurf der Ravenhall Academy inspiriert habe, antwortet Kuhn relativ allgemein oder mit Verweis auf individuelle Vorlieben: »Ich wollte unbedingt einen cozy Fantasyroman über Hexen schreiben«; »London ist meine absolute Herzensstadt. Die Stadt ist so mystisch und zauberhaft«.Footnote 25

Auch auf ihrem Instagram-Account julyxwrites verweist Kuhn auf ihre »Umgebung« und ihre »Reisen« als Inspiration für ihr Schreiben sowie auf das seit der Kindheit ausgeprägte Interesse an Hexen.Footnote 26 Konkrete Bücher werden als Einflüsse hingegen nicht genannt. Diese auffällige Aussparung zeigt, wie heikel der rhetorische Spagat zwischen der Betonung von Genre-Ähnlichkeit und kreativer Eigenständigkeit ist. Die Herausforderung besteht darin, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen vertrauten Elementen und innovativen Neuerungen zu bedienen. Die Leserschaft soll sich an die Harry Potter-Romane erinnern und vor allem das mit der Romanreihe verbundene euphorische Rezeptionserlebnis wiederholen, ohne den Eindruck zu bekommen, dasselbe Buch in einer leicht veränderten Variante vor sich zu haben.

Die Diskussion des Buchs in der Leserunde spiegelt diese Schwierigkeit wider. Bereits im Austausch über den ersten Abschnitt verhandelt die Lovelybooks-Community das Verhältnis des Romans zu seinen Vorbildern. Ein Teilnehmer der Leserunde kommt zu einem raschen, negativen Urteil: »Habe den 1. Abschnitt nun auch beendet und es liest sich natürlich locker leicht weg aber wirkt insgesamt zu sehr wie ›Fan-Fiction‹ auf mich, denn es lassen sich bereits zahlreiche Inspirationsquellen (Harry Potter, Charmed, usw.) für mein Empfinden zu deutlich erkennen und es fehlen mir somit (noch) eigene Ideen.«Footnote 27 Im weiteren Verlauf der Leserunde bricht der Leser mit dem Nutzernamen »Ro_Ke« die Lektüre sogar ab, weil sich der Eindruck zu geringer Eigenständigkeit für ihn zunehmend bestätige. Wird die Kritik von dem skeptischen Leser relativ pauschal formuliert, so dient sein Einwurf den übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern hingegen als Ausgangspunkt, um die Details der Anleihen und Einflüsse zu diskutieren.

Einig ist man sich darin, dass die Autorin zahlreiche Motive aus Harry Potter übernommen habe. So weist eine Leserin darauf hin, dass die Protagonistin Lilly im ersten Kapitel des Romans von einem Raben beobachtet werde, ebenso wie Harry von der Eule Minerva. Andere Leserinnen stellen Analogien in der Beschreibung der Räume oder der Schulfächer an der Ravenhall Academy fest oder finden sogar einzelne Zitate in abgeänderter Form wieder.Footnote 28 Es gibt aber auch Teilnehmende der Leserunde, die Übernahmen aus anderen Vorlagen erkennen: etwa aus der bereits von Ro_Ke genannten Fernsehserie Charmed oder der ab 2009 erschienenen Romanserie House of Night, die von dem Internatsleben eines Vampirmädchens erzählt und ihrerseits als eine Kombination von Motiven und Plot-Elementen aus Harry Potter und Twilight wahrgenommen wurde. (Capell 2022) Anders als für den Leser Ro_Ke, der den Roman nach wenigen Kapiteln nicht mehr weiter lesen wollte, halten die meisten Lesenden solche Detailübernahmen eher für unproblematisch. So argumentiert etwa die Leserin Katelyn_Erikson, dass die »Parallelen zu Harry Potter« zwar offensichtlich seien, dass sich dies aber »manchmal nicht vermeiden« lasse bei diesem Genre, weil man das »Rad« nun mal »nicht neu erfinden« könne.Footnote 29 Die Nutzerin buecher_traeumerin stimmt ihr zu: Es sei schließlich »allseits« bekannt, dass »Julia ein großer Fan« ist. Die Inspirationsquelle sei daher kaum zu übersehen, auch sie halte solche Parallelen aber grundsätzlich nicht für problematisch. Eine andere Nutzerin freut sich sogar über die Anleihen: »[I]ch […] fühle mich gerade total in die Zeit zurückversetzt, als ich die ersten Seiten Harry Potter gelesen habe. Es ist einfach ganz genau dasselbe Gefühl und ich liebe es.«Footnote 30

Kritischer äußern sich einige Leserinnen, wo es um die konkrete erzählerische Ausgestaltung der übernommenen Motive geht. Das betrifft etwa die magischen Erlebnisse, die sich in Lillys Leben ereignen. Im Gegensatz zur Vorlage, so die Auffassung der Fan-Gemeinschaft, wundere sich Kuhns Figur viel zu wenig über solche Ereignisse und Begegnungen: »Lilly kommt an und wird direkt mit der Magie konfrontiert und das mehrere Male. Obwohl sie ihr auffallen, habe ich das Gefühl, dass sie die seltsamen Dinge einfach hinnimmt und wenig hinterfragt.«Footnote 31 Ähnlich äußert sich eine andere Leserin: »Viele der Hinweise auf die Existenz der Hexen wirken […] sehr gewollt, sodass ich für mich noch keine Spannungskurve erkennen kann.«Footnote 32

Neben der Figurenpsychologie werden auf einer allgemeineren Ebene auch Genre-Konventionen und deren Umsetzung diskutiert. Auch hier gibt es zwiespältige Auffassungen. Zwar werden viele Elemente, die zum Genre Cozy Fantasy beitragen sollen – etwa das Wohnhaus der Großmutter, deren Buchhandlung, die Dachkammer, in der Lilly schläft, der prasselnde Regen und Nebel –, positiv hervorgehoben. Doch insgesamt wird die Zuordnung zum Genre aus der Sicht einiger Leserinnen zu stark forciert: »So wurde zum Beispiel jeder bisher vorgekommene Raum als urig bezeichnet, was mir spätestens ab dem zweiten Mal sehr deutlich aufgefallen ist.«Footnote 33 Die Kritik richtet sich auf eine monotone Beschreibungssprache, die keine Funktion für die Narration erfüllt, sondern als bloßes Signal einer Genrezugehörigkeit gewertet wird. Die atmosphärische Charakterisierung weicht der bloßen Benennung. Eine ähnliche Kritik richtet sich an die Konzeption der Liebesgeschichte: Viele Situationen, so die Leserin Chiyo_Reads, kämen »zu gewollt rüber«. Zwar wisse man »wohin die Reise in einem Romantasybuch geht«, doch die zahlreichen »zufälligen« Begegnungen zwischen Lilly und Jason in den ersten Kapiteln seien »störend«, weil dadurch die Zielrichtung der Geschichte zu stark antizipiert würde.Footnote 34

Schließlich steht auch der Stil der Autorin in der Kritik, wobei auch hier auf die Gepflogenheiten der Genres hingewiesen wird: Einerseits bemerkt die Lesegemeinschaft, dass Lillys Sprache ihrem Alter nicht angemessen sei. Sie wirke »kindlicher« und jünger als man es von einer Siebzehnjährigen erwarte. Das sei für ein klassisches Jugendbuch zwar angemessen, gleichzeitig seien die intimen Szenen des Romans aber eher in einem »New Adult«-Stil verfasst und offenbar an eine deutlich ältere Leserschaft gerichtet. Das romantische Geschehen schwanke zwischen den Genres »Slow Burn Romance« und »Spice Romance«: »Am Anfang sollte es ein Slow-Burn werden, aber sobald es an die Akademie geht, wird es überstürzt, bis hin zu einem Versuch mit Spice, der völlig deplatziert wirkte.«Footnote 35

Es ist bezeichnend, wie intensiv die Leserschaft von Ravenhall Academy in ihrer Urteilsbildung auf Genretopoi und -konventionen abhebt. Die Kritiken richten sich kaum auf den Einzeltext, sondern verorten ihn in einem intertextuellen Feld. Dabei dienen einerseits die Charakteristika der Genre-Klassiker als Messlatte, andererseits aber auch allgemeine Stilgepflogenheiten und Genreregeln, die aus der virtuellen Gesamtheit an Büchern mit ähnlichen Merkmalen abgeleitet werden. Die Feststellung von zu offensichtlichen oder nicht gut umgesetzten Übernahmen aus den Harry Potter-Romanen oder anderen Vorlagen sowie die Kritik an einer Vermischung einander ausschließende Genre-Merkmale führen nicht bei allen Leserinnen und Lesern zu einer generellen Ablehnung des Romans. Doch am Ende der Leserunde überwiegt im Gegensatz zu der Euphorie, die noch bei der Beurteilung des Covers vorherrschte, die Zahl derjenigen, die sich negativ oder kritisch abwägend zu dem Buch äußern – wenngleich viele beteuern, dem zweiten Band noch eine »Chance« geben zu wollen.Footnote 36

Entscheidender als die Frage, ob sich der anfängliche Publikationserfolg von Ravenhall Academy stabilisieren lässt, ist der Einblick in die Logik und Dynamik von Fankommunikation, die dieses Beispiel ermöglicht. Die verlegerische Vermarktungsstrategie, einerseits die Popularität einer Bloggerin strategisch zu nutzen, die eine beträchtliche Fangemeinde mit ähnlichen Vorlieben um sich versammelt hat, andererseits den Erfolg eines Genre-Klassikers auf eine neue Publikation zu übertragen, erweist sich als komplexer Balanceakt. Denn auch wenn in digitalen Lesegemeinschaften intensiv nach Büchern gesucht wird, die ein ähnliches Leseerlebnis versprechen wie die großen Genre-Vorbilder für Academy Fantasy, Romantasy, Cozy Fantasy oder Slow Romance, sind die Fans bei der Beurteilung der Umsetzung kritische und kenntnisreiche Beobachterinnen und Beobachter. Das Vorurteil, dass in digitalen Formen durchweg positiv und unkritisch über literarische Texte gesprochen werde, ist mit Blick auf die Rezeption von verlegter Fan-Literatur nicht haltbar. Die Kommunikation über Fan-Literatur offenbart ein Wissen über Literatur, das weniger auf methodischen oder theoretischen Kenntnissen beruht, sondern auf der Lektüreerfahrung innerhalb bestimmter Genres, die es ermöglicht, das Verhältnis von Variation und Abweichung im Hinblick auf wiederkehrende Muster, Stilformen und Genre-Topoi zu beurteilen.