1 Tierprozesse und tierepische Gerichtsverfahren

Tiere können weder für ihr Handeln noch für ihre Gesinnung in die Verantwortung genommen und schon gar nicht juristisch belangt werden oder, umgekehrt, selbst Rechte geltend machen. Tiere waren schon im römischen Recht keine Rechtspersonen (personae: freie Bürger), sondern galten als Sachen (res: Sklaven und Nutztiere),Footnote 1 und noch heute werden sie in deutschen Gerichtsverfahren regelmäßig »wie Sachen« behandelt – »[o]bwohl im Jahre 1990 ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgeschrieben wurde, dass Tiere keine Sachen sind (§ 90a BGB)«,Footnote 2 und dass ein Tierschutzgesetz sie in spezifischer Weise schützen muss. Zwar gibt es in Deutschland ein solches Tierschutzgesetz, und der Tierschutz ist seit 2002 noch dazu im Grundgesetz als Staatsziel verankert,Footnote 3 doch »hat sich an der ›sachenrechtlichen‹ Einordnung von Tieren im Grunde nichts geändert«,Footnote 4 was von Tierrechtsaktivisten kritisiert, in den Critical Animal Studies problematisiert und auch rechtswissenschaftlich diskutiert wird.Footnote 5

Tiere nicht (wie im modernen Staat bis 1990) ›als‹ Sachen zu behandeln, nicht einmal ›wie‹ Sachen (wie in der gegenwärtigen deutschen Rechtsprechung), hätte freilich auch eine gewisse Tradition. Zumindest in der Zeit »vor der Rezeption des römischen Rechts« (also vor dem 12. Jahrhundert) wurden Menschen und Tiere etwa »im mittelalterlichen Unrechtsausgleichssystem« auf Grundlage »eine[r] lebensnahe[n] Rechtsanschauung […], die die Verletzung von Lebewesen von der Beschädigung nicht belebter Dinge unterscheidet […], nach denselben Grundsätzen behandelt«:Footnote 6 Sowohl für die Tötung oder Verstümmelung von Menschen (Freien wie Unfreien) als auch für die von Tieren musste Wergeld gezahlt werden, das sich einerseits nach dem Stand des Opfers, andererseits nach der Schwere der Verletzungen richtete. Ein vielleicht weiter reichendes Beispiel gar für eine vormoderne ›Gleichstellung‹ von Menschen und Tieren in Gerichtsverfahren findet sich in Tierprozessen, die seit dem späten Mittelalter vereinzelt »in frankophonen, aber auch in schweizerischen, westdeutschen, flämischen und anderen Territorien«, vor allem in der »Gegend um Paris und Lausanne, auch Lothringen« abgehalten worden sein sollen:Footnote 7 Hier fanden scheinbar unter der Prämisse, dass Tiere als Rechtssubjekte konzipiert werden können, als »Träger relevanter Interessen und subjektiver Rechte«Footnote 8 wie auch »als rechtlich verantwortliche und schuldfähige Personen«,Footnote 9 formale Gerichtsverfahren gegen Tiere statt. Bemerkenswert ist an Berichten über (oder Erzählungen von) Gerichtsverfahren gegen Schweine, die Kinder verletzt haben,Footnote 10 oder gegen Insekten und Kleinnager, die ganze Ernten bedrohen,Footnote 11 vor allem, dass die angeklagten Tiere juristisch als »[r]ational handelnde, schuldfähige, sprachbegabte und mit Rechten versehene« Personen konzipiert werden,Footnote 12 obwohl all dies schon den zeitgenössischen gebildeten Diskursen über Tiere, Menschen und Mensch-Tier-Beziehungen widerspricht: In theologischen, anthropologischen, naturkundlichen und auch juridischen Diskursen steht zumeist außer Frage, dass Tiere kategorial von Menschen geschieden sind;Footnote 13 naturkundlich konnte das etwa mit der mangelnden Sprachfähigkeit oder fehlenden Vernunft der Tiere begründet werden, anthropologisch ähnlich und mit der Würde des Menschen, theologisch durch den Hinweis auf die Sonderstellung des Menschen als Ebenbild Gottes oder auf den Herrschaftsauftrag der Genesis, juristisch etwa im Blick auf die Digesten, in denen Tiere als Sachen konzipiert sind. Entgegen dem Wissensstand der Zeit werden Tiere in (Erzählungen von) Tierprozessen also scheinbar zu Rechtssubjekten erhoben und für den Moment des Gerichtsverfahrens Menschen gleichgestellt – sie werden responsibilisiert.

Michael Fischer hat demgegenüber überzeugend dargetan, dass die weitgehende Responsibilisierung von Tieren in Tierprozessen allenfalls als Rechtsfiktion zu verstehen wäre, die benötigt worden sein mag, um eine Ordnungsverletzung zumindest symbolisch, durch die Bestrafung eines tierlichen Verantwortlichen zu heilen. Jederzeit aber sei den Akteuren bewusst geblieben, dass eine juristische Responsibilisierung von Tieren nicht zu begründen ist. Selbst während der Tierprozesse wäre man sich im Klaren gewesen, dass Menschen und Tiere juristisch eigentlich unterschiedlich zu behandeln sind, Menschen als Rechtssubjekte, Tiere als Objekte des Rechts.Footnote 14 Hinzu kommt: Wenn auch sowohl Zeugnisse des frühmittelalterlichen Unrechtsausgleichssystems als auch möglicherweise die spätmittelalterlichen Tierprozesse anzeigen, dass Tiere im Mittelalter juristisch nicht nurFootnote 15 ›als‹ oder ›wie‹ Sachen betrachtet worden sind, sondern auch als von Sachen zu unterscheidende Lebewesen, finden sich weder hier noch dort systematisch angelegte Versuche, Tiere als Träger eigener Rechte zu fassen oder die Konzeption des (freien) Menschen als (einzigem) Rechtssubjekt zu überdenken.Footnote 16 Verantwortung wird in argumentativ verfassten Schriften ebenso wie in normativen juridischen Texten nur dem Menschen zugeschrieben, der kategorial vom Tier unterschieden bleibt.

Doch während keinerlei Versuche tradiert sind, eine Theoriesprache der Verantwortung im Horizont einer radikalen Verunsicherung der Mensch-Tier-Differenz zu entwickeln, lassen sich durchaus einige Versuche ausmachen, Verantwortung narrativ anders zu beschreiben: In tierepischen Erzählungen, insbesondere in solchen von Gerichtsverfahren gegen den Fuchs, der Hühner gefressen hat, wird nicht nur die augenscheinliche Absurdität der Responsibilisierung eines Tiers für sein natürliches (Fress‑)Verhalten reflektiert, sondern mitunter auch eine grundsätzliche Reflexion über die Zuschreibung von Verantwortung an Menschen angestoßen. Anders als in philosophisch-theologischen und juridischen Diskursen der Zeit gerät der Mensch hier oftmals weniger hinsichtlich seiner ontologischen Unterschiedenheit von Tieren in den Blick, sondern wird gerade auch als Tier unter Tieren vorstellbar. In den tierepischen Erzählungen von Gerichtsverhandlungen gegen den Fuchs liegt augenscheinlich zwar eine ganz andere Situation vor als etwa in den ›realen‹Footnote 17 Tierprozessen, wird der Fuchs doch nicht vor ein wirkliches menschliches Gericht gerufen, sondern vor das fiktive Gericht des Löwenkönigs im fiktional konstruierten Tierreich. Zudem scheint der Fuchs ja keinen Menschen, sondern ein Tier getötet zu haben. Doch schon weil der Löwe als König und sein Gericht als Hofgericht oder Hoftag inszeniert werden, und weil zugleich von Episode zu Episode, teils von Sprechakt zu Sprechakt und selbstverständlich auch von Erzählung zu Erzählung neu ausgehandelt wird, inwieweit die Handlungen der Tierfiguren ihnen wie Menschen zugerechnet werden können oder eben etwa aufgrund ihrer Natur nicht zurechenbar sind,Footnote 18 scheinen hier erstaunliche Freiheitsgrade für die Reflexion und Modifikation tierlicher und – in letzter Konsequenz – vor allem menschlicher Verantwortung auf.

Besonders prekär und zugleich relevant für die vorliegenden Zusammenhänge wird die tierepische Reflexion über die Verantwortung der Figuren dann, wenn die Tierfiguren selbst mit ihrer Natur oder der Natur ihrer Gegenüber argumentieren und so Unsicherheiten der Zuschreibung von Verantwortung an Tiere oder Menschen artikulieren. Prominent geschieht das bereits in der Erzählung Le jugement de Renart,Footnote 19 die als wohl wirkungsträchtigste branche (›Erzählzweig‹) des Roman de Renart am Anfang der volkssprachlichen Erzähltradition tierepischer Gerichtsverfahren gegen den Fuchs steht. Spätere Erzählungen konnten vielfach an die branche anknüpfen, ohne je gänzlich in ihrer narrativen Episteme aufzugehen. Die darin unter anderem verhandelte Frage, ob der Fuchs Renart für die Tötung eines Huhns zur Rechenschaft zu ziehen ist, kann dabei schon innerhalb der erzählten Welten nicht leicht beantwortet werden, ihre Beantwortung bleibt oftmals umstritten, oder sie wird umgangen. Aus einer analytischen Perspektive zeichnet sich zumindest ab, dass es leichter fällt, den Tierfiguren Verantwortung für ihr Handeln zuzuschreiben, wenn sie in ihrem Handeln, Reden und Gestikulieren, ihren Fähigkeiten, ihren Emotionen, aber auch hinsichtlich ihrer Ausstattung mit Gegenständen oder Materialien, ihrer sozialen Handlungsregeln und selbst hinsichtlich der Räume, in denen sie sich bewegen, eher anthropomorph inszeniert werden. Doch bricht das Tierliche der Figuren immer wieder hervor und verunsichert zum Einen die Zuschreibung von Verantwortung innerhalb der erzählten Welten, zum anderen macht es die Reflexion über die Konsequenzen, die sich aus der Deutung der Erzählung für die Deutung von Wirklichkeiten ergeben mögen, komplexer: Inwiefern kann der Mensch auf Basis des Diskurses der verschieden akzentuierten tierepischen Gerichtsverfahren und ihrer Problematisierung der anthropologischen Differenz überhaupt als Mensch responsibilisiert werden?

Mögliche Antworten auf diese und weitere Fragen zur Responsibilisierung von Tieren und Menschen möchte ich im Folgenden ausgehend von einer Analyse der altfranzösischen Erzählung Le jugement de Renart im Blick auf den mittelhochdeutschen Reinhart Fuchs, das mittelniederländische Fuchsepos Van den vos Reynaerde und die italienische Erzählung Rainaldo e Lesengrino diskutieren. Die immer neu verhandelte Verantwortung der ontologisch fluiden Tierfiguren lässt dabei über die diachrone Reihe der Erzählungen vom Gerichtsverfahren gegen den Fuchs einen tierepischen Responsibilisierungsdiskurs aufscheinen, der von der Exposition der Fragestellung, ob oder inwiefern der Fuchs unter den Bedingungen der tierepischen erzählten Welten für die Tötung eines Huhns zur Rechenschaft zu ziehen sein mag, bis hin zu weitreichenden Reflexionen über die Verantwortung des Menschen für sein Handeln sowie über die grundsätzliche Veränderbarkeit und mögliche Neugestaltung menschlicher Gesellschaftsordnungen reicht.

2 Die Verantwortung des Fuchses für seine Natur in Le Jugement de Renart

Die Erzählung vom Jugement de Renart lässt sich in drei Abschnitte gliedern. Nach einem kurzen Prolog (V. 1–10)Footnote 20 bringen zunächst mehrere Tierfiguren Klagen gegen Renart vor das Hofgericht des Löwen (V. 11–432). Sodann werden nacheinander drei Boten entsandt, um Renart vorzuladen (V. 433–1200). Die ersten beiden Boten, Brun und Tybert, überlistet Renart, sodass es ihnen nicht gelingt, ihn an den Hof zu bringen. Der dritte Bote, der Dachs Grinbert, überzeugt Renart endlich, mit an den Hof zu kommen. Der letzte Abschnitt schließlich umfasst das Hofgericht und die Flucht Renarts (V. 1201–1620).

Die Handlung beginnt damit, dass Noble, der Löwe, der König der Tiere ist, einen Hoftag einberuft, zu dem alle Tiere mit Ausnahme Renarts erscheinen.Footnote 21 Der Wolf Ysengrin erhebt Anklage gegen den Fuchs, der seine Frau Hersent vergewaltigt und seine Kinder bepisst habe;Footnote 22 Renart habe einen Termin akzeptiert, um durch einen Reinigungseid zu beweisen, dass er unschuldig sei, jedoch sei er im Angesicht der Reliquien plötzlich verschwunden.Footnote 23 Nun möge der König für Gerechtigkeit sorgen. Es entwickelt sich rasch ein Schlagabtausch, Argumente für und gegen ein Einschreiten des Königs werden lanciert, die Vergewaltigung wird bestritten und relativiert, bis der Löwe schließlich einschreitet und Ysengrin auferlegt, von einer weiteren Verfolgung der Sache abzusehen, keine kriegerischen Handlungen gegen Renart zu planen und insbesondere den Landfrieden (vgl. JR, V. 263 f.) nicht zu verletzen. Bis zu diesem Punkt der Erzählung wirkt es ganz so, als würde hier schlicht eine eigentlich menschliche Adelsstreitigkeit im tierlichen Gewand verhandelt und satirisch oder parodistisch gespiegelt werden: Reale Füchse vergewaltigen keine realen Wölfinnen, nur unter der Voraussetzung einer (nahezu) vollständigen Anthropomorphisierung der Figur des Fuchses könnte ihm die Vergewaltigung zugerechnet werden – es handelt sich um ein menschlich codiertes Verbrechen, das eng auf die (reale oder fiktive) Welt der Menschen bezogen bleibt. Die Stabilität der Mensch-Tier-Differenz gerät hier ebenso wenig in Gefahr wie der beklagte Fuchs und es werden auch kaum Fragen aufscheinen können nach der ontologischen Festigkeit der Bestimmung von Menschen als Rechtssubjekten oder Tieren als Objekten des Rechts: Es bleibt ein narratives Spiel.

»Jetzt«, so der Erzähler, »steht für Renart die Sache gut — wenn Gott es ihm so bestimmt hätte« (JR, S. 187).Footnote 24 Doch allem Anschein nach hat der ›tierepische Gott‹ anderes für ihn vorgesehen, denn just als Renart beinahe aus dem Fokus geraten ist, tritt eine lauthals jammernde und heftig gestikulierende Hühnerschar um den Hahn Chantecler auf, die den aufgebahrten Leichnam der Henne Copee mit sich führt. Voller Pathos beklagt ein Huhn namens Pinte den Verlust der Schwester, die die letzte gewesen sei, die ihr noch geblieben war, nachdem Renart ihre fünf Brüder und ihre anderen vier Schwestern gefressen habe. »Gestern morgen«, also wohl bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem der Landfrieden des Gerichtstags Nobles in Kraft war,Footnote 25 habe Renart ihr die tote Schwester »vor die Tür geworfen« (JR, S. 189).Footnote 26 Nach der Klagerede Pintes werden die Hennen ohnmächtig; als sie wieder erwachen, fallen sie gemeinsam mit Chantecler dem König zu Füßen und benetzen seine Füße mit Tränen. Da empfindet der König Mitleid mit Chantecler, dem baceler (JR, V. 352), dem »jungen Ritter« (JR, S. 191). Er seufzt und hebt »unwillig« (ebd.; »[p]ar mautalant«, JR, V. 355) das Haupt; er schlägt »unwillig« (JR, S. 191) mit dem Schwanz aus und hält eine kurze Ansprache, in der er ankündigt, Renart vorladen zu lassen – »[d]enn ich will für den Mord und die Auflehnung große Vergeltung üben« (ebd.).Footnote 27

Die Verantwortung Renarts steht nun in ganz anderer Hinsicht in Frage als es zuvor beim Vorwurf der Vergewaltigung Hersents der Fall war, denn während die Vergewaltigung der Wölfin als klar menschlich codiertes Verbrechen erscheint, gehört es zur Natur des realen wie des erzählten Fuchses, Hühner zu jagen und zu fressen. Scheinbar soll dem Fuchs hier ein natürliches Verhalten als strafbar zugerechnet werden, will der Löwe als König doch Rache nehmen für den omecide (»Mord«) an der Henne Copee. Bei genauerem Hinsehen allerdings zeigt sich eine noch feinere Akzentsetzung, denn Pinte differenziert in ihrer Klagerede zwischen den Tötungen der meisten ihrer Geschwister, die Renart gefressen habe, und der Tötung Copees, die Renart nicht gefressen hat. »Renart hatte sie«, so auch der Erzähler, »mißhandelt und mit den Zähnen so übel zugerichtet, daß er ihr den Schenkel gebrochen und einen Flügel aus dem Körper gerissen hatte« (JR, S. 187).Footnote 28 Ihr Leichnam wird aufgebahrt und im Rahmen einer streng religiösen Trauerfeier als der einer Märtyrerin beigesetzt.Footnote 29 Spätestens als der Hase und der Wolf kurz darauf von (zweifelhaften) Wunderheilungen am Grab der Henne berichten, wird klar, dass die Tötung Copees kategorial anders zu bewerten ist als die Tötung ihrer Geschwister. Letztere wird Renart als Fuchs hier scheinbar durchaus zugestanden, denn vor dem Hofgericht des Löwen soll er sich nur für die Tötung Copees verantworten.

Dass er sich hierfür verantworten muss, hat verschiedene Gründe. Zum einen hat er die Henne schlicht zum falschen Zeitpunkt getötet, nämlich während des Landfriedens. Zum anderen verstehen der Hahn und die Henne Pinte sich darauf, durch einen dramatischen Auftritt das Mitleid des Königs zu erwecken und so auf einen Prozess gegen Renart hinzuwirken. Neben diesen Gründen, die das Verfahren in der erzählten Welt motivieren, fällt aus einer analytischen Perspektive auf, dass ein ontologisches Gefälle die Situation mit zu bestimmen scheint: Die Figur der Henne Copee wird stark anthropomorph inszeniert; sie ist gegenüber ihren namenlosen, gefressenen Geschwistern durch einen Eigennamen ausgezeichnet, ihr Körper wurde nicht verspeist, sondern kann wie der eines Menschen in einer christlichen Zeremonie bestattet werden. Schließlich stellt sie ihre Erhöhung zur Märtyrerin in die Reihe menschlicher Heiliger. Renart hingegen hat sich, indem er das Huhn angegriffen hat, so verhalten, wie man es von einem realen Fuchs erwarten würde, was das Tierliche des Fuchses hervorhebt. Die Situation ist hinsichtlich der dargestellten Mensch-Tier-Verhältnisse also ähnlich konstruiert wie die Grundkonstellation der (späteren) Tierprozesse: Eine eher tierlich inszenierte Fuchsfigur hat eine eher menschlich inszenierte Hühnerfigur getötet – um die Ordnung wiederherzustellen, muss der Fuchs bestraft werden, auch wenn er ein Tier sein sollte.

Diese vermeintlich eindeutige Lage wird allerdings gleich von zwei Seiten her unterlaufen: Einerseits ist dem Rezipienten weiterhin klar, dass Copee ein Huhn ist, kein Mensch,Footnote 30 und ein Beutetier, keine Märtyrerin. Andererseits ist das Verhalten des Fuchses nicht so eindeutig tierlich codiert, wie es zunächst den Anschein haben mag. Denn weil Renart Copee zwar getötet, aber nicht gefressen hat, erhält die Tötung den Anschein einer Gewalt um ihrer selbst willen, der einerseits zwar etwas ›Un-Menschliches‹, etwas ›Animalisches‹ anhaftet, die andererseits aber ja gerade dadurch, dass sie auf die bloße Zerstörung des Körpers des Opfers ausgerichtet ist und nicht auf den Zweck der Ernährung des Beutegreifers, dezidiert nicht tierlich, sondern typisch menschlich anmutet.Footnote 31 In der Tötung von Copee wird somit weniger ein ontologisches Gefälle zwischen tierlich akzentuiertem Täter und menschlich akzentuiertem Opfer etabliert, als vielmehr eine frappierende Instabilität der Mensch-Tier-Differenz, in deren Horizont fraglich wird, auf welcher Basis Renart hier eigentlich angeklagt und verurteilt werden könnte.

Wenn man in der Konstruktion beider Figuren die Überlagerung tierlicher und menschlicher Schichten ernst nimmt, wird deutlich, worin das eigentlich Prekäre der tierepischen Erzählung liegt: Die Figuren sind so angelegt, dass sie nicht eindeutig und vollständig auf reale Menschen oder Menschentypen verweisen, sondern eine eigene Plastizität wahren; gerade dadurch aber werden sie anthropologisch besonders relevant, denn auch der Mensch ist schließlich kein reines Geisteswesen, sondern auch Sinnenwesen. Es gibt ihn immer nur in spezifischen Überlagerungen und Schichtungen von ›Tierlichem‹ und ›Menschlichem‹.Footnote 32 Das heißt also: Hinterfragt man die Responsibilisierung Renarts für die Tötung bzw. den Mord an Copee, so hinterfragt man auf anthropologischer Ebene zumindest auch die Bedingungen für eine Responsibilisierung des Menschen. Handelt der Mensch als Sinnenwesen oder als Geisteswesen? Unter welchen Bedingungen ist ihm eine Handlung als Tat eigentlich juristisch zuzurechnen? Dies würde freilich mitnichten bedeuten, dass eine Gewalttat unter Menschen nicht als Mord unter Menschen bestraft werden könnte – nur müssten vielleicht die Konzepte juristischer Personalität und die Voraussetzungen juristischer Responsibilisierung an die Anthropologie des Menschen als Tier angepasst werden.

Für den Fortgang der Erzählung und die Entwicklung ihres Reflexionsgangs über die Responsibilisierung Renarts bleibt festzuhalten, dass die Tötung der Geschwister Copees, die der Fuchs gefressen hat, vor dem Hofgericht scheinbar als ein legitimes Gewalthandeln angesehen und nicht weiter verfolgt wird, während die Tötung der weniger eindeutig als tierlich ausgewiesenen Henne Copee in das Licht einer illegitimen Gewaltausübung gerät, die sanktioniert werden soll. Noch am Tag der Beisetzung Copees wird Brun, der Bär, entsandt, um Renart an den Hof zu holen. Als Brun am Fuchsbau ankommt, der hier ganz klar als Höhle eines Tiers markiert ist,Footnote 33 befindet sich Renart tief versteckt in seinem Bau und hat ein »große[s] fette[s] Huhn« bei sich (JR, S. 197), von dem er am Morgen bereits gefressen habe. Beiläufig lässt Renart den Bären wissen, dass er am selben Tag zudem eine große Menge frischen Honigs verspeist habe – und dem Bären läuft geradezu das Wasser im Mund zusammen: »›Nomini dame Christum file‹, sagt der Bär, ›Renart, woher habt Ihr denn soviel Honig? Nichts auf der Welt begehrt mein armer Bauch so sehr wie Honig. Liebster, teuerster Herr, bei Gott — Gott strafe mich — führt mich doch dorthin!‹« (JR, S. 199). Renart führt Brun »in den Wald des Försters Lanfroi«, der »das Holz zu verkaufen pflegte« und just »eine Eiche zu spalten begonnen« hatte (JR, S. 201). Er gibt vor, der Honig befinde sich in der aufgespaltenen Eiche und als Brun seinen Kopf und seine Tatzen tief hineingesteckt hat, zieht er die Keile heraus, sodass der Bär festgeklemmt wird. Als Lanfroi den eingeklemmten Bären bemerkt und die Bauern »zur Bärenjagd« (JR, S. 203) herbeiruft, »zittert« Brun (ebd.) und beschließt,

daß es besser für ihn ist, die Schnauze zu verlieren, als von Lanfroi, der mit einer Hacke voraneilt, gefangen zu werden. Er reckt und streckt sich, zieht und zerrt immer wieder so stark (die Haut reißt und die Adern platzen), daß die Haut unter großen Schmerzen aufreißt und der Kopf gequetscht wird. Er hat sehr viel Blut verloren und dazu die Haut an den Füßen und am Kopf. […] [I]n seinem Gesicht hatte er nicht einmal so viel Fell, daß man davon eine Geldbörse hätte machen können (JR, S. 203–205).

Auf seiner Flucht verspottet ihn der Erzähler, der behauptet, man könne aus dem verbliebenen Fell des Gesichts des Bären nun nicht einmal mehr eine Geldbörse machen. Auch Renart fragt hämisch, ob Brun denn »nun viel davon gehabt« habe, dass er Lanfrois Honig ohne ihn gefressen habe (JR, S. 207), und suggeriert auf diese Weise, die Versehrungen des Bären seien allein eine Konsequenz übermäßiger Genusssucht, Gier. »Eure Treulosigkeit«, so der Fuchs weiter, »wird Euch noch verderben. […] Welchem Orden wollt Ihr angehören, daß Ihr eine rote Kapuze tragt?« (ebd.). Der Bär seinerseits ist »so geschwächt, daß er ihm kein Wort erwidern« kann (ebd.). Ähnlich wie bei Copee bleibt die Tierlichkeit des versehrten Körpers aufgrund der Spezifik der Verletzungen an der Schnauze und an den Tatzen präsent, während zugleich die Sinndimensionen, die in der Spottrede des Fuchses das Körperliche überlagern, menschlich codiert sind. Die Sprachlosigkeit des Bären artikuliert das Missverhältnis zwischen realem Leid, der Versehrung des Tierkörpers, und der die Wirklichkeit des geschundenen Tierkörpers umhüllenden Worte Renarts. Als nicht weniger gewaltsam denn die Worte Renarts gerät dann auch die Verwertungslogik des Erzählers in den Blick, dessen ökonomisch dimensioniertes Bedauern über die Gesichtsverletzungen des Bären den menschlichen Anteil am tierlichen Leid ins Licht rückt.

Nicht viel besser ergeht es wenig später dem Kater Tybert als zweitem Boten des Königs Noble. Der Kater ist so unvorsichtig, den Fuchs zu fragen, ob er »nicht einen Hahn oder ein Huhn oder irgendetwas anderes Eßbares« in seiner Höhle vorrätig habe, damit er sich vor der Rückkehr an den Hof stärken könne (JR, S. 211). Das, so Renart, würde dem Kater doch nicht schmecken, stattdessen würde er ihm zeigen, wo er sich an »fetten Mäuse und Ratten« gütlich tun kann (ebd.). Plangemäß führt Renart Tybert zum Hof eines Pfarrers, der einst Hühner gehalten habe, die der Fuchs allerdings allesamt erlegt und gefressen oder seinen Fressvorräten zugeführt habe. Renart weiß, dass der Pfarrer ihm nachstellt. Dem Kater allerdings gibt er vor, dass am Hof des Pfarrers in großem Stil Getreide aufbewahrt werde und der Pfarrer unter den Mäusen im Kornspeicher sehr leide. Kaum dass Tybert das Grundstück betritt, gerät er in eine Schlingfalle, die für den Fuchs ausgebracht ist, und wird übel zugerichtet, ehe er sich befreien und schwer verletzt an den Hof des Löwen zurückkehren kann (vgl. JR, V. 854–898).

Der dritte Bote schließlich, Grinbert, der mit dem Fuchs befreundete Dachs,Footnote 34 kommt mit einem Sendschreiben des über die Misshandlung seiner Boten erzürnten Noble nach Malpertus. Darin befiehlt der König Renart, sofort an den Hof zu kommen, dabei aber »weder Gold noch Silber« mit sich zu führen, und auch keine »Gefolgsleute zu seiner Verteidigung […], sondern den Strick, an dem er gehenkt werden wird« (JR, S. 221). »Als Renart die Nachricht vernimmt«, so der Erzähler, »klopft ihm das Herz in der Brust, er wird ganz dunkel im Gesicht«, und Grinbert empfiehlt Renart, er solle beichten, ehe er an den Hof geht (ebd.). An der folgenden Beichte ist bemerkenswert, dass Renart nicht nur die ›menschlich codierten‹ Taten als Verbrechen aufführt (so etwa die Vergewaltigung Hersents, Taten im Zusammenhang mit der Fehde gegen Ysengrin, einen Gelddiebstahl), sondern auch die Tötung von Hühnern, die er verspeist habe: »Von Pintens ganzer Verwandtschaft ist außer ihr und ihrer Tante kein Hahn oder Huhn übrig geblieben, die ich nicht in den Topf gesteckt hätte« (JR, S. 225).Footnote 35 Der Fuchs responsibilisiert sich zumindest in der Beichte und somit vor dem in dieser branche wiederholt evozierten ›tierepischen Gott‹ für das Fressen von Hühnern, nicht allein für das bloße Töten ohne zu fressen. Die Absurdität dieser Responsibilisierung wird freilich bereits bei den ersten Schritten Grinberts und Renarts in Richtung des Hofs des Löwen augenscheinlich: Renart schlägt vor, »an jenem Dornengebüsch vorbei zu dem Hof mit den Hühnern« zu laufen, denn »dort geht der Weg« (JR, S. 227–229). Grinbert durchschaut die Absichten Renarts sofort und erwidert:

Renart, Renart, es ist alles vergeblich. Du wirst Gott gegenüber meineidig und wortbrüchig, deine Freßgier wird niemals aufhören. Was bist du doch für ein törichtes Geschöpf! Du bist in Todesgefahr und hast deine Beichte abgelegt. Und gleichwohl willst du nun einen Verrat begehen. Wahrhaftig, dich überkommt große Sünde (JR, S. 229).

Während Grinbert in seiner Funktion als Beichtpate die Verantwortung des Fuchses für sein natürliches Verhalten als Fressfeind der Hühner aufrechterhält, seinen Appetit als übermäßig und sündhaft geißelt, bemerkt Renart schlicht, das habe er »vergessen« (ebd.). Als die beiden schließlich am Hühnerhof vorbeikommen, »wagt« Renart nicht, »sich etwas anmerken zu lassen, und doch dreht er oft den Kopf zu den Hühnern hin« (ebd.). »Er ist«, so der Erzähler weiter, »sehr traurig, als er von ihnen weggeht, und selbst wenn man ihm den Kopf abschnitte, ginge er noch straks [sic!] zu den Hühnern« (ebd.). Akzentuiert wird in dieser Szene einerseits eine besonders radikale, auf christliche Moralität Bezug nehmende Position hinsichtlich der Responsibilisierung Renarts: Nicht nur für das Töten von Hühnern, die er frisst, ist er vor dem Gericht Gottes verantwortlich zu machen, sondern für das Töten von Hühnern überhaupt. Jedes Fressen wird als Ausleben von Gier klassifiziert; doch könnte nur ein reines Geisteswesen auf Nahrung verzichten, um einem Schuldspruch zu entgehen. Das ist der Fuchs nicht, das ist der Mensch nicht. Insofern tritt hier auch vor Augen, dass es widernatürlich wäre, den Fuchs für das Fressen von Hühnern verantwortlich zu machen, wie auch zugleich eine radikale Frömmigkeit ad absurdum geführt wird. Andererseits zeigt sich, dass es dem Fuchs Renart in seiner anthropologisch fundierten Plastizität durchaus möglich ist, den Zwängen seiner Natur als Fuchs bei äußerster Anstrengung zu widerstehen. Renart kann sich, so scheint es, in ein reflexives Verhältnis zu seiner Natur setzen, und zumindest mit Hilfe eines Freundes (oder Beichtvaters) schaffen, was dem Bären und dem Kater nicht gelingt: sich anders zu verhalten, als seine körperliche Natur es ihm gebietet. Auch das könnte einen anthropologischen Hintersinn haben, denn für den Menschen mag daraus die ontologische Befähigung und die moralische Verpflichtung abzuleiten sein, sich – wie hier Renart – zu seiner Natur zu verhalten und sie im richtigen Moment zu unterdrücken; wiewohl es im Rahmen der anthropologischen Konzeption der Erzählung dann unmöglich wäre, das fortwährend zu tun, und es absurd wäre, das auf Dauer einzufordern.

Am Hof angekommen, wird Renart von allen Seiten angefeindet, und man bereitet sich weniger vor, Gericht zu halten, als vielmehr darauf, Rache zu nehmen. Einleitend versucht Renart noch, sich zu rechtfertigen und geht dabei auch auf die Frage nach der Responsibilisierung des Tiers für seine Natur ein: Mit den Worten cil qui sont serf par nature / Ne sevent esgarder mesure (JR, V. 1231 f.)Footnote 36 weist Renart jede Verantwortung für die schweren Verletzungen des Bären Brun und des Katers Tybert von sich. Nicht er sei für die Versehrungen verantwortlich zu machen, sondern Brun, der nicht aufhören kann, Honig zu suchen, bzw. Tybert, der es nicht unterlassen kann, Mäuse zu fangen. Beide seien von Natur aus Knechte, die nicht wissen, Maß zu halten. Man könnte vielleicht auch sagen: Sie sind Knechte ihrer Natur. Und dafür, so der Fuchs, seien nur sie selbst, nicht aber er verantwortlich. Sie hätten sich ja, so mag man die Argumentation des Fuchses weiterführen, (zumindest in diesem Moment) gegen ihre Natur wenden können.

Im Jugement de Renart ist die Wut auf Renart und sein Listhandeln schlussendlich so groß, dass die Rechtsordnung von einer Logik der Vergeltung überholt wird. Allen Bemühungen Grinberts zum Trotz, der auf ein ordentliches Verfahren pocht,Footnote 37 kommt es statt zu einem gerichtlichen Verfahren zum Versuch, ohne weitere Anhörungen oder Verhandlungen Rache am Fuchs zu nehmen.Footnote 38 Die Tiere springen auf, selbst der Hase »gedenkt […] sich […] zu rächen« (JR, S. 235–237), und der König bremst sie nur, weil es ihm vor allen anderen »obliegt […], Rache zu nehmen« (JR, S. 237). Renart soll ohne weitere Anhörung gehängt werden, doch vor dem Galgen kommt ihm der rettende Einfall:Footnote 39 Er bittet darum, als Pilger ins Heilige Land ziehen zu dürfen, um auf die Vergebung seiner Sünden hinzuwirken.Footnote 40 Unter der Bedingung, dass er nie zurückkehrt, wird Renart nicht gehenkt und darf aufbrechen. Kaum dass er aufgebrochen ist, bemerkt er »größeren Hunger als sonst«, sogar »der Kopf tut ihm vom Fasten weh« (JR, S. 243). Da trifft es sich gut, dass er in einem Gebüsch den Hasen aufstöbert, den er mit seinem Pilgerstab außer Gefecht setzt, wie erlegte Beute an sein Pferd bindet und mitführt. Als der Fuchs noch einmal mit seiner Beute anhält, um den Hof zu verspotten und sich darüber lustig zu machen, dass der Löwe seiner Lüge aufgesessen ist, kann sich der Hase in einem Moment der Unachtsamkeit aus seinen Fesseln befreienFootnote 41 und eine wilde Jagd auf Renart beginnt (vgl. JR, S. 245–249; V. 1511–1597). Mit letzter Kraft rettet sich der Fuchs in seine Höhle und der Ausgangspunkt der branche wie auch vieler anderer branches ist wiederhergestellt: Der verfolgte und verhasste Fuchs sitzt in seiner Festung, wo er gesund gepflegt wird, bis er eines Tages – in der nächsten branche – wieder einen Weg findet, an Nahrung zu kommen.

Ein letztes Mal artikuliert sich im Jugement de Renart so die Absurdität des Versuchs, den Fuchs für Angriffe auf Beutetiere zu responsibilisieren: Es ist seine Natur, er kann nicht anders. Allerdings ›können‹ ja auch die übrigen Akteure am Hofgericht ›nicht anders‹: Sie können keinen argumentativ ausgestalteten Prozess gegen den Fuchs zu Ende führen, sondern ›müssen‹ sich einfach an ihm rächen und schließlich nach ihm schnappen und beißen, ihn »rupfen« (vgl. JR, S. 247) und »durchlöchern« (vgl. JR, S. 249). Inszeniert wird hier also vor allem eine Normativität von Natur, vor der es schwerfällt, soziale und politische Ordnung überhaupt zu begründen. Im Blick auf die anthropologische Reflexionsdimension der Erzählung ist das ein eher ernüchterndes Resultat, denn gezeigt wird ja nicht vornehmlich, dass Tiere sich nicht dauerhaft wider ihre Natur verhalten können. Zugleich, wenn nicht mehr noch, geht es im Licht einer frappierenden Instabilität der Mensch-Tier-Differenz darum, dass Menschen Sklaven ihrer Natur sind. Welche Geltung, aber auch welcher Sinn und welche Bedeutung mag menschlicher Rechtsprechung gegen die Natur dann noch zukommen?

3 Strafbarkeit, Intentionalität und Willensfreiheit: Reinhart Fuchs

Auch die mittelhochdeutsche Erzählung Reinhart Fuchs, die gegen Ende des 12. Jahrhunderts einige branches des Roman de Renart, darunter Le Jugement de Renart, adaptiert und zu einer geschlossenen Handlung verbindet, nimmt den Responsibilisierungsdiskurs am Beispiel des Fuchses als Raubtier zunächst anhand der Differenz von ›fressen‹ / ›nicht fressen‹ auf. Allerdings geht es hier nicht um den Erfolg, sondern um die Motivation zu fressen, die Listhandeln bedingt. In den sogenannten ›Kleintierepisoden‹ zu Beginn der Erzählung trifft der Fuchs Reinhart – stets hungrig und meist auf der Flucht vor Menschen – zunächst auf drei potenzielle Beutetiere, den Hahn, die Meise und den Raben, die er zu überlisten versucht, um sie zu fressen. Dann begegnet er dem Kater Diepreht, den er zu überlisten trachtet, ohne dass die Motivation, den Hunger zu stillen, eine Rolle spielte: Auf der Flucht vor Jägern begegnet Reinhart dem Kater in einem Wald und bittet ihn, ihm eine Kostprobe seiner Schnelligkeit zu bieten – wohlweislich auf einem Pfad, der, wie Reinhart weiß, zu einer Wildfalle führt. Diepreht aber kennt die Falle und weicht ihr aus. Nach seiner Rückkehr verlangt Reinhart von ihm, seine Fähigkeiten noch einmal unter Beweis stellen, dieses Mal aber weniger weite und eher hohe Sätze zu machen. Der Kater wehrt sich mit einer Gegenlist: Reinhart möge mit ihm rennen. Der Erzähler hält dazu fest: sie wolden beide ein ander betriegen (RF, V. 348).Footnote 42 Diepreht überspringt im schnellen Lauf die Falle, um direkt dahinter abrupt anzuhalten. Reinhart läuft auf, gerät in die Falle und muss um sein Leben fürchten, während Diepreht davonzieht.

Vor der Folie der ersten drei Episoden, in denen die Motivation des Listhandelns des Fuchses expliziert wird (Hunger), wird hierFootnote 43 besonders die Frage virulent, was den Fuchs dazu motiviert, den Kater in eine tödliche Falle zu locken. Weder scheint eine Situation der Nahrungskonkurrenz zu bestehen, noch finden sich Anhaltspunkte, dass Reinhart Diepreht in die Falle zu locken versucht, um selbst den Jägern zu entkommen. Erst recht nicht wäre zu plausibilisieren, dass er den Kater fressen wollte, denn dafür gibt es keine Anhaltspunkte im Text, keine bekannten literarischen Vorläufer und vermutlich wäre das auch kein natürliches Verhalten für wirkliche Füchse. Beim Fuchs wie beim Kater wird vielmehr eine Lust am Betrug als Motivation expliziert, was im Kontext der ›Kleintierepisoden‹, welche die Motivation Reinharts, andere Tierfiguren zu überlisten, sonst auf den Hunger hin konkretisieren, besonders auffällig ist. Gegenüber der im Jugement de Renart virulenten Gewalt des Fuchses, die zwischen animalischen und dezidiert menschlichen Zügen oszilliert, ist die Lust am Betrug vielleicht etwas eindeutiger auf den Menschen bezogen, wobei der Kater und der Fuchs im selben Maß anthropomorph erscheinen. Bemerkenswert ist gegenüber dem Jugement de Renart vor allem allerdings, dass die Differenz von ›fressen‹ und ›nicht fressen‹ und damit auch die Frage nach der Zurechenbarkeit des Handelns nun in den Bereich der Intentionalität der Figuren verlagert wird: Es geht in den Kleintierepisoden des Reinhart Fuchs nicht vordringlich um ›fressen‹ und ›nicht fressen‹, sondern um ›fressen wollen‹ und ›nicht fressen wollen‹ (bzw. ›betrügen wollen‹).

Das spielt an dieser Stelle noch keine bedeutende Rolle für die Frage nach der Responsibilisierung des Fuchses, weil im Rahmen der ›Kleintierepisoden‹ noch nicht nach der Verantwortung für sein Handeln gefragt wird bzw. weder der Erzähler noch andere Figuren versuchen, Reinhart zu responsibilisieren. Anders ist das im zweiten und vor allem im dritten Abschnitt der Erzählung. Im zweiten Abschnitt steht der Widerstreit von Fuchs und Wolf im Fokus, die sich erst in geselleschaft verbinden (vgl. RF, V. 396: wolt ir mich zv gesellen han?), dann aber schnell zu Gegenspielern werden, als einerseits Reinhart versucht, mit der Wölfin Hersant anzubandeln (vgl. RF, V. 419–439), die Wölfe andererseits den Fuchs in der Episode vom Schinkenraub übervorteilen (vgl. RF, V. 449–498). Im Anschluss werden mehrere Episoden aneinandergereiht, in denen der Fuchs den Wolf wiederholt schmerzhaft überlistet, bis der Wolf Reinhart schließlich die Fehde ansagt und ihn vor ein Schwurgericht lädt. Reinhart erscheint zwar, erkennt aber, dass man ihn betrügen möchte, und flieht. Auf der Flucht vergewaltigt er die Wölfin und kann sich in seine Höhle retten.

Die Listhandlungen des Fuchses gegen den Wolf sind vielfältig und führen nicht nur zu schweren Verletzungen, sondern gar zu einer bleibenden Verstümmelung: Schlussendlich muss der Wolf, wie seine Frau bestürzt festhält, ane zagel […] wesen (RF, V. 1059). Mitunter bleibt dabei offen, aus welchen Gründen Reinhart den Wolf in Fallen führt; er handelt dvrch liste (RF, V. 505), zumindest ein Mal auch scheint der Fuchs den Wolf aus haz (RF, V. 733) in eine lebensbedrohliche Lage zu bringen (›Fischfang-Episode‹, V. 712–822), ein anderes Mal ist es die pure Not, die Reinhart zwingt, den Wolf zu überlisten (in der ›Brunnen-Episode‹, V. 823–1030). Doch worin auch immer die konkreten Gründe für Reinharts Handeln liegen: Am Ende des zweiten Abschnitts macht der Wolf seiner Frau und seinen Kindern gegenüber den Fuchs für all sein Leiden verantwortlich und sagt:

ich habe minen lip

von Reinhartes rate verlorn.

dvrch got daz lazet vch wesen zorn.

daz ich ane zagel gan,

daz hat mir Reinhart getan,

deiswar, an aller slachte not.

er betrovg mich in den tot.

von siner vntriwe groz

enphienc ich mangen slac vnd stoz (RF, V. 1040–1048).

Zumindest die Responsibilisierung des Fuchses durch den Wolf erfolgt also unberührt der eigentlich variierenden Umstände der Listhandlungen über eine Zurechnung der Versehrungen an einen willkürlich, an aller slachte not, und aus vntriwe handelnden Reinhart. Entscheidend für die Responsibilisierung ist hier weder der Handlungserfolg noch die konkrete Motivation auf Seiten des Täters, sondern einerseits die Tatsache, dass er (so) nicht hätte handeln müssen und insofern aus freien Stücken schadet bzw. eben, gerade aus der Perspektive seines Gegenspielers, bösartig ist und gerne betrügt. Der Wolf bedient sich hier andererseits der Erwartung an die ›Verantwortungsnetze‹Footnote 44 der geselleschaft (von Fuchs und Wolf) und der Gemeinschaft der Tiere insgesamt: Nicht nur hätte der Fuchs nicht so handeln müssen, er hätte auch nicht so handeln dürfen.Footnote 45

Dass Reinhart an aller slachte not und in vntriwe handelt, kommt zumindest noch ein weiteres Mal in der Erzählung vor, und zwar im dritten Abschnitt der Erzählung. Dieser adaptiert den Handlungsgang des Jugement de Renart und verbindet ihn mit der Erzählung vom kranken Löwen (der ›Hoftagsfabel‹), setzt dabei allerdings auch einige sehr spezifische neue Akzente nicht nur in der Darstellung, sondern auch hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung.Footnote 46 Ähnlich wie in der altfranzösischen Erzählung wird auch hier ein Hoftag einberufen, zu dem alle Tiere erscheinen, nur der Fuchs nicht. Dieses Mal allerdings liegt der Grund für die Einberufung des Hoftags in starken Schmerzen des Löwen, der die Auswirkungen einer Racheaktion des Ameisenfürsten als von Gott gesandte Krankheit fehldeutet, die ihn, wie er meint, bestrafen sollte, weil er so lange nicht mehr Recht gesprochen habe.Footnote 47 Nur der dem Hoftag zunächst fernbleibende Fuchs Reinhart weiß von der wahren Bewandtnis der vermeintlichen Krankheit des Löwen – er hat beobachtet, wie die Ameise dem schlafenden Löwen durchs Ohr ins Hirn kroch und die Schmerzen auslöste. Dieses exklusive Wissen wird Reinhart nutzen, um dem eigenen Gerichtsverfahren zu entgehen.

Dass Reinhart dem Verfahren entgehen könnte, lässt sich zu Beginn des Abschnitts freilich nun gerade nicht erwarten, denn der formelhafte Prozess wird in einer Zwangsläufigkeit inszeniert, die ein Entkommen auszuschließen scheint. Vor dem Gericht des Königs tritt zunächst der Wolf Isengrin auf und lässt von einem vorsprechen (RF, V. 1367), nämlich dem Bären, die Klage gegen den Fuchs verlesen,Footnote 48 Reinhart habe die Wölfin vergewaltigt. Krimel, der Dachs, tritt dagegen als vorspreche Reinharts auf und entlastet den Fuchs, woraufhin Isengrin eine zweite Klage selbst vorbringt und vom Hirsch Randolt unter Eid bestätigen lässt: Reinhart habe ihm großen körperlichen Schaden zugefügt. Der Hirsch fordert, der König solle Reinhart sogleich besitzen (RF, V. 1428), d. h. festnehmen lassen, und hinrichten. Die übrigen Adligen stimmen zu, doch das Kamel erinnert nachdrücklich an das Recht des Beklagten, bis zu dreimal vorgeladen zu werden, ehe er, ohne gehört zu werden, verurteilt werden dürfe (vgl. RF, V. 1437–1452). Daran ändert auch der Auftritt der Hühnervögel nichts, der im Jugement de Renart noch bewirkte, dass überhaupt ein Verfahren gegen Renart eingeleitet wird, hier aber eigentümlich funktionslos inszeniert wird: Einerseits wird das Verfahren gegen den Fuchs in der mittelhochdeutschen Erzählung auch ohne den augenscheinlichen ›Mord‹ an der Henne eröffnet, andererseits führt die Tatsache, dass die Hühnervögel erbärmlich klagen, hier nicht dazu, dass der juristische Einwand des Kamels übergangen würde. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass das Skandalon des Jugement de Renart, dass der Fuchs ein Huhn tötet aber nicht frisst, nun keines mehr ist, zumindest juristisch, und damit im Blick auf die Responsibilisierung des Fuchses Reinhart nicht von entscheidender Bedeutung ist. Wichtiger scheint im Reinhart Fuchs zu sein, das bereits eingeleitete Verfahren rechtsförmig korrekt fortzuführen.

Bei den anschließenden Botengängen Bruns und Dieprehts fällt auf, dass weniger die Listhandlungen als vielmehr die jeweilige Rückkehr der Boten an den Hof im Fokus der Erzählung steht. Zum einen wird dabei jeweils erneut ein Schlaglicht auf die freie Entscheidung Reinharts geworfen, den Boten zu schaden, zum anderen wird das Bemühen um ein geregeltes Prozessverfahren so sehr akzentuiert, dass deutlich wird, dass ein regelkonformes Gerichtsverfahren als Voraussetzung für die Responsibilisierung des Beklagten gesehen werden muss. Als Brun lädiert von seinem Botengang zurückkehrt, jammert er über das grvndelose leit (RF, V. 1612), das er durch Reinhart erfahren habe. Erneut wird die Forderung nach einer sofortigen Verurteilung Reinharts laut, doch dieses Mal pocht der Elefant auf die Einhaltung der Rechtsordnung: Reinhart müsse bis zu dreimal vorgeladen werden (vgl. RF, V. 1635–1644). Als Diepreht an den Hof zurückkehrt, bemerkt er: mir wolte Reinhart den tot / frvmen (RF, V. 1738). Forderungen, Reinhart sofort zu richten, tritt nun Krimel entgegen, der Dachs, der den dritten Botengang übernimmt und Reinhart, wie es zunächst scheint, überzeugt, an den Hof zu kommen, um sich zu verantworten.

Doch anders als im Jugement de Renart, wo Renart sich rechtfertigen möchte und auch der Dachs in seinem Sinne eine Gerichtsverhandlung einfordert, sie aber nicht zugestanden bekommt, hat Reinhart hier nicht die Absicht, es zu einem Gerichtsverfahren kommen zu lassen. Nach seiner Ankunft am Hof bringen die Tiere erneut Klagen gegen Reinhart vor und fordern seine Hinrichtung. Reinhart aber geht auf die Klagen gar nicht ein, sondern drückt dem Löwen sein Beileid aus, dass er solchen doz (RF, V. 1866) und solche vngezogenheit (RF, V. 1869) an seinem Hof ertragen müsse. Er gibt sich als Vertrauter des Arztes Bendin aus Salerno aus und spielt vor, gekommen zu sein, um den kranken Löwen zu heilen. Der Löwe lässt von seinem Zorn ab (vgl. RF, V. 1891), führt das Verfahren gegen den Fuchs also nicht weiter, und vertraut sich Reinharts Heilungskünsten an. Der Fuchs lässt den Wolf, den Bären, den Kater und den Biber schinden, den Löwen heiß baden und anschließend dick in die Pelze einpacken, sodass er ordentlich ins Schwitzen kommt. Ein Gürtel aus Hirschleder soll alles zusammenhalten. Eine Hühnerbrühe mit Eberspeck wird zusätzlich bereitet. Die Hitze treibt den Ameisenfürsten aus dem Kopf des Löwen und schnell lassen die Krankheitssymptome nach. Gegenüber anderen Adaptationen der Hoftagsfabel fällt auf, »dass die Kur mit Tierfellen nicht die Symptome, sondern die Ursache der vermeintlichen Erkrankung bekämpft«Footnote 49 und es Reinhart ganz folgerichtig tatsächlich gelingt, den Löwen zu heilen, und zugleich seine Gegenspieler drastisch misshandeln zu lassen.

Viele Tiere fragen sich ob der Ereignisse, was sie am Hof noch erreichen können, außer dass ihnen vielleicht auch noch das Fell über die Ohren gezogen wird, und sie verlassen den Hoftag des Löwen in alle Himmelsrichtungen: Der hof zesleif sa (RF, V. 1993). Damit ist an eine Fortsetzung des Gerichtsverfahrens gegen den Fuchs nicht mehr zu denken. Als der Fuchs sich auch noch der Rechtsgelehrten, des Kamels und des Elefanten, entledigt, tritt deutlich hervor, dass Rechtsprechung an diesem Ort keinen Raum mehr hat. Wo allerdings die Rechtsprechung keinen Raum mehr hat, erübrigen sich gemäß den Regeln dieser erzählten Welt auch Fragen nach der Responsibilisierung des Fuchses: Als viele Tiere gegangen sind, vergiftet Reinhart den Löwen und verlässt mit Krimel ebenfalls den Hof, noch ehe der Löwe stirbt. Natürlich ist Reinhart für die Ermordung des Löwenkönigs verantwortlich, und der Giftmord wird ihm auch zumindest noch vom sterbenden Löwen zugerechnetFootnote 50 – aber das alles spielt keine Rolle mehr, denn es gibt kein Gericht und keinen Richter mehr, vor denen die Verantwortung Reinharts für den Tod des Löwen und die Qualen der anderen Tiere reklamiert werden könnte. Reinhart verspottet noch einmal Brun, den gehäuteten Bären (vgl. RF, V. 2203–2212),Footnote 51 und verschwindet – ganz Fuchs – im Wald.

Anders als im Jugement de Renart, wo der Hof dem Fuchs die Gerichtsverhandlung letztlich verwehrt, sieht man hier, wo umgekehrt der Fuchs dem Prozess gezielt ausweicht, wie absurd es wäre anzunehmen, dass Reinhart keine Verantwortung für seine Taten zukommen könnte – und wie gefährlich es ist, die juridische Festschreibung von Verantwortung in einer Gerichtsverhandlung zu verpassen. Während im anthropologischen Diskurs des Jugement de Renart offen bleibt, wie der Mensch in seiner ontologischen Verfasstheit als Sinnenwesen und Geisteswesen juristisch adäquat konzipiert und responsibilisiert werden kann, scheint die mittelhochdeutsche Erzählung die Position zu beziehen, dass auf die Intentionalität des Handelnden abzuheben wäre, zugleich aber deutlich zu machen, dass es letztlich nur der Richter ist, der Verantwortung zuschreiben kann und muss. Die Responsibilisierung Reinharts scheitert nicht an der fehlenden ontologischen Arretierung der Fuchsfigur, sondern am Versagen des Richterkönigs, der sich selbst, die Verhältnisse an seinem Hof und auch den Willen Gottes fehldeutet. Insofern trägt der Reinhart Fuchs einerseits zur Konzeptionalisierung von Verantwortung als etwas das Figuren-Innere und letztlich die Intentionalität und Willensfreiheit des Menschen Betreffendes bei und zeigt, dass Responsibilisierung durch einen geordneten Prozess mit klaren Verfahrensregeln erfolgt. Andererseits lenkt die Erzählung den Blick über die Reflexion individueller Verantwortung und Strafbarkeit hinaus auf einen fundamentalen Zusammenhang der Konstruktion von Verantwortung mit der Stabilität sozialer und politischer Ordnung: Zumindest gemäß den Regeln des Erzählkosmos des Reinhart Fuchs kann eine Gesellschaft, die daran scheitert, offensichtliche Verantwortung juristisch bindend zuzuschreiben und zu sanktionieren, keinen Bestand haben.

4 Soziale Verantwortung: Van den vos Reynaerde und Rainaldo e Lesengrino

Während Le Jugement de Renart und weitgehend auch noch Reinhart Fuchs an der Frage nach der Verantwortung des Fuchses für sein Handeln Konzepte einer eher individuellen Responsibilisierung (des Täters vor Gericht) verhandeln, entstehen mit Van den vos Reynaerde und Rainaldo e Lesengrino im Laufe des 13. Jahrhunderts Adaptationen des Sujetmusters, die den Blick stärker auf soziale und politische Dimensionen der Responsibilisierung richten. In beiden Erzählungen wird im Rahmen der Gerichtsverhandlungen der Tierfiguren das Verhältnis von natürlicher Ordnung und positivem Recht reflektiert, wobei auf Ebene der anthropologischen Reflexionsdimensionen tierepischen Erzählens jeweils deutlich wird, dass der Mensch nicht nur individuell (und vor Gericht) für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann, sondern auch Verantwortung für die Gestaltung sozialer Ordnung trägt.

Der mittelniederländische Verstext Van den vos Reynaerde, der seinerseits zur Vorlage für Reynaerts historie und somit mittelbar für den Reynke de vos und die frühneuzeitlichen Fuchsromane wurde,Footnote 52 greift nach einem Prolog (vgl. VR, V. 1–40)Footnote 53 zunächst das Handlungsgerüst des Jugement de Renart wieder auf: Alle Tiere kommen zu einem Hoftag zusammen, nur Reynaert erscheint nicht. Mit Ausnahme des Dachses Grimbeert haben alle Anwesenden Grund zur Klage über Reynaert. Grimbeert kann die meisten Vorwürfe entkräften; als jedoch der Trauerzug der Hühnervögel mit dem Leichnam Coppes auf den Plan tritt, beschließt König Nobel in Absprache mit seinen Ratsmitgliedern, Reynaert vorzuladen (vgl. VR, V. 41–464). Die Botengänge von Bruun und Tybeert scheitern, und beide kehren ohne den Fuchs und schlimm misshandelt zurück, während es Grimbeert gelingt, Reynaert an den Hof zu führen (vgl. VR, V. 465–1752).

Während es in diesen ersten Abschnitten der Erzählung kaum zu signifikanten Abweichungen vom Handlungsschema des Jugement de Renart kommt,Footnote 54 hat der Verfasser von Van den vos Reynaerde, wie zuvor schon beim Reinhart Fuchs zu beobachten war, das Ende der Erzählung gänzlich anders gestaltet als seine Vorläufer: Am Hof angekommen erhält Reynaert nun tatsächlich das stets von den Boten angekündigte Gerichtsverfahren (vgl. VR, V. 1753–2049). »Nie«, so der Erzähler, »hörte man von Tieren so schöne Reden, wie hier zwischen Reinart und den anderen Tieren« (VR, S. 83).Footnote 55 Die Redner zeichnen sich dabei nicht nur durch ihre Eloquenz aus, sondern vor allem durch ihre juristische Kompetenz: »Die besten Begründungen wurden vorgetragen, und die Klagen, die die Tiere vorbrachten, stützten sie mit guten Beweisen, wie sie verpflichtet waren« (VR, S. 85).Footnote 56 Schließlich bittet der König die Barone um ein Urteil. Sie verhängen die Todesstrafe. Brun, Ysengrijn und Tybeert machen sich auf, den Galgen vorzubereiten, während der Fuchs sich zu einer letzten Rede aufschwingt – die er freilich bereits für diesen Fall vorbereitet hatte.Footnote 57 Die in späteren Fassungen, etwa im Reynke de vos, noch weiter ausgefeilte und zum rhetorischen und narrativen Schatz ausgeschmückte Rede mit der Lüge über einen Schatz,Footnote 58 der angeblich dazu dienen sollte, König Nobel zu stürzen, führt letztlich zur Begnadigung Reynaerts (vgl. VR, V. 2050–2548). Für eine Pilgerfahrt, die er nach Rom unternehmen möchte, werden dem Fuchs eine Pilgertasche aus Bärenfell und Schuhe aus Wolfsleder angefertigt, und in Begleitung des Hasen Cuwaert und des Schafbocks Belin verabschiedet sich der Fuchs schließlich vom Löwen. Mit einer List gelingt es ihm, den Hasen in seine Höhle Manpertus zu locken und dort zu verspeisen. Belin schickt er zurück an den Hof, um dem Löwen eine Nachricht zu überbringen. Während Reynaert bereits mit seiner Familie in eine Einöde flieht, gelangt Belin an den Hof. Die Nachricht ist der Kopf des Hasen (vgl. VR, V. 2549–3389).

Als Belin den Brief überbracht hat, stößt der Löwe ein schreckliches Brüllen aus. Er versteht nun, was an seinem Hof tatsächlich geschehen ist. Der Leopard bittet ihn, seine Trauer zu mäßigen. Als er vom großangelegten Betrug des Fuchses erfährt, rät er dem König, die Wölfe und den Bären für das Unrecht, das ihnen widerfahren sei, zu entschädigen; man solle ihnen Belin überlassen, der zugegeben habe, den Hasen im Stich gelassen zu haben (vgl. VR, V. 3411–3424). Brun und Ysengrijn sowie ihre Nachfahren erhalten die Privilegien, fortan jeden Widder reißen zu dürfen, der ihnen begegnet, auch die Nachfahren Belins, und auch Reynaert und seine Verwandten sowie ihre Nachfahren töten zu dürfen, wann immer sie möchten (vgl. VR, V. 3430–3461). Eine der Pointen des mittelniederländischen Verstextes besteht also darin, dass vermeintliches ›Naturrecht‹ (Wölfe und Bären fressen Schafe, töten Füchse, und das ›dürfen‹ sie auch, weil es ihrer Natur entspricht) in der Geschichte der sozialen und politischen Interaktion der Tierfiguren begründet wird und aus einem Verdikt des Löwenkönigs hervorgeht: Weil es ein Urteil gab, das es ihnen einst auf alle Zeiten erlaubte, Schafe zu fressen und Füchse zu töten, ist es für die Nachfahren von Wolf und Bär ›heute‹ natürlich, das zu tun. Gerade im Blick auf den Schafbock und den Fuchs tritt deutlich zu Tage, dass hier die Tierfiguren verantwortlich gemacht werden für das ›natürliche‹ Schicksal ihrer tierlichen Verwandten und Nachfahren innerhalb der erzählten Welt wie auch in der Wirklichkeit. Denn es sind ja gerade nicht nur die erzählten Tiere, die diesem vermeintlichen Naturrecht unterstehen, sondern auch die realen Tiere, deren ›natürliche‹ Verhältnisse von Jäger und Beutetier hier als nur scheinbar natürlich imaginiert werden. Selbstverständlich ist die Erzählung nicht so zu verstehen, dass sie behaupten wollte, reale Wölfe und Bären würden reale Füchse und Schafböcke fressen, weil es ihnen einst ein niederländischer Löwe erlaubte. In Anbetracht der anthropologischen Dimensionierung tierepischen Erzählens geht es hier um die grundsätzliche Verantwortung weniger der erzählten Tiere als vielmehr der wirklichen Menschen: Es geht darum, dass die Rezipienten, dass reale Menschen ihre Machtverhältnisse und die soziale Ordnung nicht als naturgegeben (oder als von Gott gegeben) vorauszusetzen, sondern sie als gesetzt durchschauen; als menschengemacht, und damit als grundsätzlich veränderbar. Mit der Überschreitung der Grenzlinien von erzählter Welt und Wirklichkeit wird so auch das scheinbar Unumstößliche, Vorgegebene menschlicher sozialer und politischer Ordnung in den Verantwortungsbereich des Menschen verlagert. Pointierter noch ließe sich formulieren: Der Mensch wird für die Gestaltung seiner Gesellschaft responsibilisiert.

Die auch lexikalisch stark vom Roman de Renart beeinflusste italienische Erzählung Rainaldo e Lesengrino,Footnote 59 die wohl im späten 13. Jahrhundert entstanden ist, scheint an diesen Diskursstand gewissermaßen anzuschließen. Sie geht in einer ihrer beiden überlieferten FassungenFootnote 60 aber noch einen Schritt weiter, indem sie zeigt, wie eine Rechtsordnung gestaltet werden könnte, die den Akteuren die volle soziale und politische Verantwortung für ihr Handeln zuspricht. Wie schon Van den vos Reynaerde nimmt auch Rainaldo e Lesengrino zunächst den Handlungsgang der branche Le jugement de Renart wieder auf,Footnote 61 muss sich doch auch hier der Fuchs vor dem Löwen für die Tötung von Hühnervögeln verantworten. Bemerkenswert aber ist, dass der Fuchs sich nicht primär auf sein natürliches Recht, Hühner zu verspeisen, beruft, sondern dezidiert juristisch argumentiert: Er könne sich nicht daran erinnern, dass der Löwe ihm jemals Anweisung (comandamento; RL, V. 359) gegeben habe, dass er seinem Verlangen, Hühner zu verspeisen, nicht nachkommen dürfe.Footnote 62 Raynaldo stellt also heraus, dass er keine Verletzung positiven Rechts begangen habe und somit vom Löwen nicht juristisch belangt werden könne. Der Löwe folgt dieser Argumentation in seinem Urteilsspruch, responsibilisiert den Fuchs aber für alle zukünftigen Fälle eines Angriffs auf Hühnervögel und übernimmt so die Verantwortung für eine soziale und politische Ordnung, in der die Hühnervögel künftig geschützt sind: Auch er erinnere sich nicht daran, jemals eine solche Anordnung erlassen zu haben und könne Raynaldo daher nicht verurteilen;Footnote 63 aber der Fuchs muss unter Androhung des Todes schwören, fortan den Frieden zu wahren (vgl. RL, V. 371). Er muss nun seinen Lebensunterhalt bestreiten, ohne Hühnervögel zu fressen, und dementsprechend rät der Löwe Raynaldo, er solle sich an die Feldarbeit machen – [r]etente, Raynaldo, de lavorer (RL, V. 376) – und nicht mehr Räuber sein. Aus dem Fuchs soll ein Pflanzenfresser werden, er soll also, mit anderen Worten, seine Natur dauerhaft und nachhaltig überwinden, wenn er noch Teil der sozialen Gemeinschaft der Tiere sein möchte. Als Voraussetzung für eine Sanktionierung des Handelns des Fuchses wird hier eine Rechtsordnung präsentiert, die erstens naturrechtlichen Argumentationen nur mehr »subsidiäre Geltung« beimisstFootnote 64 und die zweitens jedem Rechtssubjekt zumutet (und zuspricht), Verantwortung für alles Handeln zu übernehmen, und zwar jenseits möglicher Zwänge der ›Natur‹. Der Natur an sich kommt hier kein legitimatorischer Status im Blick auf die Begründung sozialer (juridischer) und politischer Ordnung mehr zu und sie kann auch nicht mehr entschuldigend eingebracht werden, um Verantwortung für schädigendes Handeln abzustreiten.

Der Fuchs stellt bald fest, dass ihm weder die Feldarbeit zusagt noch ihre Erträge für ihn genießbar sind – seine Verantwortung bleibt aber bestehen. Denkt man diese Ergebnisse im Horizont des hier entfalteten Spektrums anthropologisch dimensionierten tierepischen Erzählens weiter, so zeigt sich, dass dem Menschen nach Rainaldo e Lesengrino die volle Verantwortung für die Gestaltung seiner sozialen und politischen Ordnung zukommt. Nicht nur sind vermeintliche Naturgesetze und andere unerschütterlich anmutende Fundamente bestehender Ordnungen vielleicht selbst nur Ergebnis lange zurückliegender geschichtlicher Prozesse (Van de vos Reynaerde), sie können, und das wäre die Position, die sich aus Rainaldo e Lesengrino ableiten ließe, jederzeit geändert werden, sie müssen im Zweifelsfall sogar aktiv gestaltet werden – weil nicht die Natur, sei sie verstanden als kosmisches Prinzip oder als Schöpfungsordnung, sondern der Mensch Verantwortung für seine soziale und politische Ordnung trägt. Dem steht freilich die missgünstige Lage des Fuchses gegenüber, der verhungern oder als Geächteter leben muss. Als Tier bleibt Raynaldo also kein Lebensraum – aber wie sehr Tier ist der Mensch? Diese Frage zumindest lässt auch Rainaldo e Lesengrino am Ende offen.

5 Der tierepische Responsibilisierungsdiskurs

In der diachronen Folge der tierepischen Erzählungen vom Gerichtsverfahren gegen den Fuchs zeichnet sich im 12. und 13. Jahrhundert ein Diskurs über die Möglichkeit der Zuschreibung von Verantwortung ab, der gerade von den Leerstellen und Brüchen ausgeht und die offenen Fragen explizit adressiert, die spätere (Erzählungen über) Tierprozesse vor wirklichen Gerichten ausblenden oder überdecken. Schon im Jugement de Renart, der am Anfang des volkssprachlichen tierepischen Responsibilisierungsdiskurses steht, zeigt sich das epistemische Potenzial tierepischer Erzählungen über Gerichtsverfahren gegen den Fuchs, vermag die Erzählung es doch, die anthropologischen Konstituenten juristischer Personalität zu reflektieren und narrativ in einer Art und Weise zu problematisieren, dass vielfach und immer wieder anders daran angeknüpft werden konnte. So wird im Reinhart Fuchs, der wohl frühesten Erzählung, die den Jugement de Renart adaptiert, einerseits die Bedeutung der Intentionalität und Willensfreiheit des Handelnden für die Zuschreibung von Verantwortung hervorgehoben, andererseits wird die Konstruiertheit von juristischer Verantwortung in Szene gesetzt und es wird ein fundamentaler und zugleich höchst gefährdeter Konnex von Responsibilisierung vor Gericht mit der Stabilität sozialer und politischer Ordnung sichtbar. Dass der Mensch nicht nur Verantwortung für sich selbst trägt und nicht nur individuell für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann, sondern auch die Gestaltung sozialer Ordnung verantwortet, deutet das Ende von Van den vos Reynaerde an. Stärker noch als im Reinhart Fuchs wird dabei die Konstruiertheit von Verantwortung in sozialer Hinsicht akzentuiert und Modellen der Naturalisierung sozialer Ordnung gegenübergestellt. Rainaldo e Lesengrino schließt schon insofern an den Jugement de Renart an, als hier im Bild des Feldarbeiters und Salatfressers Raynaldo noch einmal besonders deutlich die Absurdität einer Responsibilisierung des Fuchses für das Töten von Hühnern gezeigt wird. Zugleich aber hebt die italienische Erzählung sich von allen anderen Inszenierungen des Gerichts über den Fuchs ab, weil sie einen Vorschlag macht, wie die sozialen Ordnungen des Hofs und des Gerichtsverfahrens, die Gesetzeslage und die Normenhierarchie zwischen Naturrecht und positivem Recht gestaltet werden können, um die (Tier‑)Gesellschaft konsequent und rechtsförmig vor dem Fuchs zu schützen. Kaum etwas davon kann unmittelbar auf die Wirklichkeit der Menschen übertragen werden. Aber als Teil der anthropologischen Episteme tierepischen Erzählens, die unter dem Zeichen einer frappierenden Instabilität der Mensch-Tier-Differenz steht, betrifft der vom Jugement de Renart bis zu Rainaldo e Lesengrino entfaltete Responsibilisierungsdiskurs die Konstruktion juristischer Personalität doch in empfindlicher Weise und es wäre zu überlegen, ob er nicht in der Lage ist, selbst moderne Rechtsordnungen hinsichtlich ihrer Kategorien des Menschlichen und Tierlichen kritisch zu beleuchten.