Die Digitalisierung hat die Literatur wie alle Bereiche des Lebens grundlegend verändert, allerdings durchaus anders als zunächst erwartet und von vielen befürchtet worden war. Noch nach der Jahrtausendwende stellten zahlreiche Studien einen Rückgang des Lesens fest, heute blicken wir bereits auf eine Dekade mit dem umgekehrten Trend zurück (Lauer 2020). Es wird, vor allem von den Jüngeren, wieder deutlich mehr gelesen, das kreative Schreiben erlebt eine Hochkonjunktur, und während die orthografischen Fähigkeiten nachgelassen haben, wächst das Erzählvermögen der jungen Generation (ebd.).

Zu dieser in vielerlei Hinsicht heterogenen Entwicklung gehört der am schnellsten wachsende Teil der Gegenwartsliteratur, der als Fanfiction bezeichnet wird. Fanfiction ist Literatur, die von Fans eines bestimmten Gegenstandes zu nicht kommerziellen Zwecken für andere Fans geschrieben wird (Flegel/Roth 2014). Der Begriff steht gleichermaßen für Autor- wie Leserschaft (Tosenberger 2014) und bezeichnet eine literarische Praxis doppelter »Rekursivität« (ebd., S. 5): Autor:innen beziehen sich in ihrem Schreiben auf vorhandene Werke, setzen sie fort, entleihen sich Charaktere, gestalten Handlungen um oder kombinieren Figuren, Stile und Genres, die eigentlich nicht zusammengehören. Auf die gleiche Weise können historische Persönlichkeiten oder Personen der Zeitgeschichte zum Gegenstand solcher Bearbeitungen werden, die vor dem gemeinsamen Horizont der Fans Sinn ergeben. Ohne den Bezugsrahmen geteilter kultureller Referenzen funktioniert Fanfiction nicht (ebd., S. 4), die Community ist die implizite Leserin (Iser 1994, S. 61–66), für die entsprechende Texte erdacht und geschrieben werden. Über Empfehlungen, kommentarlose Zustimmungen (ähnlich wie bei einem ›Facebook-Like‹) und Reviews spielt die Fankommunikation eine aktive, textnahe Rolle. Die Kommentare reichen von kurzen, zustimmenden Äußerungen über Hinweise an die Autor:in bis hin zu ausführlichen Kritiken, die vor allem in positiver Form üblich sind (Kelley 2021, S. 60–61).

Die kulturwissenschaftliche Erforschung dieses sozialen literarischen Phänomens hat eine Verlaufsgeschichte etabliert, die mit Jane Austen- und Sherlock Holmes-Fans in den 1920er und 1930er Jahren beginnt und über ikonische Science-Fiction-Fernsehserien und -Filme wie Star Trek ins Internetzeitalter führt, wo es nicht einfach mehr von allem gibt, sondern grundsätzliche Veränderungen in den kommunikativen Praktiken zu verzeichnen sind (Coppa 2006). Online sind die Fandoms, die einzelnen Fangemeinschaften zu einem Gegenstand, Teil von Portalen und Foren, die als soziale Netzwerke funktionieren. Dementsprechend konzentriert sich die Forschung zunehmend auf diese Netzwerkstrukturen und untersucht, nach welchen Kriterien Fanfiction-Communitys Netzwerke bilden, wie Akteure kollaborieren, sprachlich interagieren und natürlich, welche Werke und Lektüren besondere Aufmerksamkeit finden und welche Formen von Texten zu welchen Themen daraus entstehen.

1 Aktuelle Richtungen der Forschung

Auf dem sich rapide entwickelnden Forschungsfeld zeichnen sich drei unterschiedliche Richtungen ab. Die erste stellt mit einem praxeologischen Ansatz die Akteursperspektive in den Mittelpunkt und untersucht die Hintergründe und Motivationen, die für die Entstehung von Fanfiction ausschlaggebend sind (Coppa 2017; Kelley 2021). Hier spielen methodisch neben Umfragen Leitfaden-Interviews mit einzelnen Autor:innen und Einzeltextanalysen eine wichtige Rolle. Der zweite Ansatz arbeitet korpusbasiert mit statistischen Text- und Metadatenanalysen, wobei besonderes Augenmerk auf dem Verhältnis von Schreiben und Lesen liegt, weswegen neben Originaltexten und Fanfictions auch Reviews und Daten zum Leseverhalten untersucht werden. Begrifflich schürzt diese Richtung ihre Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand in dem in Anlehnung an Simon Rowberry (Rowberry 2016) geprägten Reflexionsbegriff des Digital Social Reading (Pianzola/Toccu/Viviani 2021; Pianzola 2021; Pianzola/Acerbi/Rebora 2020; Pianzola/Rebora/Lauer 2020). Dem Begriff liegt die These zugrunde, dass es die kommunikative Sozialisierung von Lektüre ist, die sich durch die Digitalisierung der Literatur am stärksten gewandelt hat. Die dritte Richtung zielt auf die empirische Erforschung der Fanfiction inhärenten Rezeptionsästhetik. Sie untersucht die Fanfiction-Communitys unterstellte besondere emotionale Bindung (Kelley 2021) als Texteigenschaft mit einem speziellen Wirkungspotential. Mit Hilfe von Sentiment Analysis wird versucht, die Emotionalität des Rezensionsverhalten als Unterscheidungskriterium zwischen klassischer Literatur und Fanfiction zu etablieren (Pianzola/Rebora/Lauer 2020). Die gleiche Methode verwendet die computationelle Neuropoetologie, um das emotionale Wirkungspotential fiktionaler Charaktere zu bestimmen (Jacobs 2019). Allen drei Richtungen ist eine Mixed-Methods-Anlage gemeinsam, die die Textanalyse mit der Untersuchung mindestens einer weiteren Datenebene verbindet.

2 Das Jahr 2020 als Korpus

Unserem Forschungsbeitrag liegt ein Korpus zugrunde, das im Jahr 2020 parallel zu der literarischen Produktivität aufgebaut wurde, die wir beobachten wollten. Das Korpus besteht aus sämtlichen Texten, an denen in diesem Jahr auf der Plattform Fanfiktion.de gearbeitet worden ist, die also entweder neu entstanden sind oder bei denen es Veränderungen gab. Insgesamt sind das 26.372 Werke von 11.630 Autor:innen mit den zugehörigen Metadaten. Hinzu kommen Reviews über knapp 22.000 Texte. Die Metadaten zu den Texten umfassen Angaben zur Entstehungszeit und zum Umfang, zur Anzahl der Reviews und Empfehlungen sowie zu Textsorte, Genre und Herkunftsmedium des Bezugswerkes, zur Altersbeschränkung und zum Fandom, innerhalb dessen der jeweilige Text verfasst worden ist. Für Autor:innen bietet Fanfiktion.de die Möglichkeit, neben dem Benutzernamen Angaben zu Wohnort und Land sowie zu Geschlecht und Alter zu machen. Texte und Daten wurden von uns im Web-Scraping-Verfahren von Fanfiktion.de extrahiert. Diese Plattform besteht seit 2004 und ist mit insgesamt über 412.000 Werken die größte im deutschsprachigen Raum. Die Idee, den Verlauf eines Kalenderjahres literaturwissenschaftlich zu beobachten, wurde unter anderem von Hans Ulrich Gumbrechts Buch 1926 inspiriert, wobei uns rasch klar wurde, dass wir 2020 mit den dramatischen sozialen Veränderungen durch die globale Sars-CoV-2-Pandemie keineswegs ein »Jahr am Rande der Zeit« (Gumbrecht 2001: Untertitel) erlebten. Im Laufe unserer Untersuchungen sollte uns der Einfluss des Lebens im Lockdown auf die literarische Alltagspraxis noch zur Frage werden.

3 ›Fan‹ als gegendertes Konzept

Zunächst aber werteten wir die Metadaten unseres Korpus vor dem Hintergrund einer Hypothese aus, die die Fanfiction-Forschung nicht erst seit es Soziale Netzwerke gibt beschäftigt: ›Fan‹ hat eine lange Vorgeschichte als gegendertes Konzept (Jenkins 1992; Tosenberger 2014, S. 7). 1889 bezeichnete ein Reporter der Kansas City Times die Zuschauer eines lokalen Baseballspiels als ›Fans‹. Damit kreierte er einen Begriff, der zunächst im engeren Zusammenhang eines begeisterten Sportpublikums gebräuchlich war, sich aber bald darauf in fast allen Bereichen der Freizeitgestaltung durchsetzte: Musik, Technik, Literatur oder Genussmittel bekamen Fans (Schmidt-Lux 2015). Der Begriff wurzelt in dem Adjektiv ›fanatic‹ und meint »Personen, die von einem bestimmten Ziel oder Vorhaben auf ungewöhnliche Weise ergriffen, wenn nicht besessen (›obsessed‹) sind« (ebd., S. 5). Während in der Vorstellung vom Sportfan ganz besonders beim Fußball virile Männlichkeit dominiert, wird die obsessive Verehrung bestimmter Künstler:innen eher von Frauen erwartet (Fritzsche 2010). Dem im Fan schlummernden Fanatismus entspricht ein pejorativer Gebrauch des Wortes für einen seiner Leidenschaftlichkeit wegen gering geschätzten Zugang zur Kunst. Das betraf seit dem Aufstieg des Romans zum populären Medium im 18. Jahrhundert die identifikatorische Lektüre, die man vor allem Leserinnen unterstellte (Prokop 1988, S. 341; Heydebrand/Winko 1996, S. 210–15) und Ende des 19. Jahrhunderts das weibliche Theaterpublikum, das in den Augen männlicher Kritiker nur wegen bestimmter Schauspieler ins Theater kam (Auster 1984, S. 38–43).

In der Popkultur des späten 20. Jahrhunderts sind Fans in erster Linie unfreiwillig komische Gestalten, die in ihrer Obsession lächerlich und als sexuell unattraktiv dargestellt werden. Ikonisch ist dafür ein zuerst von Jenkins diskutierter Saturday Nightlife Sketch über eine Star Trek Convention (Jenkins 1992, S. 9), auf der Stargast William Shatner alias Captain Kirk von den versammelten Nerds um die 30 zu deren großem Entsetzen verlangt, ihr Leben nicht länger zu verschwenden, bei den Eltern auszuziehen und eine Freundin zu finden.

Heute werden Fans als Zielgruppe vom Literaturmarkt einkalkuliert. Auf Buchmessen füllt Cosplay ganze Hallen. Verlage durchforsten einschlägige Portale nach Autor:innen und Textserien, die ins Programm passen. Die Communities beklagen die Kommerzialisierung ihrer Feedbackkultur, deren »›gift economy‹« (Kelley 2021, S. 14) indes nicht zufällig in dem Moment breite Aufmerksamkeit erhält, da Sharing-Modelle wirtschaftlich den Ton angeben (ebd., S. 55). Die Unterscheidung zwischen offiziellem Literaturbetrieb und freier Szene ist wie überall in der Popkultur schon sinnvoll, kann aber nicht allein auf der Basis von Selbstbeschreibungen einschlägiger Akteur:innen gezogen werden, wenn es darum geht, diejenigen Merkmale zu bestimmen, die tatsächlich wesentliche Unterschiede in der literarischen Kommunikation ausmachen. Zudem sind Zusammenhänge zwischen offizieller Kultur und Subkultur mindestens ebenso aufschlussreich wie das ethnographisch korrekte Ausleuchten einer bestimmten kreativen Gemeinschaft.

Seitdem Fanfiction innerhalb von sozialen Netzwerkstrukturen entsteht, hat sich das Image der Autor:innen gewandelt, weg von der Nische für Nerds hin zum Bild von jungen Kreativen, die in »transformational fandoms« (Tosenberger 2014, S. 7) zielgerichtet Quellentexte umarbeiten. Dabei greifen die traditionellen Hierarchien von Printpublikationen nicht mehr, die in Gestalt der Fanzine-Herausgeber:innen für die ältere Fanfiction, die sich überwiegend mit Science-Fiction befasste, noch maßgeblich waren (ebd., S. 9). Mit der Nutzung des Internets ist eine ganz neue Generation von Fans hervorgetreten, deren Kommunikation, Habitus und Produktivität noch intensiv erforscht werden müssen. Als sicher gilt, dass Geschlecht nach wie vor eine wichtige Rolle spielt und dass das Schreiben und Lesen von Fanfiction vor allem junge Leute anspricht (ebd., S. 6, 22).

4 Deskriptive Statistik

Die Auswertung der Metadaten zu unserem Fanfiction-Korpus 2020 hat eine gegenderte Autorschaft bestätigt. Der Anteil von Texten von Autorinnen ist zehnmal höher als jener der Texte von Autoren (17.136/1.687). Auch die Zahl derjenigen Texte, bei denen uns die Angabe zum Geschlecht nicht vorliegt (7.187), übertrifft die der als männlich deklarierten Urheber um mehr als das Vierfache. 1,4 Prozent der Texte stammen von Autor:innen, die ihr Geschlecht als divers bezeichnen.

Bei den Altersangaben ist unser Datensatz noch deutlich unvollständiger, weniger als die Hälfte der 11.630 Autor:innen hat ihr Alter genannt. Wir sehen aus den vorhandenen Daten, dass Fanfiction zwar durchaus vom Jugend- bis zum Rentenalter verfasst wird, zweifellos aber eine Domäne der Jugend darstellt. Am Ende des Teenageralters steigt die Alterskurve rasant an, um jenseits der 30 ebenso stark abzufallen. Die durchschnittliche Fanfiction-Autorin in unserem Korpus ist Mitte Zwanzig, und mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit gehören ihre Jugendlektüren zu den mit Vorliebe bearbeiteten Gegenständen. Das wäre jedenfalls eine Erklärung für die überwältigende Dominanz von Harry Potter-Fanfiction (s. Abb. 1), mit der unser deutschsprachiges Korpus bestätigt, was die Forschung als internationalen Trend ausgemacht hat.

Abb. 1
figure 1

Die 25 populärsten Fandoms auf Fanfiktion.de (2020), gemessen an der Anzahl der dort publizierten Texte. Unter ›Harry Potter‹ werden neben Fanfiction zu den Romanen auch solche zu abgeleiteten Formaten wie ›Phantastische Tierwesen‹ gezählt, die aber nur einen sehr kleinen Teil ausmachen

Um Harry Potter entstand das erste »›threshold fandom‹ of the internet era« (Tosenberger 2014, S. 9), in dem im großen Stil transformativ gearbeitet wurde. Als früher Riese der Partizipation war dieses Fandom nicht nur wesentlich für das spannungsreiche Aufeinandertreffen analog sozialisierter Fans mit der digitalen Jugend (ebd. zitiert: Jenkins 2006, S. 170–79). Seine schiere Größe machte etwas beobachtbar, das für die kommunikative Praxis in den Sozialen Netzwerken heute als wesentlich gilt: Es gibt kein noch so spezielles Faninteresse, das nicht geteilt werden könnte (ebd.). Auf großen Portalen bilden sich viele kleine kommunikative Gemeinschaften, wie sie bei Fanfiktion.de die einzelnen Fandoms darstellen. Harry Potter ist hier nur eine von vielen Welten, und auf den ersten Blick mutet es überraschend an, wie dominant der strebsame Zauberer 2020, 13 Jahre nach Erscheinen des letzten Bandes und fast zehn Jahre nach der letzten Verfilmung, in der deutschsprachigen Fanfiction immer noch ist. Dass J.K. Rowling die Fanfiction zu ihrem Werk von Beginn an unterstützt, durch eigene Beiträge vorangetrieben und mit gezielten ›Indiskretionen‹ zu zentralen Charakteren befeuert hat,Footnote 1 erklärt das ebenso wie die Tatsache, dass sie auch die kanonische Potter-Fiktion immer noch weiter zu einem multimedialen Ensemble ausbaut.

Unser Erkenntnisinteresse richtete sich vor diesem Hintergrund auf die Frage, wie sich die herausragende Produktivität im Potter-Fandom zur literarischen Kommunikation in unserem Portal insgesamt verhält. Soziale Netzwerke leben auf spezielle Weise von der notorisch knappen Ressource Aufmerksamkeit. Grundsätzlich lässt sich das von sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen sagen, von den Medien sowieso und vom Buchmarkt und Kulturbetrieb ganz besonders. Charakteristisch für Soziale Netzwerke ist, wie umfassend, direkt und unmittelbar hier die Aufmerksamkeitsverteilung sowohl im einzelnen peer-to-peer als auch makroperspektivisch kenntlich wird. Die Sozialen Netzwerke der Literatur haben diesbezüglich viel mit Facebook, Twitter oder Instagram gemein, Empfehlungen und Kommentare spielen eine Schlüsselrolle.

Die Anzahl der Reviews ist ein einleuchtendes Maß für die Aufmerksamkeit, die ein Beitrag erhält. Während bloße Empfehlungen die Kommunikationsgewohnheiten Sozialer Netzwerke in den Literaturbereich übertragen, erinnern Reviews an die klassische Form der Literaturkritik, die den Topos vom ›viel besprochenen‹ Text geprägt hat. Nach unseren Analysen gleicht die Verteilung der über 500.000 Reviews auf die knapp 22.000 Korpustexte einer negativen Binomialverteilung: Eine steil abfallende Kurve zeigt, dass einige wenige Texte breit rezipiert werden, während sehr viele andere nur wenige oder gar keine Reviews erhalten. Das gibt der Frage, wer wieviel Aufmerksamkeit erhält und ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe dabei eine Rolle spielt, zusätzliches Gewicht.

Angesichts der überwältigenden Überzahl von Autorinnen auf Fanfiktion.de waren wir auf die Aufmerksamkeitsverteilung nach der Variable Geschlecht besonders gespannt. Abb. 2 zeigt oben für das gesamte Forum, dass sich die Anzahl der Reviews in den nach den Angaben zum Geschlecht gebildeten Subsets nur geringfügig unterscheidet. Mit Signifikanztests (Kruskal-Wallis, Pairwise Wilcoxon) haben wir überprüft, ob diese Unterschiede zwischen den Gruppen dennoch statistisch signifikant sind und zwischen welchen Gruppen solche Differenzen bestehen. Im Ergebnis erwiesen sich für das Gesamtforum ausschließlich die Unterschiede, die Autorinnen und Autoren jeweils im Vergleich mit Autor:innen ohne Geschlechtsangabe oder mit nicht-binärer Geschlechtsidentität aufwiesen, als signifikant.

Abb. 2
figure 2

Reviews nach Geschlecht auf Fanfiktion.de, oben für das gesamte Forum, unten nur für das Harry Potter-Fandom: Der großen Bandbreite der Daten wegen wird eine logarithmische Skalierung verwendet. 0 = N.A. bei Geschlecht

Anders verhalten sich die Gruppen-Unterschiede, wenn wir die in der unteren Hälfte von Abb. 2 dargestellten Werte nur für das Harry Potter-Fandom betrachten. In absoluten Zahlen schreiben Frauen hier nicht nur zehn-, sondern dreizehnmal so viele Texte wie ihre männlichen Mitautoren, was deren höheren Medianwert von Reviews pro Autor:in umso eklatanter erscheinen lässt (Autorinnen-Median 4 (SD 207,7), Autoren-Median 7 (SD 102,2)). Die hohen Standardabweichungen machen indes deutlich, wie stark die Werte hier streuen, weshalb Mittelwerte immer trügerisch sein können. Doch in der Tat ist die Aufmerksamkeitsdifferenz für die Arbeiten von Frauen und Männern in diesem größten Forum von Fanfiktion.de anders als auf der Gesamtebene auch statistisch relevant (p = 0,027). Das gilt für die Unterschiede zwischen der Gesamtheit des Harry Potter-Fandoms und dem Gesamtforum in der Variable Geschlecht generell. Autor:innen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität sind bei den Harry Potter-Fans des Forums unter‑, Autor:innen ohne Geschlechtsangabe überrepräsentiert (Chi-Square-Test p < 0,05). Wer sein Geschlecht nicht angibt, erhält signifikant weniger Reviews als alle anderen Autorengruppen.

Zusätzliche Aussagekraft erhält der sich abzeichnende Trend, wonach die Verteilung der Aufmerksamkeit nach dem Geschlecht der Autorschaft im Harry Potter-Fandom besonders stark gegendert ist, wenn wir einen weiteren Zusammenhang hinzuziehen, der sich den Metadaten unseres Fanfiction-Korpus entnehmen lässt: Je länger eine Geschichte ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie viel von der Aufmerksamkeit erhält, die sich in Reviews Ausdruck verschafft (s. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Textlänge (Wordcount) und Review-Anzahl auf Fanfiktion.de

Dass längere Texte mit vielen Kapiteln mehr Reviews erhalten als beispielsweise ein sogenannter One Shot mit nur einem einzigen Kapitel, ist grundsätzlich nicht erstaunlich und entspricht der Aufmerksamkeitsökonomie von Online-Publikationen, die vom Weiterklicken profitieren. Weniger vorhersehbar ist dagegen, dass es auch bei der Textlänge genderspezische Unterschiede zu geben scheint, die sich im Harry Potter-Fandom deutlich stärker ausprägen als im Gesamtforum.

Insgesamt liegt die durchschnittliche Textlänge bei Männern nur geringfügig über der von Frauen; die Unterschiede sind nicht signifikant. Bei Harry Potter dagegen ist die Differenz signifikant (p = 0,011). Autoren schreiben hier im Vergleich zu Texten aus anderen Fandoms signifikant längere Texte (Median andere 7.784 Wörter (SD = 65547,76), Harry Potter-Median 9.786 (SD = 90251,19); p = 0,03). Bei den Autorinnen sind die Harry Potter-Texte dagegen signifikant kürzer als in den anderen Fandoms (Median andere 8.090 (SD = 63055,57), Harry Potter-Median 6.594 (SD = 94753,37); p = 0,0007) (s. Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Durchschnittliche Textlänge (Wordcount) nach Geschlecht auf Fanfiktion.de, oben für das gesamte Forum, unten nur für das Harry Potter-Fandom. 0 = N.A. bei Geschlecht

Versucht man, diese Beobachtung zu interpretieren, stellt sich schnell ein bestimmtes Narrativ ein: Eine kleine Minderheit, nämlich die männlichen Autoren, konzentriert ihre Produktivität dort, wo Prestige zu erwarten ist, im mit Abstand größten und bekanntesten Fandom auf Fanfiktion.de. Sie fällt dort als diejenige Gruppe auf, die sich nicht kurzfasst, und erhält dafür überproportional viel Aufmerksamkeit. Ähnliches lässt sich allerdings auch von der noch deutlich kleineren Minderheit der Autor:innen mit diverser Geschlechtsidentität sagen, bei der im Potter-Fandom im Vergleich zu allen anderen Fandoms ein kräftiger Anstieg der Textlänge von einem Median von 4.824 auf 8.709 Wörter zu verzeichnen ist (s. Abb. 4) und sich die Anzahl der Reviews verdoppelt (Median: 2 → 4).

Die deskriptive Statistik beschließen wir mit dem eingangs erwähnten Einfluss der Covid-19-Pandemie auf die Produktivität innerhalb von Fanfiktion.de. Eine Pandemie stellt in vielfacher Hinsicht eine soziale Ausnahmesituation dar, die im sogenannten ›Lockdown‹, wenn das gesellschaftliche Leben weitgehend zum Erliegen kommt, ihre extreme Form erreicht. Die gravierenden Veränderungen im Mediennutzungsverhalten unter diesen Bedingungen sind bekannt: Videokonferenzen wurde binnen kurzer Frist zur Selbstverständlichkeit, Online-Händler konnten die Nachfrage kaum noch bedienen und Streaming-Dienste verkauften Abonnements auf Rekordniveau. Da erscheint es ebenso erwartbar, dass auch die populärste Form literarischer Produktivität im Internet stark zunimmt, was wir in der Tat auf Fanfiktion.de beobachten konnten (s. Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Im Laufe des Jahres 2020 neu geschriebene Geschichten auf Fanfiktion.de, oben insgesamt, unten nach Geschlecht. Die gestrichelten Linien markieren den Beginn der beiden in der Bundesrepublik verhängten Lockdowns

Wir sehen in beiden Lockdown-Phasen des Jahres 2020 jeweils einen deutlichen Anstieg bei den neu geschriebenen Geschichten. Angesichts der sprunghaft gewachsenen Konkurrenz durch andere Online-Aktivitäten ist das womöglich weniger vorhersehbar gewesen, als es im Nachhinein scheint. Schauen wir uns genauer an, wie sich die Mehrproduktion verteilt, wird deutlich, dass die unterschiedlichen Geschlechter-Gruppen proportional beitragen. Das heißt, auch im Lockdown sind Autorinnen mit Abstand die aktivsten. An dieser Normalität hat die Pandemie offenbar nichts geändert.

5 Wer kommentiert wen? – Netzwerkmodelle

Der Begriff des Sozialen Netzwerks gehört in der Gegenwartssprache zu den Metaphern, die so stark konventionalisiert sind, dass sie in ihrem Gebrauchskontext nicht mehr auffallen (Friedrich und Biemann 2016). Was sie bezeichnen, vernetzte Kommunikation und die Zugehörigkeit zu kleinen Gruppen innerhalb eines großen Ganzen, bestimmt unseren Alltag mit großer Selbstverständlichkeit. Als sozialwissenschaftliche Methode reicht die Netzwerkanalyse bis weit vor die Zeit der zivilen Nutzung des Internets zurück. Seit Beginn der 1970er-Jahre gaben zuerst die Arbeiten von Mark Granovetter (Granovetter 1973; 1983) Impulse, aus denen inzwischen ein eigenständiges Wissenschaftsfeld zwischen Computer Science und Soziologie entstanden ist (Brandes et al. 2013; Wasserman/Faust 1994; Adamic/Glance 2005; Barnett/Benefield 2017; Bond/Sweitzer 2018; Himelboim et al. 2016). Die Grundfrage, um die es dabei geht, lässt sich jedoch bis in die Entstehungszeit der Soziologie im 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als mit der Typologie von Gemeinschaft und Gesellschaft auch die Frage nach einem vermittelnden Dritten entstand, das erklären soll, wie und nach welchen Kriterien sich innerhalb moderner Massengesellschaften gemeinschaftliche Gruppen bilden (Nick et al. 2013; Simmel 1908, S. 93-111).

Für die Untersuchung Sozialer Netzwerke ist Netzwerkanalyse daher nicht nur dem Namen nach die richtige Methode, sondern weil mit ihrer Hilfe Modelle erstellt werden können, aus denen hervorgeht, wie unter der theoretischen Möglichkeitsbedingung, dass alle mit allen vernetzt sind, praktisch ganz bestimmte Gruppen entstehen, die sich voneinander und zugleich intern unterscheiden, etwa weil einige Akteur:innen zentraler sind als andere. Für die Literaturgeschichte zählt seit jeher beides, die Unterscheidung von Gruppen und ihre Binnenstruktur. Was Fanfiction-Foren als Soziale Netzwerke der Literatur medientechnisch von Vorgängerinnen der literarischen Kommunikation unterscheidet, ist die Unmittelbarkeit, in der Autorschaft, Text und Rezeption aneinander gekoppelt sind und gruppenbildend wirken.

Ausschlaggebend dafür ist die engmaschige Feedbackkultur in den Communitys, die auch die Basis darstellt, um die literarische Kommunikation entsprechend zu modellieren. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf das mit Abstand größte Fandom auf Fanfiktion.de, das Harry Potter gewidmet ist. Das Netzwerkmodell in Abb. 6 wurde auf Grundlage der Frage ›Wer kommentiert wen?‹ erstellt. Die Knoten (nodes) repräsentieren die Autor:innen, die Verbindung (Kanten / edges) die Kommentare, wobei die Richtung anzeigt, wer von wem eine Review erhält. Allerdings sind die gerichteten Pfeile in dem Modell nur schwer zu erkennen, weil so viele Knoten vorhanden sind, die sie verdecken. Wir haben alle Autor:innen berücksichtigt, die mindestens einen Kommentar erhalten haben. Der entstandene ›Hairball‹ hat noch nicht die Struktur, die wir von einem Netzwerkmodell erwarten, liefert aber durchaus schon Informationen. Die Knoten wurden nach der Angabe zum Geschlecht der Autor:innen eingefärbt, die im Vergleich zur deskriptiven Statistik noch einmal deutlich differenziert worden ist. Blau für Autor:innen, die ihr Konto auf Fanfiktion.de während der Korpuserstellung gelöscht haben, fällt der geringen Anzahl (5) wegen nicht ins Gewicht. Bedeutsam aber erscheint die offensichtlich größte Gruppe der fliederfarbenen Knoten. Dabei handelt es sich um Nutzer:innen der Plattform, die in unserem Untersuchungszeitraum 2020 weder eine neue Geschichte noch eine Bearbeitung veröffentlicht haben, sondern nur durch Kommentierungen als aktive Leser:innen in Erscheinung traten. Weil im Scraping ausschließlich Metadaten von Autor:innen erfasst wurden, sind diese Profile ohne Angaben (NA). Eine »0« (grün) bedeutet dagegen, dass eine Autor:in dezidiert die Angabe zu Geschlecht offengelassen hat. In der deskriptiven Statistik haben wir diesen wichtigen Unterschied vernachlässigt und beide Gruppen unter »0« zusammengefasst. Mit den Netzwerkmodellen wollen wir nun weiter differenzieren.

Abb. 6
figure 6

Kommentar-Netzwerk des Harry Potter-Fandoms auf Fanfiktion.de 2020. Stärke und Graustufe der Kanten nach Anzahl der Kommentare (Reviews) skaliert

Die Verbindungen wurden in Stärke und Graustufe nach der Anzahl der Kommentare skaliert. Wir sehen im Inneren des Hairballs sehr dunkle Verbindungen. Das Zentrum bilden diejenigen Autor:innen, die besonders viel kommentiert werden. Außen sind dagegen die Verbindungen deutlich heller, und in diesem peripheren Bereich sind auch die Knoten der im Untersuchungszeitraum ausschließlich kommentierenden Nutzer:innen, sodass im Ganzen ein eher klassisches Bild literarischer Kommunikation entsteht, das zwischen Autor- und Leserschaft unterscheidet.

Damit endet allerdings die Aussagekraft unseres Modells in dieser Version. Wer die meistkommentierten Autor:innen sind und wie durch unterschiedlich starke Aufmerksamkeit Gruppen entstehen, können wir so nicht erkennen. Um diese genaueren Strukturen herauszuarbeiten, muss das Modell reduziert werden. Ein einfaches Mittel dafür ist, nach der Aufmerksamkeitsverteilung zwischen wichtigen und weniger wichtigen Akteur:innen zu unterscheiden, indem wir einen Schwellenwert festlegen.

Abb. 7 zeigt die Struktur unseres Modells, wenn wir nur Autor:innen berücksichtigen, die mindestens 30 Reviews erhalten haben. Wir sehen dann, dass auf diesem hohen Aufmerksamkeitsniveau einige wenige Knoten, bei denen sehr viele Verbindungen einlaufen, besonders zentral sind. Unser Schwellenwert stellt die Autor:innen mit der höchsten Indegree-Zentralität heraus: Stars, die massenhaft kommentiert werden, aber nicht mehr als aktive Leser:innen anderer auftreten. Man sieht das gut an der Spitzenreiterin, einer Autorin, die unter dem Pseudonym »Queenie« schreibt und durch ein orangenes Label hervorgehoben ist. Der Knoten dieser Autorin fällt auch durch seine sehr dunklen Verbindungen auf, die ihrem großen Gewicht nach so skaliert worden sind, hinter denen also eine hohe Review-Zahl steht. Der Spitzenwert, der hier erreicht wird, ist der höchste im ganzen Fandom. Eine Leserin hat insgesamt 564 Reviews zu Queenie verfasst, wobei wir davon ausgehen können, dass es sich dabei in erheblichem Umfang um Kurzkommentare oder einfach nur aufmunternde Worte handelt, sogenannte shallow positives (Evans et al. 2017, S. 264).

Abb. 7
figure 7

Gefiltertes Kommentar-Netzwerk des Harry Potter-Fandoms auf Fanfiktion.de 2020: Nur Autor:innen, die mindestens 30 Kommentare (Reviews) erhalten haben. Stärke und Graustufe der Kanten nach Anzahl der Kommentare skaliert

Tatsächlich gehört Queenie zu den prominenten Star-Autor:innen, die längst mit individuellen Online-Auftritten agieren. Ihre Harry Potter-Fanfiction When Hermione fights sticht bereits in Abb. 3 ganz rechts oben als einsamer Ausreißer in der Textlänge/Review-Relation hervor. Die Geschichte, der eine dunklere, ambivalentere Version der weiblichen Hauptfigur Hermione Granger zugrunde liegt, hat mit einer Länge von über 4 Mio. Wörtern bis heute fast 10.000 Reviews erhalten. Knapp 10 Jahre (2010-2020) hat Queenie daran gearbeitet – am Ende mit einem Team von 21 Mit-Autor:innen. Inzwischen gibt es eigene Hörbücher, E‑Books und gedruckte Bücher. Übersetzungen ins Englische und Russische liegen vor. When Hermione fights hat ein selbständiges Forum mit über 1.000 Mitgliedern, es finden regelmäßige Fantreffen und Wettbewerbe statt.

Auf der Ebene der Star-Autor:innen, die das Schwellenwert-Modell über die Anzahl der Reviews herausarbeitet, sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beobachten. Queenie wird von einer überwältigenden Mehrheit von Nutzer:innen kommentiert, die im Untersuchungszeitraum nur als Leser:innen in Erscheinung getreten sind (fliederfarbene Knoten). Bei anderen Knoten mit vielen eingehenden Verbindungen ist das Verhältnis von Autor- und Leser:innen dagegen gemischter. Ein genauerer Blick auf die Daten des Modells führt jedoch vor allem zu der Erkenntnis, dass die Spitze der Aufmerksamkeit im Fandom exklusiv weiblich ist. Von den ersten 20 Rängen der Indegree-Zentralität werden 19 von Autorinnen besetzt, einer (Platz 17) von einer Autor:in, die die Angabe zum Geschlecht offen gelassen hat. Der erste Autor kommt erst auf Position 28.

Wir müssen daher das bei der Auswertung der deskriptiven Statistik angedeutete Narrativ auf jeden Fall differenzieren. Mit Blick auf die Durchschnittswerte ist korrekt zu sagen, dass eine kleine Minderheit männlicher Autoren überproportional viel Aufmerksamkeit in Form von Kommentaren erhält. Ebenso richtig ist aber, dass Frauen, schaut man auf die Spitzenwerte, am meisten kommentiert werden.

Nicht nur, weil Durchschnittswerte leicht trügerisch sein können, wollten wir die mittlere Ebene der beobachtbaren Kommunikation noch einmal anders ansteuern. Unser Schwellenwertmodell hat dank seines hohen Aufmerksamkeitsniveaus von mindestens 30 Reviews eine klare Struktur, hebt aber dadurch vor allem sternförmige Gruppen hervor, die um einzelne, vielkommentierte Stars zentriert sind. Die Indegree-Zentralität gibt im Falle unseres Datensatzes an, wie viele Kommentare ein:e Autor:in im Vergleich zu den anderen bekommt. Um die intermediäre Ebene literarischer Kommunikation zu erreichen, müssen wir eine andere Form von Zentralität operationalisieren. Die Betweenness-Zentralität bietet sich dafür an. Wie der Name sagt, erreicht ein Knoten hier dann einen hohen Wert, wenn er häufig zwischen anderen liegt, also für viele Knoten derjenige ist, an dem kein Weg vorbei führt, um auf kürzestem Weg von A nach B zu gelangen. Geht es um Abläufe in einer Organisation, dann wird ein solcher Knoten häufig keine zentrale Figur sein, die in der Hierarchie ganz oben steht, sondern eher eine Mitarbeiterin, über deren Schreibtisch vieles geht. Bei unseren Daten können wir davon ausgehen, dass diese Knoten Nutzer:innen repräsentieren, die sowohl schreiben als auch kommentieren und derart intensiv im Kontakt mit anderen stehen (Abb. 8).

Abb. 8
figure 8

Kommentar-Netzwerk des Harry Potter-Fandoms auf Fanfiktion.de 2020 nach der Betweenness-Zentralität. Minimalwerte (0) gelöscht. Stärke und Graustufe der Kanten nach Anzahl der Kommentare skaliert

Wir haben für dieses Netzwerk nur Nutzer:innen berücksichtigt, deren Betweenness-Zentralität nicht Null ist. Das Ergebnis reduziert die Knoten gegenüber der Ausgangsmenge im Hairball (13.803) ähnlich stark wie das Schwellenwertmodell (531), nämlich auf 735, lässt aber deutlich mehr Beziehungen im Modell, nämlich 3.132 anstatt nur 665 Kanten. Trotz der vergleichsweise vielen Verbindungen arbeiten wir eine klare Struktur heraus, wobei als größter Unterschied zu den beiden anderen Varianten der vollständige Wegfall der anfänglich (s. Abb. 6) dominanten fliederfarbenen Knoten auffällt, die die Nutzer:innen repräsentieren, welche im Untersuchungszeitraum ausschließlich als kommentierende Leser:innen aktiv waren. Was bleibt sind also tatsächlich nur die Autor:innen, die selbst schreiben und andere kommentieren. So, wie die Nur-Lesenden wegfallen, sind auch die exklusiv Schreibenden wie die Star-Autorin des Schwellenwertmodells Queenie hier nicht mit dabei.Footnote 2

Auffällig ist die klare Gliederung in ein sehr dichtes Zentrum und eine Peripherie, wo deutlich weniger Knoten deutlich weniger starke Kommentar-Beziehungen haben. Die breiten dunklen Kanten konzentrieren sich im Zentrum. Im Außenbereich sind sie, von Ausnahmen abgesehen, emittierte Kanten, die in das Zentrum weisen, währen die peripheren Knoten in der Regel eher schmale Kanten absorbieren. Hier finden wir demnach Autor:innen, die weniger häufig kommentiert werden, was jedoch nicht bedeutet, dass die zentralen Knoten ausschließlich Autor:innen mit vielen Reviews repräsentieren. Viele der starken Kanten bleiben innerhalb des Zentrums, wo es also auch Autor:innen geben muss, die sehr viel kommentieren.

Um diesen Bereich, der in dem Betweenness-Modell mit bloßem Auge nicht weiter differenziert werden kann, noch näher zu betrachten, haben wir dieses Modell weiter gefiltert, wobei wir dafür nicht noch einmal einen Schwellenwert festgelegt haben, sondern algorithmisch vorgegangen sind. Innerhalb des Netzwerkanalyseprogramms »Visone« (Brandes/Wagner 2004), mit dem wir unsere Modelle berechnet haben, gibt es die Möglichkeit, Netzwerke mit dem Simmelian-Backbone-Algorithmus (Nick et al. 2013) so zu transformieren, dass lokale Ähnlichkeitsgruppen herausgearbeitet werden. Die in der Benennung des Algorithmus kenntlichen intellektuellen Grundlagen verweisen auf Georg Simmels Anstrengungen, ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹ als Typen sozialer Verbundenheit zu untersuchen, die sich in der ausdifferenzierten Massengesellschaft gegenseitig durchdringen. In dem Maße, wie dem modernen Individuum die hergebrachten gemeinschaftlichen Bindungskräfte schwinden, erscheint es zunehmend eingebunden in ein Netz sozialer Wechselwirkungen, das Gruppenbildungsprozesse vorantreibt. Von hier aus ist es nur ein Schritt, um Netzwerke als ein vermittelndes Drittes zu begreifen, das innerhalb von Gesellschaft Gemeinschaften entstehen lässt.

Um diese allgemeine Vorstellung zu operationalisieren, konnten die Schöpfer:innen des Simmelian Backbone auf eine Theorie Simmels zurückgreifen, die auf der Mikroebene ansetzt, aber generisch und daher algorithmisch umzusetzen ist. Dabei geht es darum, dass soziale Zweierbeziehungen, sogenannte Dyaden, häufig erst im Hinblick auf einen Dritten verständlich werden und sich danach unterscheiden lassen, ob und wie sie zu Dritten stehen (Nick et al. 2013, S. 526). Wenn ein Individuum A mit B und C befreundet ist, dann gibt es eine Wahrscheinlichkeit für eine Freundschaft auch zwischen B und C. Wenn wir uns die Drei als Knoten und ihre Beziehungen als Verbindungen vorstellen, dann bilden sie ein Dreieck. Der Algorithmus bemisst nun die gruppenbildende Beziehungsstärke von Dyaden danach, wie oft sie in Dreiecke eingebettet sind, das heißt wie viele Dreiecke zwei Knoten gemeinsam haben. Der auf diese Weise ermittelte Wert (simmelian strength) kann dann als algorithmische Bedingung verwendet werden, um paarweise zu prüfen, wie stark eine Zweierbeziehung eingebettet ist. Jedes einzelne Individuum lässt sich als ein Vektor seiner Beziehungsstärken darstellen. Auf Rang eins steht jeweils die Person, mit der man die meisten Dreiecke teilt, auf zwei die mit den zweitmeisten usw. Geprüft wird, wie groß die Überlappung zwischen den Beziehungsstärkefavoriten der beiden Verglichenen ist. Für unser Modell haben wir den Algorithmus so eingestellt, dass dabei jeweils die sechs Top-Ränge berücksichtigt werden und geprüft wird, ob drei davon gemeinsam sind. Wird diese Bedingung erfüllt, bleibt die betreffende Dyade erhalten, andernfalls wird sie herausgefiltert. Auf diese Weise reduziert der Simmelian Backbone das Modell auf Beziehungsgruppen mit hoher Gemeinschaftlichkeit (Redundanz), deren Verbindungen das ›Rückgrat‹ des Netzwerks bilden.

In Abb. 9 sehen wir oben das Modell nach Anwendung des Simmelian Backbone. Das Ergebnis hat uns insofern überrascht, als sich hier anstelle einzelner Gruppen, wie sie der Algorithmus für gewöhnlich herausfiltert, vor allem die Zentralität eines einzelnen Knotens ins Auge fällt. ›Nessi00‹ ist offenbar eine Autorin, die sehr viele Reviews zu den Werken sehr vieler anderer Autor:innen verfasst hat. Wie sehr sie dadurch das Modell dominiert, sehen wir im Vergleich zum unteren Netzwerk in Abb. 9, das zeigt, wie der Backbone aussieht, wenn er ohne Nessi00 berechnet wird. Wir sehen dann drei Komponenten mit diversen lokalen Gruppen. Im Vergleich beider Netzwerke kann man sich fragen, wo im vollständigen Backbone-Modell eigentlich die Dreiecke geblieben sind, über die der Algorithmus die Gruppen findet. An den Rändern des Modells gibt es einige wenige, strukturell dominant ist aber das Zentrum um die einzelne Emittentin.

Abb. 9
figure 9

Oben: Simmelian-Backbone des Kommentar-Netzwerkes des Harry Potter-Fandoms auf Fanfiktion.de 2020 nach der Betweenness-Zentralität (s. Abb. 8). Unten: Gleiches Modell, ohne den Knoten »Nessi00« berechnet. Stärke und Graustufe der Kanten nach Anzahl der Kommentare skaliert

In Abb. 10 haben wir zwei der Autorinnen, die Nessi00 besonders viel kommentiert hat, ›AmortentiaKings‹ und ›LunaLovedog‹, noch einmal mit ihrem individuellen Beziehungsnetzwerk aus der Betweenness-Zentralität dargestellt, aus der das Backbone-Modell berechnet worden ist (s. Abb. 8). Anhand dessen können wir nachvollziehen, warum die Verbindung dieser beiden Knoten zu Nessi00 im Backbone erhalten geblieben ist. Dass sie der algorithmischen Bedingung, drei von sechs der beziehungsstärksten Verbindungen müssen gemeinsam sein, genügen, sehen wir sehr schön an den Dreiecken, die sie mit Nessi00 bilden.

Abb. 10
figure 10

Sämtliche Verbindungen des Kommentar-Netzwerkes Fanfiktion.de 2020 nach der Betweenness-Zentralität (Abb. 8) für die Knoten ›AmortentiaKings‹ (oben) und ›LunaLovedog‹ (unten). Stärke und Graustufe der Kanten nach Anzahl der Kommentare skaliert

Diese Teilnetzwerke geben uns zugleich Anhaltspunkte zur Kommentar-Strategie dieser Autorin. Sie hat durchaus nicht wahllos kommentiert, sondern sich gezielt Autor:innen zugewandt, die bereits viel Aufmerksamkeit erhalten hatten und gut vernetzt waren. Fanfiktion.de bietet ein paratextuelles Umfeld, in dem Popularität auf allen systematischen und thematischen Ebenen differenziert erfasst werden kann; auf einen Blick oder mit wenigen Klicks. Von der Startseite aus sieht man sofort, welche Rubriken und Fandoms besonders stark frequentiert sind. Jeder einzelne Text und jedes Autor:innen-Profil sind mit Angaben zur Anzahl der Reviews und Empfehlungen versehen. Die Profile enthalten außerdem Listen mit favorisierten Texten anderer Autor:innen, anhand welcher das Portal für seine Nutzer:innen algorithmisch erstellte Leseempfehlungen gibt.

Schaut man sich die von Nessi00 verfassten Reviews näher an, wird deutlich, dass es sich dabei ausschließlich um shallow positives handelt, kurze aufmunternde Feedbacks, die sich in kurzer Zeit in großer Zahl verfassen lassen. Die Autorin verwendet dabei mit leichter Varianz Formeln wie ›Ein schönes Kapitel. Bin gespannt, wie es weitergeht.‹ Die Reaktionen der so Kommentierten auf dieses Vorgehen sind überwiegend positiv und meist eine Art von Danksagung. Es gibt aber auch Einzelstimmen, die mehr oder minder explizite Skepsis verraten. Gefragt wird, ob Nessi00 denn überhaupt etwas nicht gefalle, mehreren Autor:innen fällt auf, dass sie sehr rasch, nachdem eine Geschichte online geht, schon kommentiert und dies auch zu ungewöhnlichen Zeiten. Und mindestens einmal wird sie auch mit dem Vorwurf konfrontiert, den kommentierten Text gar nicht gelesen zu haben. Im Diskussionsforum von Fanfiktion.de ist Nessi00 Teil von Threads, in denen sich die Nutzer:innen wechselseitig mit Komplimenten bedenken. Hier wird sie ihrer vielen, ausschließlich positiven Kommentare wegen ausdrücklich gelobt und als Vorbild bezeichnet. Ein:e Nutzer:in hält in der Diktion des für den Thread stilbildenden panegyrischen Holismus fest: »Nessi00 schreibt ganz viele liebe Reviews [emoji] und scheint auch generell ein super netter und offener Mensch zu sein.«

6 Negative Emotionen – positive Kritik

Nessi00 hat ihren Account inzwischen gelöscht und ist nicht mehr auf Fanfiktion.de aktiv. Von ihren neun eigenen Texten hat nur einer, ein Prominenten-Crossover mit Thomas Gottschalk und Dieter Bohlen, eine dreistellige Anzahl von Kommentaren erreicht. Auf sich aufmerksam gemacht hat diese Autorin vor allem als kommentierende Leserin, wie unser Backbone-Modell in Abb. 9 zeigt. Das Portal unterstützt das von ihr praktizierte hochfrequente Kommentieren seit 2019 durch ein Anreizsystem, innerhalb dessen sich die Nutzer:innen für aktives Verhalten virtuelle Belohnungen verdienen können. Was den Traffic auf der Seite hochhalten soll, kommt einem Autorschaftstypus entgegen, der sich komplementär zu den Star-Autor:innen verhält, vergleichsweise wenig selbst produziert, aber in der Kommentarfunktion herausragt.

Beobachtbar wird dadurch etwas, das für die literarische Kommunikation von Fanfiction von grundlegender struktureller Bedeutung ist. Brit Kelley wertet in ihrer Studie über die besondere Bedeutung von Emotion auf Fanfiction-Portalen Einzelstimmen einer kleinen Umfrage (N=54) aus, die sich mit Reaktionen auf Texte, die gemocht oder nicht gemocht werden, beschäftigt (Kelley 2021, S. 58–62). Dabei wird herausgestellt, dass negative Kritik an den Werken anderer für Fans tabu ist. Kelley führt die folgende Interview-Antwort eines Fans als besonders einschlägig an:

»Never leave negative reviews. That is poor fandom ethics — If you don’t like something, let it be. Someone else might still like it, and why would you upset the writer by saying you didn’t?!« (Ebd., S. 61)

Im Glossar von Fanfiktion.de heißt es dagegen unter dem Eintrag ›Don’t like don’t read‹, dies sei eine Haltung, die man toleriere, aber ausdrücklich nicht unterstütze, denn wer etwas veröffentliche, müsse immer mit Kritik rechnen. Es gibt eine ganze Reihe von Tutorials, die sowohl das Verfassen von Reviews und Kommentaren als auch den Umgang mit kritischen Reaktionen (»Kritikfähigkeit«) schulen. Während man nach Lektüre der Studie von Kelley den Eindruck gewinnen kann, eine Autorin wie Nessi00 sei die extreme, aber durchaus folgerichtige Form der Reduktion von Kritik auf eine Art positive Werkbegleitung, erscheinen die Rahmenbedingungen von Fanfiktion.de in deutlichem Kontrast zu einer solchen Praxis. Gleichwohl sind Verrisse auch dort nicht erlaubt.

Wir wollten vor diesem Hintergrund natürlich genauer wissen, wie sich positive und negative Kritik in unserem Korpus verhalten. Von einer besonderen Emotionalität von Fanfiction auszugehen, ist herrschende Forschungsmeinung (Jenkins 1992; Barnes 2015; Kelley 2016; DeLuca 2018; Kelley 2021), die sich auf die Definition des Fans als obsessiven (›fanatischen‹) Anhänger und Begleiter einer Sache stützen kann. So, wie Fußballfans mit ihrem Verein Höhen und Tiefen erleben, teilen Leser:innen von Fanfiction die Emotionen ihrer Lieblingsgeschichten. Dies ist jedenfalls das Ergebnis der Studie von Pianzola et al. (Pianzola/Rebora/Lauer 2020), die anhand von Texten auf der Plattform Wattpad untersucht hat, ob sich Reviews zu klassischer Literatur von solchen zu Fanfiction unterscheiden. Die Autoren verglichen beide über eine Sentiment-Analyse und kamen zu dem Schluss, dass Reviews zu Fanfiction emotional viel stärker mit dem kommentierten Text im Einklang stehen, als das bei klassischer Literatur der Fall sei.

Wir haben im Hinblick auf die doppelte Rekursivität von Fanfiction Emotion als Thema im Verhältnis der originalen Harry Potter-Romane zur Fanfiction untersucht. Die Potter-Romane folgen dem Lektüreeindruck nach jenem dramatischen Emotionsrhythmus, den Matthew Jockers und Jodie Archer als »Bestseller-Code« bezeichnen (Archer/Jockers 2016, S. 87–111): Die Dramaturgie lässt positive und negative Emotionen häufig unmittelbar aufeinander folgen, sodass insbesondere für den Titelhelden und seine Leser:innen ein ständiges Wechselbad der Gefühle entsteht. Mit einem Topic Modeling wollten wir zunächst testen, ob sich die starken negativen Emotionen korpusanalytisch als regelmäßig auftretendes semantisches Muster nachweisen lassen und wie sich Originale und Fanfiction diesbezüglich verhalten.

Das größte Problem bei dieser Methode der quantitativen Semantik (Blei/Ng/Jordan 2003; Blei 2012) ist die Stabilität der Modelle (Kherwa/Bansal 2019). Zwar zielt das Verfahren darauf, die Wörter eines Korpus mit einer hohen Zahl von Iterationen so lange zufällig in Gruppen aufzuteilen, bis sich bestimmte Wortgruppen (Topics) stabilisieren, bei denen dann angenommen werden kann, dass sie aus Wörtern bestehen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit gemeinsam auftreten und daher ein semantisches Feld bilden. In der Praxis erweisen sich aber die Ergebnisse dieser Durchläufe immer in größeren Teilen als recht volatil. Wir haben daher nach dem Vorbild von Yang et al. (Yang/Pan/Song 2016) sowohl für die Original-Romane als auch für die Fanfiction Kontrollmodelle erstellt und danach für jedes einzelne Topic berechnet, mit welchem anderen Topic es die größte Übereinstimmung hat. Auf diese Weise wissen wir von jedem Topic, wie stabil es ist, und vermeiden, einer statistisch nicht relevanten Beobachtung hermeneutische Erklärungslasten aufzubürden. Der besseren Vergleichbarkeit mit den Fanfiction-Texten wegen haben wir das Topic Modeling mit den Original-Romanen auf Grundlage der einzelnen Kapitel durchgeführt.

Das Traurigkeitstopic aus Abb. 11 hat mit einer Übereinstimmung in 93 von 100 Wörtern für die beiden Fanfiction-Modelle rechts der Mitte einen Spitzenwert und mit 56 bei den Original-Romanen links der Mitte immer noch einen sehr ordentlichen Wert, wenn man berücksichtigt, dass die Werte hier der geringeren Korpusgröße wegen im Schnitt geringer sind (durchschnittliche Übereinstimmung bei den Originalromanen 36 %, bei den Fanfictions 64 %). Traurigkeit ist mithin in den Romanen wie in der Fanfiction zu Harry Potter eine stabile semantische Größe. Das unterstreicht auch die Proliferation dieses Topics über die Texte beider Korpora (s. Anhang, Abb. 14), wobei im Vergleich (unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Skalierung) mehr Fanfiction-Texte als Original-Kapitel ein relativ hohes Gewicht dieses Topics aufweisen. Das Topic zu Wut (Abb. 12) formiert sich in den Original-Romanen nicht, ist aber in der Harry Potter-Fanfiction sehr stabil (82 % Wortübereinstimmung zwischen Modell und Kontrollmodell) und stark verbreitet (s. Anhang, Abb. 15).

Abb. 11
figure 11

Topics N. 31 und N. 6 (Kontrollmodell) aus dem Topic Modeling aller Kapitel sämtlicher Harry Potter-Romane in deutscher Übersetzung. Daneben Topics N. 36 und N. 66 (Kontrollmodell) aus dem Topic Modeling sämtlicher Fanfiction zu den Harry Potter-Romanen auf Fanfiktion.de 2020. Alle Modelle mit 100 Topics, 10.000 Iterationen, Chunking in Einheiten von je 500 Wörtern, stopwords removed. Der besseren Vergleichbarkeit mit der Fanfiction wegen wurden die Kapitel der Harry Potter-Romane wie Einzeltexte behandelt

Abb. 12
figure 12

Topics N. 78 und N. 46 (Kontrollmodell) aus dem Topic Modeling sämtlicher Fanfiction zu den Harry Potter-Romanen auf Fanfiktion.de 2020. Beide Modelle mit 100 Topics, 10.000 Iterationen, Chunking in Einheiten von je 500 Wörtern, stopwords removed

Bei der Auswertung aller 100 Topics, die in den Modellen jeweils errechnet wurden, ließen sich weitere semantische Felder zu negativen Emotionen im Kontext von Schmerz, Tod, Gewalt und Krankheit stabilisieren. Wenngleich solche thematischen Zuordnungen immer Interpretationen sind, bestätigte sich auch diesbezüglich der Trend, dass negative Emotionen in der Fanfiction zu Harry Potter im Vergleich zu den Originalen mit Sicherheit nicht schwächer, sondern eher stärker werden.

Angesichts dessen wollten wir in einem zweiten Schritt die These von Pianzola et al. (Pianzola/Rebora/Lauer 2020) an unserem Korpus überprüfen und untersuchen, ob sich bei Fanfiktion.de 2020 ähnlich wie bei Wattpad ein emotionaler Gleichklang zwischen gelesenem Text und Reviews feststellen lässt. Wir haben dafür das Python-Tool »TextBlob« verwendet, dass eine einfache, lexikonbasierte Sentiment-Analyse durchführt, die gleichwohl gegen die wichtigsten Unwägbarkeiten (flaws) dieser Art der Operationalisierung gewappnet scheint. Lexikonbasierte Sentiment-Analysen haben eine empirische Basis in Gestalt der Lexika, von denen sie ausgehen. TextBlob liegt das insgesamt 7.964 Wörter umfassende German Polarity Lexicon zugrunde, das wiederum aus dem SentiWordNet abgeleitet worden ist. Dabei handelt es sich um aus manuellen Annotationen stammende Sentimentwörter, denen ein Polaritätswert auf einer Skala von -1 (negatives Extrem) bis +1 (positives Extrem) zugeordnet wurde. Weil angenommen wird, dass Adjektive das Sentiment von Texten besonders bestimmen, geht die Tokenisierung auf diese und auf Zusammensetzungen mit Adjektiven zurück, wobei jeweils das größtmögliche Token gebildet wird (z. B. »ganz extrem schlechte Leistung«). Die Polarität negierter und modifizierter Adjektive wird jeweils über einen zusätzlichen Faktor gewichtet. Die Berechnung des Sentimentwertes eines Textes ergibt sich dann aus dem Quotienten der Summe aller Polaritätswerte und der Menge aller erkannten Tokens.

Wir sehen in dieser Darstellung der Ergebnisse, wie sich die Sentimentwerte der kommentierten Kapitel (y-Achse) zu jenen der zugehörigen Reviews (x-Achse) verhalten. Jeder Datenpunkt entspricht einer Review zu einem Kapitel, hat also als x‑Koordinate den Sentimentwert der Besprechung, als y‑Koordinate jenen des besprochenen Kapitels. Die Heatmap auf der rechten Seite von Abb. 13 hebt hervor, wo sich die meisten Datenpunkte konzentrieren.

Abb. 13
figure 13

Sentimentwerte Kapitel vs. Reviews für sämtliche Fanfiction zu den Harry Potter-Romanen auf Fanfiktion.de 2020. Daneben Heatmap der gleichen Werte nach Dichte der Datenpunkte

Was wir auf dieser Grundlage sehen, bestätigt den Tenor der Ergebnisse von Pianzola et al. (ebd.), verlangt aber Differenzierung. Auch auf Fanfiktion.de haben Fanfictiontext und -kommentar korrespondierende Sentimentwerte. Die Werte für die Kapitel liegen hauptsächlich im neutralen, leicht positiven Bereich, die Reviews konzentrieren sich auf eher positive Sentiments. Die geringe Ausgeprägtheit negativer Sentiments erscheint eklatant, wenn wir das starke Gewicht und die hohe Proliferation negativer Emotionen berücksichtigen, die wir im Topic Modeling nachweisen konnten. Das Gesamtbild, das hier entsteht, ist mit emotionalem Gleichklang nicht falsch, aber unzureichend beschrieben. Wir haben Grund zu der weiterführenden Annahme, dass wir es mit einer Art emotion bias zu tun haben, der positive Emotionen eher verstärkt und negative nicht beachtet. Jedenfalls lässt die Auswertung der Kommentare des größten Fandoms auf Fanfiktion.de 2020 die Interpretation zu, dass wir es mit Leser:innen zu tun haben, die sich mit ihren Kommentaren auf neutrale oder mild positive Kapitel konzentrieren und diese dann in einer emotional noch einmal deutlich positiveren Sprache besprechen.

7 Diskussion und Ausblick

Um in dieser Richtung weiterzukommen, müssen unsere Überlegungen auf drei Ebenen konsolidiert werden. Zunächst gilt es zu überprüfen, ob sich die Ergebnisse aus der Sentiment-Analyse reproduzieren lassen, wenn wir eine andere Analysemethode verwenden. Aus anderen Untersuchungen haben wir Grund zu der Annahme, dass Textblob negative Sentiments weniger gut erkennt als beispielsweise SentiArt, das den lexikonbasierten Ansatz mit einem kontextsensitiven Wortvektorenmodell kombiniert (Brottrager/Doat et al. 2022; Brottrager/Stahl et al. 2022). Wir werden daher die mit Textblob festgestellte Tendenz zur Verstärkung positiver Sentiments in Fanfiction einer methodenkritischen Revision unterziehen müssen. Die Beobachtung, dass Fanfiction-Foren vor allem positive Kommunikation unterstützen, wird indes in der Forschung breit geteilt und ist in unserer Untersuchung an verschiedenen Stellen, nicht zuletzt über die Netzwerkmodelle des Kommentarverhaltens hervorgetreten.

Hier gilt es, weiterführende Hypothesen zu bilden, die auf die Reglementierung von Kritik abstellen, die Fanfiction-Portale mit anderen Sozialen Netzwerken gemeinsam haben. Alle großen Social-Media-Plattformen eröffnen die Möglichkeit, auf Beiträge positiv mit »Gefällt mir« zu reagieren. Negative Reaktionen können über Kommentare verbalisiert werden, haben aber kein der Empfehlung entsprechendes ikonisches Default. Die Ausnahme bildete bislang YouTube, wo jedes Video mit »Daumen hoch« oder »Daumen runter« bewertet werden konnte. 2021 wurde die Dislike-Funktion abgeschafft, nach Unternehmensangaben eine Reaktion auf gezielten Missbrauch.

Außer Acht gelassen haben wir in dieser Untersuchung eine besondere Folgeerscheinung des mehr oder minder restriktiven Umgangs mit negativer Kritik in der literarischen Fan-Kommunikation. Es entstehen Formen indirekter Kritik wie Bad Fictions oder MSTings, die als absichtsvoll schlecht geschriebene Texte oder inszenierte Kommentar-Performances Vorbilder in der parodistischen Komik haben. Gleichzeitig macht ihre sehr spezielle Kommunikation in zugespitzter Weise das beobachtbar, was Fanfiction als Publikumskunst im Kern ausmacht. Weil Fanfiction per definitionem Wirkungsliteratur ist, werden wir in künftigen Studien diese Wirkungsebene mit verschiedenen Methoden des überwachten Lesens auch empirisch untersuchen.