1 Einleitung: Gedichte verstehen

1.1 Lyrische Sätze

Wenn wir zeigen wollen, wie die Bedeutung eines Satzes auf der Basis lexikalischer und grammatischer Ressourcen und semantischer und pragmatischer Prozesse zustande kommt, gehen wir üblicherweise davon aus, dass wir den zu analysierenden Satz zunächst einmal verstehen. Das ist in den prosaischen Kontexten der Alltagssprache auch meist der Fall. Der Satz (1a) aus einer Landschaftsbeschreibung vermittelt ein leicht nachvollziehbares Szenario. Wir kennen die Wörter für die Landschaftselemente, verstehen, dass es sich um eine sehr schnelle Wasserbewegung handelt, wie das Wasser beschaffen ist – klar wie ein Kristall – und dass es erst oben ist und dann unten auf die Salzach trifft.

(1)

(a)

Kristallklare Bäche stürzen durch Schluchten und Waldtäler der Salzach entgegen. [DeReKo: Süddeutsche Zeitung, 31.05.1994]a

(b)

Fahnen von Scharlach stürzen durch des Ahorns Trauer. [Georg Trakl: »Trompeten«; Trakl 1972, S. 28]

  1. aDie mit DeReKo gekennzeichneten Belege in diesem Aufsatz entstammen dem Deutschen Referenzkorpus am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (https://www.ids-mannheim.de/digspra/kl/projekte/korpora/).

Satz (1b) aus Georg Trakls Gedicht »Trompeten« stellt uns dagegen vor mehr Probleme. Wir verstehen schon durchaus das eine oder andere. Die Syntax ist nicht allzu kompliziert, und auch hier scheint es um eine schnelle Bewegung zu gehen. Wir wissen eigentlich auch, was Trauer bedeutet und Ahorn und Fahne. Mit Scharlach ist es schon etwas schwieriger. Früher hat es eine bestimmte Textilart bezeichnet, heute kennen wir es in Form von Scharlachrot eher als Farbbezeichnung. Aber um was für Fahnen geht es hier und wieso kann der Ahorn trauern? Obwohl wir den Satz eigentlich recht einfach parsen können, stocken wir doch, weil sich die Teile zwar syntaktisch, aber semantisch nicht recht zusammenfügen. Da wir nun aber wissen, dass es sich um einen Vers aus einem Gedicht handelt, sind wir schon vorgewarnt, dass wir hier wohl nach mehr Bedeutungsschichten suchen sollen als in (1a). Vielleicht sind die Fahnen hier metaphorisch zu verstehen, möglicherweise als eine Lichterscheinung. Dann wäre der Referent von stürzen auch eher ein optisches als ein Bewegungsereignis. Wenn wir Trakls Werk etwas besser kennen und auch einen Teil der literaturwissenschaftlichen Arbeiten dazu, wissen wir möglicherweise auch, dass Farbwörter eine besondere und deutungsproblematische Rolle in Trakls Lyrik spielen, und das Wort Trauer ruft vielleicht das Wissen wach, dass Einsamkeit und Melancholie ein wiederkehrender Topos in Trakls Werk sind.

1.2 Implizites und explizites Verstehen

Der Versuch, den Satz (1b) zu verstehen, macht noch etwas anderes deutlich. Es gibt scheinbar einen Sprung von implizit ablaufenden Verstehensprozessen, die kein bewusstes ›Interpretieren‹ beinhalten, zu eben genau solchen räsonierenden Bedeutungserschließungen. Die Entschlüsselung der syntaktischen Struktur des Satzes, die Erkenntnis, dass die Fahnen durch Scharlach charakterisiert werden, die Trauer dem Ahorn zuzuordnen ist und eine Bewegung in Richtung der Ahornstrauer stattfindet, ist ohne eine angestrengte intellektuelle Leistung zustande gekommen. Die Überlegungen zur Metaphorik, zur Farbsymbolik und zum Einsamkeitstopos dagegen haben bewusste Interpretationsvorgänge involviert. Auch wenn die Linguistik davon ausgeht, dass sprachliches Verstehen weitestgehend ein impliziter, unbewusster Prozess ist, gibt es durchaus auch außerhalb von Gedichten vielfältige, bewusst initiierte Interpretationsprozesse. Wenn etwa Yvonne in einem Gespräch über ihr anstehendes Fechttraining sagt, sie freue sich, dass heute ihr Bruder kommt, um seinen Bachelor zu feiern, fragt ihre kleine Schwester Lilly sie vielleicht, was sie denn mit Bachelor meine (explizite Bedeutungsklärung) und ob sie das mit dem Freuen ernst meint (Ironie, Implikatur qua Verletzung der Grice’schen Qualitätsmaxime), und sie überlegt vielleicht, ob das nun vor allem heißen soll, dass Yvonne froh ist, dass sie dann heute wahrscheinlich nicht zum Fechttraining gehen muss (Implikatur qua Verletzung der Relevanzmaxime).Footnote 1 Dass sich beim Interpretieren von Gedichten unbewusste und bewusste Verstehensprozesse ergänzen, ist also so einzigartig nicht.

1.3 Gedichte und Linguistik

Dieser Aufsatz geht von einer zentralen Prämisse aus: Gedichte sind Instantiierungen der Sprache, in der sie geschrieben sind. Diese Prämisse ist weniger trivial, als sie zunächst scheint. Sie beinhaltet, dass ich deutschsprachige Gedichte als Teil des gesamten Korpus der deutschen Sprache betrachte. Schaut man sich etwa im Deutschen Wörterbuch (2023) den Artikel zu tönen von D. Kralik aus dem Jahre 1923 an, so beindruckt zunächst der Umfang von 18 Seiten (im PDF-Ausdruck), auf denen eine Vielzahl von Bedeutungsvarianten und Konstruktionen dargestellt werden, die mit einer insgesamt dreistelligen Anzahl an Belegen aus gebundener Sprache, also aus Gedichten und Versdramen, versehen sind. In digitalen Wörterbüchern neuerer Zeit (DWDS, Duden online, Wiktionary, Wortschatzportal Leipzig) sind die Artikel zu tönen nicht nur deutlich kürzer, sondern alle Belege stammen im Gegensatz zum Deutschen Wörterbuch aus ungebundener Sprache (Zeitungen, Erzähltexte). Gedichte kommen im tatsächlich zugrundegelegten oder im imaginierten Korpus offenbar nicht vor. Dabei ist es nicht nur so, dass Gedichte heutzutage nicht mehr als Belegbeispiele angeführt werden, sondern die spezifischen Konstruktionen und Bedeutungen, die mit tönen vor allem in gebundener Sprache geläufig sind, werden in den Artikeln dieser Wörterbücher auch gar nicht mehr behandelt.

Den Ausschluss von Gedichten aus dem Korpus des Deutschen mag ich als Gedichteleser schade finden oder als Linguist eigentlich auch ein bisschen mutlos. Vor allem aber denke ich, dass der Ausschluss von Gedichten zu linguistischen Theorien führt, die empirisch unangemessen sind und das, was grammatisch und lexikalisch die Sprache ausmacht, unzulässig einschränken. Das spezifische Potenzial sprachlicher Varianz, viele Optionen des Sprachwandels und die Produktivität sprachlicher Muster werden so nicht hinreichend erschlossen.

2 Der Flug der Vögel tönt von fernen Sagen

2.1 Trakl und der Hermetismusverdacht

Mit den Schwierigkeiten, Satz (1b) zu verstehen, stehen wir nicht alleine. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Trakl kreist seit jeher um die Kontroverse, ob man Trakls Gedichte überhaupt verstehen kann.Footnote 2 Ich will an dieser Stelle nicht diskutieren, wovon denn überhaupt die Rede ist, wenn von der »Bedeutung« eines Gedichts gesprochen wird oder vom »Verstehen« eines Gedichts.Footnote 3 Ich würde mir als Linguist jedenfalls nicht anmaßen zu behaupten, ich könne Gedichte von Trakl besser interpretieren als ausgewiesene Trakl-Forscherinnen. Ich kann mir aber die Interpretationen solcher Forscher ansehen und versuchen, sie linguistisch zu rekonstruieren. Ziel dieses Aufsatzes ist es insofern nicht zu zeigen, was Gedichte von Trakl bedeuten, auch nicht, ob bestimmte Interpretationen von Ausdrücken in Gedichten von Trakl in irgendeinem Sinne richtig sind oder falsch, sondern vielmehr, auf welchem von den Interpretierenden nicht aufgedeckten Wissen sprachlicher und allgemein-kognitiver Natur die deutenden Aussagen basieren, die in Interpretationen eines Gedichts gemacht werden. Diesem Ziel kommt entgegen, dass trotz aller Klagen über die Uninterpretierbarkeit von Trakls Werk detaillierte Interpretationen zu seinen Gedichten in großer Anzahl vorliegen.

2.2 Georg Trakls »Der Herbst des Einsamen«

Die linguistischen Interpretationsrekonstruktionen in diesem Aufsatz basieren auf Interpretationen des 1913 entstandenen Gedichts »Der Herbst des Einsamen« (Trakl 1998, S. 25). Es ist das letzte von acht Gedichten in dem gleichnamigen Zyklus, der posthum 1915 in Trakls Gedichtsammlung Sebastian im Traum erschien.

Der Herbst des Einsamen

1     Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,

2     Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.

3     Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;

4     Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.

5     Gekeltert ist der Wein, die milde Stille

6     Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

7     Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;

8     Im roten Wald verliert sich eine Herde.

9     Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;

10   Es ruht des Landmanns ruhige Geberde.

11   Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel

12   Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

13   Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;

14   In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden

15   Und Engel treten leise aus den blauen

16   Augen der Liebenden, die sanfter leiden.

17   Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,

18   Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.

(Trakl 1998, S. 21)

Der »Herbst des Einsamen« kann – vielleicht mit etwas Abstand hinter paradigmatischen Gedichten wie »Psalm«, »De Profundis«, »Grodek«, »Verfall«, »Helian« oder »An den Knaben Elis« – zu den rezeptionsgeschichtlich bedeutenderen Gedichten Trakls gezählt werden. In seinem Fundbuch der Gedichtinterpretationen listet Segebrecht (1997, S. 324 f.) Interpretationen zu 133 Gedichten von Georg Trakl auf.Footnote 4 Zum »Herbst des Einsamen« werden fünf Einzelinterpretationen angeführt (Lachmann 1954; Schmid 1967; Freese 1968; Schaefer 1971; Hinck 1995).Footnote 5 Nur 13 Gedichte Trakls haben bis zum Ende des 20. Jhs. mehr Interpretationen erfahren.

Das Gedicht kann in mancherlei Hinsicht als typisch für Trakl angesehen werden. Mit der Einsamkeit wird ein gängiger Topos im Werk Trakls aufgegriffen, und die Bilder des Herbstes mit seinen Assoziationen zu Vergänglichkeit einerseits und Ernte andererseits sind gängiges Material in Trakls Gedichten. Gegenüber den meisten anderen Gedichten in Sebastian im Traum fällt »Der Herbst des Einsamen« allerdings hinsichtlich Reim, Metrum, Strophengestaltung durch seine eher traditionelle Form auf (Millington 2020, S. 149).

2.3 Ziel und methodisches Vorgehen

Der vorliegende Aufsatz fokussiert auf einen einzelnen Satz, und zwar den, der mit Vers 4 identisch ist: Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.Footnote 6 Das Ziel der Arbeit ist es zu zeigen, auf welchen sprachlichen und kognitiven Ressourcen und Verfahren die verschiedenen interpretatorischen Aussagen zur Bedeutung des Verses Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen basieren. Es soll deutlich werden, inwieweit der Versuch des Verstehens von ›dunklen‹ Versen auf etablierten, linguistisch explizierbaren sprachlichen Mechanismen beruht.

Die einleitenden Teile des Aufsatzes schließen mit der Präsentation des Korpus aus Interpretationsaussagen zu Vers 4 (Abschnitt 2.4). In Abschnitt 3 werden dann einige grundlegende Überlegungen zur Bedeutungskonstitution in Gedichten angestellt, unter anderem zu Verfahren, die das Verstehen jenseits des explizit Gesagten betreffen (Expansion, Disambiguierung, Revision, Ambiguierung, Assoziation). In Kapitel 4 werden die grundlegenden Konzepte, Ressourcen und Verfahren vorgestellt und auf die Verstehensberichte zu Vers 4 angewandt, und zwar die sprachlichen (lexikalische Bedeutungen, Konnotationen, Argumentstrukturen, implizite Argumente, Argumentstrukturmuster, Bedeutungsverschiebungen, Idiolektales) ebenso wie die nicht-sprachlichen (Weltwissen, Situationswissen, literarisches Wissen). Im abschließenden Kapitel 5 wird das Konzept der Amalgamierung von Argumentstrukturmustern erläutert, und es werden die Grenzen des hier angewendeten Verfahrens dargestellt.

2.4 Das Korpus

Das Korpus zu dieser Studie bilden 23 Exzerpte aus Trakl-Interpretationen mit Bezug zu dem im Fokus stehenden Vers in »Der Herbst des Einsamen« von zehn Autorinnen und Autoren. Auf die Auszüge wird mit dem jeweils angegebenen Kürzel referiert.

  • EXZ_Freese_01: »So wie die Gegenwart zurückweist auf die Vergangenheit, deren ›vergilbter Glanz‹ sie nur noch ist, so vermag sie den Blick zugleich in die Zukunft zu lenken, die hier erneut als ›reines Blau‹, als Sehnsuchterweckendes und die Seele nach sich Ziehendes erscheint. Und so folgt der in dieses Blau gerichtete Blick dem ›Flug der Vögel‹, jenen reineren und freieren Geschöpfen, die sich in den Äther emporzuschwingen vermögen, um als tröstendes Zeichen dafür, daß nicht alles in der Natur verfallen muß, ›nach jenen Ländern, schönen, andern‹[Footnote 7] […] zu ziehen. Diese Vögel, ›Gottes sanfte Geschöpfe‹[Footnote 8] […], können die Erinnerung an die verlorene Zeit wachrufen, denn ihr Flug tönt – in der Assonanz gleichsam hörbar gemacht ›von alten Sagen‹.« (Freese 1968, S. 266, Herv. i.O.)

  • EXZ_Görner_01: »Naturlaute und keine Instrumente grundieren diese herbstliche Einsamkeit: Einerseits ist es das Rauschen des Schilfrohrs, das ›schwarze‹ Tropfen des Taus, andererseits ›der Flug der Vögel‹, der ›von alten Sagen‹ tönt. Wiederum deutet sich hier ein erzählerisches Moment an: Die ›alten Sagen‹ und Legenden liegen in der Natur verborgen. Der im Gedicht unsichtbare Einsame sieht jene Dinge und Erscheinungen, die ihn noch einsamer erscheinen lassen, weil er selbst sich als ein Ich nicht in sie einbringen, nicht mit ihnen kommunizieren kann.« (Görner 2014, S. 209)

  • EXZ_Hinck_01: »Was über die sichtbare Natur hinausweist, bleibt angedeutet: eine mythische Schau, die aus dem Flug der Vögel den Willen der Götter erschließen zu können hoffte, die christliche Welt mit Kreuz und Engel.« (Hinck 1995, S. 132)

  • EXZ_Killy_01: »Die Vögel sind ein Zeichen in der Natur, ein Zeichen, daß sie nicht ganz der Endlichkeit anheimgegeben ist. In reiner Höhe ziehen sie ins Unendliche, die Sehnsucht des Irdischen folgt ihnen in die Weite und an ihrer anmutigen Gestalt haftet die Erinnerung an die verlorene Zeit, wo sie noch den deutbaren Willen Gottes anzeigten. Heute zeigen sie etwas, das für Trakls Naturverständnis wichtig ist: die verfallende Natur bewahrt im Vergehen doch tröstliche Reste einstiger Schönheit.« (Killy 1960, S. 11)

  • EXZ_Lachmann_01: »›Alte Sagen‹, dieses oft gebrauchte Wort, hier erkennbar als die Kunde von dem einstigen goldenen Weltalter, dem Paradies.« (Lachmann 1954, S. 198)

  • EXZ_Matzkowski_01: »Der Flug der Vögel[Footnote 9] verbindet die bisherigen Naturelemente topographisch mit dem Himmel und kann als Metapher für den (sehnsuchtsvollen) Blick in einen transzendentalen Raum verstanden werden.« (Matzkowski 2011, S. 65)

  • EXZ_Millington_01: »Even stronger than the links between ›Der Herbst des Einsamen‹ and other poems within Trakl’s oeuvre are its echoes of Hölderlin’s late poem ›Der Herbst.‹ […] Hölderlin’s presence is made palpable here through Trakl’s replication of key lexemes. Apart from the season named in the title, other terms taken from Hölderlin’s sixteen-line ›Der Herbst‹ include ›Sommer‹ and ›Tage‹ (both in ›Sommertage‹; line 2), ›Sagen‹ (line 4), ›Wolke‹ (line 9), ›Landmann‹ (line 10), and ›Abend‹ (line 11). […] Trakl’s evocation of a Hölderlinian precedent […] underlines the divergence of his worldview from Hölderlin’s. Their common reference to ›legends‹ signals that the two works share a view of autumnal closure as an instantiation of wider historical processes. […] Yet the historical visions developed in the two poems have quite different conclusions, the invocations of suffering (line 16) and horror (line 17) at the end of ›Der Herbst des Einsamen‹ contrasting with an affirmation of the world’s underlying stability in the final stanza of Hölderlin’s poem.« (Millington 2020, S. 150)

  • EXZ_Schaefer_01: »Alles Menschliche ist besonders gedämpft. Zwar sind manche Bilder ›vermenschlicht‹: der Vogelflug, der von alten Sagen tönt; die Stille, die von leiser Antwort dunkler Fragen erfüllt ist.« (Schaefer 1971, S. 61)

  • EXZ_Schaefer_02: »Andere Elemente des Menschlichen sind passiv: in die Stuben kehrt Bescheiden ein, das Strohdach wird von den Flügeln der Nacht berührt. Die ›alten Sagen‹ sind nicht mit aktivem Verb verbunden […].« (Schaefer 1971, S. 61)

  • EXZ_Schaefer_03: »Synästhesie wird benützt im Bild ›Der Flug der Vögel tönt‹.« (Schaefer 1971. S. 64)

  • EXZ_Schaefer_04: »›Der dunkle Herbst kehrt ein […]‹; ›In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden‹. In diesen wie anderen Geborgenheitsmotiven klingt Idylle an. Fast wie als ›alte Sagen‹, die im Flug dieser Vögel tönen, wird etwas reproduziert, was einmal für den Einsamen Einkehr war.« (Schaefer 1971, S. 67)

  • EXZ_Schmid_01: »Beginnt die Strophe mit einer temporalen Fixierung der Jahreszeit und endet sie mit dem Aufzeigen der existentiellen menschlichen Situation, so bezeichnet der Aufbruch der Vögel die Unwiderruflichkeit der verflossenen Zeit.« (Schmid 1967, S. 188)

  • EXZ_Schmid_02: »Befragt man die Vögel, so ›tönt‹ ihr Flug von Heil und Unheil, von Leben und Tod schon seit den Tagen der Schamanen und Chaldäer.« (Schmid 1967, S. 188)

  • EXZ_Schmid_03: »Trakl selbst spricht von der Deutung des Vogelflugs im ›Traum des Bösen‹: ›Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen / Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen‹. In seiner Lyrik wird das Bild der fortziehenden Vögel zu einem sinndeutenden Topos […]. Ihre Heimat ist das ›reine Blau‹ des Himmels, dem Menschen gibt die Erde von sich aus wenig Geborgenheit […]. In diesem Sinne sind die Vögel Gegenbild des Menschen und Künder seiner Bestimmung. Die Eindringlichkeit dieses Verses rührt nicht zuletzt von der Verbindung eines visuellen (Flug der Vögel) mit einem auditiven (tönt) Eindruck her, was wir mit Synästhesie bezeichnen.« (Schmid 1967, S. 188 f.)

  • EXZ_Thauerer_01: Thauerer bemerkt, dass der Anblick des Himmels »an die antike Deutung des Vogelflugs erinnert und – in bezug zum Sterbevorgang im vorhergehenden Vers – an den Vogel als Sinnbild der von ihrer irdischen Hülle befreiten Seele.« (Thauerer 2007, S. 295)

  • EXZ_Thauerer_02: »Das Attribut ›alt‹ erinnert an die Altersthematik, die sich im Sinnbild des Herbstes ausdrückt und nicht bloß ein Vorwärtsschreiten in den Verfall ›Des Einsamen‹, sondern in größerem Rahmen das Vergehen einer ganzen Kultur bezeichnet, die auch den Tod des ›Einsamen‹ bedingt.« (Thauerer 2007, S. 295)

  • EXZ_Thauerer_03: Die »alten Sagen« gehören »einer kulturellen Vergangenheit an. So führt die Rückschau aus einer des nahenden Verfalls bewußten Perspektive nicht in die persönliche Geschichte eines einzelnen Menschen, sondern in die Geschichte einer religiösen Kultur.« (Thauerer 2007, S. 295)

  • EXZ_Thauerer_04: »Wie die Reimendung kenntlich macht, setzen sich diese schönen alten Geschichten, die nun als ›Sagen‹ (V. 4) in den Bereich des Irrealen gerückt sind, in Beziehung zu den vergangenen ›Sommertagen‹ (V. 2), deren Erwähnung solchermaßen nicht nur in jahreszeitlicher Hinsicht erfolgt, sondern vor allem als Wehklage auf die gute alte Zeit, die nun vergangen ist.« (Thauerer 2007, S. 295)

  • EXZ_Thauerer_05: »Und da der ›Flug der Vögel‹ (V. 4) dergestalt als Hinweis auf die Überlieferung dient und die Gedanken auf Vergangenes lenkt, kann man in diesem Zusammenhang auch an Zugvögel denken, die in der Herbstzeit zu südlichen Ländern hin aufbrechen und von daher symbolisch die Ahnung einer schöneren Zeit vermitteln. Darin zeigt sich in Verbindung mit dem Vergangenen, den ›schönen Sommertagen‹ (V. 2), die Sehnsucht nach einer der antiken Welt zugedachten Schönheit und Gesetzmäßigkeit des Lebens, die in der Gegenwart verloren scheint.« (Thauerer 2007, S. 295)

  • EXZ_Thauerer_06: »Sowohl die ›leise Antwort‹ als auch die ›dunklen Fragen‹ gehören beide in das Begriffsfeld dessen, was sinnlich und real nicht faßbar ist. […] In diesem Sinne läßt auch in der inhaltlichen Korrespondenz der Reimworte ›Sagen‹ (V. 4) und ›Fragen‹ (V. 6) die Botschaft, welche die ersteren vermitteln, den Fragesteller ratlos zurück.« (Thauerer 2007, S. 296)

  • EXZ_Thauerer_07: »So vermittelt das ›Tönen‹ des Vogelflugs von alten Sagen nur die Andeutung bzw. das Sinnbild einer verlorenen Erinnerung an alte Wahrheiten, welche aber als solche (verrätselt im Bild des ›auspicium‹) nicht artikuliert werden und deshalb auch nicht zu erfahren sind.« (Thauerer 2007, S. 296)

  • EXZ_Thauerer_08: »Im übrigen verweist das Gedicht An Den Knaben Elis direkt auf die Unmöglichkeit der Deutung alter Zeichen, was auch dort als Signum einer im Verfall begriffenen Welt erscheint: ›Uralte Legenden | Und dunkle Deutung des Vogelflugs‹. Entsprechendes findet sich in Traum des Bösen – ›Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen‹ – und In einem verlassenen Zimmer: ›Schwalben irre Zeichen ziehn‹. Die Zeichen mögen vorhanden sein, doch was zu ihrer Deutung nötig wäre, ist die harmonische Ordnung, welche die Zeichen deutbar macht; die aber scheint verloren.« (Thauerer 2007, S. 296)

  • EXZ_Thauerer_09: »Vers 11 [Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel] nimmt das Motiv der blauen Farbe wieder auf, die als Attribut zu ›Flügel‹ (V. 11) einmal an die biblischen Engel, dann auch an die allegorische Farbe Mariens und die Schönheit und Harmonie einer natürlichen Bewegung erinnert, dann aber auch an den ›Flug der Vögel‹ (V. 4), der hier in Vers 11 mit christlicher Symbolik assoziiert werden kann.« (Thauerer 2007, S. 298). Nach Thauerer (2007, S. 298) gilt der Vogel auch als »göttlicher Bote«.

3 Grundlegende Überlegungen zur Bedeutungskonstitution in Gedichten

3.1 Propositionen und die lyrische Welt

Die linguistischen Grundannahmen in diesem Aufsatz gehen von einem im Kern kompositionalen Bedeutungsaufbau aus, der durch konstruktionale Einheiten (etwa im Bereich von Argumentstrukturen) und ein reiches Lexikon gestützt wird. Kontextinformationen verschiedener Art reichern die Bedeutungen an. Implikaturen und Explikaturen steuern den Bedeutungsaufbau von pragmatischer Seite.

Trakls Gedicht konstituiert eine Reihe aus Sätzen und propositional rekonstruierbaren, von Ágel (2017, S. 179 f) so genannten Existenzialnichtsätzen (z. B. Zeile 2: Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen). Entsprechend stellen die Gedichte auf Bedeutungsebene Reihen von gegebenenfalls miteinander verknüpften, in Sprechakte eingebetteten Propositionen dar. Ohne auf die komplexen Fragen einzugehen, inwieweit Gedichte faktuale oder fiktionale Texte sind, wie sich die spezifische lyrische Kommunikationssituation konstruiert und in welchem Verhältnis Autor und Sprechinstanz des Gedichts stehen (vgl. etwa Borkowski/Winko 2011; Hempfer 2014; Hillebrandt et al. 2017), gehe ich davon aus, dass die Aussagen im Gedicht – im Sinne der ›Aboutness‹ von Sprache – Aussagen über etwas sind. Das, worauf die Reihe von Aussagen des Gedichts abgebildet wird, nenne ich hier die ›lyrische Welt‹ des Gedichts. Eine einzelne Proposition bildet auf der Ebene der lyrischen Welt wiederum etwas ab, das hier als ›lyrische Situation‹ bezeichnet wird. Eine Situation ist eine u. a. zeitlich und modal eingeordnete Konfiguration aus Entitäten (v. a. Ereignissen, Zuständen, Personen, Dingen), die zu anderen solchen Konfigurationen der lyrischen Welt des Gedichts in Beziehung stehen.

Die Bedeutungskonstitution von Sätzen in Gedichten unterscheidet sich zunächst nicht von der in anderen Textsorten. Der Satz Gekeltert ist der Wein in Vers 5 bedeutet, dass der Wein gekeltert ist. Die Bedeutung entsteht auf Basis der spezifischen syntaktischen Struktur des Satzes, der lexikalischen Grundbedeutungen von Wein und keltern und ihrer lexikalischen Implikationen, der Rollenzuweisungen von keltern an seine Argumente, der grammatischen Kategorien der Verbflexion, der grammatischen Bedeutungen des definiten Artikels und des – je nach Deutung als Adjektivkonstruktion oder Zustandspassiv – Kopulaverbs bzw. Auxiliars in Verbindung mit der Partizipform des Verbs. Dazu kommen lexikalische Präsuppositionen, etwa in Form der Selektionsrestriktion, dass das implizite Argument von keltern als Person zu interpretieren ist. Ergänzt wird der semantische Bedeutungsaufbau durch pragmatische Prozesse: Über Implikaturen werden alternative oder zusätzliche Interpretationen erschlossen, per Explikatur werden implizite Argumente kontextuell interpretiert, deiktische Bezüge geben Aufschluss über die lyrische Kommunikationssituation.

3.2 Propositionstypen, Erfahrungskonformität und Konzeptualisierbarkeit

Die lyrischen Propositionen seien hier dahingehend unterschieden, ob sie auf einer primären Verstehensebene konzeptualisierbar sind und ob sie erfahrungskonform sind. Dabei ist die primäre Verstehensebene die Ebene impliziten Verstehens, das keine bewusste kognitive Anstrengung erfordert. Wenn es in Vers 7 heißt Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel, so mag das Kreuz Anlass sein, angesichts seiner symbolischen Funktion und im Zusammenhang mit anderen Wörtern wie Engel, Flügel oder Wein über das Verhältnis der Sprechinstanz zum Christentum nachzudenken. Zunächst aber – und dies ist die primäre Verstehensebene – referiert Kreuz hier auf Entitäten in der lyrischen Welt, und der Vers bedeutet zunächst, dass in dieser Welt eine Situation existiert, in der Kreuze unregelmäßig verteilt auf einem unfruchtbaren, verlassenen Hügel stehen.

Erfahrungskonform sind solche Propositionen, wenn sie – wie in Vers 7 – Situationen abbilden, die potenzieller Bestandteil unserer Lebenswelt sind. Aber auch nicht-erfahrungskonforme Situationen, also solche, die unserer Alltagserfahrung widersprechen, können auf der primären Verstehensebene konzeptualisierbar sein, wenn sie ontologisch soweit kohärent sind, dass wir sie ohne Anstrengung perzeptiv oder kognitiv konstruieren können. Dazu gehören im »Herbst des Einsamen« solche Situationen wie die in Vers 18, in der schwarzer Tau von Bäumen tropft, oder die in den Versen 15 f, die darin besteht, dass Engel aus den Augen von Leuten kommen, die jemanden lieben. Die primäre regelgeleitete Bedeutungskonstitution lässt uns die jeweils beschriebene phantastische Situation quasi ›vor Augen‹ treten.

Nicht erfahrungskonforme, aber konzeptualisierbare Situationen erscheinen in Trakls Gedichten in großer Anzahl. Daneben finden sich aber auch nicht erfahrungskonforme Szenen, die nicht mehr konzeptualisierbar sind, weil die Wortkombinationen elementare ontologische Unverträglichkeiten beinhalten, die in einem impliziten Verstehensprozess nicht unmittelbar aufgelöst werden können. Wenn in dem Gedicht »An einen Frühverstorbenen« (Trakl 1972, S. 65) »die purpurne Süße der Sterne« aufgerufen wird, ist eine unmittelbare Konzeptualisierung nicht möglich, da Sterne keinen Geschmack haben und Geschmack keine Farbe hat. Es lässt sich insofern weder eine ontologisch kohärente, erfahrungskonforme noch eine ontologisch kohärente, nicht erfahrungskonforme, phantastische Situation konzeptualisieren.

Wir unterscheiden somit konzeptualisierbare und erfahrungskonforme Propositionenen wie das Gewand ist purpur, konzeptualisierbare aber nicht erfahrungskonforme Propositionen wie die Apfelsine ist purpur und Propositionen, die weder erfahrungskonform noch unmittelbar konzeptualisierbar sind wie die Süße ist purpur. Im letzten Fall ist eine Interpretation jenseits des impliziten Propositionsverstehens erforderlich, in den ersten beiden Fällen ist sie nicht erforderlich, aber möglich.

3.3 Interpretative Prozesse und ihre Effekte

3.3.1 Bedeutungseffekte

Nun erwarten wir von Gedichten – von denen Trakls sowieso – dass sie uns mit einem nur oberflächlichen Verstehen nicht davonkommen lassen. Vielleicht müssen wir in Gekeltert ist der Wein metaphorische Deutungen in Betracht ziehen, einen spezifischen Symbolwert von Wein, Konnotationen von keltern, wortfeldbasierte oder thematisch begründete Zusammenhänge mit anderen Lexemen im Satz oder die Einbindung des Satzes in eine allegorische Deutung. Fünf Typen auch allgemeinsprachlich verankerter interpretativer Prozesse, die über die Kernbedeutung der Proposition hinausgehen, seien hier zunächst hinsichtlich ihres Bedeutungseffekts unterschieden (Expansionen, Disambiguierungen, Revisionen, Ambiguierungen, Assoziationen) und anschließend (Abschnitt 3.3.2) bezüglich der Involvierung pragmatischer Prozesse (Explikaturen, Implikaturen) charakterisiert.

(i) Expansionen: Die Kernbedeutung des Satzes wird in vielen Fällen expandiert, indem Bedeutungsaspekte kontextuell spezifiziert werden, die zur Abbildung der Proposition auf die lyrische Situation erforderlich sind. Dazu gehören etwa die Festlegung von Pronominalreferenz, die Kontrolle in manchen Infinitivsätzen, die Erschließung des Gehalts nicht realisierter Konstituenten und die kontextuelle Spezifizierung definiter impliziter Argumente. So muss etwa in den Versen Ihre feuchten Lippen beben | Und sie warten an den Toren aus dem Gedicht »Die schöne Stadt« (Trakl 1972, S. 15) die Referenz von Ihre und sie bestimmt werden, das implizite Argument von warten (Referent der nicht realisierten auf-PP) kontextuell belegt werden und die mereologische Beziehung von Toren (Objekt, von dem die Tore ein Teil sind) erschlossen werden.

(ii) Disambiguierungen: Die adäquate Abbildung einer Proposition auf eine Situation erfordert außerdem die Auflösung lexikalischer und struktureller Ambiguitäten, z. B. die des Lexems Kreuz in Vers 7 (Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel) von »Der Herbst des Einsamen« als aufrecht stehende Skulptur und nicht als auf den Boden gemaltes Zeichen.

(iii) Revisionen: Revisionsbedeutungen entstehen durch Uminterpretationen, die durch Interpretationskonflikte ausgelöst werden (s. auch Abschnitte 3.2 und 4.6). Die typischen Fälle der Revision sind Metapher, Metonymie und verwandte Tropen. Bei metaphorischer Interpretation wird die Grundbedeutung revidiert und durch die figurative Bedeutung ersetzt. Das gilt für relativ konventionell anmutende Metaphern wie wandert in Vers 9 (Die Wolke wandert übern Weiherspiegel) ebenso wie für eher unkonventionelle wie Flügel in Vers 11 (Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel | Ein Dach von dürrem Stroh). Auf der metaphorischen Bedeutungsebene referieren die Sätze auf alltägliche, also erfahrungskonforme, konzeptualisierbare Situationen, auf die Bewegung einer Wolke über einen Teich und auf den Farbschimmer der späten Dämmerung auf einem Strohdach. Die ursprüngliche Bedeutung ist deaktualisiert: Keineswegs sollen wir hier – stattdessen oder zusätzlich – Referenz auf eine Wolke in Menschengestalt mit Wanderstab annehmen bzw. auf einen Krähenflügel, der sanft auf ein Strohdach klopft.

(iv) Ambiguierungen: Im Gegensatz zu Expansionen, Disambiguierungen und Revisionen, die ja zu einer Vereindeutigung der Propositionsbedeutung führen, dienen Ambiguierungen dazu, mehrere Bedeutungen eines Textes oder Satzes zu aktualisieren, also mehr als eine Bedeutung in der Kommunikationssituation als gegeben zu präsentieren, und zwar üblicherweise eine eher semantisch grundlegende und eine übertragene. Ein Beispiel im Bereich satzübergreifender Strukturen ist die Allgeorie, die eine wörtliche und eine übertragene Bedeutung parallel aktualisiert (Kurz 2009, S. 33 f).Footnote 10 Aber auch auf Satzebene können solche Parallelbedeutungen nebeneinander bestehen, wie hinsichtlich der Amalgamierung von Argumentstrukturen noch gezeigt wird (s. Abschnitt 5.1).

(v) Assoziationen: Die bisherigen Bemerkungen bezogen sich auf den syntagmatischen Aufbau von Satzbedeutungen. Daneben sind paradigmatische Bedeutungsbeziehungen von Ausdrücken zu berücksichtigen, die zwar nicht zum propositionalen Bedeutungsaufbau beitragen, aber im Gedicht auf verschiedene Weise für die Interpretation zum Tragen gebracht werden können. Dazu gehören (i) Wortfelder als Reihen wortartgleicher Kohyponyme, z. B.: Farbwörter wie blau (Verse 3, 15), schwarz (Verse 12, 18), rot (Vers 8), silbern, purpur, ...; (ii) Antonyme, z. B.: dunkel (Verse 1, 6) versus hell; (iii) thematische Felder wie z. B. ›Christliche Religion‹: Kreuz (Vers 7), Wein (Vers 5), Engel (Vers 15), ...Footnote 11; (iv) kolexifizierte Bedeutungen, z. B. Flügel (Vers 11) als ‘Flugorgan’, ‘Klavier’, ‘Rand des Spielfelds’, ...; (v) Konnotationen, z. B. ‘Weite’, ‘Klarheit’, ‘Reinheit’ als Konnotationen zu blau; (vi) Symbolfunktionen, z. B. das Kreuz als Symbol für den Tod allgemein und für den Opfertod Jesu Christi im Besonderen. Ein Ausdruck oder eine Bedeutung aus einer solchen Reihe kann andere Ausdrücke bzw. Bedeutungen aus der gleichen Reihe aktivieren. Solche bahnenden Aktivierungen sowohl von paradigmatischen semantischen Relationen zwischen Wörtern als auch von verschiedenen, oft metaphorisch verbundenen Lesarten eines Wortes sind psycho- und neurolinguistisch nachgewiesen worden (vgl. etwa MacGregor/Bouwsema/Klepousniotou 2015).

3.3.2 Pragmatik – Explikaturen und Implikaturen

Explikaturen dienen der Vervollständigung der Proposition über das semantisch unmittelbar aus Lexikon und Syntax erschließbare hinaus.Footnote 12 Sie stellen kontextgestützt, also auf pragmatischem Wege, Bedeutungselemente bereit, die wahrheitswertrelevant sind. Expansionen, Disambiguierungen und Revisionen erfolgen im Allgemeinen über Explikaturen, ebenso wie die Lesartenwahl bei lexikalisierten Metaphern und Metonymien. Revisionsprozesse bei kreativen Metaphern sind pragmatisch schwieriger einzuordnen. Die Flügel-Metapher in Vers 11 (Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel | Ein Dach von dürrem Stroh) möchte man vielleicht als implikaturenauslösende Verletzung der Grice’schen Relevanz‑, Qualitäts- oder Modalitätsmaxime auffassen (s. ähnlich Levinson 2000, S. 160 f.). Schwerer und zugunsten der Annahme einer zugrundeliegenden Explikatur wiegt hier aber, dass die Auflösung der metaphorischen Bedeutung wahrheitswertrelevant ist.

Ambiguierungen basieren dagegen vor allem auf Grice’schen Implikaturen (s. auch Abschnitt 1.2). Insbesondere die ja aus Alltagskonversationen bekannte Verletzung der Relevanzmaxime spielt hier ein Rolle: Wenn sich Rebecca und Jamaal über die grottenschlechte Vorlesung von Professor E. unterhalten und Jamaal plötzlich laut (und wahrheitsgemäß) sagt Heute morgen war ich im Freibad, so versteht Rebecca zum einen, dass Jamaal heute morgen im Freibad war, und – weil sie die Irrelevanz von Jamaals Beitrag für das Gesprächsthema zu deuten weiß – qua Implikatur, dass man jetzt über was Anderes sprechen muss, weil Professor E. wohl gerade den Gang entlang kommt. Gedichte vermitteln ja nach ihrem genuinen Anspruch more than meets the eye; sie sind schon fast gattungstypisch mit der Aufforderung verbunden, ambiguitätsfördernde Verletzungen der Relevanzmaxime zu vermuten. Wenn Trakl uns hier aus dem Nichts heraus etwas über Weinkeltern, Zugvögel und Obsternte berichtet, stellt sich unmittelbar – teils auf Satz-, teils auf Textebene – die deutungssteuernde Relevanzfrage: Wieso erzählt Trakl uns hier was vom Herbst?

Assoziationen stellen gegenüber Expansionen, Disambiguierungen, Revisionen und Ambiguierungen, die dem syntagmatischen Bedeutungsaufbau dienen, eine paradigmatische Bedeutungsschicht bereit, die zur Steuerung bestimmter semantischer und pragmatischer Prozesse genutzt werden kann. So werden etwa Wörter, die in Paradigmen kookkurrierender Textwörter auftreten, oft genutzt, um nicht explizite, zusätzliche Propositionen zu erschließen. Von Schmid (1967, S. 190 f.) werden z. B. bezüglich Vers 7 (Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel) ‘Tod’ als Symbolwert zu Kreuz, Tal als Gegenwort zu Hügel, ‘Begrenzung’ als Konnotation zu Hügel und ‘menschliches Leben’ als metonymische BedeutungFootnote 13 von Tal genutzt, um dem Satz die zusätzliche Aussage abzuringen, dass menschliches Leben (< Tal) durch den Tod (< Kreuz) begrenzt (< Hügel) ist. In einem weiteren Interpretationsschritt wird dann noch eine zusätzliche, zumindest partiell metaphorisch basierte propositionale Bedeutung (‘Landschaft’ <> ‘Seele’) konstruiert, denn die beschriebene Landschaft »bleibt nicht Szenar, sie weitet sich zur seelischen Landschaft, indem sie um ihren Hingang weiß.« (Schmid 1967, S. 191)

Beim Verstehen von Gedichten können solche assoziierten Paradigmen auch Hinweise für satzübergreifende Interpretationstendenzen geben. Obwohl im »Herbst des Einsamen« keine explizit religiösen Aussagen gemacht werden, könnte die Reihe von Wörtern, die dem Themenbereich ›Christliche Religion‹ zugeordnet werden (etwa Kreuz, Engel, Wein) Interpretinnen dazu anregen, das Gedicht unter dem Blickwinkel christlichen Glaubens oder Trakls Verhältnis zum Christentum zu lesen und kontextuell gesteuerte Expansionen, Disambiguierungen oder Revisionen qua Explikatur genau unter dieser Perspektive vorzunehmen.

4 Sprachliche und nicht-sprachliche Ressourcen und Verfahren

4.1 Übersicht

Der Satz, der Vers 4 konstituiert, ist morphosyntaktisch zunächst unauffällig. Er besteht aus (i) einer NP im Nominativ (Der Flug der Vögel), die als Subjekt fungiert und die eine NP im Genitiv (der Vögel) als attributiven Genitivus subjectivus integriert, (ii) einem Prädikat im Präsens Indikativ (tönt), das mit dem Subjekt kongruiert, und (iii) einer PP mit dem Kopf von (von alten Sagen), die je nach Auffassung als Adverbial oder Präpositionalobjekt fungiert (vgl. Duden 2022, S. 511 f., 657).

Die Interpretation der Bedeutung von Vers 4, so wie sie in den Exzerpten in Abschnitt 2.4 dokumentiert ist, soll unter Bezugnahme auf verschiedene Arten sprachlichen und nicht-sprachlichen Wissens erklärt werden. Das nicht-sprachliche Wissen beinhaltet allgemeines Weltwissen, Wissen über die lyrische Welt, die im Gedicht konstruiert wird, sowie literarisches Wissen über die Autorenbiographie und über intertextuelle Bezüge. Dazu kommt an der Schnittstelle zwischen Sprachlichem und Nichtsprachlichem das Wissen über die autorenspezifische Poetologie und allgemeine poetische Normen und Verfahren. Das sprachliche Wissen involviert Wissen über Wortbedeutungen, Prädikat-Argumentstrukturen, Argumentstrukturmuster, Konnotationen, Prozesse der Bedeutungsverschiebung und – an der Grenze zum Nichtsprachlichen – Wissen über Allegorien und Symbolik.

4.2 Lexikalische Semantik: Grundbedeutung und Konnotationen

Die Inhaltswörter des Verses Flug, Vogel, tönen, alt und Sage gehören alle zum frequenten Kernwortschatz des Deutschen.

(i) Flug: Die schon im Altgermanischen erfolgte Ereignisnominalisierung zu fliegen trägt die Kernbedeutung von fliegen. In der Jägersprache wird mit einem Flug auch eine Schar Vögel bezeichnet, die man jagen kann (Duden 2014, S. 293).

(ii) Vogel: Mit dem Wort Vogel werden – wenn auch nicht aus merkmalssemantischer, so doch aus prototypensemantischer Sicht (vgl. etwa Löbner 2015, S. 318 f.) – Tiere bezeichnet, die Schnäbel und Flügel haben, flugfähig sind und vogeltypisch schreien oder singen. Dass Vögel mancher Arten in Schwärmen fliegen, gehört dagegen wohl eher zum Welt- als zum Bedeutungswissen, und so bleibt es dem Leser zunächst überlassen, ob er Trakls Herbstbild eher mit einem Vogelschwarm bevölkert sieht oder mit mehreren einzelnen fliegenden Vögeln.

(iii) tönen: Das Verb tönen gehört zur großen Gruppe der Geräuschverben und hier zu den eher unspezifischen. Während andere Geräuschverben eine bestimmte Geräuschqualität (z. B. scheppern) oder einen bestimmten Geräuschproduzenten (z. B. bellen) implizieren, ist tönen, ähnlich wie klingen, in seiner Kernbedeutung für solche Parameter nicht oder nur schwach spezifiziert. Eine Besonderheit von tönen ist, dass es neben der auditiven auch über eine Bedeutung mit visuellem Bezug verfügt: Es wird (in transitiver Form) verwendet, um auszudrücken, dass etwas – zum Beispiel Haare oder eine Wand – in seiner Farbnuancierung verändert wird. Tönen ist also ein synästhetisches Verb. (Diese spezifische Synästhesie von tönen wird allerdings in den Exzerpten nicht angesprochen.)

(iv) alt: Das Adjektiv alt verweist unter anderem auf eine lange Bestehensdauer oder darauf, dass etwas schon lange zurückliegt. In Bezug auf die Sage als Text bezieht sich alt auf die lange Bestehensdauer, in Bezug auf den metonymisch mit dem Sagentext verbundenen Inhalt auf das lange Zurückliegen der in der Sage geschilderten Geschehnisse.

(v) Sage: Das Substantiv Sage ist eine westgermanische Bildung zu dem Verb sagen und bedeutete ursprünglich ‘das Gesagte’. In der weiteren Entwicklung wurde es zur Bezeichnung von Berichten, Erzählungen und Gerüchten gebraucht (Duden 2014, S. 712). Heute wird Sage vor allem für überlieferte mythologische Erzählungen mit meist historischem Kern verwendet. Konstitutives Merkmal von Sagen ist auch ihre Reproduzierbarkeit (EXZ_Schaefer_04).

Die lexikalischen Bedeutungen von Wörtern werden oft durch Konnotationen, also emotionale oder bewertende Bedeutungskomponenten ergänzt, die nicht zur intrinsischen Bedeutung gehören, sondern eher konventionalisierte Assoziationen darstellen (vgl. Allan 2006, S. 43 f.). Die Gedichtinterpretationen enthalten verschiedene solcher konnotativer Zuschreibungen:

(i) Vogel: Vögel sind in den Interpretationen mit ‘Freiheit’ konnotiert (EXZ_Freese_01), mit ‘Anmut’ (EXZ_Killy_01) und etwas weniger konventionell mit ‘Reinheit’ (EXZ_Freese_01), etwa in Zusammenhang mit dem Flug »in reiner Höhe« (EXZ_Killy_01). Sie sind zudem verbunden mit ‘Sehnsucht’: Ihr Flug löst die »Sehnsucht des Irdischen« aus (EXZ_Killy_01) und »die Ahnung einer schöneren Zeit« (EXZ_Theuerer_05).

(ii) Sage: Sagen werden in den Exzerpten zum Teil mit der Eigenschaft verbunden, dass sie vermeintlich nicht wahr sind, »in den Bereich des Irrealen gerückt« sind (EXZ_Theuerer_04) bzw. lediglich Andeutungen einer »verlorenen Erinnerung an alte Wahrheiten« sind (EXZ_Theuerer_07).

4.3 Situations- und Weltwissen

Die Interpretation kontingenter sprachlicher Äußerungen beruht immer auch auf dem spezifischen Situationswissen und dem allgemeinen Weltwissen. Die Einbindung des Flugs der Vögel in die herbstliche Szenerie des Gedichts einerseits und das Wissen, dass Vögel vieler Arten in Mitteleuropa im Herbst in ihre Winterquartiere im Süden ziehen, lässt es naheliegen, dass auf der nicht-figurativen Ebene der Flug der Vögel auf den Zug von Zugvögeln referiert (EXZ_Freese_01; EXZ_Schmid_01; EXZ_Thauerer_05).

Der Flug der Vögel könnte nun verschiedene Formen des Weltwissens aktivieren, etwa über den Orientierungssinn von Vögeln, die Mechanik des Fliegens oder Migrationsrouten. Im Zusammenhang mit dem untersuchten Vers wird aber ausschließlich der Zusammenhang des Vogelflugs mit Praktiken des Wahrsagens hervorgehoben (EXZ_Hinck_01; EXZ_Killy_01; EXZ_Schmid_02; EXZ_Schmid_03; EXZ_Thauerer_01; EXZ_Thauerer_08). Die Wahrsagung aufgrund der Beobachtung des Vogelflugs war bei den Kelten, Germanen und Griechen üblich (Minois 1998, S. 58, 60, 72). Im antiken Rom war die Vogelschau, das Auspizium, im Rahmen der Staatsreligion institutionalisiert. Insbesondere Flugroute und Schreie der Vögel wurden gedeutet, allerdings nicht um die Zukunft vorauszusagen, sondern um die Zustimmung oder Ablehnung der Götter zu wichtigen Vorhaben zu erfahren (Minois 1998, S. 117).

4.4 Literarisches Wissen

Literarisches Wissen betrifft etwa das Wissen über gedichtspezifische Strukturen (Metrum, Strophenform, etc.), über intertextuelle Bezüge, über die Rolle eines Gedichts innerhalb eines Zyklus oder Gedichtbands, über Leben und Werk des Autors und über poet(olog)ische Normen.

(i) Intertextuelles: Das Gedicht weist intertextuelle Bezüge zu Gedichten von Friedrich Hölderlin und Arthur Rimbaud auf. Insbesondere Hölderlins namensähnliches Gedicht »Der Herbst« (Hölderlin 1999, S. 463) ist als Hintergrund zu »Der Herbst des Einsamen« zu erkennen: Trakls Herbst […] kehrt […] Sommertagen […] Sagen […] Wolke […] Landmanns […] Abends […] Erde finden ihre lexikalische Entsprechung in Hölderlins Sagen […] Erde […] kehren […] Sommer […] Herbst […] Erde […] Landmann […] Wolke […] Abends […] Tage (Kommentar in Trakl 1998, S. 21; vgl. auch EXZ_Millington_01). Entsprechende Textstellen können dann in Bezug zueinander gesetzt werden. So schreibt Millington hinsichtlich der Sagen und den damit verbundenen historischen Visionen (EXZ_Millington_01):

»[…] the historical visions developed in the two poems have quite different conclusions, the invocations of suffering (line 16) and horror (line 17) at the end of ›Der Herbst des Einsamen‹ contrasting with an affirmation of the world’s underlying stability in the final stanza of Hölderlin’s poem.« (Millington 2020, S. 150)

Die Interpretation kann zudem unter Berücksichtigung intertextueller Bezüge auf Wissen über die Welt des Gedichts zurückgreifen, also auf den lyrik-weltlichen, innergedichtlichen Kontext. Zur Gedichtwelt gehört etwa, dass es Herbst ist und entsprechend geerntet und gekeltert wird. Verstehen wir das Gedicht »Der Herbst des Einsamen« als Teil des gleichnamigen Zyklus und diesen als Teil des Bandes Sebastian im Traum, so ist die Gedichtwelt vielleicht größer zu fassen. Zur lyrischen Welt weiter Teile von Sebastian im Traum gehört etwa, dass dort – und nicht nur bei den Römern – der Vogelflug ein Zeichen ist, welches insofern prinzipiell deutbar ist, kontingent sich aber oft als schwer entschlüsselbar erweist.

(ii) Biographisches: Trakls Biographie ist geprägt durch Drogenmissbrauch, schulische, berufliche und zunächst auch schriftstellerische Misserfolge, eine vermeintliche Inzestbeziehung zur Schwester und den frühen Tod – vermutlich ein Suizid – mit 27 Jahren (Weichselbaum 1994; Decker 2014). Typische Themen und Motive in Trakls Werk wie Einsamkeit, Verfall, Tod, Vergänglichkeit, Herbst, Kindheit, Traum, Nacht, Dämmerung und Krieg (vgl. etwa Matzkowski 2011, S. 41 f.) werden oft mit seiner Biographie in Verbindung gebracht.

(iii) Motive: Ein Motiv, das häufiger bei Trakl auftritt, ist der Vogelflug und seine »Dunkelheit«, seine schwierige oder unmögliche Deutung (EXZ_Schmid_02; EXZ_Schmid_03; EXZ_Thauerer_07; EXZ_Thauerer_08): Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen (»Traum des Bösen«; Trakl 1972, S. 19), Die Vögel sagen dir ferne Mär’ (»Im Herbst«; Trakl 1972, S. 20), Uralte Legenden | Und dunkle Deutung des Vogelflugs (»An den Knaben Elis«; Trakl 1972, S. 17), Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel | Den Schauenden (»Ruh und Schweigen«; Trakl 1972, S. 63), Schwalben irre Zeichen ziehn (»In einem verlassenen Zimmer«; Trakl 1972, S. 16).

(iv) Poetologie: Autorenspezifische poetologische Prinzipien oder autorenübergreifende epochenbezogene oder allgemeine poetische Grundsätze steuern die Produktion und Interpretation von Gedichten. Von Trakl selbst sind kaum poetologische Äußerungen überliefert (Schier 1970, S. 11 f.); epochenbezogen fällt in »Der Herbst des Einsamen« der für den Expressionismus typische Zeilenstil auf (vgl. etwa Wacker 2013, S. 300 f.) mit seiner weitgehenden Übereinstimmung von Vers und Satz und dem Aneinanderreihen von oft nur lose verknüpften Szenen und Bildern. Allgemeiner poetologischer Natur ist die Norm, dass zwischen Ausdrücken, die in einer Reimbeziehung stehen, bzw. den Versen, in denen sie auftreten, auch ein inhaltlicher Bezug bestehen sollte. Das erlaubt es, in dem vorliegenden Vers eine besondere Relation zwischen Sommertagen (Vers 2) und Sagen (Vers 4) (EXZ_Thauerer_04) bzw. zwischen Sagen (Vers 4) und Fragen (Vers 6) (EXZ_Thauerer_06) zu postulieren.

4.5 Idiolektale Besonderheiten

Auch wenn die kommunikativen Zwecke des Sprachgebrauchs ein den Sprachteilnehmer*innen gemeinsames Inventar von sprachlichen Einheiten, Regeln und Gebrauchskonventionen voraussetzen, lassen sich trotzdem bei Sprecherinnen und Sprechern auch idiolektale Besonderheiten feststellen. Entsprechend ist den Besonderheiten der Sprache Trakls von literaturwissenschaftlicher (z. B. Schier 1970; Philipp 1971; Steinacker 1977; Sauermann 1985), aber auch von linguistischer Seite (z. B. Calbert 1974; Blau 1978; Abraham 1979; Komlósi/Knipf 2009) Aufmerksamkeit entgegengebracht worden.

»Die Sprache dieses Dichters ist dunkel«, lautet der erste Satz in Killys (1960, S. 5) Monographie Über Georg Trakl. Nach Killy (1960, S. 19) sind viele Wörter und Mehrwortverbindungen in Trakls Werk »Teile eines in sich selbst, wiewohl mühsam, zu begreifenden Systems von Chiffren«. Als Chiffren sind sie Ausdrücke mit idiolektaler, schwer zu erfassender und bei Trakl noch dazu kontextuell variierender Bedeutung. Einige idiolektale Besonderheiten Trakls sollen insofern hier erwähnt werden.

(i) tönen: Das Verb tönen ist durch mehrere Dutzend Instanzen in Trakls Werk belegt. In Abschnitt 4.9 wird noch gezeigt werden, dass es oft in Argumentstrukturmustern auftritt, die für Kommunikationsverben typisch sind. Als Kommunikationsverb ist tönen bei Trakl allerdings mit einigen Besonderheiten behaftet: Selten sind es Personen, die in voluntativ-kontrollierter Weise tönen. Wo ein Tönender auftritt wie in O, das Blut, das aus der Kehle des Tönenden rinnt (»An einen Frühverstorbenen«; Trakl 1972, S. 65) erscheint der Subjektreferent wenig agentiv, so wie auch Trakl als Dichter selbst nicht in der Rolle des Verkünders von Botschaften, sondern eher als resonierendes Objekt eines dichterischen »Tönens« erscheint. Trakls dionysisches Ich, so Wacker (2013, S. 278 f.), ist »ein absolutes Ich, das allerdings keine Individualität im herkömmlichen Sinne kennt. Es ist mit einem Resonanzboden vergleichbar, das die Urmusik medial vermittelnd zum Ertönen bringt. Aus dem Grunde dieses Ur-Ich brechen die Bilder wie ›verschiedene Objectivationen von ihm‹ [Nietzsche] hervor.« Das Tönen geht in dem Zusammenhang auch nicht mit eindeutig entschlüsselbaren Botschaften einher; es erscheint als eine nur partiell sprachliche Form des Kommunizierens im »Zwischenbereich zwischen Schweigen und Sagen« (Wacker 2013, S. 288):

»Das Signifikante an der Art der lyrischen Wiedergabe ist freilich, dass das von Trakl häufig verwendete (durative) Tönen eine Art vorsprachlich-semiotisches, prälogisches Sagen anzeigt, das aber gerade die subjektive Signatur des Geschauten in der Verlautbarung garantieren soll. Das Tönen als dominantes vorsprachliches Gebilde in der Lyrik Trakls markiert einen Zwischenbereich zwischen Schweigen und Sagen, Ich-Dissoziation und Subjektäußerung und ist mit der Seher-Figur eng korreliert […].« (Wacker 2013, S. 287 f.)

Wo tönen im Zusammenhang mit prophetischen Zeichen wie dem Flug der Vögel aufritt, bleibt die prophetische Ausage entsprechend schwer deutbar (Wacker 2013, S. 267).

Eine weitere Besonderheit von Trakls Werk sind synästhetische Konstellationen (Blau 1978, S. 155 f.). Das betrifft das Verb tönen insofern besonders, als es ein synästhetisches Verb ist (s. Abschnitt 4.2) und auch in Trakls Gedichten – allerdings in anderer als der alltagssprachlichen Bedeutung – synästhetisch verschoben auftritt (2).Footnote 14

(2)

(a)

Leise tönt die Sonne im Rosengewölk am Hügel. [»Frühling der Seele«; Trakl 1972, S. 77]

(b)

Blaues Wild, das unter Bäumen tönt. [»An die Schwester«; Trakl 1972, S. 34]

Ein synästhetischer Aspekt in Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen ist auch in den Interpretationen behauptet worden (EXZ_Schaefer_03; EXZ_Schmid_03). Gemeint ist dort aber wohl eher, dass eine visuelle Perspektive des Lesers auf das Herbstbild mit den fliegenden Vögeln in Kontrast mit der Geräuschlesart von tönen gerät (s. dazu kritisch Abschnitt 5.2).Footnote 15

(ii) Vögel: Das Morphem vogel tritt bei Trakl in den allermeisten Fällen im Kontext von Vogelzügen auf (Trakl 1972, S. 13, 14, 17, 22, 35, 36, 41, 197), deren zeichenhafter Charakter schon in Abschnitt 4.3 erläutert wurde. Unter den übrigen Belegen sind wiederum solche, die Vögel als Verkünder beinhalten, z. B. Die Vögel sagen dir ferne Mär’ (»Im Herbst«, Trakl 1972, S. 20). Diese symbolische Bedeutung von Vogel als Verkünder allerdings meist dunkler Botschaften ist zwar nicht auf Trakl beschränkt, aber in ihrer Häufigkeit doch eine lexikalische Besonderheit bei Trakl. Auch die Interpretationen greifen diesen Aspekt auf (EXZ_Schmid_03; EXZ_Thauerer_09).

(iii) Sagen: Die Interpretationen fassen Sage nahe am konventionellen Wortgebrauch auf, als »legends« (EXZ_Millington_01), als »Kunde« von etwas (EXZ_Lachmann_01) oder als die »schönen alten Geschichten« (EXZ_Thauerer_04). Auf Besonderheiten im Sprachgebrauch Trakls, wie sie sich in den Beispielen in (3) zeigen, wird im Zusammenhang mit dem »Herbst des Einsamen« nicht eingegangen.

(3)

(a)

Das stille Haus und die Sagen des Waldes, | Maß und Gesetz und die mondenen Pfade der Abgeschiedenen. [»Gesang des Abgeschiedenen«; Trakl 1972, S. 79]

(b)

Stille sah er und lang in die Sternenaugen der Kröte, befühlte mit erschauernden Händen die Kühle des alten Steins und besprach die ehrwürdige Sage des blauen Quells. [»Traum und Umnachtung«; Trakl 1972, S. 80]

(c)

Frei ergrünt der Bach, wo silbern wandelt sein Fuß, und ein sagender Baum rauscht über dem umnachteten Haupt ihm. [»Traum und Umnachtung«; Trakl 1972, S. 82]

Die attributiven Genitive zu Sagen (3a, b) involvieren eine Ambiguität in Trakls Gedichten. Sie lassen sich als Genitivus objectivus lesen (der Wald und der blaue Quell als thema der Sagen) oder als Genitivus subjectivus (der Wald und der blaue Quell als agens der Sagen). Dass personifizierte Elemente der Natur als »Erzähler« der Sagen in Betracht zu ziehen sind, zeigt auch das Beispiel (3c), in dem der Baum als agens des Sagens auftritt. Die Bedeutung des Wortes Sage wird hier also viel näher an die ursprüngliche Bedeutung ‘Gesagtes’ gerückt. Das korrespondiert partiell mit EXZ_Görner_01: »Die ›alten Sagen‹ und Legenden liegen in der Natur verborgen.«

(iv) Syntaktische Besonderheiten: Trakls lyrische Syntax ist durch verschiedene Konstruktionen gekennzeichnet, die in Prosatexten eher ungebräuchlich sind. Dazu gehören ungewöhnliche Transitivierungen (4a) und Intransitivierungen (4b) (Blau 1978, S. 44 f.; Sauermann 1985; Engelberg erscheint 2023), Verbpartikeln im Vorfeld (4c) (Blau 1978, S. 23 f.) und das Fehlen von Subjekt-Prädikat-Kongruenz (4d) (Blau 1978, S. 64 f.).

(4)

(a)

Es schweigt die Seele den blauen Frühling. [»Im Dunkel«; Trakl 1972, S. 78]

(b)

Wieder begegnet der zarte Leichnam | Am Tritonsteich | Schlummernd in seinem hyazinthenen Haar. [»Passion«; Trakl 1972, S. 69]

(c)

Aufflattern Krähen um ein ekles Mahl [»Der Spaziergang«; Trakl 1972, S. 26]

(d)

Stern und schwärzliche Fahrt | Entschwand am Kanal. [»In Venedig«; Trakl 1972, S. 72]

(e)

Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen [»Der Herbst des Einsamen«; Trakl 1972, S. 62]

In Vers 17 im »Herbst des Einsamen« treten Vorfeldverbpartikel und Intransitivierung sogar gemeinsam auf (4e). Keine der hier angeführten syntaktischen Besonderheiten ist allerdings in dem hier untersuchten Vers 4 zu beobachten.

4.6 Lexikalische Bedeutungsverschiebungen

Zur semantischen Vielschichtigkeit der Verszeile Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen tragen verschiedene Verfahren der Bedeutungsübertragung bei, basierend vor allem auf Metonymie, Metapher und Symbol.

(i) Metonymie: Versteht man den Flug der Vögel als ‘Zug von Zugvögeln’ liegt noch keine Bedeutungsverschiebung vor, sondern lediglich eine referenzielle Spezifizierung. Die Grundbedeutung und die ontologische Sorte (bewegungsereignis) ändern sich nicht. So wie ich mit Flug der Vögel auf den Flug eines Schwarmes Saatkrähen referieren kann, die von einem Traktor aufgescheucht wurden, kann ich damit auch den Vorbeiflug eines Schwarms Kraniche nach Süden bezeichnen.Footnote 16

Verwendet man Flug der Vögel dagegen zur Bezeichnung eines deutbaren komplexen Zeichens, entsteht eine neue Lesart. Der Flug der Vögel referiert nun nicht einfach auf die Bewegung von Vögeln, die in einer bestimmten Konstellation fliegen, sondern auf die sich bewegende Konstellation aus Vögeln als deutbares Zeichen.Footnote 17 Damit ändert sich die ontologische Sorte von Flug der Vögel von einem bewegungsereignis zu einem komplexem zeichenobjekt, also zu einer ontologischen Sorte, zu der etwa auch Wörter wie Text, Brief oder Rede gehören. Damit werden implizit auch neue Rollen im Umfeld des Ausdrucks zugänglich, etwa die eines zeichenproduzenten, eines zeichenthemas und eines zeicheninhalts. Im Kern liegt hier ein metonymischer Prozess zugrunde, wobei ein Wort metonymisch verwendet wird, wenn es auf etwas referiert, das zu dem, worauf es in seiner Grundbedeutung referiert, in einer Kontingenzbeziehung steht (kausale Beziehung, Teil-Ganzes-Beziehung etc.).Footnote 18 Metonymische Verschiebungen des Musters ding/ereignis > zeichen sind dabei auch alltagssprachlich verbreitet. Ein tränennasses Taschentuch kann ontologisch sowohl als Ding, wie auch als Zeichen fungieren, etwa für Traurigkeit; dann verbindet es sich auch mit Verben, die zeichendenotierende Ausdrücke an Subjektstelle erlauben: Das nasse Taschentuch zeugt / spricht / erzählt von großer Traurigkeit. Im Falle von Flug der Vögel ist allerdings eine weltwissensbasierte Vorannahme erforderlich, die in der Antike gilt und in der lyrischen Welt des Gedichts, vermutlich aber nicht in unserer Alltagswelt, nämlich, dass der Vogelflug prophetischen Deutungen zugänglich ist.

Wörter für zeichenobjekte wie Text, Brief, Rede und – hier – Vogelflug erlauben nun in einem zusätzlichen Schritt weitere metonymische Verschiebungen. Solche Verschiebungen folgen dabei oft bestimmten konventionalisierten MusternFootnote 19. Unter einer Verschiebung, die das metonymische Muster zeichenproduzent > zeichenobjekt exploriert, können Wörter für zeichenobjekte nun auch die Rolle des zeichenproduzenten realisieren (5b), die bei Kommunikationsverben üblicherweise an die Subjektposition gebunden ist (5a). Der zeichenproduzent kann dabei wie in (5b) und in Vers 4 im »Herbst des Einsamen« unbestimmt gelassen werden.

(5)

(a)

Die Reporterin berichtet von einem Unfall / über einen Unfall / dass ein Unfall geschehen ist.

(b)

Der Artikel berichtet von einem Unfall / über einen Unfall / dass ein Unfall geschehen ist.

(c)

Die Reporterin berichtet in / mit dem Artikel von einem Unfall / über einen Unfall / dass ein Unfall geschehen ist.

Das zeichenobjekt Flug der Vögel kann nun Rollen des Verbs realisieren, die für zeichenproduzenten vorgesehen sind, metonymisch erweitert aber auch zeichenobjekte erlauben (der Flug der Vögel berichtet von etwas). Da zeichenobjekt und zeichenproduzent oft auch gemeinsam realisiert werden (5c), seien sie hier trotz ihrer metonymiebasierten Ersetzbarkeit im Weiteren als distinkte Rollen aufgefasst. In unserem Beispielvers 4 bleibt der zeichenproduzent allerdings ungenannt; im Sinne des antiken Auspiziums mag man sich in dieser Rolle hier zum Beispiel die Götter vorstellen.

(ii) Metapher: Metaphorische Prozesse abstrahieren von bestimmten Aspekten der Ausgangsbedeutung eines Ausdrucks.Footnote 20 Bezeichnet man den Schnee als das Gold der alpinen Skigebiete, so werden bestimmte Merkmale der Ausgangsbedeutung von Gold übernommen (‘Substanz’, ‘wertvoll’), während von anderen Merkmalen (‘Metall’, ‘gelblich glänzend’) abstrahiert wird. Nun wird tönen in Vers 4 anscheinend für einen Vorgang verwendet, in dem es nicht einfach um Klänge geht, sondern in dem Inhalte vermittelt werden (tönt von alten Sagen). Eine solche Verschiebung muss zunächst nicht notwendigerweise metaphorischer Natur sein. In Verwendungen wie in (6a) bleibt die Geräuschverbbedeutung erhalten, aber wir verstehen zusätzlich, dass das Tönen einem sprachkundigen Rezipienten auch sprachliche Zeichen vermittelt. Das dürfte ähnlich wie bei anderen akustischen oder auditiven Verben (6b) dadurch bedingt sein, dass mit dem Protestlied ein klangobjekt bzw. stimulus explizit genannt wird, der neben akustischen auch zeichenhafte Eigenschaften beinhaltet. Wahrnehmungsverben und oft auch Signalemissionsverben folgen dann häufig einem metonymischen Muster wahrnehmen > verstehen.

(6)

(a)

Und heut tönt nur das Lied der Hirten | Noch nächtlich übers Mittelmeer. [Arno Holz: »Tagebuchblätter«; Holz 1892, S. 282]

(b)

Doch die alten hörten nicht die fernen Lieder, | Sumsten düstere Worte nur hin und wieder [Joseph von Eichendorff: »Rettung«; von Eichendorff 2007, S. 55]

In anderen Beispielen, auf die Abschnitt 4.9 noch genauer eingeht, wird der Zeicheninhalt explizit in einer von-Phrase genannt, wobei auch hier der akustische Charakter des Tönens präsent bleibt (7).

(7)

(a)

Cherubim und Erstandene tönten vom Untergange | Babylons [Friedrich Gottlob Klopstock: »Der Messias«, Zwanzigster Gesang; Klopstock 1773, S. 188]

(b)

Holdseliger tönte das Lied, | Tönte von dem goldnen Lamm, feiernd als Herrn den Thyestes. [J. J. C. Donner: Übersetzung von Euripides’ »Elektra«; Euripides 1859, S. 194]

In dem Vers Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen werden die alten Sagen nun allerdings nicht akustisch verbreitet, sondern die Vogelflugkonstellation vermittelt der kundigen Deuterin als visuelles Zeichen etwas zu den alten Sagen. Neben allen anderen Besonderheiten von tönen liegt damit hier auch ein metaphorischer Prozess im synästhetischen Bereich zugrunde, der eine Bedeutung der Art ‘durch Schwingen eines Klangkörpers werden für Rezipienten wahrnehmbare akustische Signale emittiert’ zu ‘durch ein Ereignis werden für Rezipienten wahrnehmbare Signale emittiert’ abstrahiert. Die synästhetische Abstraktion von der akustischen Eigenschaft des Signalemissionsverbs tönen findet sich auch in etlichen anderen Belegen bei Trakl, z. B. (8).

(8)

(a)

Ein Dornenbusch tönt, | Wo deine mondenen Augen sind. [»An den Knaben Elis«; Trakl 1972, S. 17]

(b)

Blaue Blume, | Die leise tönt in vergilbtem Gestein [»Verklärung«; Trakl 1972, S. 67]

Dass diese Signale gegebenenfalls zeichenhaft sind und verstanden werden können, basiert dann wiederum auf dem metonymischen Muster wahrnehmen > verstehen. Die so konstituierte kommunikationsverbartige Lesart findet ihren Ausdruck auch durch die Einbettung des Verbs in ein entsprechendes Argumentstrukturmuster (s. Abschnitt 4.9).

Der Weg von einem reinen Geräuschverb über ein zeichenvermittelndes Geräuschverb hin zu einem reinen Kommunikationsverb erfolgt also im Wesentlichen über einen metonymischen Prozess (das emittierte Geräusch wird als Zeichen gedeutet) und eine folgende metaphorische Abstraktion von der akustischen Eigenschaft.

(iii) Symbol: Andere Zuschreibungen in den Interpretationen sind eher symbolischer Natur, etwa die Auffassung des Vogels »als Sinnbild der von ihrer irdischen Hülle befreiten Seele« (EXZ_Thauerer_01) oder als »Gegenbild des Menschen und Künder seiner Bestimmung« (EXZ_Schmid_03). Auch die Interpretation des Vogels als »göttlicher Bote« (EXZ_Thauerer_09) ist wohl symbolhaft zu verstehen.

Symbole seien hier verstanden als Zeichen, die erstens nicht notwendigerweise sprachlich realisiert werden und auch an keine feste sprachliche Form gebunden sind und bei denen zweitens ein arbiträrer oder nur historisch-kulturell motivierter Zusammenhang zwischen Zeichenform und Bedeutung besteht (vgl. Atkin 2023). Wissen über Symbole ist also Wissen, das an der Grenze zwischen sprachlichem und nichtsprachlichem Wissen verortet ist. Anders als bei metaphorischen Interpretationen, die üblicherweise durch Interpretationskonflikte ausgelöst werden, liegen bei der Verwendung von Symbolen keine solchen Konflikte vor, so dass auch keine revidierende Uminterpretation der Ausgangsbedeutung stattfindet. Symbole unterstützen stattdessen Ambiguierungsprozesse insofern, als die entsprechenden Ausdrücke üblicherweise sowohl in ihrer wörtlichen wie in ihrer symbolischen Bedeutung aktualisiert werden. Die Vögel sind also sowohl als ‘Vögel’ zu verstehen wie auch als Symbole »der von ihrer irdischen Hülle befreiten Seele« (EXZ_Thauerer_01).

4.7 Prädikat-Argument-Strukturen und implizite Argumente

Eine Prädikat-Argument-Struktur (oder kurz: Argumentstruktur) sei verstanden als semantische Repräsentation einer basalen Proposition, wobei die Argumentstruktur aus genau einem Prädikat und der ihm zugeordneten Liste von Argumenten besteht. Prädikat und Argumente können lexikalisch spezifiziert oder durch Variablen repräsentiert sein (Löbner 2015, S. 235 f.; Engelberg 2019, S. 15), also etwa P(e,x,y) mit P als Variable für ein Verb-Prädikat, e als Variable für das Ereignis, auf das referiert wird und x und y als Variablen für die Entitäten, die thematische Argumentstellen füllen. Mit spezifizierten Variablen konstituiert sich für den Satz Rebecca küsst Jamaal die Struktur als küssen(e,rebecca,jamaal) und als typische lexikalische Repräsentation tritt die Argumentstruktur als küssen(e,x,y) auf, bzw. λ‑abstrahiert als λyλxλe[küssen(e,x,y)] (s. etwa Lohnstein 1996, S. 155 f.).

Verben bezeichnen Situationen, in denen verschiedene Entitäten verbspezifische Rollen einnehmen. Diese Rollen sind konstitutiv für die Verbbedeutung und können im typischen Fall auf die üblichen Argumentpositionen im Satz abgebildet werden (s. Abschnitt 4.8). Für das Verb tönen, das in seiner Grundbedeutung ein duratives Schallereignis bezeichnet, sind das (a) die spezifische, wahrnehmbare, reifizierte Qualität des SchallereignissesFootnote 21 (im Folgenden: klangobjekt), z. B. ein Schall, ein Flötenton oder ein Naturlaut, (b) ein physischer Körper, der als ganzer oder in Teilen in Schwingung gerät (klangkörper), etwa ein Gong, ein Schwert oder eine Gitarrensaite, (c) ein Ereignis, das die Schwingung erzeugt (klangursache), z. B. ein Schlag, ein Tritt oder ein Luftstrom und (d) ein Ort, innerhalb dessen sich die Schallwellen ausbreiten (klangort), insbesondere Orte, die durch ihre physische Umgrenztheit das Resonieren des Tons unterstützen, wie ein Zimmer, eine Kirche oder ein Tal.Footnote 22 Entitäten, die nicht unmittelbar zum Konzept des Tönens gehören, aber oft damit in Kausalzusammenhang gebracht werden, sind zudem die Person, die das Verursachungsereignis intentional initiiert (verursacher), und die Person, die das Klangereignis wahrnimmt (rezipient). Diese sechs Rollen werden in den verschiedenen Argumentstrukturmustern (s. Abschnitt 4.8), mit denen tönen sich in seiner akustischen Grundbedeutung verknüpft, als Satzglieder zu dem Prädikat tönen realisiert. Die Rollen des verursachers, des klangereignisses und des klangkörpers bilden dabei Elemente der Verursachungskette, die das Tönen hervorruft: Der verursacher initiiert das Verursachungsereignis (e3), das zum Schwingen (e2) des klangkörpers führt, das wiederum die Verbreitung (e1) von Schallwellen hervorruft, an die die perzeptiven Qualitäten des Tönens geknüpft sind. Grundsätzlich sind auch Versprachlichungen der Erweiterung der Kausalkette am äußeren Rand möglich, indem ein Grund oder eine weitere Ursache angegeben werden (e4), z. B. Aufgrund des Kampfrufs der Königin tönten die Kämpfer mit ihren Schwertern. Solche externen Ursachen werden allerdings meist nicht über argumenttypische Ausdrucksformen realisiert. Die Elemente der Verursachungskette stehen in metonymischer Beziehung zueinander, konstituieren aber verschiedene Rollen, da sie auch in Kombination miteinander realisierbar sind.

Auch die Kernbedeutung der Wörter anderer Inhaltswortarten wird als Prädikat-Argumentstruktur repräsentiert, z. B. alt(x) mit x als Variable für den Referenten des Bezugsnomens, vogel(x) mit x als Variable für die Entität, auf die referiert wird, sage(x,y) mit x als referenziellem Argument, y als Variable für das thema der Sage (z. B. die Sage von Trojas Fall) oder den inhalt der Sage (z. B. es geht die Sage, dass Rübezahl ...),Footnote 23 seltener auch mit einem Argument für den produzenten der Sage, sowie flug(e,x,y) mit e als Variable für das Ereignis, auf das referiert wird, x als Variable für die fliegende Entität (agens) und y als Variable für die richtung des Flugs.

Argumente, die nicht durch Phrasen im Satz spezifiziert werden, müssen entweder existenziell gebunden werden (Sie saß am Tisch und aß – ‘Sie saß am Tisch, und es gab etwas, das sie aß’) oder kontextuell spezifiziert werden (Sie holte die Pizza, setzte sich an den Tisch und aß – ‘Sie holte die Pizza, setzte sich an den Tisch und aß die Pizza’). In dem Vers Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen wird weder das thema- oder das inhaltsargument von Sage noch das richtungsargument von Flug spezifiziert. Die interpretatorischen Versuche, das themaargument von Sagen zu rekonstruieren, bleiben relativ vage und stellen in verschiedener Weise Trakls Trauer über den Verlust einer vermeintlich besseren Zeit heraus; das können die frühere Zeit des Christentums, die Antike oder auch vorantike Zeiten sein. Entsprechend betreffen die Sagen »die christliche Welt mit Kreuz und Engel« (EXZ_Hinck_01), handeln »von dem einstigen goldenen Weltalter, dem Paradies« (EXZ_Lachmann_01), von »einer kulturellen Vergangenheit«, von der »Geschichte einer religiösen Kultur« (EXZ_Thauerer_03) oder »von Heil und Unheil, von Leben und Tod schon seit den Tagen der Schamanen und Chaldäer« (EXZ_Schmid_02).

Das implizite richtungsargument von Flug wiederum erschließt sich eindeutig in den Interpretationen derjenigen, die bei dem Flug der Vögel »an Zugvögel denken, die in der Herbstzeit zu südlichen Ländern hin aufbrechen« (EXZ_Thauerer_05). Wird der Flug der Vögel nicht als Zug der Zugvögel verstanden, bleibt die Richtung unbestimmt, d. h. das richtungsargument wird existenziell gebunden.

Bei tönen in akustischer Lesart wird in Vers 4 das Verursachungsereignis (klangursache) in Subjektposition realisiert; die anderen Rollen erschließen sich über das damit verbundene Weltwissen: der Verursacher des Tönens (verursacher) ist mit dem Agens des Fluges identisch (Vögel), der Klangtyp (klangobjekt) wird mit den typischen Flattergeräuschen der Vögel, vielleicht auch mit ihren Schreien identifiziert, und der klangkörper sind entsprechend die Flügel oder Stimmorgane der Vögel.

4.8 Argumentstrukturmuster von tönen als Geräuschverb

Ein Argumentstrukturmuster (ASM) sei verstanden als ein sprachliches Muster, dem eine Argumentstruktur mit ihren spezifischen Bedeutungseigenschaften zugrunde liegt, und das die lexikalischen und grammatischen Beschränkungen der sprachlichen Realisierung dieser Argumentstruktur charakterisiert (Engelberg 2019, S. 16).Footnote 24 Argumentstrukturmuster sind dabei auch Generalisierungen über das argumentstrukturelle Verhalten von Mengen semantisch verwandter bzw. in das Muster koerzierter Prädikate.

Die Muster, die bei tönen in seiner Grundbedeutung zum Tragen kommen, sind außerordentlich zahlreich und können hier nur in Ausschnitten dargestellt werden. Dabei dienen als Datengrundlage Belege aus versgebundener Sprache, die zum einen dem Artikel zu tönen im Deutschen Wörterbuch (2023) entstammen, zum anderen einer eigenen Belegsammlung zu deutschsprachigen Gedichten (vgl. dazu Engelberg erscheint 2023).

Wie mit anderen Geräuschverben (klingeln, donnern, dröhnen, ...) und insofern musterhaft sind zunächst unpersönliche Verwendungen mit tönen möglich (9). Der Ton ist im Verb inkorporiert und bleibt qualitativen Zuschreibungen (wie traurig in 9a) zugänglich. Unpersönliche Verwendungen von tönen können auch mit weiteren Argumenten auftreten, etwa mit einer Akkusativ-NP (9b).

(9)

(a)

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer, | Tönt so traurig, wenn er sich bewegt | Und nun aufhebt seinen schweren Hammer | Und die Stunde schlägt. [Matthias Claudius: »Der Tod«; Paefgen/Geist 2010, S. 201]

(b)

Vom fernen Thurm tönt’s Mitternacht [Theodor Fontane: »Winterabend«; Fontane 1998, S. 50]

Einstellige Verwendungen von tönen erlauben die Realisierung fast aller verbspezifischen Rollen in Subjektposition: klangobjekt (10a), klangkörper (10b), klangort (10c) oder verursacher (10d).

(10)

(a)

Zwar ach! verhallt sind ihre Gesäng in Nacht: | Doch weht in Flaccus lebende Harmonie | Nachhall; und sanft um tote Rollen | Tönt in den Schlacken Vesuvs ihr Lispel. [Johann Heinrich Voß: »Der Rebenspross«; Voss 1967, S. 47]

(b)

Der Wandrer starrt von Eise, | Sein Odem friert zu Schnee; | Ein Glöckchen, dumpf und leise, | Tönt fern am Alpensee [Friedrich von Matthisson: »Der Alpenwanderer«; Paefgen/Geist 2010, S. 207]

(c)

Stille der Dörfer; es tönen rings | Die verlassenen Wälder. [Georg Trakl: »Sommersneige«; Trakl 1972, S. 75]

(d)

Also tönt ein Schwan im Sterben, | Der im Spiegel klarer Wasser | Stumm sein Sternbild angesehen, | Grüßt es scheidend im Gesange. [Clemens Brentano: »Romanze XI: Biondetta in dem Theater«; Brentano 1912, S. 156]

Auch die klangursache kann in Form einer ereignisbezeichnenden NP in Subjektposition auftreten (11a, b), wie auch in Vers 4 der Flug der Vögel. Bei anderen eher unspezifischen Geräuschverben findet sich dieses Muster ebenfalls (11c), das wie folgt formal und semantisch charakterisiert werden kann:

(11)

ASM 1 – verb(e1, e2KLANGURSACHE:NPnom)

‘Das Ereignis e2 verursacht die Schwingung eines Klangkörpers, die das Ertönen e1 verursacht.’

(a)

Auf! schon tönet ihr Schritt, naht die Vortrefflichkeit | In der Halle! Musik | Ist der Kommenden Gang, jede der Wendungen, | Welche sie schwebt, Harmonie! [Friedrich Gottlieb Klopstock: »Die Vortrefflichkeit«; Klopstock 1984, S. 101]

(b)

Oder es tönte dunkler Verzückung | Voll das Saitenspiel | Zu den kühlen Füßen der Büßerin | In der steinernen Stadt. [Georg Trakl: »Passion«; Trakl 1972, S. 70]

(c)

Mit meinem Saitenspiele, | Das schön geklungen hat, | Komm ich durch Länder viele | Zurück in diese Stadt. [Joseph von Eichendorff: »Rückkehr«; von Eichendorff 2007, S. 27]

Die einstelligen Geräuschverbmuster mit tönen werden ergänzt durch eine Vielzahl verschiedener zweistelliger Varianten, sowohl intransitiver mit präpositional realisiertem zweiten Argument (12)Footnote 25 als auch transitiver (13).

(12)

(a)

Weh euch ihr stolzen Hallen! Nie töne [süßer Klang]KLANGOBJEKT | [Durch eure Räume]KLANGORT wieder, nie Saite noch Gesang [Ludwig Uhland: »Des Sängers Fluch«; Paefgen/Geist 2010, S. 379]

(b)

Was ruft [ihr]VERURSACHER Hermanns Namen so | Und tönet [mit den Waffen]KLANGKÖRPER? [Karl Friedrich Kretschman: »Rhingulphs Klage. Drittes Lied«; Kretschman 1784, S. 174]

(13)

(a)

Inmittelst wil [ich]VERURSACHER thönen [die weise Melodey]KLANGOBJEKT, | daß auch das Grab der Schönen nicht ohne Freude sey [Gotthilf Treuer: »Begräbnüß«; Treuer 1675, S. 170]

(b)

[Sie]KLANGKÖRPER tönen, die Lanzen, tönen nun [die Todestöne]KLANGOBJEKT, | Im Thale der ernsten Schlacht! [Friedrich Gottlieb Klopstock: »Hermanns Schlacht«; Klopstock 1876, S. 68]

Von besonderem Interesse für das Verständnis von Vers 4 im »Herbst des Einsamen« sind die Muster, die eine von-PP einbinden (s. auch Abschnitt 4.9). Dabei wird entweder ausgedrückt, dass ein klang(objekt) den klangort erfüllt (14), dass ein klangkörper (als Element in der Klangverursachungskette) einen implizit mitverstanden Klang (klangobjekt) hervorbringt, der den klangort erfüllt (15), dass ein klangkörper ein klangobjekt hervorbringt (16) oder dass eine klangursache einen klangkörper in Schwingung versetzt (17).Footnote 26

(14)

ASM 2 – verb(e, xKLANGORT:NPnom, yKLANGOBJEKT:PPvon)

‘Der Klang y, der durch die Schwingung des Klangkörpers verursacht wird, ertönt (e) laut in dem Resonanzraum x.’

(a)

Er trank; es herrscht um ihn geweihte grause Stille; | Doch plötzlich tönt die Gruft von schrecklichem Gebrülle [Friedrich Wilhelm Zachariae: »Der Renommist«; Zachariae 1761, S. 47]

(b)

Die Luft tönte von Sturmeshauch und Meeresrauschen [Theodor Storm: »Psyche«; Storm 1951, S. 178]

(15)

ASM 3 – verb(e, xKLANGORT:NPnom, yKLANGKÖRPER:PPvon)

‘Der Klang, der durch die Schwingung des Klangkörpers y verursacht wird, ertönt (e) laut in dem Resonanzraum x.’

(a)

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder | Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen | Und blauen Seen, darüber die Sonne | Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht | Sterbende Krieger, die wilde Klage | Ihrer zerbrochenen Münder. [Georg Trakl: »Grodek«; Trakl 1972, S. 94]

(b)

Leicht und kräftig die Brücke, | die von Wagen und Menschen tönt [Friedrich Hölderlin: »Heidelberg«; Hölderlin 1999, S. 242]a

(16)

ASM 4 – verb(e, xKLANGKÖRPER:NPnom, yKLANGOBJEKT:PPvon)

‘Der Klang y ertönt (e) als Folge der Schwingung des Klangkörpers x.’

(a)

Es tönt an meinem Munde, | Ein silbernes Horn von süßem Schall [Emanuel Geibel: »Der Knabe mit dem Wunderhorn«; Geibel 1915, S. 13]

(17)

ASM 5 – verb(e1, e2KLANGURSACHE:NPnom, yKLANGKÖRPER:PPvon)

‘Der Klangkörper y ertönt (e1) als Folge eines Ereignisses e2, das y in Schwingung versetzt hat.’

(a)

Von hohlen Bretern tönt des Hammers Schlag, | Der Sonntag feiert nicht, die Nacht wird Tag. [Johann Wolfgang von Goethe: »Auf Miedings Tod«; von Goethe 1808, S. 319]

  1. aBeispiel aus nicht versgebundener Sprache.

Die Exzerpte geben allerdings kaum Hinweise, inwieweit die InterpretInnen davon ausgehen, dass das Gedicht auf der primären, nicht figurativen Darstellungsebene von einem physischen, akustischen Tönen spricht; am ehesten legen noch EXZ_Freese_01 und EXZ_Schmid_03 das nahe. Abstrahierte man von der von-PP, so läge dem Vers 4 offenbar das ASM 1 zugrunde. Der Flug der Vögel verursacht das Tönen. Anders als bei einer verursacherrealisierung an Subjektposition (10d), die das Tönen eher mit Vogelrufen oder -schreien hätte identifizieren lassen, legt das Ereignisnomen nahe, dass hier die durch den Flug, genauer den Flügelschlag verursachten Geräusche in die Beschreibung der Szenerie einfließen.Footnote 27 Allerdings scheint die Lesart nicht ohne Weiteres kompatibel mit der von-PP in den Mustern ASM 2 bis ASM 5, da von alten Sagen nicht die Rolle des klangkörpers und auch nicht ohne weitere Interpretationsschritte die des klangobjekts einnehmen kann. Letztlich führt der im Einklang mit der Herbstbeschreibung hinsichtlich physisch-akustischer Eigenschaften interpretierbare Satz der Flug der Vögel tönt in seiner Geräuschverblesart daher mit dem Beginn der von-PP in eine tendenziell anakoluthische Struktur. Diese Überlegungen werden in Abschnitt 4.9 fortgesetzt.

4.9 Argumentstrukturmuster von tönen als Kommunikationsverb

Das Erzeugen von Tönen dadurch, dass ein klangkörper in Schwingungen versetzt wird, zeigt mehr oder weniger enge Bezüge zu verschiedenen Aktivitäten, die mit Laut- und Klangerzeugung verbunden sind, (i) dem Musizieren auf Musikinstrumenten, (ii) der Erzeugung von Tierlauten (Schreien, Pfeifen, Brüllen, etc.), (iii) dem Singen oder Summen von Melodien, (iv) dem Singen von Liedern mit Liedtexten und (v) dem Erzeugen gesprochensprachlicher Äußerungen. Mit den in Abschnitt 4.6 dargestellten semantischen Verschiebungen kann daher auch das Verb tönen zur Bezeichnung all dieser Ereignisse verwendet werden. Während in den ersten drei der angeführten Fälle die Argumentstrukturmuster der Grundbedeutung von tönen verwendet werden (s. Abschnitt 4.8), ändern sich die Argumentstrukturen, sobald tönen mit der Erzeugung sprachlicher Äußerungen verbunden wird. Das Verb wird dann in Argumentstrukturmuster koerziert, so wie sie für Kommunikationsverben üblich sind.

Assertive Kommunikationsverben involvieren (i) die Rolle einer Person, die die Äußerung tätigt (sprecher) und die der Rolle verursacher bei nicht-sprachlichem tönen entspricht, (ii) die Rolle der Person, die die Äußerung wahrnimmt (rezipient), (iii) die Rolle des themas, d. h. worüber kommuniziert wird, (iv) die Rolle des inhalts, also, was zu dem thema kommuniziert wird, und (v) die Rolle des zeichenobjekts, mit dem der Inhalt kommuniziert wird und die mit der Rolle klangobjekt bei akustischem tönen korrespondiert. Im typischen Fall wird die sprecher-Rolle als NP im Nominativ realisiert, die rezipienten-Rolle als Dativ-NP oder PP (etwa mit zu oder an), die thema-Rolle als PP mit über, von oder zu, die inhalts-Rolle als Objektsatz oder Akkusativ-NP und das zeichenobjekt als NP im Nominativ oder als PP (etwa mit aus, mit oder in) (s. die Belege in 18).Footnote 28

(18)

(a)

[Sein Freund Jan Bach]SPRECHER berichtete [ihm]REZIPIENT [darüber]THEMA, [dass es den Verein Pomeraniak gibt]INHALT. [DeReKo: Nordkurier, 07.03.2012]

(b)

[Der Text]ZEICHENOBJEKT berichtet, [dass er nie gerne allein schlief]INHALT. [DeReKo: NZZ am Sonntag, 17.10.2010]

(c)

[Im Text]ZEICHENOBJEKT berichtet [eine englische Autorin]SPRECHER [über »Begegnungen mit Engeln«]THEMA […]. [DeReKo: dpa, 03.10.2007]

(d)

Pfr. Müller antwortete ihm mit einem Bibelwort, wo [Paulus]SPRECHER [von Gott]THEMA sagt, [dass er keinen Tempel brauche, um für die Menschen dazusein]INHALT. [DeReKo: St. Galler Tagblatt, 29.10.1997]

(e)

[Die Beobachtungsmission der OSZE]SPRECHER äußerte [zu der Gefangenenfreilassung]THEMA [die Hoffnung, daß »diese und ähnliche Gesten die Atmosphäre schaffen, in der eine dauerhafte politische Verhandlungslösung des Konflikts erreicht werden kann«]INHALT. [DeReKo: Berliner Morgenpost, 25.01.1999]

Als Kommunikationsverb erlaubt tönen ein- und mehrstellige Verwendungen. In (19) tritt der sprecher als einziges Argument auf, wobei die Rolle in (19b) entsprechend dem metonymischen Muster körperteil > person uminterpretiert werden muss.Footnote 29 In (20) füllt das zeichenobjekt die Subjektposition, in (20b) um einen rezipienten-Dativ ergänzt und in (20c) um eine Direktionalphrase, die semantisch verschoben die rezipienten-Rolle ausfüllt.

(19)

(a)

Schön tönt vor meinem Ohr der Fürst Athens [Ludwig Tieck: »Fortunat«; Tieck 1816, S. 198]

(b)

Du wahre Kaiserinn der Schönen! | Kann auf der Welt ein Himmel seyn, | So nimmt er deine Zimmer ein, | Wo stets dein auge stralt, wo deine Lippen tönen [Johann Christoph Gottsched: »Ode an Ihre Majestät, die Kaiserinn Königinn, für die erhaltenen kostbaren Geschenke«; Gottsched 1751, S. 21]

(20)

(a)

Wie fernes Wettergemurmel | Tönt seine Rede [Christian Friedrich Daniel Schubart: »Friedrich’s Tod«; Schubart 1802, S. 192]

(b)

Ihm tönen Jubellieder | Im Namen unsrer Brüder | Für alle Pracht der Erde Dank. [Wilhelm Heinrich Wackenroder: »Das Meer«; Pickerodt 1970, S. 278]

(c)

Dem unsre Worte nicht zum Herzen tönen, | Kann er ein Vater sein zu seinen Söhnen? [Friedrich Schiller: »Die Jungfrau von Orleans«; Schiller 2022, S. 16]

In transitiver Verwendung können mit dem sprecher, der auch hier oft metonymisch verschoben auftritt (körperteil > person) (21b, 22b), das zeichenobjekt (21) oder der inhalt (22) als direktes Objekt ausgedrückt werden. Der inhalt kann verkürzt als NP realisiert werden (22a) aber auch als direkte Rede (22b).

(21)

(a)

Wo sind die Sänger, die des Krieges | Bardietea tönen? Die des Sieges | Blutrothe Fahne schwingen? [Karl Friedrich Kretschman: »Kleist. Erstes Lied«; Kretschman 1784, S. 256]

(b)

Die heilge Lippe tönt ein wildes Lied [Johann Wolfgang von Goethe: »Iphigenie auf Tauris«; von Goethe 1989, S. 57]

(22)

(a)

Das wir ewig gottes lob thönen: | Das uns solches widerfare, | Das helffe Christus allen Christen. | Wer das beger, der Sprech amen. [Hans Sachs: »Glaubensbekenntnis«; Sachs 1894, S. 168]

(b)

Gegrüßt, Maria! tönt sein holder Mund, | Und thut das wundervolle Heil ihr kund [August Wilhelm Schlegel: »Ave Maria«; Schlegel 1846, S. 305]

  1. aBardiete ist ein von Klopstock kreiertes Wort für die von ihm geschaffenen dramatischen, kriegerischen Gesänge in germanischem Handlungskontext.

Von besonderer Relevanz für das Verständnis von Vers 4 im »Herbst des Einsamen« sind die folgenden Verwendungen. So kann mit dem sprecher in Subjektposition, wie bei vielen Kommunikationsverben (sprechen, reden etc.), das thema als von-PP ausgedrückt werden (23).

(23)

ASM 6 – verb(e, xSPRECHER:NPnom, yTHEMA:PPvon)

‘Der Sprecher x bringt etwas zum Ausdruck (e) über das Thema y.’

(a)

Cherubim und Erstandene tönten vom Untergange | Babylons [Friedrich Gottlob Klopstock: »Der Messias«, Zwanzigster Gesang; Klopstock 1773, S. 188]

(b)

Doch wenn die Leier an du klingst | Und tönst von Gram und Lust [Franz Grillparzer: »Wenn dich die Dichtkunst schaffen heißt«; Grillparzer 2015, S. 365]

Manchmal tritt die zweistellige Variante mit der von-PP bei tönen auch mit dem zeichenobjekt in Subjektposition auf (24).Footnote 30

(24)

ASM 7 – verb(e, xZEICHENOBJEKT:NPnom, yTHEMA:PPvon)

‘Ein Sprecher bringt durch ein Zeichenobjekt x etwas zum Ausdruck (e) über das Thema y.’

(a)

Holdseliger tönte das Lied, | Tönte von dem goldnen Lamm, feiernd als Herrn den Thyestes. [J. J. C. Donner: Übersetzung von Euripides’ »Elektra«; Euripides 1859, S. 194]

(b)

Die Bowle duftet süßen Dampf | Im Kreis der Kriegsgesellen; | Die Rede tönt von Schlachtgestampf [Richard von Meerheim: »Der schönste Schmuck«; von Meerheim 1857, S. 226]

Lesen wir den Flug der Vögel, wie in Abschnitt 4.6 erläutert, als ein komplexes, zu deutendes Zeichen, so nimmt der Ausdruck die gleiche Rolle ein (zeichenobjekt) wie Ausdrücke vom Typ Lied, Wort oder Rede (20, 24). Die von-PP brächte dann entsprechend ASM 7 die thema-Rolle zum Ausdruck. Der Vers Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen würde dann zunächst so etwas bedeuten wie ‘Das Vogelflugzeichen berichtet von alten Sagen’. Nun bezeichnet Sage selbst eigentlich ebenfalls ein zeichenobjekt wie Rede, Text oder Erzählung, also das sprachliche Objekt, in dem thema und inhalt transportiert werden. In anderen Belegen tritt es entsprechend genauso wie der Flug der Vögel als Subjekt im ASM 7 (25a) auf. Mit der von-PP bei Kommunikationsverben wird dagegen das Kommunikationsthema spezifiziert, so wie der Untergang in (23a), Gram und Lust in (23b) oder Lust und Mut in (25b).Footnote 31Sage kann selber aber – außer in Metadiskursen über Sagen, die in Vers 4 kaum gemeint sein dürften, – nicht das Thema eines Kommunikationsakts ausdrücken. Die PP von alten Sagen muss hier entsprechend metonymisch revidiert werden zu ‘von Themen (und Inhalten) alter Sagen’.

(25)

(a)

Doch von Trafalgar tönet kaum die Sage, | Und so ist Fluth und Ebbe wetterwendisch. [Johann Wolfgang von Goethe: Übersetzung eines Fragments von Lord Byrons »Don Juan«; von Goethe 1921, S. 583]

(b)

Die frohen Schläge, die sie thut, | Erschallen in die nahen Wälder, | Und tönen nur von Lust und Muth [Friedrich von Hagedorn: »Die Vögel«; von Hagedorn 1742, S. 31]

Nun kann die von-PP aber nicht nur themarollen zum Ausdruck bringen, sondern neben verschiedenen anderen Rollen auch die eines Verursachungsereignisses (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 2151; Cysouw 2023, S. 186) (26a, b). Bei Trakl findet sich auch mit tönen eine solche Verwendung (26c).

(26)

(a)

Das Riesengebirge hallte von Schüssen. [DeReKo: C. Wolf: Gedächtnis und Gedenken; Werke, Bd. 4. – München, 1999, S. 352]

(b)

Die Ebene von Salisbury erzitterte von donnernden Hufen [DeReKo: Süddeutsche Zeitung, 02.07.1999]

(c)

Ach noch tönen von wilden Gewittern die silbernen Arme mir. [Georg Trakl: »Offenbarung und Untergang«; Trakl 1972, S. 95]

Entsprechend erlauben die Sätze in (23b) und (25b) auch, Gefühle wie Gram, Lust und Mut bzw. den Wahnsinn in (27a) als emotionale Ereignisse zu lesen, die das Tönen auslösen.

(27)

ASM 8 – verb(e1, xPARTIZIPANT:NPnom, e2URSACHE:PPvon)

‘Das Ereignis e2 verursacht das Ereignis e1 mit dem Partizipanten x.’

(a)

Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige | Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn. [Georg Trakl: »In ein altes Stammbuch«; Trakl 1972, S. 24]

Das passt auch durchaus zu den Beobachtungen, dass die prophetischen Figuren bei Trakl so wie auch die Dichterfigur selbst wenig agenshaft erscheinen: Sie resonieren mehr, als dass sie sprechen (vgl. auch Abschnitt 4.8; EXZ_Schaefer_02; Wacker 2013, S. 267 f.). Dabei stehen die aus ASM 7 und ASM 8 folgenden Lesarten auch nicht in Widerspruch zueinander: Lust, Gram, Mut und Wahnsinn lösen nicht nur das Tönen aus, sondern das hervorgebrachte »Tönen« bringt genau diese Gefühle auch wiederum zum Ausdruck.

Ohne dass in den Exzerpten diese Lesart angesprochen würde, kann der in Frage stehende Vers also auch durchaus so verstanden werden, dass die »alten Sagen« den Vogelflug als deutbares Zeichen hervorbringen, also »zum Reden bringen« (von-PP als kausal). D. h., die alten Geschichten über die Erkundung des Willens der Götter lassen uns den Vogelflug in seiner Zeichengestalt überhaupt erst wahrnehmen. Der Vers Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen bedeutet dann soviel wie ‘Die Erinnerung an alte Sagen von der Deutung des Vogelflugs verursacht, dass der Flug der Vögel als Zeichen über etwas (nicht genanntes) Zukünftiges erscheint’. Das Inhaltsargument bleibt hier also existenziell gebunden implizit. Da von alten Sagen in dieser Lesart nicht der inhalt oder das thema des Tönens ist, korrespondiert diese Lesart auch mit der Auffassung der Undeutbarkeit des Zeichens (EXZ_Görner_01; EXZ_Thauerer_07; EXZ_Thauerer_08; s. auch Wacker 2013, S. 267) und ist zudem auch nicht mit dem Widerspruch behaftet, der in der anderen Lesart dadurch auftritt, dass der Inhalt prophetischer Zeichen ja üblicherweise nur auf Zukünftiges bezogen sein kann, aber nicht auf »alte« Sagen.

5 Fazit

5.1 Trakl verstehen – Literaturwissenschaftler_innen verstehen

Ich hatte zu Beginn dieses Aufsatzes geschrieben, dass ich nicht versuchen werde, die Bedeutung eines Trakl-Gedichts linguistisch zu rekonstruieren, sondern vielmehr die von Literaturwissenschaftler*innen dazu verfassten Interpretationen als Verstehensberichte. So wie die linguistische Rekonstruktion der Bedeutung eines Trakl-Verses voraussetzt, dass man ihn versteht, setzt auch die linguistische Rekonstruktion eines Verstehensberichts voraus, dass man diesen versteht. Das war allerdings nicht immer der Fall, auch wenn ich im Zuge des Verfassens dieses Aufsatzes viele außerordentlich interessante Beiträge von Literaturwissenschaftler_innen zu Trakl lesen durfte. Als verstehenshinderlich erwies sich, (i) dass mir die Verwendung mancher Termini unklar war, (ii) dass ich einige Aussagen für unverständlich und manchmal auch für sinnlos hielt und (iii) dass Verstehenssätze interpretatorische Sprünge beinhalteten, die ich am Text nicht nachvollziehen konnte. Dies sei hier an den folgenden Verstehenssätzen erläutert (28) – alles unter der Einschränkung, dass meine bestenfalls semiprofessionelle Vertrautheit mit der Literaturwissenschaft auch zu Missverständnissen geführt haben mag, die ich selber zu verantworten habe.

(28)

(a)

EXZ_Matzkowski_01: »Der Flug der Vögel verbindet die bisherigen Naturelemente topographisch mit dem Himmel und kann als Metapher für den (sehnsuchtsvollen) Blick in einen transzendentalen Raum verstanden werden.« (Matzkowski 2011, S. 65)

(b)

EXZ_Schmid_03: »Die Eindringlichkeit dieses Verses rührt nicht zuletzt von der Verbindung eines visuellen (Flug der Vögel) mit einem auditiven (tönt) Eindruck her, was wir mit Synästhesie bezeichnen.« (Schmid 1967, S. 189)

(c)

EXZ_Schmid_01: »[…] so bezeichnet der Aufbruch der Vögel die Unwiderruflichkeit der verflossenen Zeit.« (Schmid 1967, S. 188)

(d)

EXZ_Killy_01: »Die Vögel sind ein Zeichen in der Natur, ein Zeichen, daß sie nicht ganz der Endlichkeit anheimgegeben ist. In reiner Höhe ziehen sie ins Unendliche […].« (Killy 1960, S. 11)

(e)

EXZ_Theuerer_02: »Das Attribut ›alt‹ erinnert an die Altersthematik, die sich im Sinnbild des Herbstes ausdrückt und nicht bloß ein Vorwärtsschreiten in den Verfall ›Des Einsamen‹, sondern in größerem Rahmen das Vergehen einer ganzen Kultur bezeichnet, die auch den Tod des ›Einsamen‹ bedingt.« (Thauerer 2007, S. 295)

(i) Terminologische Unklarheiten: Man mag konzedieren, dass der Vogelflug mit Sehnsuchtsgefühlen assoziiert ist, aber dass – wie Matzkowski (2011, S. 65) schreibt – Flug der Vögel eine Metapher mit der Bedeutung ‘Blick in einen transzendentalen Raum’ ist (28a), lässt den Metaphernbegriff – soweit er nicht expliziert wird – im Unbestimmten verloren gehen. Ähnlich verschwommen bleibt der Synästhesiebegriff bei Schmid (1967, S. 188 f.) in (28b), der ihn an die Verbindung von eher visuell mit eher akustisch wahrnehmbaren Entitäten knüpft. Dass wir Rotkehlchen eher visuell konzeptualisieren und singen eher akustisch, führt in dem Satz das Rotkehlchen singt aber nicht zu einer synästhetischen Verschiebung. Der rhetorische Synästhesie-Begriff gründet auf einer metaphorischen Beziehung zwischen zwei Lesarten eines Ausdrucks, die auf verschiedene Sinnesmodalitäten rekurrieren (z. B. laute Geräusche vs. laute Farben) (vgl. etwa Brogan/Engstrom 1993). Daran gebunden sind oft auch Verletzungen von Selektionsrestriktionen, die zu metaphorisch-synästhetischen Verschiebungen führen und die sich häufiger bei Trakl finden (z. B. Leise tönt die Sonne im Rosengewölk am Hügel, »Frühling der Seele«; Trakl 1972, S. 77). Die lexikalisierte synästhetische Ambiguität von tönen (z. B. die Glocke tönt vs. Haare tönen) wird nun in Vers 4 aber gerade nicht aktualisiert (s. Abschnitt. 4.2) und ist auch wohl von Schmid gar nicht gemeint. Aber auch die tatsächlich metaphorisch-synästhetische Verschiebung von tönen, die auftritt, wenn man Flug der Vögel als nicht-akustisches Zeichen versteht (s. Abschnitt 4.6), ist für die hier von Schmid angesprochene Bewegungslesart des Satzes nicht einschlägig. So bleibt die Aussage in EXZ_Schmid_03 (28b) – und ähnlich auch die in EXZ_Schaefer_03 – linguistisch schwer nachvollziehbar.

(ii) Unverständliche Aussagen: Zum Teil sind mir bestimmte Aussagen unverständlich, wie etwa die von Schmid (1967, S. 188) in (28c). Wenn die Tautologie, dass die verflossene Zeit unwiderruflich ist, etwas mit dem Ausdruck Flug der Vögel zu tun hat, so verstehe ich diesen Zusammenhang nicht; auf keinen Fall jedenfalls »bezeichnet« Flug der Vögel diese Unwiderruflichkeit der verflossenen Zeit. Unklar präsentiert sich auch Killys (1960, S. 11) Aussage in (28d), dass die Vögel, die ins Unendliche ziehen, ein Zeichen dafür sind, dass die Natur »nicht ganz der Endlichkeit anheimgegeben ist«. Zum einen ziehen die Vögel ja in ihre Winterquartiere, so dass unendlich hier eine wie immer geartete metaphorische Umdeutung verlangt. Zum anderen geht es bei der vermeintlichen Endlichkeit der Natur ja nicht um eine räumliche Begrenzung, sondern um die botanischen Verfallsvorgänge im Herbst, von denen im Übrigen Zug- und Standvögel gleichermaßen nicht betroffen sind.

(iii) Interpretatorische Sprünge: Verschiedentlich werden semantische Bezüge im Text postuliert, die linguistisch nicht zu rekonstruieren sind, so etwa wenn das Attribut alt zu Sagen nicht nur die Sagen zeitlich einordnet, sondern vermeintlich, so Thauerer (2007, S. 295) in (28e), gleichzeitig »das Vergehen einer ganzen Kultur bezeichnet, die auch den Tod des ›Einsamen‹ bedingt«. Das ist semantisch-pragmatisch aus dem Vers nicht herzuleiten und erscheint einem Linguisten wie eine freie Improvisation zum Gedicht, die ausgehend von einer Hypothese (zum Beispiel zum Fin-de-Siècle-Kulturverfall) auf der Suche nach Evidenz beliebig lexikalisch im Text wildert (alt steht in irgendeiner vagen Beziehung zu Verfall), ohne der strukturellen Einbindung von Lexemen (alt als Attribut zu Sagen) noch irgendeine Beachtung zu schenken.Footnote 32

Auch jenseits dieser problematischen Fälle ist hinsichtlich der analysierten Exzerpte zu konstatieren, dass die Beobachtung, dass ein sprachlicher Ausdruck eine bestimmte Bedeutung hat (oder haben könnte), üblicherweise nicht von Überlegungen begleitet wird, wie sich denn erklären lässt, dass wir den Ausdruck eben genau so verstehen, d. h., wie er sich in generalisierbarer Weise auf die Interaktion von sprachlichem und kontextuellem Wissen zurückführen lässt. Dass Linguistinnen so etwas interessiert, Literaturwissenschaftler aber Anderes wissen wollen, liegt wohl in der Natur der unterschiedlichen Disziplinen, die eben mehr durch den Gegenstand als durch das Erkenntnisinteresse verbunden sind.

5.2 Argumentstrukturmusteramalgamierung

Eine zentrale Folgerung aus den Analysen in Abschnitt 4 ist, dass das Verstehen der komplexen und changierenden Bedeutung des Satzes Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen im Wesentlichen auf zwei Typen von Prozessen zurückzuführen ist, erstens auf semantische und pragmatische Prozesse der Bedeutungskonstitution der Einzelkonstituenten, zweitens auf die Amalgamierung verschiedener Argumentstrukturmuster.

Schon den einfacheren der Interpretationsvorgänge in den Exzerpten liegt eine oft komplexe Folge unterschiedlicher Verstehensvorgänge zu Grunde, die das explizit Gesagte modifizieren und ergänzen. Das sei hier noch mal an der Bedeutung von Flug der Vögel illustriert (29).

(29)

(a)

Kernbedeutung von Flug der Vögel:

> ‘Flug der Vögel Richtung x

(b)

Expansion der Bewegungslesart:

kontext- und weltwissensgestützte Referenzspezifizierung

> ‘Zug der Zugvögel Richtung x

Explikatur zur Argumentstellenfüllung von Flug:

> ‘Zug der Zugvögel Richtung Süden’

Konnotation zu Süden:

> ‘Zug der Zugvögel Richtung Süden, d. h. eines angenehmen Ortes’

(c)

Metonymiegesteuerte ontologische Umkategorisierung:

> ‘Flug der Vögel Richtung x als deutbares Zeichen’

Semantische und pragmatische Expansions‑, Disambiguierungs‑, Assoziations- und Revisionsprozesse interagieren dann mit der Aktualisierung von Argumentstrukturmustern, die aufgrund ihrer Beschränkungen bestimmte Bedeutungen ihrer Konstituenten erwarten lassen; z. B. verlangt das ASM 7 die Bedeutung von Flug der Vögel als zeichenobjekt zu verstehen. Die Argumentstrukturmuster wiederum zeigen in ihrer Neigung zur Amalgamierung starke Ambiguisierungstendenzen beim Verstehen von Vers 4. Als Argumentstrukturmusteramalgamierung sei die gleichzeitige Aktualisierung mehrerer Argumentstrukturmuster zu einem Ausdruck verstanden, die, statt zu einer Monosemierung zu führen, eine ambige Interpretation des Satzes hervorrufen.

Die drei elementaren Bedeutungen von Vers 4 lassen sich nun etwa so beschreiben – mit einigen Interpretationsalternanzen in Klammern (30):

(30)

(a)

‘Der Flug (im Falle von Zugvögeln nach Süden / zu einem angenehmen Ort, einem Sehnsuchtsort) der (freien, reinen, anmutigen) Vögel verursacht ein tönendes Geräusch (etwa durch das Flügelschlagen und eventuell begleitende Schreie).’

(b)

‘Der Flug der Vögel (eventuell als Götterboten), verstanden als Zeichen, berichtet von alten Sagen / Legenden (über die antike Vergangenheit oder über das frühe Christentum).’

(c)

‘Die Erinnerung an alte Sagen (über frühe Praktiken der Wahrsagerei) verursacht, dass der Flug der Vögel als ein prophetisches Zeichen über etwas nicht genanntes Zukünftiges erscheint.’

Wenn mehrere Argumentstrukturmuster zu einem Prädikat aktiviert werden, sollte man erwarten, dass sich letztlich – kontextuell gestützt – eines davon zur Sicherstellung eines nicht ambigen Satzverständnisses durchsetzt. Das ist hier aber nicht der Fall. Trotzdem resultiert daraus weder eine verständisblockierende, widersprüchliche Mehrdeutigkeit noch eine allegorieähnliche Parallelinterpretation. Der Eindruck des – um es metaphorisch auszudrücken – Changierenden und Vibrierenden in Vers 4 entsteht dadurch, dass die Bedingungen keines der drei zentralen Argumentstrukturmuster vollständig erfüllt werden. Das Geräuschverbmuster ASM 1, das (30a) zugrunde liegt, mündet bei inkrementellem Strukturaufbau aufgrund des nicht lizenzierten themaarguments von alten Sagen in einen anakoluthischen Strukturbruch. Das Kommunikationsmuster ASM 7 beinhaltet zwar ein entsprechendes Argument für das zeichenobjekt (Sagen), das wiederum ein inhalts- oder themaargument selegiert, lässt aber, verbunden mit der Zeichenlesart von Flug der Vögel und der dadurch getriggerten Prophezeiungsbedeutung von tönen, einen Sachverhalt erwarten, der anders als alte Sagen in der Zukunft verortet werden kann. Und das Kausativmuster ASM 8 verlangt in der von-PP ein ereignishaftes Argument, so dass alte Sagen etwa als ‘Erinnerung an alte Sagen’ verstanden wird; das muss hier aber erst durch eine metonymische Verschiebung hergestellt werden (zeichenobjekt > erinnerung an zeichenobjekt), die durch übliche metonymische Muster allerdings nicht gut gestützt ist. Die Ambiguierung des Verses bleibt also trotz der sprachlichen Manipulationen, die Trakl vornimmt, linguistisch rekonstruierbar.

5.3 Sprachliche Komplexität statt sprachlicher Abweichung

Der Aufsatz soll hier schließen mit der auf der Basis der Analyse eines einzelnen Verses gründenden und insofern geradezu abenteuerlich anmutenden Generalisierung, dass sich Interpretationsaussagen in literaturwissenschaftlichen Texten sehr wohl weitgehend linguistisch rekonstruieren, d. h. auf etablierte sprachliche Strukturen und Verfahren zurückführen lassen. Die Argumentation in dem vorliegenden Artikel will insofern auch einen Beitrag zur Falsifizierung oder zumindest Einschränkung der sogenannten Abweichungstheorie vorlegen, derzufolge die in literarischen Texten im Allgemeinen und in Gedichten im Besonderen verwendete Sprache von der Sprache in anderen Textsorten abweicht.Footnote 33 Die im Vorangehenden durchgeführten Analysen basieren auf Konzepten, Strukturen und Prozessen, wie man sie aus linguistischer Sicht auch für die Analyse alltagssprachlicher Äußerungen annehmen würde. Die Besonderheit von Gedichten liegt dabei in der Komplexität der Anwendung sprachlicher Verfahren, sei es, dass Ketten von Revisions‑, Expansions- und Assoziationsprozessen über einzelnen Konstituenten durchgeführt werden oder dass Ambiguierungen durch den Aufbau verschiedener, parallel aktualisierter Strukturen erzeugt werden.