1 Vormoderne Konzeptualisierung von Responsibilisierung

Bis in die frühe, ja jüngere Neuzeit hinein lässt sich im Deutschen kein einheitlicher, eindeutiger sprachlicher Ausdruck für das Konzept finden, welches wir heute mit den sprachlichen Etiketten von Verantwortung und Verantwortungsbewusstsein versehen. Ein eigenständiger Responsibilisierungsdiskurs geht – und das nicht nur im Deutschen – kaum vor das 19. Jahrhundert zurück, sondern ist zuvor immer in andere Diskurse eingebettet: Die Antike etwa diskutiert Verantwortung im Zusammenhang mit Kausalität und damit mit der Möglichkeit einer Eigenverfügung bzw. Handlungsfreiheit des Menschen. Im Mittelalter erfolgt ihre Verhandlung oft im Rahmen einer Debatte um den freien Willen; denn nur wer einen freien Willen besitzt, ist verantwortungsfähig und kann somit auch für sein Handeln verantwortlich gemacht werden. Und auch noch danach, in der Frühen Neuzeit, wird Responsibilität besonders bei der Erörterung der Problematik einer Kompatibilität von Verantwortung und Determinismus diskutiert.Footnote 1

Außerhalb des philosophisch-theologischen Diskurses stehen der Verantwortungsgedanke und der Verantwortlichkeitsdiskurs seit jeher im Rechtswesen in einem Zusammenhang von Schuld und Strafe, doch gilt das natürlich ebenfalls für den geistlichen Bereich, im Kontext der Sündenproblematik. In diesem Sinn wird auch das mhd. antwurten im Sinne eines Rede-und-Antwort-Stehens gegenüber einer Schuld vor Gericht (auch vor dem Jüngsten Gericht) als juristischer Terminus verwendet. Das davon abgeleitete Substantiv ›Verantwortung‹ ist laut dem Grimmschen Wörterbuch allerdings nicht vor der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts belegt.Footnote 2 Ähnlich steht es mit dem lat. Ausdruck imputare, wodurch einer Person im Sinne von Schuld oder Verdienst auch schon in der Vormoderne die Urheberschaft einer Handlung zugerechnet wird, was im rechtlichen, moralischen oder religiösen Sinn verstanden werden kann. Das im Deutschen für diesen Ausdruck stehende Adjektiv ›zurechnungsfähig‹ bzw. das Substantiv ›Zurechnungsfähigkeit‹ werden allerdings erst im 19. Jahrhundert geläufig und finden dann im modernen Responsibilisierungsdiskurs Verwendung.Footnote 3

Die Komponenten des heutigen Verantwortungsbegriffs existieren also in der Vormoderne weitgehend unverbunden. Unser heutiges Konzept beinhaltet bekanntlich sowohl eine retrospektive wie eine prospektive Dimension: Verantwortung wird retrospektiv getragen in Bezug auf die Konsequenzen von begangenen Handlungen, Sünden oder Verbrechen, die allerdings auch prospektiv vorbedacht werden können, wenn es die einzugehenden Konsequenzen abzuwägen gilt. Als prospektiv ist auch das Übernehmen von Verantwortung für die körperliche Unversehrtheit und das spätere Seelenheil der eigenen Person sowie von Mitmenschen anzusehen. Hier wird das eigene Wohl, das Wohl von Familie, Schutzbefohlenen, politisch Abhängigen, ja das der Menschheit überhaupt und das Gemeinwohl der nachfolgenden Generationen als Konsequenz für das aktuelle und künftige Tun und Lassen im Sinne einer Verantwortungsübernahme mitbedacht. Responsibilität ist deshalb auch den mittelalterlichen höfischen Begriffen von Treue, Beständigkeit und Ehre inhärent, insofern ihnen Dauerhaftigkeit eingeschrieben ist, welche prospektiv in die Zukunft ausgreift und stets im Sinne eines verantwortlichen Handelns innerhalb von eingegangenen Verpflichtungen mitbedacht werden muss. In ihnen kommen zudem obligatorische und meritorische Pflichten zusammen, so dass Verantwortung bereits im Mittelalter (und davor) nach Ludger Heidbrink stets im »Spannungsverhältnis von Schuldigkeit und Zuständigkeit, von regelkonformem Verhalten und freiwilliger Selbstbindung«Footnote 4 steht.

Die modernen Definitionen von Verantwortung divergieren, so dass auch heute noch nicht von einer scharf umrissenen Denk-Kategorie ausgegangen werden kann, sondern eher von einem Konzept mit zentralen Elementen und unscharfen Rändern. Im gemeinsamen Kern steht wohl die Verantwortung als Fähigkeit des Menschen im Zentrum, vor einer Instanz (dem eigenen Gewissen, dem weltlichen Gericht, der Gesellschaft, Gott usw.) Rede und Antwort zu stehen, wobei nach Janina Loh von einer »psychomotivationale[n] Verfasstheit«Footnote 5 des Subjekts auszugehen ist, welches die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen in der Lage ist und in diesem Bewusstsein und in Auseinandersetzung mit den geltenden Normen handelt (oder nicht).Footnote 6

Wenn nun ein Subjekt fähig sein soll, aufgrund von Normen verantwortlich zu denken und zu handeln, ist die Vermittlung dieser Normen und der Aufbau eines Verantwortungsbewusstseins unabdingbar. Im Folgenden soll deshalb weniger dem hochkomplexen Verantwortungsdiskurs gelehrter christlicher Theologen und Philosophen nachgegangen, sondern die vormoderne Responsibilisierungsdidaxe in den Vordergrund gestellt werden. Ich wähle dafür zwei Bereiche aus – den klösterlichen und den feudal-adligen – und beobachte dabei, mit welchen sprachlichen Mitteln und vor allem – beim Fehlen sprachlicher Etiketten für die Kategorie ›Verantwortung‹ –, mithilfe welcher sprachlicher Bilder Verantwortung eingefordert, ein Konzept von Verantwortung aufgebaut und Responsibilität im Bewusstsein verankert wird.

Dass ein Denken ohne Vorstellungsbilder schlicht nicht möglich ist, hat schon Aristoteles in Über die Seele bemerkt.Footnote 7 Insbesondere können abstrakte Konzepte nur über bildhafte Vorstellungen erfasst werden, wobei die Metapher als zentrales Sprachbild – ebenfalls schon bei Aristoteles, in seiner Poetik, angelegtFootnote 8 – eine besondere Rolle spielt.Footnote 9 In neuerer Zeit haben George Lakoff und Mark Johnson gar eine metaphorische Grundlage unseres gesamten Denksystems und vor allem der mit Begriffen verbundenen Denkkonzepte postuliert und damit die moderne kognitive Linguistik begründet.Footnote 10 Während die Analyse konzeptueller Metaphern jedoch zumeist einen semasiologischen Ansatz verfolgt, also von einem Sprachbild ausgeht und dessen Anwendungen und Bedeutungen untersucht, möchte folgende Studie, Olaf Jäkel folgend,Footnote 11 den Weg einer onomasiologisch-kognitiven Metaphernanalyse beschreiten und fragen, mit welchen sprachlichen Ausdrücken und Lexemen ein Konzept, in unserem Fall dasjenige der Verantwortung, bildhaft beschrieben wird, und wie sprachliche Bilder überhaupt zur Konzeptualisierung selbst beitragen. Es geht also um das Prinzip einer metaphorischen Übertragung (›metaphorical mapping‹), bei welcher »eine konzeptuelle Domäne durch Rückgriff auf einen anderen Erfahrungsbereich kognitiv verfügbar«Footnote 12 gemacht wird.

Responsibilisierungskonzepte, so die These des vorliegenden Beitrags, werden im mittelalterlich monastischen, aber auch im höfischen Diskurs wesentlich mitgeprägt – wenn auch gewiss nicht völlig determiniert – durch Erfahrungen, die mit der Beobachtung von Spiegelungsphänomenen, also bildhaften Reflexionen und überhaupt mit Abbildungsverfahren zusammenhängen und sich textlich in der Verwendung von Spiegel- und Bildmetaphern niederschlagen. Verantwortung bzw. Verantwortungsnahme wird dann als Konsequenz eines Bildgebungs- und Bildrezeptionsprozesses konzeptualisiert, welches in seinem Funktionieren dem einer Spiegelung entspricht. Der verantwortliche Mensch orientiert sich an ihm vor Augen gestellten Spiegel- oder Vor-Bildern und stellt für andere selbst ein solches vor Augen gestelltes Bild dar. Der Spiegel als ein klassisches Erkenntnismittel ist auch dazu geeignet, das Verantwortungsbewusstsein metaphorisch zu konzeptualisieren und so für die verantwortungsbewusste psychomotivationale Verfasstheit zu sorgen, die für ein verantwortliches Handeln unabdingbar ist.

Spiegel und Bild liefern aber, wie wir noch sehen werden, nur einen von mehreren bildhaften Ausgangsbereichen, mittels welchen der konzeptionelle Bereich der Verantwortung erschlossen und ausgeweitet werden kann.

2 Responsibilisierung im monastischen Kontext: Das Beispiel der Engelberger Predigten

Ich wähle zunächst als Beispiel für den monastischen Bereich die sogenannten Engelberger Predigten,Footnote 13 ein um die Mitte des 14. Jahrhunderts aus heterogenen Quellen für das benediktinische Doppelkloster und vor allem (aber nicht nur) für dessen Nonnengemeinschaft auf Deutsch redigiertes Konvolut von über fünfzig Lesepredigten, die hauptsächlich in Engelberg selbst und im Bodenseeraum überliefert sind und deren Edition seit einigen Jahren vorbereitet wird.Footnote 14 Die Sonn‑, Festtags- und Heiligenpredigten des Engelberger Textkorpus, die auf recht heterogene Predigtvorlagen (etwa den lateinischen Soccus) zurückgreifen, sind in der Regel auf den monastischen Kontext zugeschnitten und begleiten Klosterangehörige im bekannten Dreischritt auf ihrem Weg vom anfangenden und übenden/fortschreitenden zum angestrebten perfekten LebenFootnote 15 und können damit auch mystagogisch ausgerichtet sein.

Der für den Responsibilisierungsdiskurs im klösterlichen Kontext maßgebliche allgemeine Normenhorizont ist zunächst nicht verschieden vom demjenigen, der außerhalb der Klostermauern gilt. Es handelt sich in beiden Fällen um die von der Heiligen Schrift und der christlichen Lehre abgesteckte Rahmen der göttlichen Heilsordnung. Eine spezifische Ausrichtung ergibt sich im monastischen Bereich allenfalls durch die Ordensgelübde mit ihrer Betonung von Armut, Keuschheit und Gehorsam (= ›evangelische Räte‹).Footnote 16

Für das Wissen und Befolgen dieser Normen machen die Engelberger Predigten zunächst einmal das einzelne Individuum im Sinne eines ›Etwas-schuldig-Seins‹ selbst verantwortlich: Alle die moenschen, die ir fúnf sinne habent, die sint schuldig, das si wússen, was si tuon oder lassen soend. (Ea 11, fol. 96v) Den Rahmen dafür bildet für den weltlichen Menschen die christenliche ordenunge, für den Geistlichen seine Ordensgelübde.Footnote 17 Dabei schützt, wie im modernen Rechtstaat und schon im römischen Recht, Unwissenheit vor Strafe nicht. Vermindertes Wissen führt nicht zu verminderter Schuld.Footnote 18 Es gibt, so die Predigt Ea 2 (fol. 15v), immer Mittel und Wege, das nötige Wissen zu erwerben: Und weist du es nút, so solt du aber fragen die es wissen, oder du gang úber die geschrift und suoch selber, oder du hoer es, da man dier es seit in broedigen oder anderschwa, da man dir das gotzwort seit oder liset. Ganz in diesem Sinn ist also der im vorangegangenen Ea 11-Zitat der Einsatz der menschlichen Sinne zu verstehen, der vor allem im Sehen (Lesen) und Hören (Predigt, eingeholte Auskünfte) besteht.

Jedes Individuum ist folglich aufgefordert, aktiv – und damit selbstverantwortlich! – für den Erwerb der normativen Grundlage verantwortungsbewussten Denkens und Verhaltens zu sorgen, danach zu handeln und die Konsequenzen für eine Einhaltung oder Missachtung der Normen zu tragen.

Als didaktische Modelle stehen dem Menschen zur Orientierung und Nachfolge nun eine Reihe von ›Spiegeln‹ zur Verfügung. Dabei wird der Blick in den metaphorischen Spiegel als ein Mittel der Selbsterkenntnis angesehen, welche auf der Basis eines Abgleichs zwischen Norm und abweichender Realität auf eine Verbesserung abzielt, analog zum Ausgangsbereich der Metapher, bei welchem der prüfende Blick in das Alltags- oder Luxusobjekt Spiegel ja traditionell und bis heute dem Behufe kosmetischer Verschönerung (nach einem vorgestellten oder geschauten Idealbild) dient.Footnote 19

Dabei kann der metaphorische Spiegel, der dem Menschen vorgehalten wird, ganz unterschiedliche Formen annehmen, wie schon das eben gelesene Zitat zeigt: Spiegel sind dann etwa Autoritätspersonen, die man befragt, oder Gottes Wort und dessen Auslegung, welche man in der Predigt hört oder im Idealfall selber liest:

Won dú heilig geschrift ist recht als ein spiegel, in dem man alle masen des antlútz gesechen mag. Also sicht man in der geschrift, was man tuon oder lassen sol.Footnote 20So du nu recht wol lernest bekennen dú gebot des herren, so solt du si denne ze dem andren mal erfúllen mit dien werken. Won wen ein knecht weis sines herren willen und in nút volbringet, der ist grosser schlegen wirdig. (Ea 2, fol. 15v–16r)Footnote 21

Damit ist deutlich die Verantwortung eines jeden Menschen vor Gott für sein eigenes Seelenheil angesprochen. Sie leitet sich aus dem Spiegel der Heiligen Schrift ab, welche als verschriftlichter Wille Gottes die Lehre vermittelt, die auf die eigene Person bezogen und in Handeln umgesetzt werden muss. Wir sun nút won únser selbs warnemen, daz wir úns vor súnden huetin und tugent uebent. Darzuo sind all kristen moenschen gebunden, und daz lert úns daz wort gottes, waz wir tuon und miden sun. (Eb 7, fol. 72v)

Die Bibel, mit dem wirdig minnenklich leben Christi und siner userwelten frúnden, liefert insbesondere auch menig minnenklich exempel (Ea 11, fol 96r), die wie lebende Bilder visualisiert und betrachtet werden können. Christus stellt dabei das wichtigste Vorbild dar, den bedeutendsten Spiegel, ist er doch der maßgebliche Mittler, das maßgebliche Medium zwischen Mensch und Gott: das Fleisch gewordene Wort, dem im Sinne einer imitatio Christi nachgefolgt werden soll.Footnote 22 Weitere Spiegel oder Vor-Bilder bilden die Heiligen (Eb 2).Footnote 23 In Predigt Ea 11 ist es überdies das guot bild von bereits verstorbenen Mitschwestern, von dien du hoerst sagen, wie volkomenlich si gelebt hant (fol. 96r), doch du sichest ovch noch guot bilde an dien, die noch lebent (ebd.), also das Modell von noch lebenden frowen (ebd.), welches den Nonnen leibhaftig vor Augen stehen. An ihnen, wie überhaupt an all jenen, die mit guoter ler oder mit guotem bild in ieman seient, daz denn daz, daz do geleret wirt, gueti werk uebet und untugent midet (Eb 7, fol. 72r), sollen wir nút won únser selbs warnemen (s. oben, ebd., fol. 72v), also uns selbst erkennen und abgleichen.

Gegenüber diesen äußeren, über Lektüre, Hörensagen oder direkten Augenschein sinnlich wahrnehmbaren und imaginierbaren ›Spiegeln‹ positioniert sich im Inneren des Menschen ein luter unstrafflich consciencia, das ist din gewússni, daz du die also luter haltest von innan, das du nútzit an ir vindest noch sechest, das dich straffe, und dis hoeret ouch wol einem kristfoermlich leben an (Eb 13, fol. 103r). Das Gewissen konstituiert die zentrale responsibilisierende innere Instanz, die aktiv Verantwortung einfordert und vor welcher Rede und Antwort zu leisten ist. Eine eigentliche zusammenhängende Theorie des Gewissens entwickelt sich erst in der Hochscholastik, vor allem mit Thomasin von Aquin. Dabei wird conscientia, welche – wie im eben zitierten Ausschnitt der Predigt Eb 13 gesehen – für den urteilenden Gewissensspruch verantwortlich ist und somit immer an konkrete Situationen gebunden ist, mit der synteresis (bzw. synderesis) verbunden, der angeborenen Fähigkeit eines jeden Menschen, zwischen gut und böse zu unterscheiden und nach dem als gut Erkannten auch zu handeln.Footnote 24 Die Verbindung von conscientia und synteresis ist sehr eng, da das konkrete Gewissensurteil und das entsprechende Handeln in Rekurs auf die gottgegebenen allgemeingültigen ethischen Prinzipien erfolgen sollte. Josef Bordat, der sich auf Thomas von Aquin stützt, bezeichnet das so definierte Gewissen als praktische Vernunft und Naturgesetz, das unabhängig von Kultur, Religion oder gesellschaftlichen Bedingungen existiert und nach welchem sich der Mensch in seinem Wesen auszurichten hat, wenn er seiner Natur als Mensch gerecht werden will.Footnote 25 Das dies trotz des angeborenen Strebens nach dem Guten und der Wahrheit nicht immer der Fall ist, hängt mit dem freien Willen zusammen. Dieser ist ebenfalls vernunftgeleitet und findet allenfalls im angeborenen Streben nach dem vom Naturgesetz definierten Ziel seine Beschränkung. Allerdings behindern motivational bedingte Störfaktoren die praktischen Umsetzung des als vernünftig erkannten Handlungsplans. Grundsätzlich jedoch gehören Vernunft, Freiheit und Wille gerade auch bei Thomas von Aquin eng zusammen.Footnote 26 Ihnen kommt nicht zuletzt auch beim Konzept von Responsibilität eine entscheidende Rolle zu, zumal ohne Freiheit, d. h. bei einer Vorstellung von absoluter Determination, keine Verantwortung denkbar ist und gewissengeleitete Verantwortung auf vernunftgemäßer Einsicht beruht sowie den Willen zur Umsetzung fordert. Gewissenhafte Haltung korrespondiert mit responsibler Handlung.Footnote 27 »Ohne Gewissen ist Verantwortung ortlos, ohne Verantwortung ist das Gewissen blind, ohne Bindung an das Gute bleiben beide leer.Footnote 28 Übernommene Verantwortung ist daher Ausdruck der praktischen Vernunft, die sich in der göttlichen Vernunft spiegelt.

Das Gewissen ist folglich tatsächlich ein spiegelartiges Medium, welches die Norm für ethische Haltung und Handlung vorgibt. Und es ist gewiss kein Zufall, wenn besonders bezüglich der Urteilsinstanz der conscientia das Gewissen mithilfe von Beichtspiegeln erforscht wird, die im Mittelalter allerdings weit über die noch heute geläufige Bedeutung hinausreichen und wie im Fall des Gewissenspiegels (der spiegel consciencie) Martins von AmbergFootnote 29 bis zu einer katechetischen Einführung in die wichtigsten Punkte des christlichen Glaubens führen konnten, die als Maß von Gewissensentscheiden und von verantwortungsvollem Handeln nach dem Gewissen gelten können.

Die konzeptuelle Metapher des Spiegels impliziert jedoch nicht nur das ›Bild-Nehmen‹ als die Wahl und das Befolgen eines Vorbilds, einer Norm oder einer Lehre, mit der damit verbundenen Verantwortung für das eigene Heil: Es gibt auch eine Verpflichtung – gerade auch des geistlichen Menschen – für das Heil der Anderen. Immer wieder wird in den Engelberger Predigten verlangt, dass man selbst ein guot bilde (z. B. Ea 12, fol. 102r) abgeben, also ein gutes Vorbild darstellen sollte, auf das alle die moenschen, die in sechent, das dien sin leben ein spiegel und ein bild si (Eb 13, fol. 102r).Footnote 30 Denn hie sichest du wol, das allú moenschen ein ufsechen hant uf einen got minnenden moenschen (Eb 13, fol. 102v). Daraus leitet sich ganz direkt Verantwortung für die Mitmenschen ab. Dies gilt natürlich auch für die Wirkung von negativen Vorbildern, vor denen ebenfalls aus Gründen der Verantwortungsübernahme für andere gewarnt wird. So ist der Mensch aufgefordert zu bedenken,

wie vil er gesúndet hab, us welher meinung, wa und wenn, war umb und mit wem; und sol gedenken, wie dik er den lútten boes bild vor getragen hat, wie dik er ursach der súnd geben hat an im selber und an andren lútten, mit worten und mit werken, mit wandel und mit geberden, er wús es oder er wússe es nút. Und du solt gedenken, wie du das gnadrich zit so úppenklich vertriben hast, in dem du so vil nutzes moechtist getan han. (Ea 2, fol. 10v)

Der Mensch soll sich folglich hüten, ein ›böses Bild‹ abzugeben,Footnote 31 weil damit ursach allen dien gegeben wird, daz selb ze tuenn (Eb 7, fol. 79v). Es gibt eine persönliche Verantwortung dafür, das du mit dinem boesen bilde nút ander lúte in die helle ziechest (Ea 12, fol. 106r). Das eigene Handeln hat immer Konsequenzen auch für andere, mehr noch: Bei Schuld an den Sünden anderer haftet der als negatives Vorbild dienende Mensch selbst: Do ein moensche den andren ze súnden zúchet, es si mit boesem bild oder mit gehellen [= Zustimmung, R.W.] oder die súnd gueten [= legitimieren, R.W.] an andren moenschen: si moechti also sin, das du dur eins andren moenschen súnd ewklich verlorn wurdest. (Eb 11, fol. 88r)Footnote 32

Dass der Geistliche eine besondere Verantwortung für das Seelenheil seiner Mitmenschen trägt, wird mit weiteren, spezifischen Sprachbildern beschrieben, welche das Konzept von Verantwortung zusätzlich anreichern und erweitern. Mit Rückgriff auf das Neue Testament und Bildern aus dem Mund Christi konzeptualisieren die Engelberger Predigten etwa den Geistlichen als Arzt und Hirten, die Verantwortung für ihre Patienten bzw. Schafe tragen und im Fall des Hirten auch vor dem Besitzer der Herde Rede und Antwort zu stehen haben. Dadurch wird auch die mit diesen Personengruppen verbundene Art von Responsibilität in die Denkkategorie integriert und letztere ausgeweitet.

So steht der Arzt für körperliche Heilung, der Geistliche für das Seelenheil. Um glaubwürdig zu sein, muss der Arzt vorleben, wofür er steht, gemäß dem Sprichwort ›Arzt, heile Dich selbst‹, welches Christus bei seiner Rückkehr nach Nazareth in der Synagoge zitiert (Lc 4,23): Artzat, artzen dich selber! […] Das gezimet einem artzat wol, das er ovch gesunt si. Es ist menig grosz súnder von geistlichen lúten gesunt worden […] Und darumbe soltu, geistlicher moensche, ovch vor din selbs artzat sin, das du tuegest, das du ovch lerest. (Ea 12, fol. 105v)

Auch das aus dem biblischen Christuswort abgeleitete Bild des guten Hirten,Footnote 33 der für seine Schafe verantwortlich ist, trägt zur Konzeptualisierung von Responsibilität bei:

›Bonus Pastor animam suam dat pro ovibus suis. Ein guoter hirt leit sin sel fúr sinú schaf.‹ Nu moechtest du sprechen: »Wie sol ein hirt sin sel fúr sinú schefli legen?« Daz merk, min kint: Er sol si straffen umb alles, das si tuon und lassen soend, usz goetlicher minn und nút usz zornmuetikeit. Er sol inen ovch guot bilde vortragen, also daz si von sinem wandel gelert werden. Er sol ovch nút ablassen, ob im ioch úbel darumbe geschech, won er muosz dem herren antwúrt umb si geben, wa si von ime versumet wurden. (Ea 12, fol. 105v–106r)

Dieses antwúrt umb si geben, diese Verantwortung also, trägt der geistliche Hirte – als guot bilde für seine Schäfchen – vor Gott als dem Herrn des Schäfers, dem sie überantwortet werden: Und die, die hirten soend sin der schaffen, die soend sechen, das si dem herren sinú schaf wider antwúrten, dú inen bevolen sint. (Ea 12, fol. 105v)

Aus der Verantwortlichkeit des Hirten für seine Schafe kann jedoch nur bedingt eine verminderte Eigenverantwortung der Schafe abgeleitet werden, weil, wie oben gezeigt wurde, prinzipiell jeder für sein Heil selbst verantwortlich ist. Die Schafe, und vor allem die geistlichen Schafe, um die es geht, sind nicht völlig fremdbestimmt. Die guten Schafe, die dem Hirten folgen und nicht aus der Herde ausscheren, werden selbst zu Vorbildern, denen gefolgt wird und die deshalb durchaus auch für sich und die anderen mit verantwortlich gemacht und zur Verantwortung gezogen, also auch responsibilisiert werden können. Dennoch ergibt sich aus diesem Diskurs eine gewisse Delegation der Verantwortung an den Hirten.

Im monastischen Kontext erfolgt diese Übertragung von Responsibilität nicht zuletzt auch durch die Ordensgelübde und vor allem durch das Gelübde des Gehorsams, welches den Handlungsspielraum der Nonne oder des Mönchs beträchtlich einschränkt. In den Engelberger Predigten wird die monastische Gehorsamsforderung explizit mit der Aufgabe des eigenen Willens verbunden. Damit stellt sich unweigerlich die Frage nach dem freien Willen, der ja, wie eingangs dieser Studie vermerkt, auch den zentralen diskursiven Rahmen für die Verhandlung von Verantwortung im Mittelalter bildet: Aber wiltu komen zuo einer nechren vereinúnge mit got, so muost du ovch zuo einem hochren griffen, und dis wer ein minnenclicher antheis oder ein gelúpt, das ist, das du dinen friien willen uf gebest in eins prelaton hant [im Fall der Mönche, R.W.] oder in einer meisterinen hant [im Fall der Nonnen von Engelberg, R.W.], also das du inen gehorsam sigest an gottes stat. (Ea 10, fol. 86v)

Dabei kommt es zum – das Grundprinzip des freien Willen rettenden – Paradox, dass der Akt, womit der freie Wille aufgegeben wird, selbst einen Akt des freien Willens darstellt, ja, dass durch die freiwillige Aufgabe des freien Willens dieser gestärkt wird. Das wird deutlich in der Predigt Ea 8, wo im Rahmen des ›übenden Lebens‹ die Implikationen der Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam (der sogenannten ›evangelischen Räte‹ also) erläutert werden und Gehorsam tatsächlich als Aufgabe des freien Willens in die Hand der Klosterführung beschrieben wird. Mit der überantworteten Willensfreiheit soll dabei wie folgt umgegangen werden: Sie soll erstens nicht zurückgenommen werden. Das aber passiert immer dann, wenn man sich dem Gehorsam gegenüber der Klosterobrigkeit verweigert oder auch nur deren Anweisungen als zu hart oder unzumutbar empfindet (Ea 8, fol. 71v–72r). Zweitens soll man den (aufgegebenen) Willen aber auch ständig wachsen lassen, was sich im Appell zur Befolgung von Anordnungen selbst scheinbar böser Menschen sowie zu einer unmittelbar auf die Anweisung folgenden Ausführung zeigt (Ea 8, fol. 72r/v).

Und dis ist ein gar grosz gehorsami, das du einem moenschen gehorsam siist, der licht boeser ist denne du nach uswendigem dunken. Aber sicher, moensche, dis soltu nút gedenken noch sprechen, won ein moensch, der vor der lúten ovgen dik boes schinet, der ist vor got der besten einer. […] Und darumb, so solt du snelleklich gehorsam sin, so erwerrest dich vil untugenden. Du solt der gloggen gehorsamer sin denne dir selber, also wenn du die gloggen hoerest, so sol dir sin, als dir got selber rueffe, das du sin lob volbringest. (Ea 8, fol. 72r/v)

Schließlich soll die Aufgabe des freien Willens beständig und ewig gemacht werden also, ob du soeltest als lang leben als Matusalan, das du doch dinen friien willen stettenklich woeltest lassen beliben in der hant und in der gewalt diner meisterschaft. Oder ob du soeltest leben untz an den jungsten tag, das du doch willen hettest ze beliben in dem orden, dar dich got gefueget het. (Ea 8, fol. 72v)

Die Fremdbestimmung scheint hier als frei gewählte umfassend zu sein. Allerdings impliziert das Moment der freien Entscheidung für den Gehorsam mit ihrer Betonung einer Stärkung des freien Willens gerade auch die Verantwortung für sich selbst, die im unbedingten Gehorsamsakt nicht im Sinne einer totalen Fremdverantwortung annulliert oder vollständig delegiert werden kann. Und selbst das Befolgen von Anweisungen, die als schlecht erkannt werden oder von scheinbar bösen Menschen ausgehen, kann nicht als Akt der Irresponsibilität angesehen werden, obschon dieser Gehorsam von der Gewissensinstanz nicht toleriert werden dürfte: Er ist aber auf höherer Ebene letztlich als Versuch zu werten, den eigenen Willen mit dem Willen Gottes und seiner unergründlichen Vorsehung zu vereinen, die in dem vordergründig verderblichen Akt einen versteckten tieferen Grund kennt und dafür die Verantwortung übernimmt.

Der Extremfall einer radikalen Aufgabe auch der Verantwortlichkeit wird auf dieser höheren Stufe Realität, wie das im Übrigen auch die mystagogische Hinführung zur unio postuliert, die eine völlige Aufgabe des eigenen Willens in den Willen Gottes impliziert. Hier, in der unmittelbaren Erkenntnis Gottes, im Blick in den Ursprung der Seele, macht persönliche Verantwortung keinen Sinn mehr. Der Blick in den Spiegel der Trinität lässt keine Differenz mehr zu, die behoben werden müsste. Göttliches Vor- bzw. Urbild und menschliches Abbild werden eins:Footnote 34

Und darumb, so bliket das edel fúnkeli der sele von sinem natúrlichen adel ane underlas wider in das ungeschaffen goetlich wesen, usz dem es geflossen ist und vergicht sich, ein istig wesen sin mit der istikeit gottes. Nu merk dis minnenklich widerbliken, so dú sele hat in iren ursprung: Wenne man nem einen spiegel oder einen guldin schilt, und hette man si gegen der sunnen, so git dú sunne iren glantz in si, und si widerglestent gegen der sunnen von ir minnenklichen schoeni, so si allú wider einander habent. Also geschicht dem moenschen, der do ist in unvermaskeit sines wesens und do stat in dem minnenklichen bekennen sins herren, als der hoch himelfúrst sanctus Petrus, do er sprach: »Du bist Christus, ein sun des lebenden gottes.« Hie lúchtet das fúnkli der sele also adenlich gegen der sunnen der gotheit und si har widerumb gegen den gneisten in Sion, das ist der adenlich spiegel der hochen drivaltikeit, in dem si ane underlas ein wolgevallen habent, als in inen selber. Das ist dú sele, dú sich keret unwandelberlich in iren ursprung, dú wirt also adenlich glentzent und glestent, daz si alsoelich gelicheit gewúnnet mit der klarheit der hochen drivaltikeit. Wer si in disem moechte gesechen, er seche got in ir und si in got, ein ewig minnenklich lustlich wesen. (Eb 16, fol. 139v–140r)

Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass das Responsibilisierungskonzept in den Engelberger Predigten für den monastischen Kontext wesentlich über Metaphern der Bildgebung und vor allem des reflektierenden Spiegels konstruiert und gefestigt wird. Der Abgleich im Spiegel, das Vorbild-Nehmen und Vorbild-Geben, fordert zur Verantwortungsnahme für sich und die Mitmenschen in Bezug auf das eigene wie auch fremde Seelenheil auf. Dabei ergibt sich ein gewisses hierarchisches Gefälle von oben nach unten, indem Verantwortung teilweise nach oben übertragen werden kann, wie sich auch der eigene Wille nach oben ausrichtet. Die Klosterobrigkeit wird allerdings nur als Stellvertretung und ausführendes Organ des Willens Gottes verstanden, der auch die letzte urteilende und richtende Instanz darstellt, die im Gewissen zwar präsent ist, aber über die Prinzipien der praktischen Vernunft hinaus nicht (oder nur im mystischen Erleben) vollständig erkannt werden kann. Und so verantwortet sich auch der für die Schafe verantwortliche Hirte vor seinem Herrn und der für das Seelenheil der geistlichen Kinder verantwortliche Geistliche – in unserem Fall der Prälat der Engelberger Mönche bzw. die Meisterin der Engelberger Nonnen – letztendlich vor Gott. Sie übernehmen dazu eine deutlich höhere Verantwortung.

3 Responsibilisierung im höfischen Kontext: Das Beispiel des Welschen Gasts Thomasins von Zerclaere

Nur noch kurz soll anhand des Welschen Gasts von Thomasin von Zerclaere belegt werden, dass der Responsibilisierungsdiskurs trotz spezifischer, kontextbedingter Umstände im feudaladligen Umfeld nur wenig divergiert, und dass auch hier die Bild- und Spiegelmetapher als konzeptionsrelevantes Sprachbild zentral ist. Ich kann mich auch deshalb knapphalten, weil ich in anderem Zusammenhang bereits einmal auf Thomasins Spiegelmetaphern eingegangen bin.Footnote 35

Thomasin hat im Umkreis des Patriarchenhofs von Aquileia als Italiener für ein gemischtes höfisches Publikum deutscher Zunge 1215/16 ein moraldidaktisches Werk geschaffen, das zugleich höfische Erziehungslehre, Tugendlehre und Fürstenspiegel bietet.Footnote 36

Als gebildeter Kleriker ist er mit den Autoritäten der frühchristlichen und mittelalterlichen Theologie vertraut, genauso mit der monastisch geprägten Literatur. Wohl inspiriert von Hugo von St. Victor, der in seiner Erziehungsschrift für Novizen (De institutione novitorum) gemäß dem Psalmwort bonitatem, et disciplinam, et scientiam doce me (Ps. 118,66: »Güte und Lehre [aber auch: Zucht, R.W.] und Wissen lehre mich, weil ich deinen Geboten vertraue!«)Footnote 37 eine Didaxe entwickelt, die den Weg vom Wissen zur Zucht, von der Zucht zum Gutsein und vom Gutsein zur Seligkeit bereitet,Footnote 38 baut auch Thomasin (vgl. Prolog, V. 21–32)Footnote 39 entsprechend auf der wissensvermittelnden zühte lêre (V. 30) auf, aus deren Befolgung zuht (V. 25) resultieren sollte, die zum Erwerb der Tugenden unabdingbar ist, welche wiederum zur vrumkeit (V. 25) bzw. den guoten dingen (V. 29) führen soll, und diese letztlich zum Seelenheil.

Auch bei Thomasin ist also die aktive Bemühung um den Erwerb normrelevanten Wissens grundlegend und verpflichtend.Footnote 40 Standen im monastischen Kontext, in welchem das Studium der Heiligen Schrift und das Hören von Gottes Wort zentral waren, die Vorbilder aus diesem biblischen Umkreis sowie aus dem Kreis der Heiligen und heiligmäßigen Personen aus Geschichte und direktem Umfeld im Vordergrund, sind es bei Thomasin zunächst einmal die konkret beobachtbaren Modelle der sozialen Umwelt, die im Hinblick auf ihre positive oder negative Vorbildlichkeit beurteilt werden sollen. Schon

Verse

Verse ein ieglîch edel kint mac sich selben meistern alle tac. sehende, hoerende, ob er wil, und gedenkent lernt man vil. er sol ouch haben den muot, merke waz der beste tuot, wan die vrumen liute sint und suln sîn spiegel dem kint. daz kint an in ersehen sol waz stê übel ode wol. siht er daz im mac gevallen, daz lâz niht von sîm muote vallen. siht er daz in niht dunket guot, daz bezzer er in sînem muot. (V. 612–626)

Auch hier liefert also wiederum der Spiegel die konzeptbildende Metapher für den aktiven Abgleich mit den geltenden ethischen Normen und für die Beurteilung des Beobachteten. Einmal erkannten Vorbildern soll man nach Thomasin nicht nur folgen, sondern sie so sehr verinnerlichen, dass sie ständig als innere Bilder und Stimmen wirken und eine eigentliche Richtschnur vorgeben (V. 627–640). Somit gilt: swer vrumen liuten volgen kan, / der ist selbe ein biderbe man (V. 639 f.). Verantwortung als ein Rede-und-Antwort-Stehen äußert sich nicht zuletzt in dieser inneren Zensur mittels des imaginierten Vorbilds, welche schame bewirkt:

Verse

Verse Ein kint sol haben den muot daz in dunke, swaz er tuot, daz in sehe ein biderbe man: er hüet sich baz vor schanden dan, wan er sich vor im schamen muoz, ob im zundingen slîft der vuoz. (V. 641–646)

Ergebnis ist die von Kind auf eingeübte und habitualisierte zuht (disciplina), die geprägt ist durch ständige Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung, die alle Sinne umfasst und auf jede Situation adäquat zu reagieren versteht.Footnote 41 Sie stellt die Voraussetzung dar für ein verantwortungsbewusstes Denken und Handeln sowie für den Erwerb der Tugenden, die als Normen die dazu grundlegende Ethik liefern. Ein solcher Mensch wird selbst wieder Vorbild und Spiegel für andere.

Ähnlich wie im monastischen Kontext mit seinem Gehorsamsgelübde gibt es auch in den feudalen Herrschaftsstrukturen hierarchische Abhängigkeiten (man denke nur an die Lehenspyramide), die eine teilweise Delegation von Verantwortung in die Hand von Herrschaftsträgern nach sich zieht, welche ihrerseits durch die übernommene Fremdverantwortung zusätzliche Verantwortung zu tragen haben und als Vorbilder in die Pflicht genommen werden. An die Stelle des Hirten im geistlichen Bereich tritt im sozialen Umfeld des Feudalsystems der Herr, an die Stelle der Schafe die vom Herrn abhängigen Gefolgsleute und Untergebenen. Auch dieses Verhältnis wird von Thomasin durch die Metapher des Spiegels verdeutlicht, der zunächst einmal in seiner Alltagsfunktion als Instrument zur kosmetischen Verschönerung in der Hand von Frauen vorgestellt wird. Thomasin spricht dann aber die Herren direkt an, die als Spiegel für die von ihnen abhängigen Personen angesehen werden, zu welchen sich auch Thomasin (durch die wir-Form) zählt:

Verse

Verse wir suln uns gar an iu schouwen: ir sît der spiegel, wir die vrouwen. ist der spiegel ungelîche, man siht sich selben wunderlîche: man dunkt ze kurz sich od ze lanc, ode ze breit, ode ze kranc. (V.1761–1766)

Der nicht glatte, deformierte damit auch deformierende Spiegel untugendhaft agierender Adliger stellt den sich darin spiegelnden Untergebenen ein entsprechend verzerrtes Bild als Modell vor Augen, nach welchem sie sich nicht richten sollten und mit dessen Hilfe sie sich nicht verbessern können, weil dazu ein reiner Spiegel benötigt wird:

Verse

Verse ein herre sol tuon nimêr dan daz reht ze tuon ger. ist der spiegel lieht als er sol, ganz, sinwel, man siht sich wol. ein herre der sol vil lieht sin, daz er an guotem bilde erschîn. (V. 1783–1788)

Die Untergebenen folgen immer, so Thomasin, im Guten wie im Schlechten, ihren vorbildgebenden Herren. Damit tragen letztere eine erhöhte Verantwortung.

Dass die vorbildliche Person mit einem Spiegel gleichgesetzt wird, bedeutet zum einen, dass sie dieser Rolle gerecht werden muss. Es ist für sie also eine Verpflichtung, die große Verantwortung mit sich bringt (dieser Aspekt steht im Fürstenspiegel des zweiten teils im Zentrum). Zum anderen müssen diejenigen, die dem Vorbild folgen wollen (oder müssen), dieses Vorbild als Spiegelbild ihrer selbst auffassen und ihr Verhalten dem positiven Vorbild anpassen oder gegebenenfalls schlechte Vorbilder dazu nutzen, sich nicht ebenso schlecht zu verhalten (dieser Aspekt steht in der Jugendlehre des ersten teils im Zentrum). In beiden Fällen, der Vorbildfunktion der Erwachsenen für die höfische Jugend und der Vorbildfunktion des Herrschers für sein Volk, spielt zudem die Materialität des Spiegels eine wichtige Rolle. Erst diese macht den Vergleich plausibel und griffig, denn beide Male fasst Thomasin das im Spiegel entstehende Bild nicht als Abbild der Realität auf, sondern als positives Ideal, womit er die gängige zeitgenössische Vorstellung eines Spiegels als Vorbildgeber aufruft, die sich an vielen anderen Texten im Detail sowie an der gesamten Gattung der Fürstenspiegel festmachen lässt.Footnote 42

Die erhöhte Verantwortung tragen die Machtausübenden letztlich wieder vor ihrem Gewissen und damit vor Gott. Zwar wird bei Thomasin nicht, wie im Fall der Engelberger Predigt 13 das Gewissen als innerer Spiegel expressis verbis thematisiert und scheint, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Das Naturgesetzartige einer gottgegebenen Ethik spiegelt sich bei Thomasin vielmehr in der äußeren Welt und in der kosmologischen Ordnung wider. Der Blick in diesen Spiegel, in dieses Buch der Natur,Footnote 43 macht – das ist das dem Spiegel inhärente epistemologische Prinzip – durch den Abgleich mit dem Idealbild die korrekturbedürftige Defizienz einer zutiefst gestörten menschlichen Gesellschaft und ihre Folgen sichtbar.Footnote 44 Der Grund für diesen verstörenden Befund ist in dem die göttlichen Prinzipien zuwiderhandelnden und verantwortungslosen Menschen zu suchen, mit seinem fatalen Erbe der Ursünde und seinem freien Willen, der die praktische Umsetzung des göttlichen Willens behindert und unterminiert.

Auch bei Thomasin spielt der freie Wille des Menschen also eine wichtige Rolle, indem er negativ als Willkür, als unstaete, als das unverantwortlich und egoistisch auf weltliche Ziele und Partikularinteressen ausgerichtete Streben politischer Entscheidungsträger für die Wirren der Zeit und das herrschende Unheil in der Welt (Thronstreit im Reich, Bürgerkrieg in den italienischen Stadtstaaten) verantwortlich gemacht wird. unstaete steht damit diametral in Opposition zu der positiven ethischen Grundnorm und ersten der vier Kardinaltugenden Thomasins,Footnote 45 der staete, d. h. dem konstant auf den Willen Gottes ausgerichteten tugendhaften Denken und Handeln. unstaete wird als Grundübel und ebenfalls erstes von vier, die entsprechenden Tugenden verkehrenden Kardinallastern verdammt, als fatale Untugend und Sünde im Zeichen der Verantwortungslosigkeit, die sich bei Thomasin sprachbildlich nicht nur im deformierenden Spiegel niederschlägt, sondern sich semantisch auch im Kontext von falschgeleitetem willen bzw. muot und sin sowie von schuld bewegt:

Verse

Verse Ich underdinge [riskiere, R.W.] der herren zorn: diu stæte diu ist gar verlorn von ir willn und von ir schulde: ezn sol niht sîn wider ir hulde daz ich spriche, ich sprichz durch guot. hât mîn herre unstæten muot, ich muoz ze der unstætekeit mit samt im sîn bereit. [...] wandelt ein herre sînen sin, sîn liute müezn unstæte sîn. jâ ist uns dicke worden schîn, daz der unstæten herren muot vil in der werlde unstæte tuot. (V. 2125–2146, Hervorhebung R.W.)

unstaete wirkt sich, worauf bereits Rocher und Huber hingewiesen haben, im Welschen Gast sowohl auf kosmologischer wie auch sozialethischer und individualethischer Ebene zerstörerisch aus.Footnote 46 Schanze charakterisiert die drei Dimensionen des staete-Begriffs in Thomasins Werk – und damit implizit in seiner Verkehrung auch den Wirkungsbereich der unstaete – und die von ihnen betroffenen Bereiche folgendermaßen treffend: Es handelt sich um

1. eine ›natürliche‹ [Dimension, R.W.] (Kosmologie, Elementenlehre, Güterlehre, Psychologie, Wissenschaftslehre), die die staete als universell gültiges kosmisches Prinzip etabliert, als idealen Ausgangszustand, der wiederherzustellen ist, und die vielleicht das wichtigste Element von Thomasins staete-Diskurs darstellt.Footnote 47 2. eine individualethische, die die staete als grundlegende Tugend-Eigenschaft jedes einzelnen Menschen auffasst, wobei Thomasin in der Regel mit der persönlichen Heilsperspektive argumentiert; 3. schließlich eine sozialethische, die die Wichtigkeit der staete für den Zusammenhalt und das Fortbestehen einer civitas erkennbar werden lässt (einerseits an der Forderung, die Herren müssten staete sein, um ihre Herrschaft angemessen ausüben zu können, andererseits ex negativo an der ›paneuropäischen‹ Reihe historischer und zeitgeschichtlicher Beispiele für den Untergang von Städten und Reichen aufgrund von unstaete).Footnote 48

Damit sind genau die drei Bereiche genannt, die generell auch für die Responsibilisierung von Bedeutung sind, wobei bei den Engelberger Predigten die persönliche Verantwortung für das eigene Seelenheil und die soziale Verantwortung für die Mitmenschen im Vordergrund standen. Bei Thomasin kommt also noch die Verantwortung für die Schöpfung insgesamt hinzu, welche durch die menschliche unstaete ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurde. »Mit vielen Bezügen auf Wilhelm von Conches und Alanus ab Insulis verbindet Thomasin die kosmische und die moralische Ordnung miteinander.«Footnote 49 Die gottgegebene kosmische Naturordnung wurde durch den menschlichen Sündenfall gestört und löste nach Thomasin z. B. das unstaete Wetter aus (V. 2154–2176).

Demnach widerspricht der Mensch mit der Sünde seiner Natur, weicht vom cursus naturalis ab und gefährdet die naturgemäße und gottgewollte Struktur der ganzen Schöpfung. Moralisches Verhalten wird naturkundlich begründet und der Mensch bekommt damit indirekt den Auftrag, nicht nur die gottgegebenen Regeln der Natur mit dem Verstand zu begreifen, sondern die Schöpfung wieder diesen Regeln folgend zu ›reparieren‹.Footnote 50

Dieser Auftrag würde heute mit dem Ausdruck ›Verantwortung‹ belegt. Nicht nur die Ausrichtung der Herrschaftsträger in ihrer Vorbildfunktion auf den Willen Gottes und die Naturordnung erscheint somit als ein Akt der Responsibilität und ist für das Gemeinwohl wie für das partikulare Seelenheil unabdingbar, sondern die Menschheit insgesamt und jeder einzelne Mensch ist aufgerufen, einen Teil dieser Verantwortung auf sich zu nehmen. Dies vermag er allerdings nur dann zu tun, wenn in der sozialen Kette der Hierarchien responsibles vorbildliches Verhalten von oben nach unten möglichst lückenlos eingehalten und vorgelebt wird.Footnote 51 Jeder Mensch steht hier in der Pflicht, ist zuständig und kann somit auch zur Rechenschaft gezogen werden.


Im monastischen wie im adlig-höfischen Bereich begegnen wir einem grundsätzlich vergleichbaren Responsibilisierungskonzept, welches die individuelle Verantwortung als eine Verpflichtung zur Vorbildhaftigkeit in den Vordergrund stellt und vornehmlich mittels der konzeptuellen Metaphern des Spiegels und des Bilds auch didaktisch aufbaut und mental festigt. Über den Spiegel wird überdies das Moment der Beobachtung und abgleichenden Prüfung sowie die damit verbundene Selbsterkenntnis und Handlungsnotwendigkeit in das Konzept eingebracht. Dabei braucht etwa bei der Naturbeobachtung im Fall Thomasins die mental bereits stark verankerte Spiegel-(oder Buch‑)Metapher nicht einmal mehr explizit genannt zu werden, da sie bereits einen festen Teil des Konzepts bildet.

Erkenntnis und Wissen bezüglich der zu verfolgenden Normen sind für die Ausbildung eines Verantwortungsbewusstseins unabdingbar und stellen auch die Grundlage zur Einsicht in die etwaige Korrekturbedürftigkeit dar. Dazu stehen dem Individuum die verschiedensten ›Spiegel‹ zur Verfügung (Bibel, Autoritäten, Personen der Heilsgeschichte und der sozialen Umgebung), die befragt, gehört, gelesen werden können oder zu beobachten sind. Hinzu kommen mit dem Gewissen als Spiegel und mit der Spiegelfunktion der Schöpfung naturrechtliche Vorstellungen eines universell gültigen ethischen Naturgesetzes, dem gegenüber responsibles Verhalten eingefordert und im Fall des Zuwiderhandelns der Mensch mit Sanktionen oder dem Verlust des Seelenheils bestraft wird.

Zu den konzeptrelevanten semantischen Elementen des Spiegels gehören je nach Standpunkt erstens das ›Bild-Nehmen‹ als bewusste Wahl und Nachfolge eines Vorbilds als auch zweitens das ›Bild-Geben‹ als ein verantwortungsbewusstes Vorleben von Idealen und ein entsprechendes Handeln zum Vorteil und Seelenheil der Mitmenschen des sozialen Umfelds. Zum individualethischen Aspekt der Responsibilität tritt folglich mit der Verantwortung für Mitmenschen, einzelne soziale Gruppen oder die gesamte Ständeordnung auch ein sozialethischer hinzu und kann sich, wie im Fall der staete-Diskussion bei Thomasin gesehen, bis hin zu einer Verantwortung für die göttliche Naturordnung und die Menschheit insgesamt ausweiten. Der Spiegel kann jedoch auch die Instanz verkörpern, vor welcher Rechenschaft abzulegen ist, sei es als Spiegel des verinnerlichten Vorbilds oder der weltlichen bzw. geistlichen Obrigkeit, sei es als Gewissens- oder Gottesspiegel, der im Idealfall eines völligen Aufgehens des eigenen menschlichen Willens in den göttlichen Willen direkte Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis ermöglicht.

Obwohl der freie Wille, ohne den Responsibilität nicht denkbar ist, prinzipiell nie in Frage gestellt wird, scheint er im monastischen wie im feudalen Kontext durch Gehorsamkeitsgebote (mit ihrem Anspruch von triuwe und staete) und damit durch die Delegation von Verantwortung begrenzt zu werden. Die erhöhte Responsibilisierung von Herrschaftsträgern, die aus dieser Delegation abgeleitet wird, übersteigt hingegen die persönliche, individuelle Verantwortung (auch wenn triuwe und staete auf beiden Seiten eingefordert werden und wechselseitig funktionieren sollen) und kann (bei Thomasin) bis hin zur kollektiven Verantwortung der geistlichen und weltlichen ›Herren‹ für die christliche Ordnung im Rahmen des göttlichen Heilsplans reichen. Grundsätzlich steht aber jeder einzelne Mensch in der Verantwortung, für sich, die anderen und die Schöpfung Sorge zu tragen.

Monastische und feudale Responsibilisierungskonzepte bewegen sich somit beide in einem Feld aktiver Selbstverantwortung und Übernahme von Fremdverantwortung wie auch von passiver Fremdbestimmtheit durch Delegation von Verantwortung. Auch ohne die einheitliche sprachliche Etikette, wie sie im modernen Wortschatz durch den Ausdruck ›Verantwortung‹ zur Verfügung steht und zum Begriff geworden ist, wird hier ein gemeinsames Konzept deutlich, welches sich in zeitspezifischer Ausformung durchaus dem neuzeitlichen Verantwortungsbegriff annähert, auch wenn für letzteren die konzeptuelle Metapher des Spiegels – wenn überhaupt! – kaum noch eine wesentliche Rolle spielt.