1 Vormoderne und Verantwortung

Footnote 1Angesichts seiner alltäglichen Verbreitung und Bedeutsamkeit ist der Begriff ›Verantwortung‹ als Verbalabstraktum eine verblüffend junge Prägung, die in dieser Form erst ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisbar ist. Das zugrundeliegende Verb verantwürten respektive verantwurten/-worten ist zwar schon im Mittelhochdeutschen belegt,Footnote 2 jedoch entspricht verantwürten semantisch nur sehr bedingt unserem neuhochdeutschen ›verantworten‹. So meint das mittelhochdeutsche Verb, wo es nicht schlicht in der Bedeutung des neuhochdeutschen ›beantworten‹ gebraucht wird, unter anderem ›schweigend zustimmen‹, ›erklären‹, vor allem aber ›sich (vor Gericht) rechtfertigen, verteidigen‹.Footnote 3 Und auch das an der Schwelle zur Neuzeit geschöpfte Verbalabstraktum ›Verantwortung‹ zielt zunächst vor allem auf die apologia beziehungsweise die defensio ab, ehe es auf dem Weg in die Moderne zunehmend auch den, wie es im Deutschen Wörterbuch heißt, »zustand der verantwortlichkeit, wo die handlung der verantwortung nur als möglichkeit besteht«,Footnote 4 beschreibt. Mehr noch als der morphologisch verwandte Begriff ›Verantwortung‹ stellt der in den Sozialwissenschaften gebräuchliche latinisierende Ausdruck ›Responsibilisierung‹ hingegen den Akt des Responsibilisierens selbst heraus, akzentuiert also den Prozess der Zurechnung oder Übernahme von Verantwortung.Footnote 5 Seiner Verwendung im Folgenden liegt die methodische Annahme zugrunde, dass Konzepte von Verantwortung abhängig vom Grad an Institutionalisierung in verschiedenen Kontexten jeweils in unterschiedlichem Ausmaß im Vorfeld diskursiv verhandelt werden müssen. Mit ihrer sprachlichen Evokation geht in der Folge stets eine Transformation oder sogar Konstituierung eines jeweiligen Konzepts von Verantwortung einher. Diesem Vorfeld, diesem gerade vor dem Hintergrund der Alterität der Vormoderne kritisch zu befragenden diskursiven a priori, soll der Gebrauch des bewusst verfremdenden Begriffs der Responsibilisierung sowie seiner Derivate im Sinne von ›Sichtbar-‹ und ›Geltend-Machen‹, ›Konzipieren‹ und ›Zusprechen von Verantwortung‹ sowie zumeist implizit von ›Verantwortungsfähigkeit‹ Rechnung tragen.Footnote 6

Der damit verbundene Fokus auf die Prozessualität gilt einem für den verfolgten Ansatz wesentlichen Aspekt der Definition von ›Verantwortung‹, wie sie das einschlägige Handbuch Verantwortung gibt: ›Verantwortung‹ wird hier unter anderem definiert als das »Resultat einer Zuschreibung, die zumeist aus der Perspektive der dritten Person vollzogen wird«.Footnote 7 In komplexeren Szenarien geraten solche Zuschreibungen allerdings schnell zum Problem und es kann mitunter sogar zu konkurrierenden Responsibilisierungen kommen, wenn etwa zwischen Ursache und Wirkung ein größerer zeitlicher oder räumlicher Abstand liegt, die Kausalitäten nicht einwandfrei zu klären, die Folgen nicht absehbar sind oder eine Vielzahl von Akteuren an der zentralen Handlung beziehungsweise Handlungskette beteiligt ist.Footnote 8 Umso mehr ist jeder Zustand der Verantwortung an einen konkreten Akt der Responsibilisierung gebunden, der nicht bloß verantwortlich macht, indem er ex ante oder ex post zur »wertneutralen« Erklärungen der Absichten wie zur »moralischen bewertenden« Rechtfertigung drängt,Footnote 9 sondern zugleich – so die erkenntnisleitende Annahme – das jeweilige Konzept von Verantwortung selbst im Rückgriff auf Normen und Erwartungen fallweise neu artikuliert, situativ modifiziert und dabei fortwirkend aktualisiert.

Dass ein so wesentlich sprachlich organisiertes Prinzip zwar in den meisten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, gerade in Bezug auf die Herausforderungen der Gegenwart, ubiquitär diskutiert wird, eine grundlegend literaturwissenschaftlich-kulturwissenschaftliche Betrachtung mit Blick auf die Vormoderne jedoch weitgehend Desiderat geblieben ist,Footnote 10 erscheint trotz der späten Begriffsprägung verwunderlich. So ist doch anzunehmen, dass sich – unabhängig von der Begriffsgeschichte – zu allen Zeiten Aushandlungen von Phänomenen beobachten lassen, die man unter dem Begriff der ›Verantwortung‹ subsumieren, wenn auch nicht umstandslos gleichsetzen kann. Heuristisch sind solche Konzepte von Verantwortung respektive Responsibilität dafür zunächst möglichst weit zu fassen, um den Blick auf spezifische Modellierungen der Vormoderne nicht zu verstellen. Fragen nach Verantwortung werden demnach kontextspezifisch in einem Feld verhandelt, dessen unscharfe Grenzen Konzepte von Zuständigkeit, Rechtfertigung und Schuld beziehungsweise Schuldigkeit bilden, wobei sich für die Differenzierung von letzterer vor allem die Trennung von prospektiver und retrospektiver Verantwortung als weiterführend anbietet.Footnote 11

Aus moderner Sicht können die Aushandlungen des Mittelalters sogar besondere Relevanz beanspruchen, insofern sie im Anschluss an antike Denktraditionen die Grundlage für ein heutiges Verständnis von ›Verantwortung‹ bilden. Das sei nun keineswegs verstanden im Sinne eines strengen Fortschrittsnarrativs, nach dem sich ein bestimmtes Konzept über Jahrhunderte stringent weiterentwickelt hat; vielmehr ist von verstreuten Elementen mit einer gewissen Familienähnlichkeit auszugehen, die sich in unterschiedlichen Diskursen in vielfältiger Weise gewandelt haben. Entsprechend wäre es problematisch von Vorläufern eines modernen Konzepts von Verantwortung zu sprechen – ein weiterer Umstand, dem die verfremdende Rede von ›Responsibilisierungen‹ Rechnung tragen soll.

2 Responsibilisierungsdiskurse im Mittelalter

Die christliche Anthropologie des Mittelalters gründet auf dem Axiom einer Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung. Aufgrund seiner Willensfreiheit, die den ebenbildlich geschaffenen Menschen mit seinem Schöpfer vergleichbar macht, kann er einerseits für sein Handeln und mehr noch für seine Gesinnung in die Verantwortung genommen werden.Footnote 12 Andererseits mahnt die Gottesähnlichkeit zum Streben nach dem summum bonum, von dessen Weg abzuweichen eine Sünde bedeutet. Verantwortlich ist der Mensch soteriologisch betrachtet zunächst primär für sich selbst und sein eigenes Seelenheil beziehungsweise die mit dem Sündenfall nötig gewordene Wiederherstellung der Gottesebenbildlichkeit (reparatio hominis), während die Integrität der göttlichen Schöpfungsordnung von menschlicher Einflussnahme notwendigerweise unberührt bleiben muss. Neben der Fokussierung auf Praktiken von in der Regel je individueller HeilssicherungFootnote 13 lassen sich in der Vormoderne jedoch auch weitere Responsibilisierungsdiskurse fassen, bei denen eine Person, eine Gruppe oder auch eine transzendente Entität in die Verantwortung für sich, andere oder den Kosmos genommen wird. In jedem Fall ist es unerlässlich, dass Verantwortung, zumindest implizit, zur Sprache gebracht wird und sich nicht in bloßer Schuldigkeit erschöpft, sondern sich etwa auch als meritorische Pflicht bestimmen lässt, die ein soziales (Ehre) oder aufgrund der höheren Geltung vorrangig jenseitiges Verdienst (Heil) erwerben lässt. Responsibel gemacht werden kann zudem nur ein frei entscheidender Akteur,Footnote 14 der prospektiv über die Möglichkeit zum Eingreifen und die Kenntnis der Umstände verfügt beziehungsweise retrospektiv verfügt hat, also in der Lage ist oder war, die nach mittelalterlichem Verständnis »stets neu zu treffende Willensentscheidung zum Guten, zum Recht, zur Ordnung der Gemeinschaft in ihren auf Gottes Willen ausgerichteten Normen« zu fällen.Footnote 15 Dabei ist auf der einen Seite die Annahme einer völligen Determination im Blick auf göttliche Providenz und Lenkung zur Vermeidung einer anklagenden Theodizee zurückzuweisen, auf der anderen Seite bleibt im Bereich des Kontingenten die Frage nach der Absehbarkeit von Konsequenzen und entlastender Unwissenheit virulent,Footnote 16 was im Mittelalter prominent in Abaelards Gesinnungsethik heftig zu Buche schlägt.Footnote 17

Besonders heterogene – und darin für die Erkundung eines prädiskursiven Phänomens aufschlussreiche – Entwürfe zur Frage nach Verantwortlichkeiten werden in narrativen Entwürfen zur Anthropologie beobachtbar,Footnote 18 die oftmals den Modus der Zuschreibung mitverhandeln und entsprechend auch situative oder konkurrierende Geltungen von Verantwortungszuschreibung sowie Momente der Entverantwortlichung reflektieren. Wiederholt stehen sich hier nicht nur textinterne Positionen entgegen,Footnote 19 sondern es werden intertextuelle Gegenentwürfe aufgestellt, die bestehende Zuschreibungen erweitern, relativieren oder nivellieren können. Beispielhaft für eine poetische Partizipation an unterschiedlichen Verantwortungsdiskursen ließen sich konkret etwa die kollidierenden triuwe-Beziehungen im NibelungenliedFootnote 20 oder der huote-Exkurs in Gottfrieds TristanFootnote 21 anführen und damit zugleich zwei der Verantwortung diskursiv benachbarte Konzeptbegriffe.Footnote 22 Ferner sei beispielhaft auf die Autoresponsibilisierung des Protagonisten in Hartmanns Iwein verwiesen, der heimlich noch vor seinem König Artus die Schmach seines Vetters Kalogreant zu rächen aufbricht,Footnote 23 sowie die der vieldiskutierten Schuldfrage vorgelagerte Frage nach Gregorius’ Verantwortlichkeit am Inzest im gleichnamigen Legendenroman.Footnote 24 Responsibilisierungsnarrative können ebenfalls in der lateinischen Literatur beobachtet werden; prominent etwa im kosmologischen Diskurs der philosophischen Epen des 12. Jahrhunderts, die einerseits die Stellung des Menschen im und damit zugleich Möglichkeiten einer Verantwortlichkeit des Menschen für den Kosmos reflektieren sowie andererseits das Verhältnis von Schöpfer sowie weiterer Schöpfungs- und kosmischer Instanzen zur Schöpfung allegorisch ins Bild gesetzt diskutieren.Footnote 25 Neben Natura, in deren Verantwortungsbereich als Natura formatrix auch in volkssprachlichen descriptiones gerade die Ausgestaltung exorbitant schöner oder hässlicher Menschen fällt,Footnote 26 ist hier vor allem Fortuna zu nennen, in der das angesprochene, für die epistemologische Dimension mittelalterlicher Responsibilisierungen wesentliche Problem der Relationierung von Kontingenz und Providenz in der Tradition des Boethius seinen Ausdruck findet.Footnote 27 Produktionsseitig ist ferner von einer poetischen Responsibilisierung auszugehen, insofern mittelalterliche Verfasser immer wieder ihre Quellen für die Wahrheit ihrer Erzählungen in die Verantwortung nehmen und bestimmte Stoffe einem – durchaus diskursiv verhandelbaren – Anspruch auf eine spezifische, angemessene Ausformung in Bezug auf Aspekte wie Redeschmuck, Länge und Verschlüsselung genügen müssen.Footnote 28 In diesem Sinne sind auch die gerade in Prologen häufigen topischen Argumentationsmuster im Sinne von ›Tugend verpflichtet zur Nutzung‹,Footnote 29 ›Kunde zur Mitteilung‹ oder ›Berichten zur Vollständigkeit‹ anzuführen, bei denen immer wieder die in der Etymologie des Begriffs ›Verantwortung‹ verbürgte Nähe zur Antwort beziehungsweise zur Reaktion aufscheint.

Vor dem skizzierten Hintergrund fragen die Beiträge dieses Sonderheftes nach narrativen Mustern und Textstrategien der Responsibilisierung. Sie fragen also danach, wie vormoderne Erzählungen sowie Texte der didaktischen, Predigt- und Erbauungsliteratur die jeweils zugrundeliegenden oder schlicht behaupteten Werte- und Normhorizonte verbindlich machen, Schuldigkeit und Zuständigkeit sowie gegebenenfalls Zurechnungsfähigkeit verhandeln und interferierende oder konkurrierende Verantwortungsnahmen als solche ausstellen. Insofern die skizzierten Bedingungen für Verantwortlichkeit immer auch Fragen nach Willensfreiheit und Determination, den Grenzen menschlicher Einflussnahme sowie seiner Erkenntnis- und Schuldfähigkeit aufwerfen, versteht sich das Heft auch als Beitrag zu einer historischen Anthropologie.Footnote 30 Dabei ist der Publikationsmodus in Form einer Zeitschriftenausgabe anstelle eines Tagungsbandes bewusst gewählt, um zu signalisieren, dass das Thema mit den hier versammelten exemplarischen Studien weder mit Blick auf das Textmaterial noch auf die theoretischen Implikationen erschöpfend behandelt ist, und damit einen hoffentlich anschlussfähigen Impuls für eine weitere Beschäftigung auf diesem Feld zu geben.