Die Geschichte des Verbalabstraktums ›Verantwortung‹ ist erst ab der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisbar und damit erstaunlich jung – so heißt es in der Einleitung zu diesem Themenheft zur Responsibilisierung. Gleichwohl sei auch davor schon von verantwurten / -worten die Rede, auch wenn damit nicht immer dasselbe gemeint sei. Das Anliegen, nun im Vorfeld, nämlich in literarischen Texten des Mittelalters »nach narrativen Mustern und Textstrategien der Responsibilisierung«Footnote 1 zu suchen, ist aus meiner Sicht deshalb interessant, weil es zeigen könnte, dass Sich-Verantworten als Praxis des Gründe-Gebens bereits zu dieser Zeit die Beziehungen zwischen Menschen ebenso bestimmt wie ihr Verhältnis zur Welt und zwar nicht nur in der Philosophie, die ja schon bei Platon wesentlich auf der Praxis des logon didonai, also der Rechtfertigung beruht, sondern eben auch in der Dichtung, wenn diese zwischenmenschlichen Beziehungen und die zur Welt in anderer, inszenierter Form reflektiert und erprobt und dabei ebenso auf den Austausch von Gründen setzt. Denn auch wenn die philosophische Literatur die Verwendung des Konzepts Verantwortung mehrheitlich noch viel später datiert,Footnote 2 gehe ich davon aus, dass diese Praxis grundsätzlich, das heißt auch bevor begrifflich von Verantwortung die Rede ist, zentral für die Weise ist, wie wir als Menschen miteinander Welt teilen. Dazu werde ich im Folgenden zunächst etwas genauer ausführen, wie ich Verantwortung als Praxis des Gründe-Gebens verstehe, und dann in einem zweiten Schritt darlegen, inwiefern diese Praxis konstitutiv für unsere Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt ist. So hoffe ich zum einen, dass meine Ausführungen zur Praxis des Sich-Verantwortens durch die in diesem Heft versammelten Literaturanalysen in der Vormoderne Bestätigung finden. Zum anderen könnten meine Überlegungen rechtfertigen, warum auch zu einer Zeit, in der explizit der Begriff der Verantwortung keine Verwendung findet, dennoch von Verantwortung als Praxis des Gründe-Gebens gesprochen werden kann.

1 Verantwortung als intersubjektive Praxis des Gründe-Gebens

Insbesondere in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts ist der Begriff der Verantwortung ins Zentrum zahlreicher philosophischer Untersuchungen gerückt. Dabei geht es häufig zunächst um das ja bereits in der Antike ebenso wie im Mittelalter prominent diskutierte metaphysische Problem, ob Menschen auch in einer determinierten Welt so etwas wie Willensfreiheit haben können.Footnote 3 Nur dann kann ihnen ihr Handeln zugerechnet und können sie für die Folgen haftbar gemacht werden. Verantwortung als Zurechnung und Haftung, so die These, setzt Willensfreiheit voraus. Deshalb gelte es zu klären, ob und wie Menschen auch in einer determinierten Welt frei sein können. Dagegen habe ich mich in verschiedenen Publikationen für einen diskursiven Begriff von Verantwortung stark gemacht.Footnote 4 Ein solcher Begriff von Verantwortung geht nicht von der metaphysisch nicht abschließend zu klärenden Frage nach dem Verhältnis von Determinismus und Willensfreiheit aus und versteht Verantwortung nicht einfach als Synonym für Zurechnung oder Haftung, sondern stellt die zwischenmenschliche Praxis des Sich-Verantwortens ins Zentrum. Demnach beschreibt Verantwortung eine sprachlich verfasste Zurechnungsrelation zwischen mindestens drei Relata: Ein Subjekt hat sich beziehungsweise sein Handeln (als Objekt) vor einer Instanz zu verantworten, die das handelnde Subjekt zur Rechenschaft zieht, indem sie Gründe für sein Handeln einfordert. Sofern Subjekte mit ihren Handlungen grundsätzlich den Anspruch erheben, dass diese gerechtfertigt werden können, haben sie einen solchen Anspruch diskursiv einzulösen. Diese These möchte ich im Folgenden in fünf Schritten, die nicht deduktiv aufeinander aufbauen, sondern aufeinander verweisen, weiter explizieren.

1) Zunächst zum Begriff des Handelns.Footnote 5 Sehr allgemein werden in Handlungstheorien drei Charakteristika angenommen: Handeln ist a) ein subjektives Verhalten, dem b) eine Handlungsabsicht zugrunde liegt, die c) dem Handelnden bei der Durchführung der Handlung als Orientierung dient. Das nach dieser Definition entscheidende Merkmal einer Handlung ist die Absicht (Intention),Footnote 6 die das Subjekt handeln lässt: Ich habe die Absicht, etwas zu tun, und handle dementsprechend. Wie ausschlaggebend die Unterstellung einer Absicht für den Handlungsbegriff ist, lässt sich daran erkennen, dass wir auch dann von einer Handlung sprechen, wenn das agierende Subjekt selbst sich keiner Absicht bewusst ist.Footnote 7 Doch nur weil ich (retrospektiv) mit meinen Bewegungen eine Absicht verbinden kann, lässt sich hier von einer, zum Zeitpunkt des Vollzugs zwar unbewussten, dennoch nicht unbeabsichtigten Handlung sprechen. Dies gilt auch für die Fälle, bei denen die Absicht, die zu einer Handlung führt, nicht deckungsgleich ist mit dem, was dann tatsächlich passiert. Auch dort liegt eine Handlung nur vor, weil irgendeine Absicht das Verhalten gesteuert hat.

Handeln ist also absichtsvoll beziehungsweise intentional. Intentionalität bedeutet für das Handeln wie für die Wahrnehmung, auf etwas gerichtet zu sein und damit eine Vermittlung zwischen Bewusstsein und Welt, gleichzeitig aber auch, dass hier etwas als etwas definierbar intendiert wird. Dass wir etwas, wenn wir intentional handeln, als etwas tun, setzt jedoch nicht nur Bewusstsein voraus, sondern auch, dass dieses Bewusstsein sprachlich strukturiert ist.Footnote 8 Denn dass die Person die Absicht hat, etwas zu tun, ist eine Vorstellung, die sich ohne Sprache nicht denken lässt.Footnote 9 Erst Sprache erlaubt, das eigene Handeln Anderen zu vermitteln: Nur weil eine andere Person uns ihre zugrunde liegende Absicht sprachlich mitteilen kann, wissen wir einerseits, dass sie gehandelt hat, und können ihr andererseits, weil sie selbst über ein sprachlich strukturiertes Bewusstsein verfügt, Handlungsabsichten zuschreiben. Dabei ist Sprache nicht nur das Mittel, Wirklichkeiten zu beschreiben, vielmehr dient sie, so John Searle, dazu, »auf merkwürdige Art […] Tatsachen«Footnote 10, das heißt hier: Handelnde und deren Intentionen sowie Handlungen oder Handlungskontexte selbst erst als solche zu konstituieren. Hannah Arendts Aussage, dass es »wortloses Handeln«Footnote 11 nicht gibt, lässt sich daher über das politische Handeln hinaus so verallgemeinern, dass wir nur dann etwas als Handlung beschreiben können, wenn wir einen Vorgang in einem bestimmten durch Sprache vermittelten Kontext verstehen und wenn wir Handelnden Handlungsintentionen unterstellen, die sprachlich zu explizieren sind.

2) Wir nehmen außerdem an, dass Handelnde Gründe haben und deshalb so und nicht anders handeln. Dabei können neben subjektiven Dispositionen auch objektive Umstände, die in einer bedeutsamen Relation zur Handlungsabsicht stehen, Teil eines Handlungsgrundes werden, ebenso intersubjektiv geltende Normen oder Konventionen, Sitten und Gebräuche. Gemeinsam ist allen Gründen, dass sie eine Handlung, auch wenn sie keiner Naturnotwendigkeit entspringen mag, so weit verständlich machen, dass diese zwar nicht als zwangsläufige, aber doch für Andere nachvollziehbare Konsequenz dieser Gründe gelten kann.Footnote 12

Handlungen zeichnen sich also nicht allein dadurch aus, dass sie von einem Subjekt mit Absichten ausgehen, sondern auch dadurch, dass sie sich durch Gründe erklären lassen. GründeFootnote 13 für Handlungen dürfen zu dem Verhalten der handelnden Person nicht in offenkundigem Widerspruch stehen, sondern sollten uns das Handeln oder Verhalten so stimmig erläutern, dass wir keine Schwierigkeiten haben, es als Handlung zu akzeptieren. Handlungserklärungen können als eine erste Stufe von Handlungsbegründungen gelten, indem sie einsichtig machen, was im Selbstverständnis des Subjekts für eine Handlung bestimmend war. Dass ein handelndes Subjekt seine Handlung erklären kann, bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass es sie damit bereits so begründet hat, dass Andere sie auch für gerechtfertigt, das heißt sachlich und normativ angemessen halten, was wir bei einer Handlungsbegründung oder auch -rechtfertigung erwarten würden. In der Alltagssprache sind die Übergänge zwischen dem Erklären, Begründen und Rechtfertigen einer Handlung häufig fließend, und es wird nicht eindeutig unterschieden. Denn wer ein Handeln rechtfertigen will, sollte es auch erklären und begründen können; und in manchen Fällen reicht es für die Rechtfertigung eines Handelns aus, es zu erklären. Gleichwohl gibt es auch Bereiche, wo erklären, begründen und rechtfertigen unterschieden werden. Dabei sind diese Unterschiede dann weniger auf der Ebene der de facto angeführten Gründe auszumachen als auf der Ebene dessen, was mit der Angabe dieser Gründe intendiert wird. Zunächst geht es darum zu erläutern, worin die Handlung besteht, und darüber hinaus vielleicht noch, welchem Zweck sie dient, auf welchen Motiven sie basiert. Kurz: Diese Erklärungen, wie wir sie ganz alltäglich verwenden und die auch wesentlicher Bestandteil vieler Formen des Erzählens sind, sollen eine Art erweiterte Darstellung beziehungsweise eine »Neubeschreibung«Footnote 14 der Handlung und ihres Hintergrunds geben. Eine Begründung geht eindeutig über eine eher deskriptiv angelegte Darstellung einer Handlung hinaus: Diese soll eben nicht allein erklärt, sondern zudem durch die Angabe von Gründen so weit als verständlich ausgewiesen werden, dass sie, wenn auch vielleicht nicht als notwendig, so doch in ihrem Handlungskontext als richtig beziehungsweise angemessen zu bewerten ist.

Zur weiteren Unterscheidung zwischen begründen und rechtfertigen ließe sich darauf hinweisen, dass das Handlungssubjekt bei der Rechtfertigung seiner Handlung mehr noch als bei deren Begründung in der Lage sein muss, solche Argumente für sein Handeln anzuführen, die auch intersubjektiv als gute Gründe anerkannt werden können, indem es einsichtig zu machen versucht, warum es so und nicht anders handeln sollte. Wenn Andere diese Begründungen als gute Gründe für sein Handeln akzeptieren, hätte der Handelnde damit sein Handeln auch gerechtfertigt. Andernfalls hat er zwar sein Handeln begründen, jedoch nicht rechtfertigen können. Die Unterscheidung von Begründung und Rechtfertigung lässt sich somit in erster Linie beschreiben als eine Verschiebung des Fokus vom Subjekt der Begründung auf die Instanz, die berufen ist, die Begründung als Rechtfertigung einer Handlung anzuerkennen.

3) Jede Form von Handlung ist in einem Bedeutungszusammenhang zu sehen, der auf andere Subjekte verweist und durch diese erst konstituiert wird – diese sind direkte Adressaten oder Interaktionspartner, werden von den Konsequenzen einer Handlung potentiell oder aktuell betroffen, sie beobachten und bewerten unser Handeln, oder sie gehören zu den unspezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen wir handeln.

Handlungen geschehen also in einer immer schon intersubjektiv geteilten Welt. Doch nicht nur verweist alles Handeln auf andere Menschen, vielmehr bestimmt auch der jeweilige Handlungskontext – der soziale Raum, in dem eine Handlung stattfindet –, welche Handlungen vollzogen werden, wie diese zu interpretieren sind und welche Gründe angeführt werden können oder müssen, um ein Handeln zu rechtfertigen. Dabei konstituieren, prägen oder modifizieren Handlungen ihrerseits nicht allein als physische Einwirkung auf andere Objekte, sondern durch die mit ihnen verbundenen Interpretationen und Sinngebung wiederum den Kontext, in dem sie stehen, und dieser wird seinerseits als Hintergrund oder Voraussetzung für weitere Handlungen unterschiedlicher Akteure verstanden.

In komplexen Situationen oder Problemlagen ist deshalb immer wieder neu zu prüfen und zu sortieren, ob und inwiefern Handlungen einem bestimmten Kontext eindeutig zugeordnet werden können; auch kann sich das, was als Kontext einer Handlung angesehen wird, mit dem Zeitpunkt oder der Perspektive der Reflexion ändern: Jahre später entdecken wir möglicherweise, welche bis dahin uns verborgenen Implikationen eine Handlung hatte und in welchem Kontext wir sie deshalb auch hätten betrachten sollen – und natürlich ist das ebenfalls nicht für immer feststehend: Während z. B. jahrhundertelang der Verweis auf göttliche Gebote als Rechtfertigung für Handlungen – auch außerhalb eines rein religiösen Handlungskontextes – dienen konnte, sind theologische Argumente heute und hierzulande eher selten als Handlungsgrund anerkannt. Insofern kann die Unterscheidung und eindeutige Festschreibung bestimmter Kontexte problematisch sein, auch wenn sie für viele Handlungssituationen durchaus sinnvoll oder nützlich sein mag.

Die Interpretation einer Handlung wie die ihrer Gründe erfordert also die Einbeziehung relevanter Situations- oder Kontextmerkmale. Dabei ist nicht a priori festgelegt, welche Merkmale relevant sind, vielmehr verlangt diese Festlegung Urteilskraft. Erneut spielen unterschiedliche subjektive Dispositionen oder Präferenzen eine Rolle. Während bei bestimmten Handlungsentscheidungen die Rücksicht auf Andere und die Einbeziehung ihrer Interessen eher nebensächlich sein kann, gibt es doch auch viele Entscheidungen, bei denen Andere von der subjektiven Entscheidung direkt oder mittelbar betroffen sind und deshalb unbedingt ein Recht auf die Berücksichtigung ihrer Interessen haben. Folglich lassen sich – je nach Handlungskontext – verschiedene und unterschiedlich berechtigte Ansprüche unterscheiden.

4) Wer handelt, meint oder hofft zumindest, dass dieses Handeln die zugrundliegende Absicht optimal oder zumindest besser als mögliche Handlungsalternativen erfüllt. Ob das gelingt, bemisst sich zunächst daran, wie weitgehend sie der Absicht des Handelnden entspricht. Eine solche teleologische Handlungsrationalität basiert auf starken Idealisierungen.Footnote 15 Sie setzt eine isolierte Absicht A voraus sowie eine endliche, ebenfalls isoliert zu betrachtende Anzahl von diese Absicht zu realisierenden Handlungsoptionen, aus denen das Subjekt dann diejenige wählt, die seine Absicht am besten verwirklicht. Doch tatsächlich handeln Menschen in einer Welt, in der Absichten, Gründe und auch Handlungen miteinander verflochten ein dichtes Netz bilden, das seine Bedeutsamkeit gerade aus der Mitkonstitution durch Andere gewinnt. Damit wir überhaupt entscheiden und entsprechend handeln können, wird dieses Netz in unseren Gedanken und Vorstellungen vereinfacht, werden bestimmte Elemente ausgeblendet, andere stärker hervorgehoben. Dies tun wir nach Maßgabe unserer eigenen Wertvorstellungen und den (vermuteten) Bewertungen unserer Interaktionspartner. Je umfassender diese verschiedenen Faktoren berücksichtigt werden, als desto komplexer erweist sich der Optimierungsanspruch und als desto weniger adäquat das Modell der Mittel-Zweck-Rationalität. Es wird dann nicht mehr allein zwischen klar definierten und eindeutig unterschiedenen vorgegebenen Handlungsalternativen gewählt. Vielmehr hat das Handlungssubjekt erst noch zu entscheiden, welche Bestandteile des Netzes überhaupt einbezogen werden – eine Entscheidung, die, sofern eine Person beansprucht, begründet zu handeln, ihrerseits zu rechtfertigen ist.

Darüber hinaus bestehen die mit diesem Handeln verbundenen Ansprüche ebenfalls nicht allein vor dem handelnden Subjekt, sondern auch vor Anderen. Das bedeutet zunächst, dass diese Anderen die Handlungen in ihrem Optimierungsanspruch nachvollziehen können. Im vollen Sinne als berechtigt erachten können sie solche Handlungen aber nur, wenn sie in der Handlungsentscheidung in dem Umfang mitberücksichtigt werden, in dem sie von den Handlungen betroffenFootnote 16 sind.

Ein Handlungskontext und, damit verbunden, eine Aussage darüber, wer von einer Handlung betroffen ist und vor wem man sich rechtfertigen muss, steht nicht ein für alle Mal fest, sondern kann sich ändern beziehungsweise enger oder weiter gefasst werden. Der grundsätzlich bestehende Zusammenhang von Handlungen und Intentionen ist in vielen konkreten Fällen ein so komplexer Prozess, dass die dabei implizit erhobenen Geltungsansprüche nicht offensichtlich, sondern ihrerseits erst diskursiv im Medium der Sprache zu ermitteln sind.Footnote 17 Ansonsten bleibt mehrdeutig, welchen Anspruch der Handelnde mit seiner Handlung verbindet (außer dem sehr allgemeinen, dass sie die optimale Realisierung seiner Handlungsabsichten ist).Footnote 18

Welchen Rechtfertigungsanspruch eine handelnde Person vor wem mit welchen Gründen einzulösen hat, hängt ebenfalls von der Art der Handlung, ihrem Kontext und der Betroffenheit anderer ab. Wie wir eine Handlung zuordnen und dementsprechend interpretieren, steht auch hier nicht ein für alle Mal fest, sondern kann sich immer wieder ändern; trotzdem ist die Festlegung keinesfalls willkürlich, da sie sich auf überprüfbare Tatsachen und Gründe stützen muss.

Grundsätzlich haben sich Menschen selbst dann zu rechtfertigen, wenn sie der Auffassung sind, sich nicht weiter rechtfertigen zu müssen; sie haben dann zu begründen, wieso Andere von ihrem Handeln und Verhalten nicht betroffen sind. Dabei reicht es jedoch nicht, dass sie das aus ihrer eigenen Perspektive tun; sie müssen diese, wie Rainer Forst betont, um die Gründe erweitern, »die andere geltend machen – und zwar nicht in Bezug darauf, wie ich leben soll, sondern welches Verhalten ich ihnen gegenüber rechtfertigen kann«.Footnote 19

5) Handeln ist also intentional und basiert auf Gründen, es findet innerhalb einer mit Anderen geteilten Welt statt und ist generell mit dem Anspruch verbunden, dass es sich vor Anderen (davon Betroffenen) rechtfertigen lässt. Insofern ist die den Begriff Verantwortung charakterisierende Forderung und Fähigkeit, das eigene Handeln durch Gründe zu rechtfertigen, bereits im Begriff des vernünftig orientierten Handelns enthalten und damit den handelnden Menschen nicht erst nachträglich von außen auferlegt. Da wir aber bei keinem Handeln wirklich ausschließen können, dass es nicht doch auch Andere betrifft, steht jegliches Handeln unter dem Anspruch, dass es vor Anderen begründet werden kann.

So lässt sich festhalten: Verantwortliches Handeln setzt voraus, dass es von allen von dieser Handlung potentiell Betroffenen als gerechtfertigt anerkannt wird. Voraussetzung hierfür ist neben der Fähigkeit des Subjekts zu handeln, dass die Beteiligten sich mit dem Handlungssubjekt über dessen Handlungsabsichten und -gründe sowie über ihre möglicherweise davon tangierten Interessen verständigen können, woraus sich ein Rechtfertigungsdiskurs ergibt. Verantwortung haben beziehungsweise verantwortlich sein heißt also, diesen Anspruch (retrospektiv) durch die Angabe von intersubjektiv nachvollziehbaren und einsehbaren Gründen einzulösen oder (prospektiv) das eigene Handeln daran zu orientieren, dass möglichen berechtigten Rückfragen dazu zufriedenstellend geantwortet werden kann. Im Alltag mag dies ein kaum realisierbares Ideal sein, gleichwohl kann und sollte dieses Ideal im Sinne einer regulativen Idee handlungsleitend sein. Der Literatur hingegen, insofern sie Realitäten selbst konstruiert und Rechtfertigungspraktiken ebenso wie ihre Kontexte idealtypisch sowie mithin polyperspektivisch darstellen kann, eröffnen sich hier weitreichende Möglichkeiten, umfassende Begründungen zu modellieren und auf ihre Geltung hin zu befragen.

2 Verantwortung als Aspekt menschlichen In-der-Welt-Seins

Nachdem ich nun genauer erläutert habe, wie Verantwortung als intersubjektive Praxis des Gründe-Gebens zu verstehen ist, werde ich nun meine zweite These weiter erläutern, dass Verantwortung konstitutiver Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen ist – und zwar eben nicht erst seit explizit von Verantwortung die Rede ist. Diese These möchte ich in vier Schritten ausführen:

1.) Sprache wird allgemein verstanden als Raum oder Medium,Footnote 20 in dem Menschen einander sich, ihre Sicht auf die Welt und die der Anderen mitteilen und teilen und dabei miteinander sind. Dabei setzt Sprache immer voneinander getrennte Wesen voraus. Bestünden indes zwischen diesen voneinander körperlich getrennten Wesen nicht zugleich Formen der Verbundenheit, wäre kein sprachlicher Austausch möglich. Menschen können sich nur verständigen, weil sie als in ihrer Wahrnehmung ansonsten getrennte Wesen in einer gemeinsamen Sprache Welt teilen können.Footnote 21

Damit ist Sprache, wie Hans-Georg Gadamer hervorhebt, »nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben«;Footnote 22 umgekehrt ist Welt »der gemeinsame, von keinem betretene und von allen anerkannte Boden, der alle verbindet, die miteinander sprechen«, und Sprache bildet »durch den Vollzug der Verständigung erst [deren] Wirklichkeit«.Footnote 23 Deshalb ist sie konstitutiv für die Weise, in der Menschen miteinander in dieser Welt sind. Gleichzeitig ist aber Sprache Ausdruck von Welt. Welt haben und der Sprache teilhaftig sein implizieren einander. Etwas spezifischer stellt sie auch das Medium dar, in dem Menschen sich gegenseitig als Subjekte erfahren und die Welt als eine, die von anderen Subjekten gleichfalls erlebt wird; in der Sprache teilen sich die Subjekte mitFootnote 24 und kommunizieren, wie sie einander und die Welt erfahren, wie sie miteinander und mit der Welt agieren und interagieren.Footnote 25 In einer gemeinsamen Sprache haben Menschen also überhaupt erst eine (geteilte) Welt und wird die Welt für sie zu einer bedeutsamen Welt.

2.) Gleichzeitig sprechen Menschen, indem sie über und von etwas sprechen, Andere an und erfahren sich selbst von diesen als Gegenüber angesprochen. Denn mit jeder Aussage, Frage, Aufforderung, Interaktion etc. ist nicht nur ein Sprecher impliziert, und es geht nicht nur um ›Sätze‹, das heißt um eine Mitteilung von InhaltenFootnote 26 über diese Welt. Mit jedem Sprechakt wird auch immer eine Person angesprochen, mag diese auch, etwa in Reden oder bei literarischen Werken, ein abstraktes Kollektiv oder, wie im Selbstgespräch, das eigene IchFootnote 27 sein. Sprache hat neben – vielleicht sogar vor – der kommunikativen eine phatische Funktion, mit der sie den Kontakt zum Anderen herstellt oder hält.Footnote 28 Jeder Sprechakt setzt grundsätzlich ein Gegenüber voraus, denn ohne einen Adressaten ginge er ins Leere und wäre gar nicht vorstellbar. Ein solcher Adressat muss wesentlich als vom sprechenden Subjekt getrennt und darf auch nicht einfach nur als Vorstellung des sprechenden Subjekts gedacht werden. So hat Emmanuel Lévinas in Totalität und Unendlichkeit betont:

[…] Die Beziehung der Sprache setzt die Transzendenz voraus, die radikale Trennung, die Fremdheit der Gesprächspartner, den Anderen, der sich mir offenbart. Anders gesagt: Die Sprache wird da gesprochen, wo die Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Termini fehlt, wo die gemeinsame Ebene fehlt, wo sie erst konstituiert werden muß. Die Sprache steht in dieser Transzendenz.Footnote 29

Jemanden ansprechen bedeutet gleichzeitig vorauszusetzen, dass die angesprochene Person antworten kann und antwortet, und darüber hinaus, dass diese Person auf den Sinn des an sie gestellten Anspruchs eingeht und damit auf den mitgeteilten Sachverhalt und vor allem auf die Intention des Anspruchs. Diese Erwartungen werden oft nur in Ansätzen oder gar nicht erfüllt. Gleichwohl: Dass Erwartungen mit dem (An‑)Sprechen verbunden sind, zeigt sich deutlich, wenn beispielsweise ein mangelhaftes Verständnis oder Missverständnis oder das Ausbleiben einer Reaktion denjenigen, der einen Anderen angesprochen hat, verärgert, enttäuscht oder beunruhigt.

Auch ohne aktuell angesprochen zu sein, sind Menschen als sprachliche Wesen immer schon potentiell angesprochen – bereits dadurch, dass sie grundsätzlich von der Rede Anderer erreicht werden, sind sie der SpracheFootnote 30 teilhaftig und sprachliche Wesen und haben als solche die Möglichkeit, mit anderen Menschen Welt zu teilen und können sich einer Antwort (zumindest im erweiterten Sinn einer Reaktion) nicht entziehen.Footnote 31 Denn sobald Menschen »von […] einem Ansprechen, das einen Anspruch erhebt, getroffen«Footnote 32 sind, ist jedes darauf folgende Handeln und Verhalten, so Bernard Waldenfels, auf diesen Anspruch bezogen und damit nolens volens eine Antwort.Footnote 33 Sogar in einer zugespitzten Konfliktsituation ist es nicht möglich, die an uns gerichteten sprachlichen Äußerungen des Anderen einfach zu ignorieren, und das bedeutet zugleich, dass wir nicht umhin können, den Anderen als Menschen wahrzunehmen, der uns als Menschen anspricht. Denn selbst wenn jemand eine an ihn gerichtete Aufforderung nicht versteht, lässt seine Reaktion zumeist erkennen, dass er zwar wahrgenommen hat, von jemandem angesprochen zu sein, nur den Inhalt dieses an ihn gerichteten Anspruchs nicht begreift (oder die implizierte Beziehungszumutung nicht akzeptiert). Häufig wird dann versucht werden, zunächst darüber zu kommunizieren, wie man sich überhaupt verständlich machen kann, um dann nach gelungener Meta-Kommunikation in einem zweiten Schritt die inhaltliche Verständigung möglichst wieder aufzunehmen.

Sprechen, Angesprochen-Werden, Antworten sind also nicht voneinander zu trennende Bestandteile oder Aspekte von Interaktionsprozessen. Diese können immer auch non-verbale Sequenzen enthalten. Gleichwohl finden alle Handlungen nicht in einer vor oder neben der Sprache liegenden, sondern in einer durchweg sprachlich strukturierten Welt statt.

3.) Allgemein kann jedes Sprechen oder Handeln als eine Antwort auf Andere verstanden werden. In diesem Sinne antworten Menschen als sprachliche Wesen notwendig. Damit bekunden sie nicht allein sich als sprachliche Subjekte, sondern sie anerkennen zugleich Andere als sie ansprechende Personen. Diese Anerkennung vollzieht sich dabei jedoch zumeist gerade nicht in dem Sinne, dass Menschen Andere »als ansprechende Personen« erkennen, vielmehr haben sie Andere, indem sie ihnen antworten, implizit immer schon anerkannt: Denn ebenso, wie bei jedem Sprechakt ein Adressat mitzudenken ist, antworten Menschen auch nur, wenn sie jemandem auf seine Mitteilung, seine Frage, seine Erwartung, sein direkt oder indirekt an sie gerichtetes Handeln antworten. Die hier mit »Anerkennung« beschriebene Weise, wie wir andere Menschen erfahren, transzendiert nicht nur die Sinneswahrnehmung,Footnote 34 sie ist auch weniger als Bewusstseinsakt zu identifizieren, den wir in Form einer Proposition fassen können; vielmehr ist Anerkennung als eine besondere HaltungFootnote 35 zu verstehen, die wir anderen Menschen gegenüber einnehmen, und zwar unabhängig davon, als welche konkrete Person wir sie erkennen. Wir anerkennen andere Menschen unmittelbar, sobald wir ihnen begegnen.

Anerkennen ist also von Erkennen zu unterscheiden. Gleichzeitig stellen diese beiden Modi der Erfahrung weder zwei sich ausschließende alternative Weltbezüge dar, noch haben sie zwei voneinander strikt unterscheidbare Objekte. Wir anerkennen den anderen Menschen, den wir zugleich mit Hilfe unserer Sinneserfahrung und unseres Bewusstseins als bestimmte Person erkennen. Erst in der Verschränkung dieser beiden Beziehungsmodi nehmen wir Menschen als Menschen wahr. Anerkennung als eine Haltung anderen Menschen gegenüber ist ein konkreter alltäglicher, in unserem Verhältnis zu Anderen allgegenwärtiger Bezug und konstitutiv für die Weise, wie Subjekte sich in dieser Welt vorfinden.

4.) Mit jeder Antwort (im oben beschriebenen Sinne) beansprucht das sprechende Subjekt idealiter, auf Andere, auf das Angesprochensein und auf die darin enthaltenen Erwartungen so, wie es sie versteht und bewertet, angemessen zu reagieren. Ob und wie Menschen antworten, ruft nicht nur verschiedene Reaktionen hervor, vielmehr realisiert, strukturiert und präzisiert sich das Verhältnis der Interaktionspartner und damit ihre gemeinsame Welt mit jeder gegebenen Antwort auf die eine oder andere Weise. Menschen greifen, indem sie Anderen antworten, in diese Welt ein, gestalten und verändern sie. Keine gegebene Antwort bleibt dabei jemals als eine wirklich endgültig letzte Antwort stehen, denn es antworten wieder Andere, die von ihr angesprochen sind, und hierauf wird erneut geantwortet.

Gleichzeitig bedeutet Antworten und Sprechen aber auch, über oder von etwas zu sprechen, für das Menschen, indem sie sich äußern, zumindest implizit beanspruchen, dass es sich erklären und – mehr oder weniger überzeugend – rechtfertigen lässt. Denn würden sie etwas gänzlich ohne diesen Anspruch äußern, würde sich die von ihnen gemachte Äußerung als sinnlos oder sinnentleert erweisen; sie könnte nicht mehr verstanden werden, und der Sprecher würde, geschähe dies dauerhaft, als sprachgestört gelten.

Jeder Anspruch kann von Anderen in Frage gestellt werden. Und ähnlich wie die mit jeder Handlung erhobenen Ansprüche sich unterscheiden, können sie auch auf verschiedene Weise in Frage gestellt werden. In diesem Fall muss die handelnde Person erneut – und je nach Kontext – auf verschiedene Weise antworten, sofern sie ihren Anspruch, dass sich ihr Handeln rechtfertigen lässt, weiter aufrechterhalten will. Sie tut dies, indem sie Intentionen näher expliziert, indem sie zusätzliche Informationen über Kontext und Handlungsabsicht zur Verfügung und zur Diskussion stellt und vor allem, indem sie Begründungen für ihre Antwort oder ihr Verhalten gibt, die dieses als verständlich und als im beanspruchten Sinne legitim rechtfertigen sollen. Solche Begründungen werden je nach Kontext verschieden ausfallen. Sobald also Menschen den mit ihrem Handeln erhobenen Anspruch, dass es zu rechtfertigen ist, diskursiv einlösen, verantworten sie sich vor Anderen. In diesem Sinne hat Karl Löwith Verantwortung beschrieben als

über etwas zu einem andern so reden, daß man der Antwort des andern wiederum Rede steht […]. Dieses auf sich Zurückkommenlassen des Gesagten hat zur Bedingung, daß das Ausgesprochene vom Sprechenden selbst, und zwar als etwas zu einem andern Gesagtes, bei sich behalten wird – […] im Sinne des Einstehens für das Gesagte.Footnote 36

Jede Rede ist eingebettet in eine durch Andere geteilte und durch diese mitbestimmte Sprache. Sie bezieht sich mehr oder weniger direkt oder weitläufig auf vorangegangene Sprachsequenzen und kann daher immer auch als Antwort auf Andere, auf aktuell oder in entfernterem zeitlichen Zusammenhang gemachte sprachliche Äußerungen beschrieben werden. Entsprechend ist auch Handeln in Interaktionszusammenhängen zu verstehen und dann als Reagieren oder Antworten auf vorausliegendes Handeln zu interpretieren. Beides, Sprechen und Handeln, ist dabei eng miteinander verwoben: Sprechen ist immer auch ein Handeln, und Handeln ist als intentionales, sich auf Gründe stützendes auf Sprache angewiesen. Und beides ist, dies sei hier noch einmal hervorgehoben, durch andere Subjekte, mit denen wir Welt teilen und die wir anerkennen, mit konstituiert, beides realisiert sich in dieser mit Anderen geteilten Welt; beides ist mit dem Anspruch verbunden, zumindest im Ansatz oder von der Intention her, verständlich und, je nach Kontext, rechtfertigbar zu sein; denn Reden und Handeln, das von Anderen grundsätzlich nicht mehr verstanden werden kann, stünde außerhalb dieser geteilten Welt von Gründen und ließe sich dann auch nicht mehr als Rede und Handeln beschreiben. Es verlöre Legitimation und Geltung.

Allerdings gibt es erhebliche graduelle Abstufungen, in welchem Ausmaß Sprechen und Handeln zu verstehen und zu rechtfertigen sind, und die Übergänge können fließend sein: Je klarer Menschen sich in der Rede und im Handeln Anderer berücksichtigt sehen, desto eher können sie deren explizierte oder implizierte Ansprüche als berechtigt akzeptieren. Allerdings sind, auch wenn die Berücksichtigung nicht oder nicht vollständig erreicht wird, Handlungen auch dann noch als Handlungen zu verstehen. Je weniger diese allerdings gelingt, desto mehr verlieren Interventionen den Anspruch – inhaltlich oder überhaupt als bedeutsame Rede oder Handlung gelten zu können. Auch ist zwischen verschiedenen Berechtigungsgraden zu unterscheiden, die zu begründen sind. Sowohl die an Andere gestellten Ansprüche als auch die Weise, wie Menschen darauf Anderen antworten, sich vor ihnen verantworten, präzisieren, bestimmen und strukturieren ihr Verhältnis zueinander und damit die kommunikativen Grundlagen einer potentiell von allen geteilten Welt.


Die Geschichte des Verantwortungsbegriffs ist, wie gesagt, eine verhältnismäßig kurze. Nichtsdestotrotz scheinen die in diesem Begriff zusammengefassten sprachlich vermittelten Handlungen und BeziehungenFootnote 37 die Weise zu bestimmen, wie Menschen miteinander Welt teilen – und zwar auch da, wo (noch) nicht explizit von Verantwortung die Rede ist. Diese These zu überprüfen ist zugegebenermaßen insofern schwierig, als uns für viele historische Epochen Zeugnisse einer solchen häufig mündlichen Praxis nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt in Form von verschriftlichen Berichten zugänglich sind. In der Literatur hingegen lassen sich jedoch, wie in den folgenden Beiträgen dieses Themenschwerpunkts mit Blick auf das Mittelalter dargestellt wird, nicht nur wichtige Aspekte und Komponenten dessen aufzeigen, was wir heute Verantwortung nennen; zudem bietet sie einen Raum, in dem Konzeptionen einer solchen sozialen Praxis entworfen und reflektiert werden können. In der Vormoderne stehen dabei, wie der Themenschwerpunkt zeigt, vor allem Fragen danach im Vordergrund, in welchem Rahmen kausale Zurechnungen und nach welchen Regeln soziale Zurechnung vorzunehmen oder zu bewerten sind. Das gilt einerseits mit Blick auf die feudale Elite, die sich allererst als solche institutionalisiert, auch indem sie durch Stilisierung und Idealisierung des eigenen Standes sowie durch die Etablierung von zwischen Utopie und Idealisierung changierenden Normen und Regularien dieser neuen Institution Beständigkeit zu verleihen versucht. Sie muss dafür das sich erst herausbildende Selbstverständnis des Kriegerstandes mit der klerikalen Weltdeutung in Einklang bringen. Andererseits nimmt in der Literatur der europäischen Vormoderne, besonders des christlichen Mittelalters, stets auch Gott selbst den Platz der Instanz ein, vor der es sich und in Bezug auf die es sich zu verantworten gilt. Diese Instanz bedarf selbst keiner Rechtfertigung für ihr Handeln und ihre Urteile sind unanfechtbare Offenbarungen. Mit einer solchen Berufung auf göttliche Autorität verbunden ist der für das Mittelalter zentrale christliche Impetus zur Imitatio Dei sowie das in der Regel individuell, aber zum Teil auch kollektiv zu erstrebende Seelenheil als Kriterien der Rechtfertigung.

Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten dieser Zeit ist dabei also auch insofern aufschlussreich, als in ihr Praktiken der Zurechnung, des Zur-Rechenschaft-Ziehens und der Rechtfertigung nicht nur exemplarisch geschildertFootnote 38 und dabei auch die Bedingungen für Zurechenbarkeit, Schuld und Strafe verhandelt werden, etwa in direkter Gegenüberstellung zu Tieren und Gott. Vielmehr werden gleichzeitig die genannten Bedingungen und auch die Formen der Zurechnungs- und Rechtfertigungspraktiken ebenso wie der normative Rahmen modellhaft vorgegeben und damit auf ihre jeweils neu auszuhandelnde Geltung hin befragbar.