1 Einleitung

»Am Familientisch, beim Essen, üben Menschen die Anthropologische Differenz paradigmatisch ein, indem sie Tiere essen« (Wild 2016, S. 48). In meinem Beitrag, der theoretisch innerhalb der Vegan Studies verortet ist, möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern im Kontext von Szenen der Tischgenossenschaft (Kommensalität) vegane Narrative wie The Lives of Animals von J.M. Coetzee, Die Vegetarierin von Han Kang und Wurst und Wahn von Jakob Hein auf unterschiedliche Weise ›species trouble‹ erzeugen und damit eindeutige Praktiken der humanen Abgrenzung von Tieren im Fleischkonsum hinterfragen und in Mehrdeutigkeit überführen.

Menschen haben sich seit jeher über ihre Gastronomie, die bestimmt, was und wer gegessen werden darf, von den nichtmenschlichen Tieren abgegrenzt (vgl. Bourke 2011, S. 275–298). Insofern sich Menschen durch das gemeinsame Essen definieren, kommt Kommensalität als sozialem Ereignis, bei dem Fragen von Macht, Hierarchie, Identität sowie Inklusion und Exklusion verhandelt werden, eine zentrale Bedeutung zu. Nehmen am gemeinsamen Mahl, das der Bestätigung und Erneuerung von geteilten Werten dienen soll, Personen teil, die Fleisch bzw. tierliche Produkte im Allgemeinen ablehnen, wird Kommensalität, so die These, dekonstruiert und affektbesetzte Normativität dezentriert.

Wie im Folgenden gezeigt werden soll, formulieren die untersuchten fiktionalen Texte keine explizite normative Moral mit eindeutigen Handlungsanweisungen, sondern stellen mit literarischen Mitteln eindeutige Grenzziehungen infrage, wodurch narrative Ambivalenz erzeugt wird. Affektbesetzte carno-phallogozentrische Normativität,Footnote 1 die aus einem Netzwerk sich gegenseitig verstärkender gesellschaftlicher Machtkonstellationen und Unterdrückungsverhältnisse besteht,Footnote 2 wird in eine Form der Mehrdeutigkeit überführt, die die ›Vegan Studies‹-Forscherin Emelia Quinn (2021, S. 119) in Anlehnung an Judith Butlers Theorie des Performativen als »species trouble« bezeichnet. Zentral dabei ist, dass der Prozess der Veruneindeutigung tierliche Körper wieder sichtbar macht.

Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zunächst werden Grundzüge der ›Vegan Studies‹ dargestellt, bevor ich in einem nächsten Schritt theoretische Positionen diskutiere, die sich gegen Gewalt an Tieren wenden. Daran anschließend werden die literarischen Repräsentationen von Gastmahlszenen und deren ›vegane‹ Grenzüberschreitungen, die ›species trouble‹ erzeugen, bei J.M. Coetzee, Han Kang und Jakob Hein analysiert.

2 ›Vegan Studies‹

Ebenso wie der Veganismus, der als Ausdruck einer spezifischen Lebenshaltung gelten kann, sind die Vegan Studies seit einigen Jahren auf dem Vormarsch und zu einem eigenständigen Forschungsbereich geworden. Die amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Laura Wright gilt mit ihrer 2015 veröffentlichten Studie The Vegan Studies Project: Food, Animals, and Gender in the Age of Terror als Begründerin der Vegan Studies als eigenem akademischen Feld. Laut Emelia Quinn und Laura Wright, den Herausgeberinnen des Edinburgh Handbook of Vegan Studies von 2022, besitzen Vegan Studies und Vegan Theory eine direkte und dringliche Relevanz für unsere unmittelbare Gegenwart (Quinn/Wright 2022b, S. 16; vgl. Quinn/Wright 2022a). Die Dringlichkeit und Brisanz von (wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen mit veganen Lebensformen liegt vor allem darin begründet, dass Veganismus und auch Vegetarismus wie kaum ein anderer Lebensstil vorwiegend ethisch motiviert sind. Zu den Argumenten zählen sowohl die generelle Ablehnung von Tiertötung, die Kritik an der Objektifizierung und Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere sowie die Forderung, tierliche Würde zu respektieren und das Recht auf Leben und Freiheit zu garantieren. Klaus Petrus verweist auf Studien, die angeben, dass mehr als 90 % der befragten Personen aus ethischen Gründen vegan leben (Petrus 2015, S. 403).

Die Vegan Literary Studies wiederum untersuchen, inwiefern Veganismus als eine kritische Perspektive für die Beschäftigung mit literarischen Texten fungieren kann. Dabei lag der Fokus der literarischen Analysen unter einem veganen Blickwinkel wie in Laura Wrights Pionierstudie The Vegan Studies Project zunächst auf den Veganer*innen selbst, die als Figuren des Politischen und Kulturellen gelesen wurden. Zu den Fremd- und Selbstbildern gehören etwa »Vegan Vampires«, »Vegan Zombies« oder sogenannte »Hegans«, die Veganismus mit Maskulinität verbinden (Wright 2015, S. 43, S. 68, S. 107). In der weiteren Entwicklung der Vegan Studies betont etwa der Forscher Stewart Cole, dass sich vegane Lesarten nicht auf die Auseinandersetzung mit veganen Autor*innen oder Texten mit explizitem veganen Inhalt beschränken sollten (Cole 2022, S. 195). In den Vegan Studies geht es also nicht allein um Ernährungsfragen, sondern um Wahrnehmungsformen, die die Körper nichtmenschlicher Tiere sichtbar und dadurch berücksichtigbar machen.Footnote 3

Von Evan Maina Mwangi etwa stammt das Konzept des veganen Unbewussten, das er in postkolonialen afrikanischen Texten untersucht. Er postuliert damit, dass Texte implizit Aussagen über Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren formulieren, die auch zentrale Interessen des Veganismus berühren. Für Mwangi ist Veganismus zwar nicht der Status quo der Gesellschaft, aber eine implizite Möglichkeit in den Texten, die das angestrebte Ziel darstellt (Mwangi 2019, S. 11). Diese Positionen in den Vegan Literatury Studies untersuchen literarische Texte im Hinblick auf deren ethisches Potenzial, Änderungen der gesellschaftlichen Mensch-Tierbeziehungen herbeizuführen. Insofern stehen die ›Vegan Studies‹ – wie Emelia Quinn betont – oft den Critical Animal Studies (CAS) nahe, die die Grenze zwischen akademischer Beschäftigung mit Tier-Mensch-Beziehungen und Tieraktivismus zu überschreiten suchen.Footnote 4

3 Grenzen der Tierrechtsphilosophie

Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere ist in den westlichen Gesellschaften zumeist unsichtbar. Das Leiden nichtmenschlicher Tiere in der Massentierhaltung, bei Tierversuchen oder in Schlachthäusern findet häufig an den Rändern der Gesellschaft statt, den Blicken durch strenge Sicherheitsvorkehrungen, Zäune und hohe Mauern verschlossen.Footnote 5 Neben solchen materiellen Gegebenheiten ist es aber vor allem der menschliche Anthropozentrismus, der tierliche Körper zum Verschwinden bringt und als unlesbar erklärt. Neben dem cartesianischen Modell, das Tiere zu seelenlosen Automaten macht – eine Vorstellung, die noch den Behaviorismus des 20. Jahrhunderts beherrscht –, ist besonders die Argumentation von Immanuel Kant, dass Tiere als nicht-vernünftige Wesen aus der Sphäre der Moral ausgeschlossen seien, bis heute zentral. Kant schreibt in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten:

»Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet […].« (Kant 1956, S. 60)

Kants Ausschluss der nichtmenschlichen Tiere aus dem Personenkreis hat weitreichende Konsequenzen. Indem der Ausschluss den epistemologischen ebenso wie den praktischen Zugriff auf tierliche Andere als vernunftlose Objekte und Sachen erlaubt, die keiner moralischen Berücksichtigung bedürfen und über die verfügt werden kann, bringt Kants Objektivierung der Tiere diese auch als empfindende Wesen zum Verschwinden. Gleichzeitig wird so der menschliche Exzeptionalismus bestätigt, der die Verwendung tierlicher Lebewesen als Nahrungsquelle, zu Forschungszwecken oder im Nutztiergebrauch ermöglicht.

Wie Tiere moralisch berücksichtigt werden können, ist spätestens seit dem 1975 erschienenen Buch Animal Liberation des Philosophen Peter Singer ein zentrales Thema der Tierethik. Singers präferenzutilitaristisch begründete Ethik, die in Anlehnung an Jeremy Bentham nach der Leidensfähigkeit von Lebewesen fragt, unternimmt es, den Personenbegriff, den Kant ausschließlich für vernünftige Wesen reserviert hatte, auf nichtmenschliche Lebewesen auszudehnen. Für Singer zählen diejenigen Lebewesen zu den Personen, die über ein Ich- bzw. über Selbstbewusstsein verfügen. Die Kriterien, die für Singer für moralische Berücksichtigung und damit für das Recht auf Leben ausschlaggebend sind, sind das Bewusstsein des eigenen Selbst und eine Vorstellung von Zeit – also ob man über sich selbst reflektieren kann und auf die Zukunft bezogene Wünsche und Pläne besitzt. Aber macht Singer mit seiner utilitaristischen Ethik nichtmenschliche Tiere wieder sichtbar? Die Antwort auf diese Frage ist komplex, da Singer zwar als einer der Pioniere gelten kann, die Tierrechte einfordern, aber sie auf einen relativ kleinen Teil der nichtmenschlichen Tiere, die in die Gemeinschaft der Gleichen einbezogen werden, beschränkt. Denn Gegenwartswesen, die nur bewusst sind, sind zwar empfindungsfähig, besitzen aber kein Zukunftsbewusstsein, das ein Interesse am Weiterleben impliziert. Deswegen stellt letztlich für Singer die schmerzfreie Tötung von Gegenwartswesen kein moralisches Problem dar.Footnote 6 Rechte fordert er hingegen für die Gruppe der Hominidae ein, zu denen Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans gehören, und für die er sich zusammen mit Paola Cavalieri in dem 1993 gegründeten Great Ape Project einsetzt.Footnote 7 Die Praxis, ausgewählten Tieren aufgrund ihres Personseins Rechte zu übertragen, wurde von verschiedenen Seiten als anthropozentrisch oder sogar speziesistisch kritisiert. Für die Philosophin Evelyn Pluhar etwa sind Versuche, durch Personsein generierte Rechte auf ausgewählte Nicht-Personen zu übertragen, zum Scheitern verurteilt, weil sie von dem Fehler ausgingen, dass Personsein eine herausragende moralische Bedeutung habe (Pluhar 2014, S. 131). Als Problematik einer abstrakten, regelbasierten Tierethik, die fordert, gleiche Fälle gleich zu behandeln, lässt sich ihr impliziter Anthropozentrismus und Logozentrismus formulieren, weil Tieren nur dann ein Personenstatus und damit Rechte zuerkannt werden, wenn sie eine Similarität zur Idee des rational, autonom und zweckgerichtet handelnden Menschen aufweisen. Die Fürsorgeethikerin Lori Gruen spricht in Bezug auf Positionen wie Singers von einer »sameness response«, die unter dem Fokus der Ähnlichkeit den Dualismus von Mensch und Tier lediglich umgestalte (Gruen 2012, S. 221).

Kritik an dieser Tierethik, die moralische Berücksichtigung an den Nachweis gleicher Fähigkeiten bei den nichtmenschlichen Tieren knüpft, äußert seit den 1990er Jahren der vor allem in Nordamerika verbreitete Ecofeminism, der, statt tierliche Rechte einzufordern, eine situationale und relationale Ethik der Fürsorge und der Empathie mit tierlichen Anderen propagiert.Footnote 8 Eine zentrale These des Ökofeminismus ist, dass das Mitleid mit den anderen Tieren eine natürliche, normale Reaktion im menschlichen Leben darstelle. Allerdings werde diese intuitive Empathie durch die dominante Ideologie der Gesellschaft unterdrückt, indem soziokulturelle Mechanismen zur Leugnung von persönlicher Verantwortung, dem Ignorieren von Leid und der Missachtung der Anwesenheit eines tierlichen Subjekts beitrügen (Luke 1995).

Einen dieser Gewaltzusammenhänge, der Tiere objektifiziert und dadurch unsichtbar macht, sehen ökofeministische Philosophinnen im Verzehr von Fleisch. Diese Argumentation hat zuerst Carol J. Adams in ihrer grundlegenden Studie The Sexual Politics of Meat von 1990 verfolgt. Adams untersucht dort die enge Beziehung zwischen der westlichen Kultur des Fleisch-Essens und dem Bild männlich-patriarchaler Dominanz und Stärke – ein Zusammenhang, der besonders in Han Kangs Roman Die Vegetarierin virulent ist, der die patriarchal dominierte südkoreanische Gesellschaft in Frage stellt. In diesem Konnex werden, so Adams, nichtmenschliche Tiere zu »absent referents« (Adams 2011, S. 66), die unsichtbar sind. Die Praktiken, durch die Tiere verschwinden, sind ihr zufolge zum einen ganz konkret das Essen von Fleisch. Zum anderen sind Tiere abwesend durch lexikalische Differenzierungen, die tote Körper in Fleisch verwandeln oder das Hinterbein des Schweins in eine Keule oder Schinken: »Live animals are thus the absent referent in the concept of meat. The absent referent permits us to forget about the animal as an independent entity; it also enables us to resist efforts to make animals present« (Adams 2011, S. 66).

Adams weist darauf hin, dass die Unterdrückung von und die Gewalt gegen Frauen die gleiche Struktur des abwesenden Referenten kennzeichnet wie bei den nichtmenschlichen Tieren, indem sie innerhalb der dominanten karnivoren Ideologie verdinglicht und entsubjektiviert werden. Zumal aus einer intersektionellen Perspektive die abwesenden Referenten ›Frau‹ und ›Tier‹ überlagert und austauschbar werden. Ein Beispiel aus der kulturellen Praxis ist etwa die Überblendung von Erotik und Fleischgenuss in der Zeitschrift BEEF!, die seit 2009 mit einer zweimonatlichen Auflage von 50.000 Exemplaren in Deutschland große Popularität genießt.

»Fleischfreunde aufgepasst!«, heißt es im Abo-Werbetext bei Thalia, »BEEF! ist gemacht von Männern für Männer – und zwar für solche, die Geschmack haben« (Zeitschriften-thalia.de). Mit BEEF! partizipiere der moderne, virile Mann an »aktuellen Lifestyle- und Food-Trends rund um die Welt« (Zeitschriften-thalia.de). Die Zeitschrift wirbt mit den Themen Geschmack, Lifestyle und Prestige, denn – wie versichert wird – dreht sich »nicht alles nur um Fleisch, sondern allgemein um die Liebe zum Essen und die Begeisterung für hochwertige Lebensmittel« (Zeitschriften-thalia-de). Daneben verknüpfen Cover (Abb. 1) – wie etwa das der zweiten Ausgabe von 2018 – Frauenkörper als Objekte des Begehrens mit konsumierbaren Tierkörpern: Fleisch assoziiert Weiblichkeit und Sexualität, wenn es auf der Titelseite heißt, »Die Erotik der Sülze. 6 Männerträume in Aspik«. Suggestiv funktioniert auch das Bild der sorgsam verschnürten Rinderfilets, denen im Untertitel eine »Lobeshymne« gewidmet wird. Die Rhetorik (Gebrauch von Superlativen) und Semantik (Wörter wie »zart«, »fein«, »unvergleichlich«), die eingesetzt werden, erinnern an panegyrisches Werben, während das Bild unmissverständlich auf Dominanz, Unterwerfung und Inkorporation zielt.

Abb. 1
figure 1

Zeitschrift Beef! (Quelle: de.scribd.com, Ausgabe 2/2018)

BEEF! erzeugt auf diese Weise ein Bild heteronormativer Männlichkeit, das sowohl mit positiven Affekten besetzt ist als auch eine ›glokale‹ Gemeinschaft von Karnivoren beschwört, die an den Food-Trends dieser Welt teilhaben.

In Adams’ ökofeministischer Tradition, die den Zusammenhang von Fleischkonsum und der Affirmation von Männlichkeit hervorhebt, stehen Arbeiten wie von Lori Gruen in »Empathy and Vegetarian Commitments« (2007) und von Marti Kheel in »Vegetarianism and Ecofeminism – Toppling Patriarchy with a Fork« (2004), die für einen ethischen Vegetarismus argumentieren. Fleisch ist ein Lebensmittel, das mit sozialem Prestige verknüpft ist, indem es traditionell vor allem Gruppen mit höherem Einkommen zur Verfügung stand.Footnote 9 Zugleich argumentieren Adams, Gruen und Kheel, das bis heute das Essen von Fleisch mit Männlichkeit, Stärke, Durchsetzungsvermögen und sexueller Potenz assoziiert ist. Fleisch und Frauen funktionieren, so Kheel, als austauschbare, aufeinander verweisende Referenten in einem System männlicher Einverleibung und Aneignung (Kheel 2004, S. 334). Diese Einschätzung basiert auf einer der Grundannahmen des Ecofeminism, dass zwischen der Unterwerfung von Natur und der Unterwerfung von Frauen, die traditionell mit Natur assoziiert werden, in patriarchalen Gesellschaften ein enger Zusammenhang besteht. Vegetarismus erscheint dann als eine Möglichkeit des Widerstands gegen Gewalt und Unterwerfung – in welcher Form, wird sich im fiktionalen Bereich in Hang Kangs Die Vegetarierin noch zeigen.

In seinem 1991 mit Jean-Luc Nancy geführten Interview, »›Eating Well‹, or the Calculation of the Subject«, weist auch Jacques Derrida auf die Verbindung von Fleisch, Männlichkeit und Naturbeherrschung mit seinem Neologismus des ›Carno-Phallogozentrismus‹ hin.Footnote 10 Derrida erweitert dort die von ihm in seinen früheren Schriften kritisierte Koppelung von Vernunft, Sprache (logos) und Männlichkeit (phallus) um den Aspekt des Fleisches (carnis) – also die Bereitschaft, andere fühlende Wesen rechtmäßig zu opfern bzw. zu töten. Alle drei Komponenten sind für Derrida maßgeblich an der Etablierung des Subjekts beteiligt. Im Carno-Phallogozentrismus geht es dem französischen Dekonstruktivisten nicht nur um die Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren, sondern viel grundsätzlicher um die »conceptual machinery«, die im hegemonialen Diskurs der westlichen Metaphysik das Subjekt hervorbringt (Derrida 1991, S. 109). Im Zentrum des Subjekts stehe die Struktur des Opfers (»sacrifical structure«, Herv. i.O.), die im Hinblick auf den Tierkörper sowohl real als auch symbolisch sei – »An operation as real as it is symbolic when the corpse is ›animal‹ (and who can be made to believe that our cultures are carnivorous because animal proteins are irreplaceable?)« (Derrida 1991, S. 112). In Bezug auf Menschen seien dagegen die meisten »executions of ingestion, incorporation, or introjection of the corpse« (Derrida 1991, S. 112) symbolische Prozesse.

Selbst bei Emmanuel Levinas und bei Martin Heidegger, betont Derrida, seien Subjekt und ›Dasein‹ männlich konzipiert in einer Welt, in der die Möglichkeit des Opfers bestehe – »where it is not forbidden to make an attempt on life in general, but only on the life of a man, of other kin, on the other as Dasein« (Derrida 1991, S. 113, Herv. i.O.). Dieses Schema des Subjekts, das in seinem definitorischen Zentrum die männlich-virile Figur einsetzt, beschreibt die hierarchische Anordnung derer, die Macht, Stärke und Potenz besitzen:

»Authority and autonomy […] are, through this schema attributed to the man (homo and vir) rather than to the woman, and to the woman rather than to the animal. And of course to the adult rather than to the child. The virile strength of the adult male, the father, husband, or brother […] belongs to the schema that dominates the concept of subject. The subject does not want just to master and possess nature actively. In our cultures, he accepts sacrifice and eats flesh.« (Derrida 1991, S. 114, Herv. i.O.)

Frauen, Kinder und Tiere sind in diesem Schema das Andere des (männlichen) Subjekts, das es unterwirft und sich (gewaltsam) einverleibt. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass Derrida die Rede vom Essen vom realen Akt des Verspeisens zu symbolischen Formen von »conception-appropriation-assimilation of the other« (Derrida 1991, S. 114) erweitert.Footnote 11 Was bedeutet es also, wenn Derrida von der Metonymie »eat well (bien manger)« (Derrida 1991, S. 115) als Regel, die es zu beachten gilt, spricht? Da man sich ihm zufolge dem Zwang des Essens nicht entziehen könne (»since one must eat in any case«, Derrida 1991, S. 115, Herv. i.O.), müsse man ›gut essen‹. Konkret heißt das, dass dem Anderen in dem Moment, in dem man ihn in sich aufnimmt, ihn sich zu eigen macht, Respekt entgegengebracht wird – »respect for the other at the very moment when, in experience […] one must begin to identify with the other, who is to be assimilated, interiorized, understood ideally« (Derrida 1991, S. 115).

Aber welche Konsequenzen besitzt dieser Respekt für den Anderen, der gebunden ist an die Forderungen einer »infinite hospitality« und »responsibility«, die als »essential excessiveness« in ihrem Wesen unbegrenzt und unkalkulierbar sein muss (Derrida 1991, S. 115, S. 108)? Respekt für Tiere allein, kritisieren Tierethiker*innen, wenn er sich nicht in eine entsprechende Praxis überträgt, bleibt eine leere Phrase, die lediglich ein gutes Gewissen erzeuge (Vgl. Tuider/Weiss 2019). Die Argumentationsfigur des guten Gewissens kritisiert auch Derrida in seinem Interview, aber bezüglich der Praxis des Vegetarismus. Kann die Ablehnung von Fleischkonsum eine Möglichkeit darstellen, die Gewalt des Subjekts gegenüber dem Anderen auszusetzen? Stellt der Vegetarismus insofern eine Form des bien manger dar? Dazu äußert Derrida sich prägnant: »Vegetarians, too, partake of animals, even of men. They practice a different mode of denegation« (Derrida 1991, S. 114 f.). Vegetarier partizipieren ihm zufolge also auch an Tieren (und sogar an Menschen) – ihre Praxis stelle gegenüber den Karnivoren nur eine andere Form der Verneinung dar. Was aber bedeutet das? Diese Formulierung und die Rolle des Vegetarismus in »Eating Well« wurde vielfach diskutiert, u. a. von dem Philosophen Benjamin Wood und dem Tiertheoretiker Matthew Calarco. Wood betont, dass es darum gehe, ein gutes Gewissen zu vermeiden: »Good conscience would allow that my responsibility be calculable, and hence limited, but everything Derrida says about responsibility points in the opposite direction« (Wood 1999, S. 31). Calarco wiederum versteht Derrida so, dass eine völlig gewaltfreie Beziehung zum Anderen nicht möglich sei: »How does one respect the singularity of the Other without betraying that alterity? Any act of identification, naming, or relation is a betrayal of and a violence toward the Other« (Calarco 2008, S. 136, Herv. i.O.). Insofern bleibt zu bestimmen, was das Gute jeder Moralität und damit auch des ›Eating Well‹ sei – »the question will come back to determining the best, most respectful, most grateful, and also most giving way of relating to the other and of relating the other to the self« (Derrida 1991, S. 114).

Mit Wood und Calarco lässt sich sagen, dass Derrida eine ambivalente Position zum Vegetarismus einnimmt, weil es sich bei den meisten Formen dieser ethischen Praxis um eine kalkulierbare, begrenzte Form der Verantwortung handelt, die sich auf Rechte und Pflichten des moralischen Subjekts beruft, was einem »becoming-right of morality« (Derrida 1991, S. 118) gleichkommt. Unendliche Gerechtigkeit wird durch an Bedingungen geknüpftes, positives Recht ersetzt, das wiederum genau jene von Derrida kritisierte Struktur des mit Autorität und Autonomie ausgestatteten phallogozentrischen Subjekts voraussetzt.

Inwiefern in der Literatur diese Subjektstrukturen durch vegane Interventionen dekonstruiert werden, soll im Folgenden anhand der Erzählungen The Life of Animals (1999) von J.M. Coetzee und Die Vegetarierin von Han Kang analysiert werden. Die These ist, dass die untersuchten Texte mit ihren Narrativen von exzessivem, grenzüberschreitendem Veganismus eine Kritik des Carno-Phallogozentrismus formulieren, die sich von universalistischen Modellen der Tierrechtsethik (als »becoming-right of morality«) abgrenzt. Vegetarismus und Veganismus sind in den Texten eng mit der Dekonstruktion der carno-phallogozentrischen Struktur des aufklärerischen Subjekts verbunden. Welche Formen von Verantwortung im Hinblick auf die Beziehung zu nichtmenschlichen Tieren in den Texten durch den Verzicht auf Fleisch zum Ausdruck kommen, soll nun anhand von Gastmahlszenen bei Coetzee, Han Kang und Jakob Hein gezeigt werden.

4 Das ›andere‹ Gastmahl in der Literatur: Veganismus als Exzess

Ein zentrales Motiv in literarischen Texten, in denen Vegetarismus als Ernährungsform repräsentiert, inszeniert und reflektiert wird, ist das des Gastmahls. Das Teilen des Essens dient in vielen Kulturen der Stiftung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Damit ist das gemeinschaftliche Essen jedoch zugleich ein zutiefst politischer und moralischer Akt der Grenzziehungen, bei dem entschieden wird, wer am Tisch sitzen darf, wer exkludiert wird und was als essbar gilt. Insofern sind Schilderungen des gemeinsamen Essens hoch aufgeladene Verhandlungen (tier-)ethischer und machtpolitischer Problemstellungen.

Wie Gerhard Neumann in seinem Beitrag »Das Gastmahl als Inszenierung kultureller Identität« zeigt, ist das gemeinsame Essen in künstlerischen und literarischen Darstellungen der europäischen Kulturgeschichte ein zentraler Topos bei der »Stiftung kulturellen Sinns und kultureller Identität« (Neumann 1997, S. 41). Neumann unterscheidet zwischen vier verschiedenen Grundtypen, die historisch die Regeln von Gastmählern bestimmen – dem heidnisch-antiken, dem jüdischen Pessach-Mahl, dem christlichen Abendmahl und dem feudalen bzw. bürgerlichen Diner (Neumann 1997, S. 42). Das gemeinsame Mahl besitzt den Charakter des Festes, das in der Gabe Gastfreundschaft und Reziprozität impliziert. Alle vier Typen verbindet, dass sie Gemeinschaft am Tisch des Hauses herstellen, wo die Rollen der beteiligten Subjekte bestätigt werden.Footnote 12 Das gilt sowohl in Bezug auf Religion, Nationalität als auch für Klassen- und Gruppenzugehörigkeiten. Im Gastmahl bestätigt sich vor allem auch die Macht des Familienoberhaupts – des normativen Subjekts –, das die Gesetze der Gastfreundschaft bestimmt und denen er die anderen, die mit am Tisch sitzen, unterwirft (vgl. Derrida 2001, S. 106). Die zum Gastmahl Geladenen versichern sich gegenseitig ihrer Normen, erneuern sie beim gemeinsamen Essen, üben sie ein und geben sie an andere weiter. Insofern ist Kommensalität auch immer mit Bildungs- und Pädagogisierungsparametern verknüpft.Footnote 13

Vor diesem Hintergrund ist die Analyse von Gastmahl-Szenen in literarischen Inszenierungen des Vegetarismus und des Veganismus hinsichtlich der narrativen Formulierung einer anderen Tierethik besonders ertragreich. Denn, wie Seán McCorry bemerkt, fungiert Fleisch an der Essenstafel als Zeichen des Tausches, mit dem Menschen ihre Artgenossen zu Beziehungen der Reziprozität und Gabe einladen, die im Weiteren affektive, ethische und politische Solidarität begründen (vgl. McCorry 2017, S. 754). Das Gastmahl dient also nicht nur der Versicherung von Identität hinsichtlich Religion, Nation oder Klasse, sondern hat als zentrales Moment auch die Selbstverständigung über die Spezieszugehörigkeit. Durch das ritualisierte oder festliche Verspeisen nichtmenschlicher Tiere werden sowohl Grenzziehungen affirmiert als auch menschliche Tiere in ihrer Sonderstellung bestätigt. Wenn – wie in der Erzählung The Lives of Animals des Südafrikaners J.M. Coetzee von 1999 oder im Roman Die Vegetarierin der Südkoreanerin Han Kang von 2016 – Vegetarierinnen mit am Tisch sitzen, wird die normative Ordnung des Gastmahls umgekehrt und in Frage gestellt.

4.1 J.M. Coetzees The Lives of Animals: Elizabeth Costellos Dekonstruktion der normativen Ordnung

J.M. Coetzees Text kann als eine der einflussreichsten fiktionalen Stellungnahmen in der internationalen wissenschaftlichen als auch in der öffentlichen Tierethikdebatte gelten. The Lives of Animals zeigt gleich zwei zentrale Gastmahlszenen – zum einen ein alltägliches Abendessen im häuslichen Umfeld und zum anderen ein feierliches Bankett im akademisch-institutionalisierten Kontext. Erzählt wird die fiktive Geschichte der australischen Schriftstellerin Elizabeth Costello, die eingeladen wurde, am Appleton College in den USA einen Vortrag ihrer Wahl zu halten. Die aus zwei Teilen bestehende Erzählung, die ursprünglich von Coetzee als Vortrag im Rahmen der Tanner Lectures am Princeton University Center for Human Values 1997/98 gehalten wurde, beginnt mit »The Philosopher’s and the Animals«. Die Protagonistin Elizabeth Costello kritisiert dort in ihrer Vorlesung am Appleton College das logozentrische Denken des westlichen Abendlandes und den daraus resultierenden Anspruch auf Überlegenheit der Menschen über die nichtmenschlichen Tiere. Im zweiten Teil, »The Poet’s and the Animals«, entwickelt Costello dann in ihrem Workshop zu Tiergedichten von Rainer Maria Rilke und Ted Hughes eine situierte Ethik der Empathie, die sich deutlich gegen den »Phallogozentrismus« – als Fixierung auf Rationalität, Sprache und universelle Gesetze – richtet.

Die Erzählung beginnt medias in res mit Costellos Ankunft am Flughafen, von dem sie ihr Sohn John, der am hiesigen College Professor für Astrophysik ist, zu sich nach Hause abholt. John, der zugleich die Fokalisierungsinstanz der Erzählung ist, steht zwischen seiner Mutter und seiner Frau Norma, die ihre Schwiegermutter wegen ihres vermeintlich exzentrischen Verhaltens ablehnt. Noch bevor die Protagonistin Costello als Vegetarierin eingeführt wurde, startet der Text mit einer semiotisch und affektiv aufgeladenen Essensszene:

»Hostilities are renewed almost at once. Norma has prepared a light supper. His mother notices that only three places have been set. ›Aren’t the children eating with us?‹ she asks. ›No‹ says Norma, ›they are eating in the playroom.‹ ›Why?‹

The question is not necessary, since she knows the answer. The children are eating separately because Elizabeth does not like to see meat on the table, while Norma refuses to change the children’s diet to suit what she calls ›your mother’s delicate sensibilities‹.

›Why?‹ asks Elizabeth Costello a second time.

Norma flashes him an angry glance. He sighs. ›Mother‹, he says, ›the children are having chicken for supper, that’s the only reason.‹

›Oh‹, she says. ›I see‹.« (Coetzee 1999, S. 15 f.)

Der Typus des Gastmahls, der hier aufgerufen wird, ist das Essen der bürgerlichen Kleinfamilie, bei dem ein Gast zugegen ist. Kommensalität in diesem Kontext heißt gewöhnlich, dass die Familie gemeinsam am Tisch zum Essen und Trinken zusammenkommt und sich selbst als Familie mit ihren Werten und Normen in dieser Handlung bestätigt. Doch bereits die mit dem Gastmahl assoziierte Gastfreundschaft funktioniert nicht. Weder ist Costello willkommen – ihr Sohn John sinniert, dass seine Mutter besser im Hotel abgestiegen wäre – noch wird der aus der Ferne angereiste Gast freundschaftlich empfangen. »Hostilities were renewed at once« – statt der Erneuerung von Gemeinschaft im Mahl kommt es zur Erneuerung von Feindseligkeiten zwischen Norma und ihrer Schwiegermutter. Mit ihrem Wunsch, kein Fleisch auf dem Tisch zu sehen, fordert Costello die dominante Essenspraxis der Familie ihres Sohnes heraus. Normas Reaktion darauf kann als Versuch gelesen werden, die Ordnung wieder zu stabilisieren. Die Kinder werden mit dem ›normalen‹ Essen, dem Hühnchen, in einen anderen Raum geschickt.

In Anlehnung an Sara Ahmeds Figur des ›feminist killjoy‹ (Ahmed 2010) hat Richard Twine in seinem gleichnamigen Beitrag vorgeschlagen, von »Vegan Killjoys at the Table« (2014) zu sprechen. Ein ›Vegan Killjoy‹ verstoße gegen die affektiv besetzte ›Glücksordnung‹ des Gastmahls, die durch den kommensalen Austausch von Fleisch bestätigt werde (Twine 2014, S. 626). Insofern wird dem Spaßverderber bzw. der Spaßverderberin die Kategorie des Problems zugewiesen und nicht den Karnivoren. Norma wirft ihrem Mann John ärgerliche Blicke zu (»angry glance«), John ist angestrengt und seufzt (»sighs«). Der ›Schaden‹ wird begrenzt, indem Costello selbst zum Objekt des negativen Affekts wird, nicht die im Fleischkonsum implizierte Gewalt. Obwohl die dialogische Passage keine explizite affektive Regung von Costello nennt, wird sie innerhalb von Johns Fokalisierung durch die persistierende Iteration ihrer Frage »Why?« als rechthaberische Unruhestifterin identifiziert, die mit ihrem abweichenden Verhalten die von der normativen Gemeinschaft geteilte Vorstellung von Glück gefährdet (vgl. Twine 2014, S. 625).

Norma – deren sprechender Name bereits die Orientierung an der Norm impliziert – versucht, gegen die disruptive Bedrohung des ›Vegan Killjoy‹ Costello die affektive, soziale und moralische Ordnung der Familie wiederherzustellen. Normas ›normative‹ Ordnung basiert auf der Exklusion von animalischer Natur und von Körperlichkeit ebenso wie von exzessiven, sentimentalen und irrationalen Gefühlen, die sie abwertend als »your mother’s delicate sensibilities« adressiert.Footnote 14 Dazu gehört auch, dass Tiere möglichst körperlos bzw. unsichtbar sein sollen. Norma wirft ihrer Schwiegermutter vor, dass sie ihre Autorität hinter ihrem Rücken untergrabe, indem sie den Kindern Geschichten von »poor little veal calves and what the bad men do to them« (Coetzee 1999, S. 68) erzähle. Der Kontrollverlust, den Norma aufgrund von Costellos »stories« (Coetzee 1999, S. 68) fürchtet, basiert auf dem Sichtbar-Machen dessen, was Carol Adams den »absent referent« nennt. Vom konsumierbaren Objekt wird das Fleisch durch Costellos Geschichten wieder als lebendes Tier – als Kälbchen – sichtbar. Das stört in der Konsequenz den automatisierten, unbedachten Essensprozess, so dass die Kinder argwöhnisch auf ihrem Teller herumstochern, zum Ärgernis ihrer Mutter Norma, die sich bei John darüber beschwert: »I’m tired of having them pick at their food and ask, ›Mom, is this veal?‹ when it’s chicken or tuna-fish. It’s nothing but a power-game. […] It’s a sick game, and I’m not having the children play it against me.« (Coetzee 1999, S. 68).Footnote 15 In Normas Weltsicht ist der ›Vegan Killjoy‹ der Störenfried, der sich als selbstgerecht und tugendhaft inszeniert, tatsächlich aber Machtspiele spielt, mit denen er den ›normalen‹ Menschen ein schlechtes Gewissen macht. Die Mechanismen der Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung und Ausschließung, die es erlauben, nichtmenschliche Tiere zu opfern (»›sacrifice‹ means […] the justification of putting to death, putting to death as denegation of murder«, Derrida 1991, S. 115), werden in diesem Narrativ, in dem sich Karnivoren als Opfer stilisieren, auf groteske Weise zurück auf den ›Vegan Killjoy‹ projiziert.Footnote 16

Dabei ist es Norma, die normative, universale Regeln geltend machen will (die Mahlzeit der Kinder soll unter allen Umständen gleichbleiben), wohingegen Costello ihre Ethik im Körper bzw. in den Beziehungen zwischen (sozialen) Körpern situiert. Dass sie von Verboten wie Ernährungsvorschriften und Gesetzen nichts hält, äußert sie bereits in ihrer Vorlesung (vgl. Coetzee 1999, S. 37). Ihre Inkonsequenz kommt dann beim festlichen Fakultätsdiner explizit zur Sprache. Costellos Sohn John graut es vor diesem Essen, weil er ahnt, dass seine Mutter als ›Vegan Killjoy‹, eine Provokation für die übliche carno-phallogozentrische Ordnung des Gastmahls darstellt. Als Zugeständnis für ihren geladenen Gast entscheiden sich bei dieser Gastmahlszene die Gastgeber*innen zwar, kein Fleisch zu servieren – sie entscheiden sich für eine Auswahl zwischen Fettuccine mit Auberginen und »the ambiguous fish, which has a backbone but does not breathe air or suckle its young« (Coetzee 1999, S. 38) –, aber das Tischgespräch zielt auf die Wiederherstellung der traditionellen Hierarchie und Bestätigung der humanen Gemeinschaft, indem die Abgrenzung von nichtmenschlichen Tieren diskursiv bekräftigt wird. In diesen Selbstversicherungen des menschlichen Exzeptionalismus stört Costello immer wieder, aber nicht durch die von ihrem Sohn gefürchtete plakative »Plutarch-Response«, mit der sie die Frage, wie sie Vegetarierin geworden ist, angeblich »on her high horse« beantwortet, sondern gerade indem sie das – mit Derrida gesprochen – »becoming-right of morality« (Coetzee 1999, S. 38) verhindert. Die rhetorische Frage des Fakultätsvorsitzenden, ob ihr Vegetarismus aus moralischer Überzeugung hervorgehe, verneint Costello. Vielmehr, so antwortet die Schriftstellerin den betroffenen Gästen, handle es sich um das persönliche Verlangen, ihre Seele zu retten. Respekt für ihre Lebensform sei zudem unangebracht, weil sie Lederschuhe trage. An Prinzipien, so betont Costello ein ums andere Mal, ist ihr nichts gelegen – stattdessen appelliert sie an das Herz.Footnote 17 Das Herz ist der Sitz der Emotionen, einer situierten Empathie, die das Mitgefühl für den Anderen weder abmisst noch kalkulierbar macht. Ähnlich wie die feministischen Fürsorgeethiker*innen interessiert sich Costello nicht für eine rechteorientierte Moraltheorie, sondern formuliert eine situierte Ethik, die aus der offenen Begegnung mit dem anderen erwächst. Deswegen fokussiert sie immer wieder auf spezifische Situationen und nimmt Rekurs auf Geschichten.

Auch Norma beteiligt sich am Tischgespräch. Für sie stellt der Vegetarismus als extreme Form von Ernährungsvorschriften ein Machtinstrument dar, mit dem sich eine elitäre Gruppe definiert und von den anderen abgrenzt. Costello entgegnet ihr nicht mit rationalen Argumenten, sondern mit einer Episode aus Mahatma Gandhis Autobiographie. Gandhis Vegetarismus, so Costello, machte ihn in Großbritannien zum Außenseiter, der von den dort herrschenden Regeln der Gastfreundschaft aufgrund seiner Ernährungsweise ausgeschlossen war. Mit einer situierten Erzählung versucht Costello zu zeigen, dass nicht der Vegetarismus, sondern vielmehr die Gesetze des Carno-Phallogozentrismus das Zentrum hegemonialer Macht darstellen und abweichende Elemente an die Ränder der Gesellschaft verbannen: Ein Zuhause fand Gandhi nur bei den »fringe elements of English society – Fabians, theosophists, and so forth« (Coetzee 1999, S. 43), die er dann in seine politische Philosophie aufnahm.

Neben diesen Geschichten, die statt allgemeinen Gesetzen situierte Kontexte präsentieren, stellt Costello, statt sich auf einzelne Argumente der Fakultätsmitglieder zur anthropologischen Differenz einzulassen (wie z. B. Bewusstsein, Scham, moralische Reziprozität), die konstitutiven Faktoren des menschlichen Subjekts generell in Frage: »›I often wonder what thinking is, what understanding is. Do we really understand the universe better than animals do?‹«; den Akt des Verstehens vergleicht sie mit dem Spiel mit einem Zauberwürfel: »›Once you have made all the little bricks snap into place, hey presto, you understand. It makes sense if you live inside a Rubik cube, but if you don’t…‹«. (Coetzee 1999, S. 45).

Coetzees Erzählung The Lives of Animals formuliert in seiner Gesamtheit – wie die Unruhestifterin Costello – keine universalistische Tierethik. Dazu trägt maßgeblich die narratologische Dimension des Textes bei. Der selbst-reflexive, polyphone Charakter entzieht sich wie Costellos eigene Stimme, die zumeist nur durch die Fokalisierungsinstanz ihres Sohnes wiedergegeben wird, klaren und eindeutigen Zuschreibungen. Anhand seiner unbequemen Protagonistin führt er jedoch vor, wie eine andere Tierethik aussehen könnte, die aus einer situierten Empathie hervorgeht, die sich als unendlich verpflichtende Begegnung mit dem tierlichen Anderen versteht.

4.2 Exzessiver Verzicht und Verantwortung in Han Kangs Die Vegetarierin

Auch in Han Kangs Roman Die Vegetarierin von 2007 gibt es zwei Gastmahlszenen, die entscheidende Momente im Handlungsverlauf darstellen. Der Text der Südkoreanerin, der die Geschichte von Yong-Hye erzählt, besteht aus drei Teilen – »Die Vegetarierin«, »Der Mongolenfleck« und »Bäume in Flammen«. Sie werden durch drei verschiedene Fokalisierungsinstanzen präsentiert: Der erste Teil, »Die Vegetarierin«, der Yong-Hyes plötzliche Wandlung zur Vegetarierin fokussiert, wird aus der Perspektive ihres Mannes Chong geschildert. Der zweite Teil, »Der Mongolenfleck«, der die transgressive und rücksichtslose Beziehung zwischen Yong-Hyes Schwager und der zunehmend physisch und mental angegriffenen Yong-Hye zum Gegenstand hat, wird aus der Sicht des Schwagers präsentiert. Der letzte Teil schließlich, »Bäume in Flammen«, wird aus dem Blickwinkel der betrogenen Schwester In-Hye erzählt.

Vergleichbar mit Coetzees The Lives of Animals gibt es in Die Vegetarierin so gut wie keinen Zugang zu den Gedanken, Beweggründen und Gefühlen der zentralen Protagonistin. Sie bleiben ein weitgehendes Rätsel und werden nur durch den Spiegel der anderen Figuren wiedergegeben. Eine Ausnahme stellen jedoch die vom restlichen Text kursiv abgesetzten unzusammenhängenden Bewusstseinsinhalte von Yong-Hye im ersten Teil dar, die in der Ich-Form Träume von Gewalt, Schmerz, Blut und Angst thematisieren. Einer dieser Träume – so kommuniziert sie es auch ihrem Ehemann – löste ihr veganes ›Erweckungserlebnis‹ aus, von dem an Yong-Hye kein Fleisch mehr zu sich nimmt und alle tierlichen Konsumprodukte ablehnt.Footnote 18

Sowohl in den Human-Animal Studies als auch besonders in den Vegan Studies wurde Han Kangs Roman umfangreich diskutiert. Dabei steht vor allem zur Frage, ob die zunehmende Essensverweigerung und selbstzerstörerische arboromorphe TransformationFootnote 19 Yong-Hyes als Ausdruck einer Essensstörung und Geisteskrankheit der Protagonistin oder als feministischer Widerstand gegen die patriarchale Kultur, die eng mit dem repräsentativem Verzehr von Fleisch verbunden ist, zu verstehen sei.Footnote 20 Benjamin Westwood etwa fragt mit Blick auf den Essensverzicht von Protagonist*innen wie in Franz Kafkas Ein Hungerkünstler und Han Kangs Die Vegetarierin, »[t]o what length can a refusal be taken before it becomes a negation of life itself?« (Westwood 2018, S. 176). Im Folgenden werde ich die Inszenierung und Repräsentation von Mahlzeiten und Gastmählern in Han Kangs Die Vegetarierin vor dem Hintergrund dieser Problematik analysieren.Footnote 21

Die erste der beiden zentralen Gastmahlszenen findet in einem Koreanisch-Chinesischen Restaurant statt, das der ehrerbietige und servile Chong sofort als kultivierte Einrichtung identifiziert. Die Einladung zum Essen, auf die Chong stolz ist, hat sein Chef ausgesprochen, die weiteren Gäste sind Kollegen und deren Frauen. Die imposante Architektur des Raumes unterstreicht die theatrale Inszenierung des ›Festes‹ – Chong muss aufpassen, die kunstvoll verzierte Decke nicht unverhohlen anzustarren; auf die aufwendige Außenanlage des Restaurants macht ihn die Frau seines Chefs in einer überlegenen Geste des versierten Gastes aufmerksam. Die Einladung zum Gastmahl dient offensichtlich der Verfestigung hierarchischer Strukturen sowie der Affirmation gemeinsam geteilter Werte, auf denen diese Hierarchie basiert.

Während die anderen anscheinend mit den Regeln der Gastfreundschaft vertraut sind, die von Chongs Vorgesetztem ausgehen, ist Chong in Begleitung seiner Frau Yong-Hye von Anfang an unsicher, gehemmt und statusbewusst. Sein Gefühl der Marginalisierung und Ausgrenzung verstärkt sich im Verlauf des Essens durch das Verhalten von Yong-Hye, die die sozio-hierarchischen Konventionen – die Gesetze des Gastgebers, die Ausdruck seiner Macht sind – ignoriert. Mit ihrer ›skandalösen‹, abweichenden Performanz stört sie die festgelegte Ordnung des Festes. Obwohl sich Yong-Hye ihrem Ehemann zuhause noch fügte und Make-Up auflegte, trägt sie nun – wie er entsetzt am Tisch feststellt – keinen BH. Yong-Hye widersetzt sich aber nicht nur den Konventionen weiblichen Aussehens, sie betreibt zudem auch keine angenehme Konversation und begegnet dem Blick der Frau des Chefs ohne Unterwürfigkeit und Scham. Sind dies alles bereits Faktoren, die die gewohnte Ordnung in Frage stellen und zu verwunderten, abschätzigen Blicken der anderen Frauen führen, ist ihre hartnäckige Weigerung, Fleisch zu konsumieren, ein kardinaler Verstoß gegen die Gesetze des Gastgebers, der die soziale und moralische Ordnung der patriarchalen südkoreanischen Gesellschaft zu destabilisieren droht. In der Erzählperspektive ihres Mannes wird Yong-Hye zum ›Vegan Killjoy‹ par excellence. Ihr Schweigen, ihre Unbeweglichkeit und Passivität fordern die kommensale Glücksordnung des Gastmahls heraus – ihre Freudlosigkeit steht dem konventionalisierten Geplauder und Austausch von Nettigkeiten der anderen Frauen entgegen: Mit Sara Ahmed zeigt sich Yong-Hye als ein ›Killjoy‹, weil sie »out of line with an affective community« und nicht mehr »aligned« ist – also weder auf Linie gebracht noch mit der Gemeinschaft verbunden ist (Ahmed 2010). Die Vegetarierin gefährdet mit ihrem Verhalten die affektbesetzte Normativität des verschwenderischen 12-Gänge-Menüs, das in seiner Dominanz von Fleischspeisen Züge des ritualisierten Opfers trägt und patriarchale Autorität affirmiert. Denn das Mahl dient nicht nur der Bekräftigung der Überlegenheit des eigenen sozialen Status, sondern auch der menschlichen Identität im Allgemeinen. Insofern führt Yong-Hyes leise an den servierenden Ober gerichtete Bemerkung, dass sie das Essen ablehne, zu einer umgehenden Destabilisierung des selbstverständlichen und automatisierten Konsumprozesses. »Obwohl sie sehr leise gesprochen hatte, brachte ihre Stimme Unruhe in die Tischgesellschaft. Alle Blicke richteten sich fragend auf sie, und meine Frau fügte nun etwas lauter hinzu: ›Ich esse kein Fleisch‹« (Kang 2021, S. 26). Das sich anschließende Gespräch über Vegetarismus verwendet ein breites Spektrum an stereotypen Argumenten, um die unkontrollierte und subversive Provokation, die durch den Fleischverzicht entsteht, stillzustellen und wieder einzuhegen. Der Chef, der als erster auf Yong-Hye reagiert und das Thema sofort adressiert, zieht eine Demarkationslinie zwischen ›uns‹ und ›denen‹ – und zwar nicht nur in individueller Hinsicht, sondern auch in nationaler: »›Ach, Sie sind Vegetarierin? […] In anderen Ländern soll es ja ganz konsequente Vegetarier geben.‹« (Kang 2021, S. 26). Die Frau des Chefs wiederum führt evolutionsbiologische Argumente an und ist überzeugt, dass Vegetarismus wider die menschliche Natur sei. Allein gesundheitliche Erwägungen wie etwa Allergien könnten als akzeptabler Grund gelten, kein Fleisch zu essen. Eine ausgewogene Kost sei notwendig für einen ausgeglichenen Geist. Unterstellt wird damit, dass Vegetarier*innen dementsprechend engstirnige, ideologische Personen seien.

Die Unterhaltung spitzt sich zu, als Yong-Hye von der Frau des geschäftsführenden Direktors nach ihren Motiven, Vegetarierin zu werden, gefragt wird. Ihre Antwort ist noch enigmatischer und provokativer als Elizabeth Costellos Erklärung beim Fakultätsbankett, dass sie ihre Seele retten wolle. Es seien keine gesundheitlichen oder religiösen Gründe, so Yong-Hye, sondern ihr Traum, der sie dazu gebracht habe, kein Fleisch mehr zu essen: »›Ich hatte einen Traum‹« (Kang 2021, S. 27), beginnt ihre Antwort. Anstatt ihr aber die Möglichkeit zu geben, sich zu erklären, wird sie sofort von ihrem alarmierten Mann übertönt und zum Schweigen gebracht.Footnote 22 Die Ursache für Yong-Hyes fleischlose Kost sei eine Gastritis, die seiner Frau Probleme mache, erklärt Chong und verweist auf die Autorität eines Arztes: »›Ein Arzt, der Traditionelle Chinesische Medizin praktiziert, hat ihr geraten, auf Fleisch zu verzichten, und seitdem geht es ihr auch schon besser.‹« (Kang 2021, S. 28). Erst mit dieser medizinischen Begründung ist die destabilisierende Verwirrung und Provokation durch die Vegetarierin innerhalb der Gruppe beendet – »Daraufhin nickten alle in der Runde verständnisvoll.« (Kang 2021, S. 28). Die Erleichterung bei den Gästen ist sofort zu spüren: »›Ach so. Umso besser. Ich würde mich nämlich sehr unbehaglich fühlen in Gegenwart eines passionierten Vegetariers, der mir angewidert beim Fleischessen zusieht. Gott sei Dank ist mir das bisher noch nie passiert.‹« (Kang 2021, S. 28). Die Präsenz eines Vegetariers, der aus ethischen Gründen kein Fleisch isst, führt zu Unbehagen – als verdrießlicher, übellauniger ›Killjoy‹ stört er die Fröhlichkeit und das Glück der affektiven Gemeinschaft und bricht damit die vom Patriarchen (bzw. Chef, Familienoberhaupt etc.) festgelegten Regeln der Gastfreundschaft. Die folgende Bemerkung eines anderen Gastes zeigt, wie die Konsolidierung der eigenen Identität und mit ihr die Legitimation für das Töten von nichtmenschlichen Tieren durch eine doppelte Abgrenzung stattfindet: »›Unter den vorwurfsvollen Augen einer solchen Frau hat man bestimmt das Gefühl, eine Bestie zu sein, wenn man genüsslich einen Oktopus-Tentakel mit seinen Stäbchen aufwickelt.‹« (Kang 2021, S. 28). Vegetarier*innen sind für diesen Gast ein Ärgernis, weil sie die Grenze zwischen Menschen und Tieren aufweichen und einem das unberechtigte Gefühl geben, selbst eine Bestie zu sein. Diese Verwischung der Grenzen hebt der zweite Teil des Satzes auf, in dem durch den Akt des Verzehrs die anthropologische Differenz performativ vollzogen wird: Der Mensch ist kein Tier, eben deshalb, weil er Tiere isst. Die Ordnung des Festes ist wiederhergestellt, was das anschließende, bestätigende Lachen zeigt, in das alle Gäste – bis auf Yong-Hye – einstimmen.

Chongs abschließender Kommentar, dass sich die absolut durchschnittliche und gewöhnliche Frau, für die er Yong-Hye bislang hielt, für ihn in ein zutiefst unergründliches und bodenloses Wesen verwandelt hat, verdeutlicht die provokative Dimension von Yong-Hyes Grenzübertretung für die carno-phallogozentrische koreanische Gesellschaft: »Es war mir ein Rätsel, was in ihrem Kopf vorging, aber zumindest wusste ich jetzt, dass sie für mich eine Fallgrube ohne Boden war.« (Kang 2021, S. 29). Ihre frühere, schlichte Verständlichkeit verwandelt sich für Chong in unkontrollierbare Opazität, die sich Bevormundung widersetzt und patriarchaler Beherrschbarkeit entzieht.

Yong-Hyes Widerstand gegen die autoritäre Bestimmung über sich und ihren Körper – sowohl in der Gestalt des Vaters als auch der Mutter – ist auch zentral für die zweite Gastmahlszene des ersten Kapitels. Dieses Mal ist es die Familie, die zum Festmahl anlässlich des Geburtstags der Mutter und der Wohnungseinweihung bei Yong-Hyes Schwester In-Hye zusammenkommt. Das Essen ist von der Familie zugleich als Intervention intendiert, die Yong-Hye zur Vernunft bringen soll. Die Familienmitglieder wollen die Konventionen der Gemeinschaft und die geteilten Werte wie Gehorsam und Ergebenheit gegenüber den Eltern im Festmahl, in dessen Zentrum der Verzehr von Fleisch steht, beschwören. Die Situation eskaliert folgerichtig als Yong-Hye den Befehl des Vaters, Fleisch zu essen, verweigert und er sie daraufhin schlägt. Die Brutalität steigert sich, wenn ihr vom Vater gewaltsam Fleisch mit der Hilfe ihres Bruders und ihres Ehemanns verabreicht wird. Die Szene läuft endgültig aus dem Ruder als Yong-Hye sich mit einem Messer ihr Handgelenk aufschneidet. Die Affekte des Festmahls der Familie, das durch das kommensale Glücksgefühl Gemeinschaft und Selbst bestätigen sollte, werden durch den ›Vegan killjoy‹ in ihr Gegenteil verkehrt: Der Vater schäumt vor Wut, Yong-Hye stößt »einen bestialischen Schrei aus« (Kang 2021, S. 44), die Kinder weinen.

Die patriarchale Gewalt des Vaters, die hier mit Essen assoziiert ist, verbindet dieses Ereignis mit der folgenden kursiv abgesetzten Passage, die vermutlich eine Erinnerung von Yong-Hye als neunjährigem Mädchen wiedergibt. Nachdem der Hund Weiß seine Tochter gebissen hat, bindet der Vater ihn an seinem Motorrad fest und hetzt ihn zu Tode – weil das »ein zartes Fleisch geben soll« (Kang 2021, S. 45, Herv. i.O.). Die Tochter begegnet während des Spektakels immer wieder den Blicken des Hundes, der sie mit herausquellenden, aufgerissenen Augen anstarrt. Das Ritual der Dorfgemeinschaft will es, dass das Fleisch des Aggressors anschließend bei einem gemeinsamen Gastmahl verzehrt wird:

»An diesem Abend feiern wir ein Fest. Alle Männer vom Markt sind gekommen, ich kenne jeden einzelnen von ihnen. Nur weil man mir sagt, es würde meine Wunde schneller heilen lassen, esse ich einen Löffel voll. Nein, in Wahrheit leere ich eine ganze Schale von der Suppe, mit Reis. Der Geruch des Fleisches, den das Sesamöl nicht ganz überdecken kann, prickelt mir in der Nase. Aus der Brühe starren mich die blutunterlaufenen Augen des rennenden, schaumtriefenden Hundes an. Aber das stört mich nicht. Überhaupt nicht.« (Kang 2021, S. 46, Herv. i.O.)

Es ist naheliegend, diese brutale Kindheitserinnerung als traumatische Urszene zu identifizieren. Denn die Blicke aus den Träumen, die Yong-Hye zur Vegetarierin werden ließen, werden hier erstmals einem konkreten biographischen Ereignis und spezifischen Lebewesen zugeordnet. Ihre Versuche, sich von dem gewaltsamen Akt zu distanzieren, funktionieren nicht, weil sie sich als Kollaborateurin an dem ›Verbrechen‹ erweist. Sowohl als strafende Beobachterin – »Jedes Mal, wenn unsere Blicke sich kreuzen, reiße ich die Augen noch ein Stück weiter auf. / Du hast mich gebissen, du dreckiger Hund!« (Kang 2021, S. 45, Herv. i.O.) – als auch als Mit-Speisende partizipiert sie an der Gewalt, die im Verzehr des Opfers gipfelt.

Sind es die Augen des Hundes, die sie in ihren Träumen verfolgen und auffordern, ›responsibility‹ im Sinne Derridas zu übernehmen?Footnote 23 Auch wenn der Text keine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt, ist offensichtlich, dass Yong-Hye statt wie als Kind, dem Blick des gequälten Tieres stumm und resonanzlos gegenüberzustehen, seit ihrem Traum Verantwortung übernimmt: Fleisch wird für sie als zerstückeltes Zeichen menschlicher Gewalt an Tieren sichtbar, worauf sie mit ihrem Veganismus ›antwortet‹.

Dabei ist ihr kompromissloses Verhalten wesenhaft vom Exzess geprägt. Sie macht keine Zugeständnisse an Autoritäten, Hierarchien und Konventionen, die ihr Ehemann, ihre Eltern oder ihre Geschwister von ihr fordern. Sie verweigert so eine Moral, die, wie Derrida schreibt, kalkulierbar wäre. Yong-Hyes Ruf zur Ver-antwortung, dem sie in Gestalt der Augen in ihren Träumen immer wieder begegnet, ist insofern exzessiv, als er ihren Wunsch nach Gewaltlosigkeit immer weiter vorantreibt – denn: »Das Einzige, das ich nie infrage stelle, ist mein Busen. Ich mag meine Brüste. Sie sind absolut unschuldig. Hände, Füße, Zähne, Zunge und sogar der Blick können Waffen sein, die verletzen oder gar töten. Nicht so die Brüste. Solange ich sie habe, ist alles gut.« (Kang 2021, S. 37 f., Herv. i.O.). Allein die Brüste mit ihrer nährenden Funktion entziehen sich für Yong-Hye den »infinitely different modes of the conception-appropriation-assimilation of the other« (Derrida 1991, S. 114), die sich hinter der Metonymie des Essens verbergen. Ihre zunehmende Essensverweigerung konterkariert Derridas Feststellung »since one must eat in any case« (Derrida 1991, S. 115), weil sie wie ein Baum oder eine Pflanze nur von Sonne und Wasser leben möchte und alles andere im dritten und letzten Teil des Romans, »Bäume in Flammen«, verweigert. In-Hye, die die Entsagung ihrer Schwester nicht akzeptieren will, hat sie zu ihrem eigenen Schutz in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, wo sie von den Ärzten zwangsernährt wird. Insofern ist Derridas Beobachtung, dass man essen muss, wiederum zutreffend – die biopolitische Gesellschaft lässt Nahrungsverweigerung nicht zu.

Wie sich im Verlauf der drei Jahre seit Yong-Hyes Verwandlung sukzessiv herauskristallisiert, ist die Form der nicht einverleibenden, respektvollen Beziehung zum anderen für sie der Nahrungsverzicht und der Kopfstand, den sie mit Vorliebe in der Nähe von Bäumen praktiziert. Der Kopfstand ist eine Umkehrfigur, bei dem man die Perspektive wechselt, eingefahrene Denkmuster verändert. Auf den besorgten Vorwurf ihrer Schwester, »›Ja, wir sind so… Weil wir Angst haben, dass du stirbst!‹« antwortet Yong-Hye: »›Ja und? Ist es denn verboten zu sterben?‹« (Kang 2021, S. 163). Yong-Hye geht den konsequenten Weg unbedingter Gastfreundschaft, der insofern, um Benjamin Westwoods Frage aufzunehmen, keine Negation des Lebens darstellt, als er vielmehr die passionierte Bemühung ausdrückt, ein anderes Da-Sein, ohne die Notwendigkeit des Opfers, zu leben:

»›Ich mache einen Kopfstand. Blätter wachsen aus meinem Körper, und meine Hände schlagen Wurzeln. Ich verschmelze mit der Erde, endlos, endlos. Ich spreize meine Schenkel ganz weit, denn Blumen beginnen aus meinem Schoß zu sprießen […]. Ich brauche nur eine Injektion mit Wasser. Große Schwester, ich brauche keine Nahrung. Alles, was ich brauche, das ist Wasser.‹« (Kang 2021, S. 154 f.)

Mit ihrem exzessiven, unaufhaltsamen Verzicht unterbricht sie so den Zirkel des begehrenden Subjekts, indem sie einer anderen, biozentrischen Logik folgt. Ob dies eine Möglichkeit der Versöhnung darstellt oder letztlich zur völligen Selbstauslöschung führt, lässt das Romanende offen.

4.3 Monströser Vegetarismus in Jakob Heins Wurst und Wahn. Ein Geständnis

In seiner ›Kriminalgeschichte‹ Wurst und Wahn nähert sich Jakob Hein dem Vegetarismus aus einer völlig anderen Perspektive. Den narrativen Rahmen bildet das Geständnis des Protagonisten, der gegenüber der Polizei bekundet, verantwortlich für den Tod des doppelgesichtigen Tom Tofu zu sein. Die Zeugenaussage des namenlosen Ich-Erzählers ist zudem eine intime Beichte darüber, wie sein »ganzes Leben« zerstört wurde, seine »Frau weg« ist, »[s]eine Arbeit dahin, genau wie [s]ein Penis« (Hein 2011, S. 99). Hein inszeniert in seiner Groteske Wurst und Wahn mittels der Geschichte seines Protagonisten die gesellschaftlichen Stereotype, die auf Vegetarismus und Veganismus als »dem kämpfenden Arm des Vegetarismus« (Hein 2011, S. 89) projiziert werden.

Wie in Coetzees und Han Kangs veganen Narrativen, ist auch bei Hein das ›Gastmahl‹ ein zentrales Handlungsmoment des Textes. Die Weihnachtsfeier der Arbeitskolleg*innen findet als gemeinsames Mahl im »gleichen Italiener« (Hein 2011, S. 16) wie jedes Jahr statt, nicht, weil das Essen dort besonders gut sei, sondern der Kommodität wegen – denn die Lokalität für die Feier »ist der Laden gleich neben unserem Bürohaus« (Hein 2011, S. 16). Statt Festlichkeit wird so der profane Charakter der Zusammenkunft für das gemeinsame Mahl betont. Der Protagonist erwartet also einen gewöhnlichen Abend, an dem die vertraute Ordnung bestätigt wird – »Denn so sicher, wie es beim gleichen Italiener nach dem Essen immer einen Schnaps auf Kosten des Hauses gab, so sicher war es, dass im Dezember Gänsekeulen mit Rotkohl auf der Tageskarte stehen würden. So war es immer, so würde es immer sein« (Hein 2011, S. 17). Auch wenn der Sprecher »[v]on der Arbeit organisierte Feiern« (Hein 2011, S. 15) noch nie mochte und Essen für ihn »ein Vorgang [ist], an dessen Ende man satt ist« (Hein 2011, S. 16), besitzt das erwartete Mahl für ihn ein Glücksversprechen in Form von Gänsekeulen: »Nichts konnte mich davon abbringen, die Gänsekeulen von der Tageskarte zu bestellen.« (Hein 2011, S. 18 f.)

Während in den Narrativen von Coetzee und Han Kang die Vegetarierinnen das Fest und die Affirmation gemeinsamer kultureller Identität stören, wird in Heins Geschichte schnell deutlich, dass hier der Fleischesser gegen die Ordnung verstößt. Aus der wohligen Erwartung des Fleischgenusses wird der Protagonist jäh herausgerissen durch die Stille am Tisch und das Entsetzen in den Augen seiner Kolleg*innen. Auf deren Frage, ob er denn noch Fleisch esse, muss er notgedrungen angesichts der vor ihm liegenden Gänsekeulen mit ›Ja‹ antworten:

»Schon brach ein Sturm der Empörung über mich herein. Ob ich denn noch bei Trost sei? Ob ich wüsste, dass die Tiere, für deren Tod ich nun verantwortlich sei, mit diesen Keulen niemals mehr als nur ein paar Schritte hätten laufen können, dass sie vor ihrem grausamen Tod niemals das Licht gesehen hätten, zu Tausenden eingepfercht, bei lebendigem Leibe gerupft, noch in halb lebendem Zustand durch Kotbrühe gezogen und schließlich zerhackt werden. Das schmackhafte Gericht vor mir verwandelte sich in einen Kriegsschauplatz und wurde über das Gerede kalt und unansehnlich. Mir verging der Appetit. Aber nicht, weil mich die wütenden Tiraden meiner Kollegen überzeugt hätten, sondern weil mir mein so freudig herbeigesehntes Essen nicht gegönnt wurde.« (Hein 2011, S. 20 f.)

Zunächst handelt es sich hier um eine Umkehrung der Ordnung: Im Gegensatz zu den oben analysierten Texten, ist hier der Fleischesser der Stein des Anstoßes, während der Fleischverzicht die Norm bzw. den Konsens der Anwesenden darstellt. Der Protagonist von Heins Text betont, dass er sich lediglich dem sozialen Druck beugt (»Fleisch essen hieß nun definitiv gegen den Strom schwimmen«, Hein 2011, S. 12) – diskursiv-ethische Argumente, die das Wohl der Tiere in den Mittelpunkt stellen, erreichen ihn nicht. So ist auch sein folgendes Zugeständnis – »Im neuen Jahr esse ich ja auch kein Fleisch mehr« (Hein 2011, S. 21) – nur eine Notlüge und stellt kein Erweckungserlebnis dar, wie z. B. Yong-Hyes Bekehrung zum Vegetarismus. Die Wahrnehmung bleibt aber aus der Perspektive des Protagonisten in Wurst und Wahn die gleiche wie in den anderen fiktionalen Texten: Vegetarier*innen verderben den Spaß und gönnen ihm sein Essen nicht.

In seiner folgenden phantastisch-grotesken Geschichte berichtet der Ich-Erzähler von der sozialen und topographischen Marginalisierung der Fleisch-Essenden. Im Supermarkt gebe es nur noch »einen abgetrennten Bereich für den Fleischverkauf« (Hein 2011, S. 10) und »[e]ntspannt konnte man Fleisch nur noch im schlimmen Viertel unserer Stadt kaufen« (Hein 2011, S. 12). Seine Annahme des vegetarischen Lebensstils führt zu einer charakterlichen und körperlichen Veränderung, die sämtliche negative Stereotypen fleischloser Ernährung bedient. Er beschreibt, wie er schwach, kraft- und freudlos wird: »Damals konnte ich mich einfach nicht mehr freuen. Worüber auch? Meine Haut war grau, mein Gang schleppend, meine Kleidung hing mir vom Körper« (Hein 2011, S. 43). Er verliert in rascher Folge seine Zähne, seine Frau und – als Klimax – seine Männlichkeit: »Nach allem, was ich wusste, war ich früher ein Mann gewesen. Doch durch meinen Beitritt zum Vegetarismus änderte sich mein Körper« (Hein 2011, S. 49). Nicht nur, dass er nicht mehr männlich roch (vgl. Hein 2011, S. 49) und sein sexuelles Begehren zwischen »Brokkoliröschen und Reisgebäck« erlischt, sondern zuletzt verliert er auch noch seinen Penis.

»Noch immer hielt ich mein Geschlecht in der Hand, doch es war nicht mehr mit meinem Körper verbunden. Dort klaffte nur noch eine leere Stelle, die nicht einmal eine größere Wunde zu sein schien. Panisch leuchteten ein paar Tropfen Blut auf einem schrundigen Feld. Ich hatte mich kastriert!« (Hein 2011, S. 55 f.)

Der Arzt, den er daraufhin aufsucht, erklärt ihm, dass der »Verzehr von toten Tieren […] von jeher eine unabdingbare Voraussetzung für die Vitalität der männlichen Grundfunktion« (Hein 2011, S. 56) sei. In dieser Szene wird die für das westliche Denken fundamentale und intrikate Verstrickung zwischen Phallus und Fleisch, auf die Carol J. Adams in The Sexual Politics of Meat hinweist und die Derrida mit seinem Begriff des Carno-Phallogozentrismus bezeichnet, von Hein auf eine konkrete, bildliche Ebene gebracht. Die Passage setzt hier Verfahren des Grotesken ein, die den Vorgang hyperbolisieren. Die groteske Visualisierung des Männlichkeitsverlusts führt zu einer bewussten Wahrnehmung der habitualisierten Rede von Fleisch, Männlichkeit und Potenz, die dadurch entautomatisiert wird. Dass Fleischverzehr für ihn ein automatisierter Vorgang wie das Atmen ist, thematisiert der Ich-Erzähler selbst: »Hätten Sie mich vor dieser Zeit gefragt, ob ich gern Fleisch esse oder nicht, ich hätte es Ihnen nicht sagen können, so wie ich Ihn nicht sagen kann, ob ich gern atme oder nicht. Beides war für mich eine Selbstverständlichkeit, etwas, das ich täglich mehrmals tat und nie hinterfragte« (Hein 2011, S. 11).

Durch die groteske Perspektive werden im Text die habitualisierten Wahrnehmungen, Vorstellungen und Handlungen von Fleischesser*innen entautomatisiert und der ›absent referent‹ wieder sichtbar gemacht (Adams 2011, S. 66). Auf der Handlungs- und auch auf der Rezeptionsebene führt dieser Prozess zu einer Verunsicherung der als stabil imaginierten Grenzen zwischen Menschen und Tieren. Der Ich-Erzähler, der sich im ›kalten Fleischentzug‹ befindet, imaginiert beim »Anblick eines Hundes […] Hot dogs« (Hein 2011, S. 27) und sieht überall um sich herum Fleisch – »die rosigen Gesichter der Menschen, die Singvögel in den Bäumen, die Hunde, die Katzen – alles Fleisch« (Hein 2011, S. 29). Die Verunsicherung der anthropologischen Differenz gipfelt im Geständnis des Ich-Erzählers, wie er in seiner Gier nach Fleisch nachts eine nach Salami, Koteletts und Bratwurst schmeckende Glasflasche aus dem Kühlschrank mit der Zunge abschleckt: »Nach ein, zwei Runden mit der Zunge um den Flaschenboden kam ein neuer, irgendwie frischer Fleischgeschmack dazu. Ich hatte mir die Zunge an der Kante verletzt, der Flaschenboden war blutig eingefärbt. Es war mein eigenes Blut, das mir so animalisch gut schmeckte« (Hein 2011, S. 27).

Defamiliarisierungen des Gewohnten kennzeichnen Heins Groteske Wurst und Wahn, wodurch die habitualisierte Normativität des Fleischdiskurses problematisiert und ›species trouble‹ erzeugt wird. Ambivalenzen im Text entstehen so durch die Verunsicherung einer scheinbar stabilen natürlichen Ordnung sowie durch die Veruneindeutigungen menschlicher Identität. Das betrifft sowohl einerseits den sukzessiven Identitätsverlust des Ich-Erzählers sowie andererseits die plurale Identität des ominösen Vegetariers und Bloggers Tom Tofu, den der Protagonist um Hilfe für seine neue Lebensform bat und der sich am Ende als Chef der Fabrik für »Fleisch- und Wurstwaren Europa« (Hein 2011, S. 97) erweist.

Es ist gerade diese Offenheit und moralische Ambivalenz des Textes, die die Rezipient*innen von Heins Wurst und Wahn ratlos zurücklässt. Die ethische Position dieses Geständnisses liegt nicht in seinem Inhalt, sondern in der grotesk-performativen Inszenierung des Wahns, der in Heins Fiktion dem Fleisch-Diskurs inhärent ist und von männlich-normativen Identitätsängsten gesteuert wird.

5 Fazit

Die drei analysierten literarischen Texte formulieren keine abstrakten moralischen Prinzipien und auch keine ethischen Handlungsanweisungen. Mit ihren vegetarischen bzw. veganen Protagonist*innen, die in ihrer Exzentrik und ihrem Exzess das karnivore, rationale und patriarchale Subjekt hinterfragen, stiften die Texte Unruhe und machen die Verbindung zwischen Fleisch, Gewalt und Tod wieder sichtbar. Die veganen Narrative erzeugen mit ihren literarischen Mitteln ›species trouble‹, bei dem die klaren Grenzziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren in Frage gestellt und vervielfältigt werden.Footnote 24 Durch das weltschaffende Potenzial der Literatur besitzen die Texte zum einen die Möglichkeit, andere Formen von Subjektivität und Dasein zu denken, ohne, wie etwa Peter Singers Tierrechtsethik, bestehende Subjektpositionen zu verfestigen. Zum anderen haben sie die Fähigkeit, habitualisierte, vereindeutigende Vorstellungen von der Welt zu verunsichern und zu verändern.

Anthropozentrische Praktiken wie das gemeinsame Essen von Fleisch, die Dominanz und Unterwerfung des menschlichen Subjekts bekräftigen, werden in Coetzees und Han Kangs Narrativen durch den ›Vegan Killjoy‹ durchkreuzt, der die intendierten positiven Affekte des Gastmahls ins Gegenteil verkehrt. Dass Literatur sich dabei dem »becoming-right of morality«, wie Derrida es ausdrückt, widersetzt, zeigt sich zum einen auf der diegetischen Ebene der Texte in den Biographien der beiden Frauen, deren jeweilige Entwicklungen traditionelle Subjektkonzeptionen dekonstruieren: Die Grenzen von Elizabeth Costellos Selbst lösen sich zunehmend durch ihre Empathie auf, was sie gegen Ende von The Lives of Animals an den Rand eines Nervenzusammenbruchs führt;Footnote 25 Yong-Hye wiederum verschwindet in Die Vegetarierin sukzessive, sowohl physisch durch ihre Abmagerung als auch psychisch im Kopfstand, der Ausdruck ihres biozentrischen Wunsches ist, sich der Erde nicht mehr entgegenzustellen, sondern eins mit ihr zu werden. Heins Protagonist wiederum verkörpert Stereotypen des Vegetariers, die ihn zum monströsen Anderen machen. Diese groteske Überzeichnung führt im Text zu ›species trouble‹, der festgelegte Identitäten verunsichert. Zum anderen entziehen sich die Texte auf der Darstellungsebene einer eindeutigen moralischen Botschaft durch die Form der Groteske wie bei Hein oder durch ihre Polyphonie wie bei Coetzee und Han Kang, so dass die Leser*innen sich die Stimmen der Protagonistinnen nur indirekt aneignen und ›inkorporieren‹ können – sie bleiben widerständig, uneindeutig und opak.