1 Verständigung von Vögeln und Menschen: Mittelalterliche Horizonte

Mit besonderer Häufigkeit treten Vögel in mittelalterlicher Literatur als Boten in Erscheinung und bedienen sich dabei unterschiedlicher Kommunikationsformen, die außer dem reinen Gesang und der sprachlichen oder sprachanalogen Artikulation auch Bewegungsabläufe beinhalten können. Wenn Vogelboten überdies Wissen vermitteln, das menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten übersteigt, oder Tätigkeiten jenseits menschlicher Handlungsfähigkeit übernehmen, zeichnen sich Grenzüberschreitungen der vorausgesetzten Ordnungen, insbesondere der Tier/Mensch-Differenz ab. In solchen Szenarien der Vogel-Mensch-Kommunikation vervielfältigen sich die Sinnbezüge und Deutungsmöglichkeiten. Eingelassen sind literarische Figurationen von Botenvögeln in ein komplexes kulturelles Umfeld heterogener Diskurse, das der erste Teil des Beitrags beleuchtet. Die anschließenden Analysen literarischer Texte – Kudrun, Mönch Felix, Lai de l’oiselet, Münchener und Wiener Oswald – konzentrieren sich auf die resultierenden Formen von Mehrdeutigkeit, die Grade und Grenzen der Anthropomorphisierung sowie die transgressiven und transformativen Effekte, die der Kommunikation von und mit Vögeln jeweils abgewonnen werden.

Die besonderen Dynamiken erzählter Begegnungen zwischen Vögeln und Menschen gehen aus vormodernen Deutungsmustern hervor, die Tier-Mensch-Relationen und -Differenzen grundsätzlich anders konzipieren als Kulturen nach der Aufklärung. Wesentlich dafür ist das religiöse Weltbild, denn die biblische Schöpfungsgeschichte kulminiert in der Unterwerfung aller lebendigen Geschöpfe unter die Herrschaft des Menschen auf der Grundlage seiner Gottebenbildlichkeit (Gen. 1, 28). Allerdings geht die christlich-religiöse Auffassung von Tieren im Mittelalter nicht in Herrschaftsgesten auf, denn alle Lebewesen sind Teil eines unermesslichen Ganzen, dessen großer Sinn menschlicher Erkenntnis nie vollständig ergründlich sein kann. Tiere sind, wie alles Geschaffene, Zeichen im ›Buch der Natur‹,Footnote 1 das in mannigfaltiger – oft erstaunlicher, bestürzender oder rätselhafter – Artikulation auf transzendente, im Materiellen nie völlig entschleierte Wahrheit verweist: »Dem Paradigma des lesbaren Buches ist […] immer schon das Problem der Unlesbarkeit oder Unverständlichkeit eingeschrieben« (Al-Taie 2022, S. 386).Footnote 2 So tut sich auch im religiösen Weltverständnis ein Spannungsfeld auf, das von der Klassifikation und Beherrschung tierlicher Existenzweisen bis zur Teilhabe aller Geschöpfe am Mysterium des Schöpfungsplans reicht und immer die Möglichkeit des regelverletzenden, grenzüberschreitenden Wunders miteinschließt. Der christliche Gott zeigt sich zwar, anders als antike Gottheiten, nicht in Tiergestalt, doch schon das siebenäugige, siebengehörnte Lamm der Johannes-Offenbarung (Apoc. 5, 6–8; vgl. Jo 1, 29) setzt mit der Schau eines unergründlichen Mysteriums den Auftakt für Repräsentationsverhältnisse, die vielfache Entschlüsselungsprozesse anregen, ohne aber die Tier-Erscheinung restlos in Sinnzuschreibungen auflösen zu können.

Wenn sich bei der Jordantaufe Jesu »der Geist wie eine Taube« vom Himmel niederschwingt (Mk 1, 10),Footnote 3 ist damit der Grundstein für die verbreitete Verkörperung des Heiligen Geists als Taube gelegt. Mehrdeutig bleibt an dieser Stelle die Verbindung von Geist und Vogel: Ist an eine materielle Verähnlichung in Gestalt, Färbung oder Flugverhalten zu denken, oder ist das Taubenhafte des Spiritus bloß verdeutlichende Sprachfigur des Evangelisten? Die mittelalterliche Ikonographie konkretisiert den Geist der Jordantaufe jedenfalls in vielfachen Bildzeugnissen als Taubenvogel,Footnote 4 dessen Gestalt auch in Verkündigungsbildern über Maria schwebt.Footnote 5 Im geflügelten Boten materialisiert die heilsstiftende Verbindung zwischen Erde und Himmel.

Die tierliche Teilhabe am Welt gewordenen Sinnganzen beinhaltet eine Zeichenhaftigkeit, die lebendige Materialität mit Lehrsätzen, Abstracta und Transzendenzbezügen verknüpft. So dienen auch »Vögel […] als symbolische Mediatoren, übernatürliche Zeichengeber, sind nicht bloß natürliche Phänomene« (Ingensiep 2020, S. 222). Nirgends ist das deutlicher als im ältesten christlichen Tierbuch, dem Physiologus. Von der altgriechischen Frühform des 2. Jhs. spannt sich über lateinische und volkssprachliche Übertragungen, Bearbeitungen und Erweiterungen eine Traditionslinie, die bis zu den mittelalterlichen Bestiarien reicht.Footnote 6 Im Physiologus haben neben Vögeln der alltäglichen Lebenswelt auch mythologische Geschöpfe wie die vogelhaft hybride Sirene oder der unsterbliche Phönix Platz. Weniger bekannt ist der griechisch Charadrius, lateinisch Caladrius, mittelhochdeutsch meist Galander genannte Vogel.Footnote 7 Von ihm berichtet der Physiologus, dass er an Kranken erkennen könne, ob sie genesen oder sterben werden. Von den Sterbenskranken wendet er sein Gesicht ab.

Wenn aber die Krankheit zum Leben ist, blickt der Charadrius den Kranken fest an und der Kranke den Charadrius, und dann schluckt der Charadrius die Krankheit des Kranken hinunter und fliegt in die Himmelsluft und verbrennt die Krankheit des Menschen und verstreut sie […]. (Altgriechischer Physiologus in der Übersetzung von Treu 1981, S. 10)

Eine mittelhochdeutsche Strophe des Meißners der Jenaer Liederhandschrift (13. Jh.) betont das Wissen des VogelsFootnote 8 um das Geheimnis der Krankheit (IV: 5, 8: des suche tougen), die er dem Patienten aussaugt. Zu den gestisch artikulierten, prognostischen Fähigkeiten des Vogels tritt seine unerklärte heilende Kraft, die ihrerseits ohne den hohen Flug nicht denkbar wäre. Die physische Heilung des Kranken wird in der Ausdeutung des Physiologus soteriologisch gewendet, denn der weiße Charadrius steht nun für Christus als Erlöser, der durch seinen Kreuzestod »alle Schwächen und Fehler [heilte]« (Treu 1981, S. 10). Das Vogelsein des Charadrius ist in dieser Darstellung jedoch nicht dematerialisiert. Seine Heilkraft beschränkt sich nämlich nicht auf das geheimnisvolle Zusammenspiel von Prognostik, Blickwechsel und Flug, sondern manifestiert sich auch passiv in seinen Ausscheidungen: »sein Kot heilt trübe Augen« (Treu 1981, S. 9).

Das Beispiel des Charadrius zeigt eine symptomatische Kombinatorik unterschiedlicher Diskurse, Traditionszusammenhänge und Wissensfelder: Heil- und naturkundliche Wissensbestände treten in Verbund mit biblischer und antiker mythologischer Überlieferung, um in christliche Allegorese überführt zu werden. Mittelalterliche Wahrnehmungen und Darstellungen der Tierwelt weisen eine ebensolche Heterogenität auf: Theologie, Naturkunde, Medizin und Literatur greifen auf vielfältige Überlieferungen zu, die unvermittelt nebeneinander treten oder einander überlagern und amalgamiert werden können.Footnote 9 Ein aufschlussreiches Beispiel dafür bieten die unterschiedlichen Formen, Vögel als Träger und Übermittler von Zukunftskenntnissen zu begreifen: Dazu gehören Begegnungen in einer spezifischen raumzeitlichen Konstellation (›Angang‹) sowie die Deutung von Vogellauten und Vogelflug.

Die institutionalisierte römische Praxis der Vogelschau (Auspizien oder Augurien), die dem Flugverhalten Zukunftswissen abliest,Footnote 10 wird im Frühchristentum skeptisch reflektiert und in großen Teilen zurückgewiesen. Generelle Ablehnung richtet sich auf die vielfältigen divinatorischen und mantischen Praktiken, die in christlicher Sicht immer die Kooperation mit Dämonen beinhalten können. Auch die mögliche Einflussnahme dämonischer Wesen auf die Vögel wird erwogen, zumal beide – wie bereits der Kirchenvater Augustinus festhält – gemeinsam die Lüfte bewohnen.Footnote 11 Weiterhin stellt sich die Frage, woher Vögel derart überlegene Kenntnisse der Zukunft beziehen könnten. Celsus hatte dies vorausgesetzt, Origenes weist diese Auffassung in seiner Streitschrift Contra Celsum (um 244–249 n. Chr.) zurück.Footnote 12 Bei allen energischen Bestrebungen der (früh‑)christlichen Theologie, sich klar gegen die divinatorischen Praktiken der römischen Kultur abzugrenzen, sind jedoch auch Durchlässigkeiten zu verzeichnen. Dass sich in Vogelflug und VogellautenFootnote 13 tatsächlich Zukünftiges zeigen kann, wird von späteren Autor*innen durchaus vertreten. Die Beobachtung signifikanten Vogelverhaltens empfiehlt – trotz Augurienablehnung – Johannes von Salisbury im Policraticus (um 1159): Man solle auf eine für Omen günstige Stunde warten, denn in allem sei auch ein anderes präsent (omnia namque sunt aliquid); die verborgene Zukunft könne daher durch jene Vögel, die man Omen (oder Ominavögel) nennt, vorhergesagt werden.Footnote 14 Daran schließt sich die Aufforderung an:

Lausche eifrig dem, was die Krähe sagt, und missachte nicht ihre Stellung, wenn sie sitzt oder fliegt. Es kommt nämlich sehr darauf an, ob sie auf der rechten oder der linken Seite sitzt, in welcher Position sie auf den Ellenbogen des Vorbeigehenden zurückschaut, ob sie redselig ist oder lärmt oder völlig still bleibt, ob sie vorausfliegt oder folgt, auf das Näherkommen eines Vorübergehenden wartet oder flieht, und wohin sie entschwindet.Footnote 15

Signifikanz erlangt neben den Lautäußerungen die relative Position des Vogels zum Betrachter sowie seine Bewegungen und Flugrichtung. Die Beschreibung entspricht darin der Konstellation eines ›Angangs‹,Footnote 16 eines unkontrolliert zu Beginn eines Wegs oder einer Unternehmung sich einstellenden Vorzeichens – beispielsweise in Gestalt eines Vogels. Dazu fehlt in Johannes’ Beschreibung allein der spezifische Zeitpunkt des Beginnens, der die relativen Ortsbezüge ergänzt. Die Bedeutsamkeit einer derartigen Begegnung, die sich zwischen der Beweglichkeit des Vogels und menschlicher Beobachtung entfaltet, ist jedoch nicht religiös-theologischen Parametern, sondern magischem Denken verpflichtet. Aufgrund der vielfältigen Faktoren, die es je zu berücksichtigen gilt, eignet dem ›Angang‹ eine konstitutive Mehrdeutigkeit, die erst in der konkreten Vogelbeobachtung punktuell aufgelöst werden kann.Footnote 17

An anderer Stelle argumentiert Johannes von Salisbury weniger aus theologischer als aus neuplatonisch-naturwissenschaftlicher Perspektive,Footnote 18 wenn er den Vögeln besondere Kenntnis der Geheimnisse der Natur (II, 2, 417b: archana naturae) zuschreibt, die ihnen aufgrund der Nähe zu bestimmten Elementen zufällt. Daher lassen sich ihrem Verhalten auch kurzfristige Wetterprognosen ablesen: ›Wenn du siehst, wie Wasservögel eifrig ins Wasser tauchen, erwarte Regen. Wenn du den Ruf der Krähe am Morgen hörst, verlangt sie nach Regen‹.Footnote 19

Die ritualisierten divinatorischen Praktiken der römischen Kultur werden also unter Dämonenverdacht gestellt, oft in die Nähe der Magie gerückt oder mit ihr identifiziert und unterliegen Verboten,Footnote 20 weshalb sie auch in Bußkatalogen auftauchen (vgl. Harmening 1979, S. 86–89). Klerikale Diskurse arbeiten an einer Grenzziehung, die den mantischen Spezialisten (im Fall der Vogelschau: den Auguren) als Repräsentanten des Fehlglaubens ausgrenzt. Andererseits eröffnen bedeutsames Vogelverhalten oder ›Angang‹ durchaus Zugänge zu gegenwartsüberschreitender Erkenntnis. Den Vögeln selbst werden Sonderwissen und Erkenntnismöglichkeiten zugestanden, die auf Gott oder die Konstellation der Elemente zurückgeführt werden können, mitunter aber als schlichte Fakten ohne nähere Begründung benannt werden. Nach Hildegard von Bingen, deren Physica (um 1150–1160) ein Buch über die Vögel enthält, ist der Geier »gewissermaßen der Prophet unter den Vögeln« (et inter alias volucres velut propheta est).Footnote 21 Von der Eule berichtet Hildegard: »Sie weiß, wann ein Mensch stirbt. Wo Trauer und Klage statthaben werden, spürt sie den Geruch davon in der Luft wie ein anderer Vogel das Aas und eilt unverzüglich herbei«.Footnote 22 Besonders eindrücklich fällt ihre Darstellung des Vogels sisegoume oder ›Pelikan‹ aus:

Er spürt auch die fröhlichen und die traurigen Phasen eines Menschen und erkennt sie; denn in der fröhlichen Phase freut er sich mit ihm und singt, in der traurigen zeigt er seine Trauer, indem er schweigt. Wenn er bisweilen mit der Erde zugewandtem Rücken in der Luft schwebt, blickt er in die Luft und macht sich Gedanken, wann Zeiten der Freude und des Frohsinns oder wann Zeiten der Trauer eintreten werden. Wenn er voraussieht, daß dort Menschen sterben werden, zeigt er das mit wenigen Lauten an und schweigt dann.Footnote 23

Die empathische Grundhaltung des Vogels wirkt sich unmittelbar auf seinen Gesang aus, doch erschließt Hildegards Schilderung darüber hinaus eine innere Gedankenwelt, die in Vorauswissen mündet und eine spezifische Artikulationsform hervorbringt. Der sisegoume gewinnt seine unerklärten Kenntnisse nicht als abstraktes Zukunftswissen, sondern infolge von Reflexion (considerat) und einer sensiblen Wahrnehmung menschlicher Befindlichkeit, die an den Vogel Charadrius erinnert.

Wenn Vögel Menschen Zeichen geben und Zukunftswissen übermitteln – ob unabsichtlich wie beim ›Angang‹ oder gezielt wie im Fall des sisegoume –, kann dies auch sprachliche Form annehmen. Ein erstaunliches Beispiel kolportiert Thomas von Cantimpré im Liber de natura rerum (1240) im Abschnitt über den Papagei (psittacus), der ›von Natur aus eine gewisse Stimme hat, mit der er die Caesaren zu grüßen scheint‹:

Daher geschah es, dass Karl der Große, als er die griechische Wüste durchquerte, Papageienvögeln begegnete, und sie begrüßten ihn wie in griechischer Sprache rufend: Leb wohl, Kaiser. Deren Worte erfüllten sich wie die Mitteilung einer gewissen Prophezeiung, denn Karl war zu dieser Zeit nur König von Gallien, wurde aber in der folgenden Zeit Kaiser der Römer.Footnote 24

Dass Papageien (ebenso wie einige andere Vogelarten) die menschliche Sprache imitierend erlernen können, ist naturkundlicher Wissensbestand, der im Physiologus ebenso Erwähnung findet wie in Plinius’ Naturalis historia (X, 117) und in der Enzyklopädie Isidors von Sevilla, der zufolge der psittacus von Natur aus mit dem Wort Ave grüßt. Während der Physiologus mehrdeutig formuliert – »er kann die Stimmen von Menschen nachahmen, er spricht auch selbst in gleicher Weise und unterhält sich wie ein Mensch« (Treu 1981, S. 105 f.) –, besteht Isidor auf einer erlernten Reproduktion von Lauten. Allerdings gelinge dem Vogel die Imitation so vollendet, »dass man, wenn man ihn nicht sieht, glauben würde, ein Mensch spreche« (Enzyklopädie XII, VII, 24).Footnote 25 Gegen solche Einschätzungen hebt sich die Anekdote bei Thomas von Cantimpré gleich in zweierlei Hinsicht ab: Einerseits wählen die Papageien selbständig einen (faktisch nicht zutreffenden) Gruß, womit sie andererseits Zukünftiges korrekt vorhersagen. Die bloße Sprechfähigkeit der Vögel, ihre Imitationskunst, bauen literarische Texte mitunter zur Sprachfähigkeit aus,Footnote 26 doch kann diese Differenz auch im gelehrten Diskurs – wie Thomas’ Beispiel zeigt – merklich verschwimmen. Die Formulierung, dass die Papageien ›wie in griechischer Sprache‹ (quasi Greca lingua) artikulieren, gibt eine Unsicherheit darüber zu erkennen, ob es sich um eine Aneignung menschlicher Sprache oder um eine wundersame Annäherung ureigener Vogelrufe an den griechischen Gruß handelt.

Dass Vogellaute, -rufe und -gesang als selbständige tierliche Sprache gedacht werden können, zeigt die Begriffsbildung ›Vogellatein‹, die seit dem frühen Trobador Cercamon (um 1137–1149) in provenzalischer und altfranzösischer Lyrik geläufig ist. ›Latein‹ steht dabei generisch für eine »jedem Wesen und jedem Stande eigene, anderen unverständliche Ausdrucksweise«, womit dem Begriff die Perspektive der Laien auf die unzugängliche Sondersprache des Klerus eingeschrieben ist.Footnote 27 Zugleich zeichnet sich darin eine Übergängigkeit von Sprache und Gesang ab, die eine künstlerische Aktivität von Vögeln nahelegen kann.Footnote 28 In der Naturalis historia schildert Plinius zuerst ausführlich die Gesangstechnik der Nachtigallen, die Variationsbreite der erzeugten melodischen Klänge und betont anschließend, dass es sich wirklich um Kunst (perfecta musica scientia, ars) handle: »Jede einzelne Nachtigall verfügt über mehr als eine Melodie, und diese sind nicht bei allen gleich, sondern jede hat ihre eigenen« (Plinius 2008, X, xliii, 82).Footnote 29 Ästhetische Wertschätzung des Vogelsangs und Fragen nach seinem Kunstcharakter führen in der mittelalterlichen Lyrik zu einer Fülle poetischer Vogel-Mensch-Konfigurationen,Footnote 30 die als Abgrenzung, Kontrastbildung, Parallelführung, Stellvertretung oder Identifikation menschlicher und gefiederter Sänger in Erscheinung treten können. Die Liedkunst der Vögel gibt zudem Anlass zu gesangspoetologischer Positionierung und Reflexion (vgl. Hochkirchen 2015, S. 206–220). Poetische Imitationen von Vogellauten und -gesängen in Rufen und Refrainzeilen erzeugen ›unsemantische Präsenzeffekte‹ und dienen mitunter zur Inszenierung einer Überschreitung von Diskursgrenzen oder Realitätsebenen (vgl. Hochkirchen 2015, S. 54–58, S. 254–258). Mit der Konzentration auf ästhetische Klangdimensionen rückt zudem eine Eigenheit der Artikulationsmöglichkeiten von Vögeln in den Vordergrund, deren ›Gesangssprache‹ auch abseits intelligibler Mitteilungen über beeindruckende Qualitäten verfügt.

Dass Vögel auch untereinander (sprachlich) kommunizieren, ist dem Begriff des ›Vogellateins‹ implizit, doch wird auf dieser Grundlage kaum jemals reflektiert, wie sich Vögel untereinander über Menschen verständigen könnten. Eine Ausnahme bildet der Austausch zwischen Rabe und Adler, die im altenglischen Beowulf als ›Tiere des Schlachtfelds‹ Anteil an einer düsteren Zukunftsprognose jenes Boten haben, der die Nachricht von Beowulfs Tod an die Gauten überbringt: ›Aber der schwarze Rabe, begierig über den Todgeweihten, vieles sprechend, wird dem Adler sagen, wie er ihn beim Schmaus übertraf‹ (Z. 3024b–3026b: ac se wonna hrefn | fus ofer fægum fela reordian, | earne secgan hu him æt æte speow). Menschliche Leichname werden zur Speise der Aasvögel, deren Vitalität scharf mit dem künftigen Niedergang der Gauten kontrastiert.Footnote 31 Der Austausch der Vögel überwindet Artengrenzen, erschließt sich menschlichem Verständnis jedoch nur in der indirekten Wiedergabe, explizit als Übersetzung, die nicht jedes Detail einzufangen vermag.Footnote 32 Der Rabe spricht Vieles (fela reordian), das sich menschlichem Verständnis entzieht: Diese letzte Unübersetzbarkeit markiert nicht einen Mangel an sinnvollem Inhalt, sondern die Grenzen menschlicher Erkenntnis und Zugangsmöglichkeiten.

Dennoch ist den bislang durchmusterten Stellungnahmen und Beschreibungen von Vogelkommunikation eine prinzipiell anthropozentrische Perspektive gemeinsam. Bedeutsamkeit und Bedeutungen der durch Flug, Verhalten, Gestik, Laute oder Sprache übermittelten Botschaften ergeben sich aus ihrer Relevanz für menschliche Erkenntnis und Orientierung: von Wetterprognosen über die Diagnostik am Krankenbett und die Vorhersage künftiger Ereignisse bis hin zu den Formen symbolischer Wertschöpfung in lehrhafter Auslegung. Diese anthropozentrische Fokussierung unterscheidet sich jedoch erheblich von durchgreifender Anthropomorphisierung, die typisch und konstitutiv für literarische Textgenres wie Tierepen, -fabeln oder VogelparlamenteFootnote 33 ist: Tierkörper dienen darin als bloße Verhüllung menschlicher Haltungen und Dispositionen. Derartige Tiermaskeraden repräsentieren einen Pol im weit gefächerten Spektrum anthropomorpher Markierungen und Übertragungen, das sich anhand der Tierbegleiter der Erzählliteratur, von der Hagiographie bis zum Artusroman, weiter auffächern ließe. Prominentestes Beispiel ist der Löwe, der im frühen Artusroman des 12. Jhs., in Chrétiens Yvain ou le Chevalier au lion und Hartmanns Iwein, dem ritterlichen Titelhelden folgt und sich im Kampf für ihn einsetzt (vgl. dazu Kraß 2017). Hierarchische Gefolgschaftsverhältnisse zwischen adligen Protagonisten und ihren Tierbegleitern sind den menschlichen nachmodelliert und auch deswegen durch wechselseitige Zuneigung und freundschaftliche Verbundenheit geprägt, so dass Treue und Freundschaft des Tiers unter anderem soziale Defizite kompensieren können (vgl. Klinger/Kraß 2017, S. 27 f.).

Die Verfahren der Anthropomorphisierung sind in mittelalterlichen Kulturen und Literaturen jedoch nicht zu trennen von der Fülle der Animalisierungen, die Grenzziehungen nicht von den Grenzüberschreitungen (vgl. grundlegend Friedrich 2009). Im Adel sind Formen semiotischer Aneignung tierlicher Attribute verbreitet, besonders in Namensgebung und Heraldik,Footnote 34 die bis zur Überformung des Ritterkörpers reichen können, wenn etwa die Helmzier, mit plastischen Vogel- oder Tierköpfen geschmückt, den menschlichen Kopf überragt. In der weltlich-adligen Literatur schaffen »animalische Identifikationen« einen »Fluchtraum« (Friedrich 2009, S. 192)Footnote 35 gegenüber den steten Mahnungen des klerikalen Diskurses zur Disziplinierung und zur Vernunftherrschaft über den menschlichen Körper, der sonst der Verwilderung und Verähnlichung mit dem Tier anheimfallen könnte. In der adlig-literarischen Selbstwahrnehmung kann das Tier dagegen als »Medium feudaler Identitätsstiftung« (Friedrich 2009, S. 191) fungieren. Anders ausgerichtet sind poetische Verähnlichungen in der Lyrik, denn die Affinität von Sänger-Ich und Vogel kann sich zur »Komplizenschaft« steigern, wenn die »performative Kraft« des Vogelgesangs imaginierte oder tatsächliche Aufführungssituationen intensiviert und mitgestaltet (Hochkirchen 2015, S. 251, vgl. S. 250).

Den anthropomorphisierenden Grenzüberschreitungen, wie sie in literarischen Imaginationen von Tierbegleitern und innigen Tier-Mensch-Verhältnissen auftreten, sind weiterhin die Möglichkeiten des Gestaltwandels gegenüberzustellen, die vor- und außerchristlichen Mythologien entstammen. Für die mitteleuropäische Erzählliteratur noch prägender als Ovids Metamorphosen sind keltische und altnordische Stoffe, die den Wechsel zwischen menschlicher und tierlicher Gestalt zuerst außermenschlichen Wesen zuschreiben: so etwa die andersweltlichen sídhe der altirischen Literatur, die menschlichen Protagonist*innen als Vögel begegnen,Footnote 36 oder die valkyrjur der altnordischen Überlieferung, die zwischen menschlicher und Vogel-Erscheinung wechseln.Footnote 37 Im Zentrum der Verserzählung Yonec, die keltisch-bretonische Motive adaptiert, steht mit Muldumarec ein Protagonist, der mühelos zwischen Menschen- und Vogelgestalt hin- und herwechselt. Verfasst hat diese Dichtung Marie de France, deren Lais (um 1165–1175) Vögeln wiederholt prominente Stellung einräumen.Footnote 38 In Yonec bleibt der Ursprung der erstaunlichen Fähigkeiten Muldumarecs ebenso offen wie die Frage, ob seine Habicht- oder seine ritterliche Menschengestalt ursprünglicher ist oder aber beide ineinandergreifend seine Identität bestimmen.Footnote 39 Muldumarec betont allerdings das adlige Wesen des Habichts (v. 122: gentil oisel ad en ostur) und suggeriert so eine der feudalen Ordnung analoge Hierarchie in der Tier- oder Vogelwelt.Footnote 40 Im weiteren Verlauf führt seine Demonstration der Rechtgläubigkeit zu einer mehrdeutig schillernden Performance des Gestaltwandelns, die auch Geschlechtergrenzen überschreitet.Footnote 41 Seine Geheimnisse teilt Muldumarec nicht mit seiner Geliebten (v. 123: li segrei vus sunt oscur), und die Erzählung selbst eröffnet sie ebenso wenig. Diese bleibende Unzugänglichkeit ließe sich, da sie mit der Vogel-Erscheinung verknüpft wird, in ähnlicher Weise wie die unübersetzten Rabenreden im Beowulf als Signatur unverfügbaren tierlichen Andersseins lesen.

Als anderes Ende des Spektrums stellt sich zunächst die mittelalterliche Praxis der Vogelhaltung dar, die vorrangig der Versorgung mit Nahrung und weiteren Materialien (z. B. Federn, Daunen) oder der Abrichtung für spezifische Zwecke (wie die Jagd) dient. Doch auch die Wertschätzung des Vogelgesangs sowie die Freude an der Schönheit von Gestalt und Gefieder begründet die Haltung von Vögeln. Besonders im Bereich der Beizjagd, die als adliges Privileg zu den Praktiken ständischer Identitätsbildung gehört, zeigt sich eine Überlagerung beider Motivationen zur Vogelhaltung. Entsprechend führt der Sachsenspiegel, ein Rechtsbuch des 13. Jhs., Tiere und Vögel auf, die men mer dor lust holt wenne dor nuth (Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht 2002, Buch’sche Glosse III 47 §2), differenziert also zwischen lust und Nutzen als Haltungsgründen. In der ersten Gruppe erscheinen Singvögel gemeinsam mit Jagdvögeln und -hunden, für die im Fall gewaltsamer Wegnahme jeweils ein gleichwertiges Exemplar als Ersatz zu leisten ist: Singende voghele vnde klemmende, vnde wynde vnde hissehunde vnde bracken mach men gelden mit ereme gheliken, de also ghud sy (Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht, Buch’sche Glosse III 47 §2). Für andere deere vnde voghele (Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht, Buch’sche Glosse III 51 §1) ist dagegen Wergeld in unterschiedlicher Höhe zu entrichten, z. B. für Enten, Gänse und Hühner.Footnote 42

Jagdvögel sind ebenso wie Singvögel in den Menagerien adliger Höfe zu finden. Zum Tierbestand Kaiser Friedrichs II. gehörten, neben Elefanten, Löwen, Affen und Bären, Greifvögel und Ziervögel wie Papageien (vgl. Giese 2008, S. 124–126). Auch für andere Adelshöfe ist die Haltung von Jagd‑, Sing- und sprechenden Vögeln dokumentiert. Aus Rechnungsbüchern geht hervor, dass der französische König Karl VIII. Papageien kaufte, ebenso wie Abdeckungen für Vogelkäfige, in denen sich Turteltauben sowie eine weiße AmselFootnote 43 befanden.Footnote 44 Königin Eleanor von Kastilien, die Gemahlin König Edwards I., erhielt von der Prinzessin von Salerno im Juni 1289 zwei Papageien (vgl. Walker-Meikle 2013, S. 52). In literarischen Texten fungieren Vögel ebenfalls als kostbare Geschenke, so etwa im lateinischen Ruodlieb (Ende 11. Jh.). Am Abschluss einer langen Liste kostbarer Gaben für den Großen König und seine Begleiter stehen mehrere sprechende Vögel: »zwei Papageien und zwei Raben, […] Dohlen und Stare, die gelernt hatten, menschliche Worte zu plappern, und sich Mühe gaben, alles nachzuahmen, was sie hörten«.Footnote 45

Die Haltung und Zurschaustellung wilder oder domestizierter Tiere steigern den splendor adliger Herrschaft, indem sie nicht nur Gewalt, sondern auch »Kunstfertigkeit sichtbar machen« (Friedrich 2009, S. 175, vgl. S. 174). Zudem setzen die gefangenen Tiere adlige Disziplinierungsleistungen in Szene, wobei die Unterwerfung der tierlichen ›Natur‹ auf die der eigenen verweist.Footnote 46 Adlige Herrschaftsansprüche und höfische Stilisierung werden durch vorgeführte »Naturkontrolle« (Friedrich 2009, S. 176) gestützt. Allerdings bezeugen gegenläufige Konzepte und Praktiken ein (raub‑)tierhaftes Selbstverständnis des Adels, sodass es zu wechselwirksamen Übertragungen kommt: »Der Animalisierung des Menschen korrespondiert eine Humanisierung des Tiers« (Friedrich 2009, S. 195). Wenn ›Natur‹ und ›Kultur‹ solchermaßen in eine »Interferenzbeziehung« (Friedrich 2009, S. 11) treten, lassen sich die vormodernen Selbstdeutungsmodelle an Donna Haraways Überlegungen zu »Naturkulturen« (naturecultures)Footnote 47 anschließen, die Hybridisierungen und Verflechtungen an die Stelle einer stabilen Dichotomie setzen.Footnote 48

Solche Verflechtungen ergeben sich im mittelalterlichen Kontext insbesondere aus dem engen Zusammenleben mit Haus- oder Stubenvögeln, wie Drosseln, Amseln, Nachtigallen, Staren, aber auch Lerchen, Gimpeln, Finken und Papageien.Footnote 49 Als Hausgenossen hielten die Nonnen von Sainte-Trinité in Caen Singvögel in Käfigen, wie ein Eintrag im Register der Visitationen des Erzbischofs von Rouen für das Jahr 1250 bezeugt: nutriunt alaudas et aveculas in cagiis (›sie nähren Lerchen und Vögelchen in Käfigen‹; Eude Rigaud 1847, S. 94). Der Anordnung des Erzbischofs, derartige Vögel zu entfernen (precepimus huiusmodi aveculus removeri; Eude Rigaud, S. 94), wurde offenbar keine Folge geleistet, denn bei einer späteren Visitation im Jahre 1256 hielten die Nonnen weiterhin Lerchen (Eude Rigaud, S. 261).Footnote 50 Die hier erwähnte Käfighaltung der Vögel wird durch die materielle Überlieferung ergänzt. Im New Yorker Metropolitan Museum of Art (Cloisters Collection) befindet sich ein rechteckiger, schmiedeeiserner Käfig mit verzierten Eckpfosten und einer Aufhängung, der im 15. Jh. in Südfrankreich genutzt wurde.Footnote 51 Die untere Zierleiste erinnert mit ihren Spitzbögen an gotische Lanzettfenster: Neben der Wertschätzung der Singvögel dokumentiert dieses Architekturzitat eine Annäherung des Käfigs an menschliche Behausungen.

Derartige Vogel-›Häuser‹ treten in mittelalterlicher Literatur ebenso wie in Bildzeugnissen in Erscheinung. Im Wigalois Wirnts von Grafenberg (vor 1250) ist ein wertvoller sitich (Papagei) in einem kostbaren Haus aus Gold eingeschlossen: in einem hûse von golde | was er beworht; […] | daz koste mê dan tûsent pfunt | von golde und von gesteine (Wigalois v. 2519–2522). Die Leidener Wigalois-Handschrift Ltk 537 (13. Jh.) zeigt dieses Vogelhaus auf fol. 28v als elaboriert gearbeiteten Käfig. In Vogelhäusern werden im Ruodlieb Stare gehalten, und Konrad von Megenberg beschreibt in seinem Eintrag zum Stieglitz im Buch der Natur zunächst das farbenfrohe Aussehen des Vogels, um dann auf sein Verhalten einzugehen, wenn der Stieglitz gevangen wirt und beslozzen in ainem vogelhaͤusel (Konrad von Megenberg, Buch der Natur, 2003, III.B.24, S. 211). Während andere Texte von ›Käfigen‹ sprechen – die fogel in kefigen sungen (Wolfdietrich D 1374, 4)Footnote 52 – rückt die Benennung ›Haus‹ die Gefangenschaft der Vögel in den Hintergrund. In der Illustration des Leidener Wigalois ist das Vogelhaus zudem geöffnet dargestellt, und im Ruodlieb können die Vögel ihr Haus verlassen: Der Text schildert einen engen Kontakt mit den Singvögeln, wenn sich die Stare nach der Öffnung der Türen auf die Hände der Menschen setzen, um gefüttert und gestreichelt zu werden. Anschließend kehren sie freiwillig in ihre Häuser zurück und frohlocken den ganzen Tag – vermutlich mit Gesang (vgl. Ruodlieb XI, 1–24).

Ihre Gefangenschaft und die damit verbundenen Dominanzverhältnisse bleiben allerdings deutlich, denn die Vögel sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Andererseits imaginieren die Texte ihre ›Zustimmung‹, wenn sie sich, wie im Ruodlieb, aus freien Stücken wieder in ihre Bauer begeben und sich an menschlicher Gesellschaft zu erfreuen scheinen. Auch der sitich im Wigalois bejaht seine Gefangenschaft: Er ist Teil eines Preises, der an die schönste Dame vergeben wird,Footnote 53 und insistiert darauf, in der Siegerin des Wettbewerbs seine Herrin zu sehen. Die Möglichkeit der Verständigung zwischen Menschen und Vögeln wird hier durch die Sprechfähigkeit des Papageis verstärkt, der wol sprach | swaz er sprechen wolde (v. 2517 f.). Als ein Ritter dem schönen Mädchen ihren Gewinn mit Gewalt nimmt, reagiert der Vogel mit kummervollem Geschrei (v. 2589: der sitich jæmerlîche schrê). Bei der Wiederbegegnung begrüßt sie der sitich als seine rechtmäßige Herrin und bezeugt den gewaltsamen Diebstahl. Den Zusammenhang von Sprechfähigkeit und Bestätigung menschlicher Herrschaft zeigt auch die Illustration der Leidener Wigalois-Handschrift. Der Schnabel des Vogels ist geöffnet, wie in einem Redegestus erhebt er den rechten Flügel und deutet auf ein Spruchband, das seine Rede wiedergibt: Willekome leue vrowe min ich solte uwer zcu rehte sin.Footnote 54 Auch die Darstellung eines geöffneten Käfigs legt nahe, dass sich der Papagei freiwillig in den Besitz der Dame eingliedert.

Im Ruodlieb tritt zur ästhetischen Wertschätzung des Gesangs eine Vermischung zwischen Menschen- und Vogel-Äußerungen. Die Stare lernen ›Pater‹ und ›noster‹ zu rezitieren; die letzte Silbe von qui es in celis sprechen/singen sie jeweils dreifach: lis lis lis.Footnote 55 Ihre Imitation menschlicher Sprache überführen sie also teilweise in Vogelgesang und verschönern sie zugleich.Footnote 56 Reproduktion und Veränderung gesprochener menschlicher Worte auf klanglicher und struktureller Ebene zeigen einen Austausch zwischen Menschen und Singvögeln an. Vogelrede und Gesang vermischen sich im anmutigen Klang.

In der Lyrik können sich Dominanzverhältnisse über die Verähnlichung von Sänger und Vogel merklich verschieben. Die neunte Strophe von Neidharts Winterlied 28 zeigt changierende Abhängigkeiten, wenn zunächst gefordert wird, dass der in einem vogelhuse gehaltene Vogel für seinen rund ums Jahr geleisteten Gesang Aufmerksamkeit und gute Nahrung verdient (WL 28/SNE R13, v. 1–4): so koͤnde ouch der selbe vogel singen suͤsse wise | so muͤste man dem vogel gůter meisterscheft iehen (C IX v. 5 f.). Nicht die Kontrolle des Halters über den Vogel, sondern im Gegenteil die Anerkennung von dessen Kunstfertigkeit rückt hier in den Vordergrund. Mit der folgenden zeitlichen Einschränkung des Vogelgesangs auf den Sommeranfang (R IX v. 8: in dem mayen), geht eine Umgewichtung einher, denn im wintter braucht, so wird nun betont, der Vogel Schutz und Nahrung (R IX v. 9). Drohte zu Beginn der Strophe eine Vernachlässigung des Singvogels, so erscheint das Vogelhaus an ihrem Ende als Ort der Obhut und der Fürsorge. Gegenleistung ist der Gesang, der abschließend »als Sprache ausgewiesen wird« (Hochkirchen 2015, S. 110, Anm. 47): Die Vögel sagen […] danck (R IX v. 10). Implizit liegt dieser Strophe aber die Identifikation des Sängers mit dem auf Unterhalt und Schutz angewiesenen Vogel zugrunde, die seine eigene Abhängigkeit von Gunst und Zuwendung eines Gönners oder einer Gönnerin spiegelt. Auf beiden Ebenen durchdringen Wertschätzung und Dominanzverhältnisse einander. Die Überlagerung von Sänger und Vogel bringt Mehrdeutigkeiten in der Semantik des (Vogel‑)Hauses – zwischen eingeschränkter Bewegungsfreiheit, Schutz und Versorgungssicherheit – hervor. Wenn Wertschätzung des Gesangs eingefordert wird, verschieben sich die Abhängigkeiten, da Halter*in bzw. Gönner*in ihrerseits der Kunstfertigkeit des Vogels/Sängers bedürfen.

Vor diesem in großen Zügen und mit einigen Schlaglichtern konturierten Horizont untersuchen wir im Weiteren markante literarische Szenarien der Vogel-Mensch-Kommunikation, speziell der Figuration von Vögeln als Boten. Der offen gehaltene Begriff des ›Vogelboten‹ soll ein Spektrum umfassen, das von menschlicher Beauftragung des gefiederten Boten über dessen Entsendung aus jenseitigen Sphären bis zur Übermittlung von Weisheit und Erkenntnis durch den Vogel reicht. Immer stellt sich nämlich die Frage, mit welcher Eigenständigkeit die jeweiligen Botschaften entworfen, artikuliert und vermittelt werden. Welche vorausgesetzten oder prozessual erzeugten Ordnungen strukturieren jeweils den Austausch zwischen Vögeln und Menschen? Kommt es zu Stabilisierungen oder Fluktuationen von Macht- und Dominanzverhältnissen? Welches Maß an Agency wird den Vögeln zugeschrieben? Weiterhin interessieren uns die jeweiligen Bedingungen für BegegnungFootnote 57 und Kommunikation sowie deren Effekte und Leerstellen: Was bleibt im imaginierten Austausch zwischen Vogel und Mensch offen, mehrdeutig, ungesagt oder unverfügbar? Welchen Anteil haben neben dem verbalen Austausch Laute, Gesang, körpersprachliche Artikulationen und nicht zuletzt Bewegungsabläufe? Zumal die dreidimensionale Beweglichkeit der Vögel wesentlich für die erzählten Kommunikationsszenarien ist, verdienen auch die raumzeitlichen Dimensionen der Begegnung besondere Aufmerksamkeit. In diesen Zusammenhang gehören überdies Fragen nach den je impliziten oder explizit gesetzten Ordnungskategorien und Grenzverläufen, die das Vogel-Mensch-Verhältnis strukturieren, sowie den Verfahren, Graden und Gegenstandsbereichen der Anthropomorphisierung. Schließlich beschäftigen uns Überschreitungsmöglichkeiten und Transgressionen: Welche räumlichen, zeitlichen, sozialen oder symbolischen Grenzen, welche Differenzen werden überschritten oder (vorübergehend) aufgehoben? Welche Wirkungen haben die Begegnungen für die Identitäten und Positionierungen von Vögeln und Menschen? An welchen Punkten zeichnen sich transformative Effekte ab? Für all diese Aspekte sind Mehrdeutigkeiten und die Multiplikation von Sinnzuweisungen zu berücksichtigen, die auch die Grenzen des Darstellbaren in der Vogel-Mensch-Konfiguration akzentuieren.

2 Transformative Begegnungen: Überweltliche Vogelboten

Drei Texte, drei Szenarien der Kommunikation mit Vögeln, bieten sich bei aller Unterschiedlichkeit für eine vergleichende Untersuchung an: die heldenepische Kudrun (um 1210–1250), das Märe von Mönch Felix (auch: Der Zweifler, vor 1276), und der altfranzösische Lai de l’oiselet (13. Jh.). Gemeinsam ist diesen drei Erzählungen erstens, dass ein Vogelbote mit überweltlichen Verbindungen Wissen und Erkenntnis vermittelt, sowie zweitens die spezifische ZwischenräumlichkeitFootnote 58 der außergewöhnlichen Begegnungen.

In der Kudrun steht die Begegnung mit dem Vogelboten in der 24. Aventiure, unter der Überschrift Wie Kûdrûnen wart ir kunft kunt getân, sie wird also im Zeichen einer Offenbarung künftiger Ereignisse annonciert.Footnote 59 Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die verschleppte Kudrun bereits seit dreizehn Jahren in Gefangenschaft und verweigert nach wie vor die Ehe mit Hartmut von Ormanie, dessen Mutter Gerlint die Entführte drangsaliert und bedroht. Gemeinsam mit ihrer Gefährtin Hildeburg ist Kudrun genötigt, am winterlichen Strand von Ormanie als Wäscherin zu dienen. In dieser verzweifelten Situation des Exils, der Entbehrung und ständischen Erniedrigung trifft ein Bote ein:

Verse

Verse Ez was in einer vasten   umb einen mitten tac. ein vogel kom geflozzen.   Kûdrûn dô sprach: »owê, vogel schœne,   du erbarmest mir sô sêre, daz du sô vil gefliuzest   ûf disem fluote«, sprach diu maget hêre. (Kudrun, Str. 1166, 1–4)

Der einleitende Hinweis auf FastenzeitFootnote 60 und Mittag steuert die Aufmerksamkeit und kündigt Bemerkenswertes an, auch wenn es sich zuerst nur um einen schwimmend nahenden Vogel zu handeln scheint. Dass Kudrun ihn sogleich anspricht, ist ebenso auffällig wie ihre empathische Haltung, der ein identifikatorisches Verhältnis zugrunde liegt. Medium der so hergestellten Verbindung ist das raue, eisige Meer, dessen Wildheit und Unwirtlichkeit an vielen Stellen der Kudrun hervortritt (vgl. Kohnen 2011, S. 94 f.). Am Meeressaum ist ihm Kudrun tagtäglich ausgesetzt; ihre Anteilnahme setzt voraus, dass der Vogel in ähnlicher Weise darunter leidet.

Die folgende Strophe legt die Identität des Boten in eigentümlich zwiespältiger Weise frei: In menschlîcher stimme antwürten ir began | der gotes engel hêre, sam ez wære ein man (Str. 1167, 1 f.). Gerahmt ist die Engelsidentifikation von menschlichen Zuschreibungen: Stimme und Sprechverhalten verwischen die eben exponierte Differenz Mann/Engel, die ihrerseits die Vogelerscheinung abdrängt. In Kudruns Wahrnehmung ist sie jedoch nicht gelöscht, denn gleich im Anschluss mag sie nicht glauben, daz immer alse zam | der wilde vogel wurde, daz er reden kunde (Str. 1168, 2 f.). Ihre Formulierung unterstellt eine Abrichtung gewisser Vögel, die dann auch zu sprechen lernen, schließt diese Möglichkeit für den präsenten Boten jedoch aus: Der redende Wasservogel fügt sich nicht zur Opposition zam/wilde, die Kudruns Wahrnehmung prägt. Ihre resultierende Irritation ist umso auffälliger, als sich Kudruns Gegenüber schon im ersten Satz als bote von gote (Str. 1167, 3) identifiziert hat, der ihr geschickt wurde, um alle Fragen über ihre Verwandten zu beantworten. Erst nachdem der göttliche Gesandte seinen Auftrag erneut betont hat – dazu mit einer Formulierung, die den Engelsgruß der Verkündigung an Maria anklingen lässtFootnote 61 –, ist Kudrun überzeugt und wirft sich in Kreuzform zu Boden.

Der Himmelsvogel beantwortet ihr nun über sechs Strophen hinweg Fragen nach Wohlergehen und Verbleib ihrer Familie, ihres Verlobten Herwig und weiterer Vertreter des Herrschafts- und Verwandtschaftsverbandes. Danach beendet er das Gespräch mit Verweis auf die Grenzen seines Auftrags – ez ist über mînen orden, ich sol niht reden mêre (Str. 1177, 3) – und verschwindet (Str. 1177, 4: er verswant in vor den ougen). Kudrun befiehlt ihm jedoch im Namen Christi, ihr weitere Auskünfte zu erteilen (Str. 1178, 3 f.), worauf der Bote wieder auftaucht (Str. 1179, 1: er swebeteFootnote 62 ir vor den ougen aber alsam ê) und ihr in wiederum sechs Strophen Rede und Antwort steht. Die wichtigste Auskunft, die Kudrun im Verlauf des Gesprächs erhält, besteht in der nun absehbaren Ankunft Herwigs, die bereits in der 25. Aventiure eintritt. Damit ist die Botenepisode handlungslogisch allerdings überschüssig, denn sie kündigt nur an, was sich in kurzer Folge ohnehin ereignet. Der entscheidende Effekt der Botenbegegnung besteht in Kudruns Auszeichnung durch Gott selbst und der Überblendung ihrer entwürdigenden Gefangenschaft mit hagiographischen Figurationen des heroischen Widerstands in Leid und Bedrängnis.Footnote 63 Zu dieser auf Diskursebene sichtbaren Anreicherung der Figurenidentität tritt ein Umschwung der Gefühlslage bei Kudrun und Hildeburg, die sich in der Ambivalenzspannung von lieb unde swære niederschlägt (Str. 1186, 3) und sênliche blicke auf das Meer hervorruft (Str. 1206, 1–3).

Insgesamt mag sich nun der Eindruck aufdrängen, als sei die Eigenheit des Vogels in dieser Episode ganz mit der Identität des Engels verschmolzen und zum Verschwinden gebracht. In der christlichen Ikonographie ist die Darstellung von Engeln mit Vogelflügeln seit dem 5. Jh. nahezu omnipräsent,Footnote 64 und mit der Denkfigur des Himmelsboten wird die wahrgenommene Ähnlichkeit zur Affinität.Footnote 65 Die Kudrun inszeniert jedoch eine hybride Erscheinung, die konventionelle Muster überschreitet: Sichtbar ist der vogel schœne, hörbar eine menschliche Stimme, und nur diese wundersame Transgression der Mensch/Tier-Differenz macht die Selbstidentifikation des Boten als Engel plausibel.Footnote 66 Darüber hinaus ist zweierlei auffällig: Zum einen fehlt das Vögel und Engel verbindende Moment des Flugs, zum anderen vollzieht sich in der Mitte des Austauschs ein erstaunlicher Umschlag der Dominanzverhältnisse zwischen Kudrun und dem himmlischen Boten, der ihr Raum- und Zeitgrenzen überwindendes Wissen nun nicht mehr als göttliche Gnadengabe, sondern gemäß ihrem Gebot übermittelt. Möglich ist das nur auf der Grundlage der Mensch/Tier-Hierarchie: Der Herrschaftsdiskurs blitzt in Kudruns Gedanken an das ›Zähmen‹ von Vögeln, die so zum Sprechen gebracht werden, also keineswegs zufällig auf. Die Vogelerscheinung des Boten ermöglicht es, das Machtgefälle Engel/Mensch reversibel zu gestalten und Kudrun Handlungsfähigkeit in einer Situation größten Ausgeliefertseins zu verleihen.Footnote 67

Darüber hinaus ruft der schwimmende Bote aber eine markante Szene aus dem Nibelungenlied, Hagens Begegnung mit den nichtmenschlichen merwîp (Wasserfrauen), ins Gedächtnis: Si swebten sam die vogele vor im ûf der vluot (B 1533, 1).Footnote 68 Indem er ihnen ihre Gewänder vorenthält, zwingt Hagen die merwîp zu einer Voraussage über das Schicksal der Burgonden am Etzelhof (B 1531–1535). Eingewoben ist in diese Sequenz eine Umgestaltung der mythologischen Schwanfrauen, die ihre Vogelgestalt gewandartig ablegen können und nur in dieser Lage vorübergehend beherrschbar werden.Footnote 69 Das Schwimmen des Vogelboten – anstelle engelanaloger Flugfähigkeit – verweist in der Kudrun auf diesen Konnex, der die Plastizität der Machtverhältnisse verstärkt. Der Vogelbote nähert sich zudem horizontal, nicht aus der religiös codierten Vertikale zwischen Himmel/Jenseits und Erde/Diesseits, sondern aus unbestimmter Ferne. Bedeutsam ist diese Horizontale, weil sie das Meer einbezieht und dessen Grenzcharakter für verbindende Potenziale öffnet.Footnote 70

Während die verbalisierte Botschaft Kudruns Verbindungen zu ihren Verwandten erneuert, eröffnet die Bewegung des Vogels eine Zwischenräumlichkeit in der Verknüpfung von jenseitsbezogener mit diesseitiger Grenzüberschreitung. Die schwimmende Vogelgestalt, die sich als Engel identifiziert und mit menschlicher Stimme spricht, wird mit der Überlagerung von Sinnbezügen auch zum Träger von Mehrdeutigkeit. Die Effekte dieser Vogelerscheinung (nicht einer Engelsbegegnung) zeichnen sich aber noch in einem späteren, auf den ersten Blick rätselhaften Vers ab: Kudrun und Hildeburg sinnen schlaflos darüber nach, wanne in diu vogelîn guote ritter […] bræchten (Str. 1195, 4). Die Pointe dieser Formulierung liegt in der Rücküberblendung des Gottesboten mit ganz gewöhnlichen Vögeln. Offenbar hat die Begegnung ihre Wahrnehmung von Vögeln verändert, denn alle Vögel werden nun zu Vorboten der erhofften Rettung.

Die Wundergeschichte vom Mönch, dem ein Vogel Zugang zur Erfahrung transzendenter Paradiesfreuden eröffnet, ist erstmals in einem altfranzösischen Predigtexempel des Maurice de Sully († nach 1190) belegt.Footnote 71 Mittelhochdeutsche Bearbeitungen des Stoffs entstanden seit Beginn des 13. Jhs. und sind unter den Titeln Der Zweifler sowie Mönch Felix in mehreren Fassungen überliefert.Footnote 72 Zu ihrem narrativen Kernbestand gehört die Beschäftigung eines Mönchs mit biblischen Aussagen über himmlische Freuden und Ewigkeit, die sich ihm nicht erschließen. Darauf erscheint ein Vogel, dem der Mönch aus dem Kloster folgt und dessen Gesang ihn derart gefangen nimmt, dass er alles andere vergisst. Nach Entschwinden des Vogels kehrt der Mönch ins Kloster zurück, wo man ihn jedoch nicht wiedererkennt. Wie sich nun herausstellt, sind nicht bloß Stunden, sondern hundert oder gar tausend Jahre vergangen. Erst diese erschütternde Zeitdifferenz bringt die theologische Dimension des Wunders einer »immanenten Jenseitserfahrung« (Weidner 2020, S. 260)Footnote 73 zum Vorschein.

Gemeinsam ist allen Fassungen, dass der betörende Gesang des Vogels eine irdisch nicht mögliche und sprachlich nicht mitteilbare Erfahrung jenseitiger Freude erschließt. War der Vogel im Predigtexempel ein (unerkannter) Engel,Footnote 74 so bleibt er in den mittelhochdeutschen Erzählungen stets (Sing‑)Vogel von kleiner Gestalt (MF I v. 81, MFR v. 17 f.), der schneeweiß gefiedert sein (MF I v. 93) oder über eine goldene Kehle verfügen kann (MF III v. 119). In zwei Fassungen setzt der abschließende Erzählerkommentar den Vogel nachträglich mit einem Engel gleich (MF II v. 26, MF III v. 165), doch folgt diese Identifikation dem bereits objektivierten Wunder eines Aus-der-Zeit-Gefallenseins. Nur im Mönch Felix I wird der kleine Vogel als Entsandter Gottes bezeichnet:

Verse

Verse Do sant got von himelrich dar ein klein vogelein, daz kundet im die gaudein, die in dem himel were, mit sange lobebere. (MF I v. 80–84)

In den anderen Bearbeitungen setzt das unvermittelte Erscheinen des Vogels den Auftakt für eine Begegnung, deren Signifikanz sich im Erzählvorgang entfaltet. Anders als in der Kudrun vollzieht sich die Vogel-Mensch-Kommunikation nicht sprachlich, sondern ausschließlich über Klangerlebnis und Bewegungsabläufe. Der Vogel führt den Mönch über die Klosterschwelle in einen Außenraum, den der Zweifler zum sconen walde ausgestaltet (MF III v. 97). Fassungen übergreifend gestaltet sich die Interaktion zwischen Vogel und Mensch im Zusammenspiel von Leiten und Folgen, Fliegen und Nachlaufen. Diese Dynamik kommt im Zweifler zum Stillstand, als sich der Vogel auf einem Baum niederlässt, unter dem der Mönch lauschend verharrt (MF III v. 110 f., 129–131). Ausgelöst wird die Fortbewegung aus dem Kloster vom hinreißenden Gesang (MF I v. 85–87), weiterhin aber vom Verlangen des Mönchs, den gefiederten Sänger einzufangen, der sich ihm freilich entzieht (MF I v. 101–105, MF III v. 104–107, MFR v. 33–36). Vom hier angespielten Diskurs menschlicher Herrschaft über Tiere hebt sich ein gegenteiliges Dominanzverhältnis ab, denn Mönch Felix erlangt weder Zugriff noch Kontrolle, sondern verliert sich beseligt im bezwingenden Klangerlebnis. Zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt fliegt der Vogel davon; erst dann reagiert der Mönch mit einem sprachlichen Kommunikationsversuch und einer Anrufung des vogelin, das jedoch nicht mehr zurückkehrt (MF I v. 114–145, MFR v. 37–42). Allein der Vogel bestimmt Ort und Dauer der Begegnung. Mönch Felix besetzt dagegen eine doppelte Position als passiver Empfänger einer Klangbotschaft und als Subjekt jener Sinnzuweisung, die das Wunder der Ereignisse zum Vorschein bringt.

Narrativ vollzieht sich die Wundervermittlung zweistufig: Zuerst entfaltet der Klangrausch seine entrückende Wirkung über sinnlich vermittelte, herzeliche wunne (MF III v. 113); nach der Rückkehr wird die Wahrhaftigkeit der Transzendenzerfahrung durch die zeitliche Asynchronie beglaubigt. So stellt sich retrospektiv heraus, dass die Begegnung mit dem Vogel in ungeheurer Zeitverdichtung stattfand, losgelöst von historisch-linearem Verfließen.Footnote 75 Entscheidend für die Erfahrung eines Paradieszustandes ist jedoch der unvergleichlich schöne Vogelsang, der die Sinne des Mönchs überflutet und ihn die volle Präsenz des himelisch paradis erleben lässt.Footnote 76 In keiner der überlieferten Fassungen wird dieser Gesang an Sprache angenähert: Er erzielt seine ungeheure, unmittelbare Wirkung einzig durch musische Klangqualität.Footnote 77 Diese sinnenvermittelte Erkenntnis durch das Gehörte rückt in direkten Kontrast zur Lektüre. Als der Vogelgesang erklingt, schlägt Mönch Felix das Buch zu und springt auf (MF I v. 85–87). Das bloß Er-lesene wird überholt durch die erlebte himmlische Freude, an die Stelle scheiternder kognitiver Durchdringung tritt Aisthesis: swaz er vreuden ie gelas, | daz daucht in alles nicht sin, | so suze sanch daz vogelin (MF I v. 90–92, vgl. MFR v. 17–21). Damit ist der wort- und sprachlose Vogelsang, der Sinn nicht transportiert, sondern performativ realisiert, entscheidend.Footnote 78 Die Mensch/Tier-Differenz wird weder suspendiert noch aufgelöst, vielmehr erfährt sie eine radikale Umwertung, denn allein die Andersheit der Vogel-Artikulation ermöglicht die Überschreitungserfahrung.

Diese Erfahrung erzeugt im paradoxen Ineinandergreifen von Diesseits- und Jenseitsbezügen einen spezifischen Zwischenraum (vgl. Weidner 2020, S. 260–263) und ruft transformative Effekte hervor. Im Zweifler zeigen sie sich als gewandelte Wahrnehmung des Umgebungsraums und reflektierte Differenz: Der Baum, auf dem sich eben der singende Vogel niedergelassen hat, erscheint dem Mönch in einzigartiger Schönheit, und er staunt darüber, den seit langem vertrauten Wald nun völlig anders zu sehen als je zuvor.Footnote 79 Ein ganz anders gelagerter transformativer Effekt tritt in Mönch Felix I auf: Als der Zurückgekehrte nicht erkannt und sein Wissen um die eigene Identität erschüttert wird, kleidet er das eigene Verhalten in Tiervergleiche. Den Gedanken, seine Begeisterung für den Gesang des Vögleins sei wahnhaft, verwirft er mit den Worten: ich rede als ein affe (MF I v. 233).Footnote 80 Im Gespräch mit dem Abt schildert er, dass ihn übergroße Freude dazu brachte, dem Vogel zu folgen als ein hungeriger rabe | tut siner spise (MF I v. 296 f.).Footnote 81 So konventionell diese (unvorteilhaften) Vergleiche für sich genommen sind, die Identifikation mit Affe und Rabe bringt eine Irritation der Selbstwahrnehmung als Bruch mit dem geistlichen Sprachregister und punktuelle Überschreitung der Tier/Mensch-Differenz zum Vorschein.

Außerhalb geistlicher Diskurse positioniert sich der altfranzösische Lai de l’oiselet, obwohl er sich auf eine Beispielerzählung der Historia de Barlaam et Josaphat zurückführen lässt:Footnote 82 Eine gefangene Nachtigall befreit sich listig, indem sie dem Vogelfänger zum Tausch für ihre Freilassung weise Ratschläge anbietet, die ihr menschlicher Gegenspieler jedoch nicht umzusetzen versteht – worauf ihm der kluge Vogel auch die eigene Dummheit vor Augen führen kann. Von den zahlreichen mittelalterlichen Bearbeitungen dieser KernfabelFootnote 83 unterscheidet sich der Lai de l’oiselet, eine Verserzählung des 13. Jhs., durch erhebliche Erweiterungen.Footnote 84 Der kleine Vogel (oiselet) besucht regelmäßig einen paradiesartigen Garten, den er durch seinen Gesang zum Erblühen und dessen Quelle er zum Fließen bringt. Dieses Wunder (merveille) bildet den Abschluss und Höhepunkt weiterer erstaunlicher Wirkungen: Unter anderem lässt der bezaubernde Gesang jedes Leid vergessen und scheint die Zeit anzuhalten (v. 93–123). Der neue Besitzer dieses Gartens, ein vilain (ein nichtadliger, einfacher MannFootnote 85), fängt den Vogel, wird aber in der schon bekannten Weise überlistet und düpiert. Mit dem abschließenden Entschwinden des Vogels verdorrt der Garten, und die Quelle versiegt.

Für die Frage nach der Vogel-Mensch-Kommunikation sind insgesamt vier Aspekte dieser Stofftransformation bedeutsam. Anders als im Exempel, anders aber auch als in der Kudrun und im Mönch Felix, verfügt der Vogel des Oiselet über das gesamte Spektrum sprachlicher und gesanglicher Artikulation. Zweitens wird seine paradiesähnliche Umgebung durch den unvergleichlich schönen Gesang – darin dem Mönch Felix-Stoff durchaus ähnlichFootnote 86 – zum Leben erweckt. Im Oiselet überformen drittens enge Verbindungen zu höfischer Kultur und Literatur, insbesondere zur Liebeslyrik (vgl. Huot 1999),Footnote 87 Gestalt und Wirkungen des Gesangs. Resultat dieser Umarbeitungen der Kernfabel ist viertens eine gesteigerte Komplexität im Zusammenspiel anthropomorpher Zuschreibungen und tierlicher Andersheit.

Bereits das Artikulationsspektrum des kleinen Vogels ist bemerkenswert. Sein Singen übertrifft die Sangesqualitäten anderer Vögel,Footnote 88 darunter Nachtigall und Lerche (v. 82–87), und wird damit zuerst in die Sphäre sprachfreier, asemantischer Gesänge eingegliedert. Umfasst sein Repertoire aber weiterhin lais et noveaus sons | et rotrüenges et chançons (v. 89 f.),Footnote 89 dann übergreift es auch bekannte lyrische und erzählende Genres. Im ersten wortwörtlich wiedergegebenen Gesang wendet sich der Vogel en son latin (v. 136: also in ›Vogellatein‹, seiner eigenen Sprache) an die Welt der Ritter, Kleriker, Laien und Mädchen, um seine Botschaft über die Liebe zu verkünden, der auch Gott wohlgesonnen sei (v. 137–160). Rede und Gesang fallen in eins: ce dit li oiseaus en son chant (v. 169: ›das sagte der Vogel in seinem Lied‹). Mit dem Eintreffen des vilain wandelt sich jedoch die Art, vielleicht auch der Ton des Gesangs (v. 173: si li chante en autre maniere), denn er hat nun exklamatorischen Fluchcharakter: Der Fluss möge nicht mehr fließen, die Blumen verwelken, die Heilkräuter verdorren, die Bäume keine Früchte mehr tragen (v. 174–177). Der Vogel artikuliert singend seine magische Macht über den Garten, die sich am Ende der Erzählung bewahrheiten wird. An späterer Stelle, als der vilain ihn eingefangen hat, ist von Gesang oder vogeleigener Sprache dagegen nicht mehr die Rede. Der Austausch, in dessen Verlauf der Vogel unter anderem Sprichwörter rezitiert, ist damit ganz in die menschenübliche Kommunikation hineingeglitten. Das reflektiert auch die Bemerkung des Vogels selbst, dass er in Gefangenschaft nicht mehr singen werde (v. 231: ja em prison ne chanterai). Im Gesamtverlauf sind gleitende Übergänge vom asemantischen Vogelsang über poetische Artikulation im ›Vogellatein‹ bis hin zu menschlicher Rede, im Gleichschritt mit zunehmender Anthropomorphisierung zu beobachten, an deren Ende die Überführung in eine fabeltypische Tiermaskerade steht. So ist es nur folgerichtig, dass sich der Vogel mit seiner Sangeskunst und ihren wundersamen Wirkungen am Ende des Lai entzieht. Erzählt wird, in der Konfrontation der kruden materiellen Interessen des vilain mit den poetischen Artikulationen des Singvogels, von einem Verschwinden, das auch die tierliche Andersheit abblendet.

Es bleibt allerdings der Eindruck enormer Mobilität und Flexibilität, die den Vogel auszeichnen. In der Auseinandersetzung mit dem vilain demonstriert er geistige Wendigkeit; seine ›übersetzten‹ Gesänge und seine Dialoganteile weisen insgesamt eine hohe formale und stilistische Bandbreite auf. Dynamisiert wird die Konfiguration von anthropomorphen und tierlichen Darstellungsfacetten im Übergang vom asemantischen zum vogellateinischen Gesang, der in die Botschaft des Vogels – im von ihm selbst so bezeichneten lai (v. 137) – an die (adlig-höfische) Gesellschaft mündet. Angleichungs- und Identifikationsverhältnisse zwischen Sänger und Singvogel, wie sie in der Liedlyrik typisch sind, verdichten sich an dieser Stelle zur Verkörperung höfischer Dichtkunst im Vogel (vgl. Huot 1999, S. 269, S. 277), sodass der lai im Lai Medium poetologischer Selbstreflexion wird. Anders als in Liedern, die Vogelstimmen über asemantische Refrainzeilen imitieren, die also Vogel- und Sängerstimme ineinander blenden,Footnote 90 zeigt sich im Oiselet eine narrative Entfaltung der Vogel/Sänger-Identifikation, die zwischen Transparenz und Verkörperung mehrdeutig oszilliert. Auf Diskursebene erscheint der Vogel nicht als Stellvertreter und durchsichtige Personifikation, sondern als Metonymie, gegründet auf die Kontiguität der Sangeskunst, denn der Vogelgesang hat den Status einer ›Klangikone reinster Prägung‹.Footnote 91 An genau diesem Punkt wird die Grenze zwischen Mensch und Vogel durchlässig.

Der zweite Teil des Oiselet, der die Überlistung des vilain burlesk inszeniert, gestaltet die Tier/Mensch-Differenz gänzlich anders, indem er den Herrschaftsdiskurs zu grober Besitzgier herabwertet. Der vilain will den wundersamen Gesang mit Gewalt an sich bringen und droht dem gefangenen Vogel sogar damit, ihn zu verspeisen (v. 232). Seine gewalttätige Dominanz wird bloßgestellt als erbärmliches Unverständnis der Vogelpoesie und scheitert zudem an der listigen Überlegenheit des Vogels. Die Pointe dieser Verkehrung vorausgesetzter Machtverhältnisse erschließt sich über intertextuelle Bezüge: Die drei ›Wahrheiten‹ (v. 251: trois sens), die der Vogel seinem Fänger als Preis für seine Freilassung anvertraut, entstammen ihrerseits Sprichwortsammlungen, die den ›einfachen Mann‹, also den vilain, als Repräsentanten volkstümlicher Lebensklugheit figurieren.Footnote 92 Diese Autoritätsfigur ersetzt nun der Vogel, der den vilain degradiert.Footnote 93 Unterlegen ist er, weil er die Sentenzen zwar kennt, an deren situativer Umsetzung jedoch scheitert.

Selbstverständlich vollzieht sich dieser Umschwung in der Mensch/Tier-Hierarchie auch deswegen so mühelos, weil die Überlegenheit des Vogels ständisch codiert ist: Seine Sangeskunst partizipiert an höfischer Kultur, und darüber ist er auch dem früheren adligen Besitzer des Gartens (v. 21: uns chevaliers gentis) verbunden. In der Standesdifferenz geht die Sonderstellung des Vogels jedoch nicht auf, denn sein künstlerisches Vermögen und seine Artikulationsbreite speisen sich aus einer schöpferischen Energie, die auch den Umgebungsraum ergreift. Handlungsort ist mit dem paradieshaften Garten ein hyperbolisch ausgestalteter locus amoenus,Footnote 94 der Natur und Kultur stets unauflöslich miteinander verquickt.Footnote 95 Dieser Garten, so heißt es schon einleitend, sei von einem angelegt worden, der sich auf Zauberkünste verstand (v. 47 f.: cil qui le fist fu molt sachans; | il fu tot fet par nigromance). Der Vogelprotagonist des Lai gehört jedoch nicht etwa zum magischen Inventar, sondern fliegt morgens und abends in den Garten ein, um ihm Leben zu verleihen. Diese GrenzüberschreitungFootnote 96 dynamisiert den statisch-idealen Ort, der vom Gesang erfüllt erst zum Resonanzraum der eingangs beschriebenen Aisthesis wird. Eine spezifische Zwischenräumlichkeit bildet sich im Wechselspiel von höfischer Poesie und reinem Klang performativ und prozessual, durch die Sangeskunst des oiselet, dessen Mensch- und Tier-Merkmale ihn als Überschreitungsfigur ausweisen. Die Transgression des vilain zerstört jedoch die Verbindung von Klangraum und Vogelstimme und vertreibt damit auch die transformative Kraft des Gesangs.

In den drei behandelten Texten stehen Signifikanz und Wirkungen der Vogelbotschaften jeweils in Verbindung mit einer höheren Ordnung. Die Autorisierung, die sich über jenseitige oder ständische Bezüge herstellt, reduziert die Botschaften jedoch nicht auf eine bloße Wiedergabe vorab festgelegter Inhalte, sondern eröffnet im Gegenteil Artikulationsmöglichkeiten, die sich kontextabhängig variabel gestalten. Die besonderen Autorisierungsverfahren zeigen zudem Auswirkungen auf die hierarchisch gedachte Tier/Mensch-Differenz. In der Kudrun tragen vorausgesetzte Dominanzverhältnisse dazu bei, den Vogelengel Kommunikationsgeboten zu unterziehen; dagegen verkehren sie sich in den Mönch Felix-Fassungen ebenso wie im Lai de l’oiselet. Die Überlegenheit des kleinen Vogels speist sich aus der Wirkmacht seines Gesangs (Mönch Felix) sowie einer Artikulationsbreite, die asemantischen Gesang, eigensprachliches Singen und menschliche Sprachmöglichkeiten übergreift. Im Oiselet macht dieser Zusammenhang zugleich deutlich, dass eine zunehmende Anthropomorphisierung des Vogels genau jene Qualitäten zum Verschwinden bringt, die erst eine paradiesartige, ›naturkulturelle‹ Räumlichkeit belebt hatten. Stärkt die Überschreitung der Tier/Mensch-Differenz in der Kudrun vorrangig die transzendente Legitimation des Boten, so erzeugt sie im Mittelteil des Oiselet einen wundersamen Schwebezustand zwischen höfischer Poesie und tierlicher Gesangsfähigkeit, der den Status des Vogels mehrdeutig schillern lässt. Als Metonymie erschließt er zwar Bezüge auf Dichtkunst und künstlerische Transformation der Welt, doch bleibt die Eigenheit des Vogelseins, das sich der Inbesitznahme entzieht, Bedingung für die Überschreitung solcher Sinnzuweisungen. Gänzlich frei von anthropomorphen Zügen ist der Vogel der Mönch Felix-Erzählungen. In der Sonderqualität des asemantischen, bezaubernden Gesangs, der im irdischen Raum vorübergehend Himmlisches erleben lässt, zeigt sich zudem eine grundsätzliche Unverfügbarkeit, in der Transzendentes und Tierliches mehrdeutig zusammentreten. In dieser Konfiguration des Anderen sind die Wechselbezüge zwischen ›Natürlichem‹ und ›Übernatürlichem‹ nicht stillzustellen, sondern sperren sich im Gegenteil jedem Versuch, die Anteile des Tierlichen zu fixieren und zu quantifizieren.

In allen drei Texten sind die Vogel-Mensch-Konstellationen von überweltlichen Bezügen durchdrungen, sodass der Schluss auf eine Entwertung tierlicher Andersheit naheliegen könnte. In den Bearbeitungen des Mönch Felix-Stoffs weist die Zurücknahme der Identifikation des Vogels mit einem Botenengel jedoch in die entgegengesetzte Richtung, und die idealisierende Verkörperung höfischer Sangeskunst im Vogel des Oiselet setzt dessen schöpferische Energie gegen den Versuch seiner Herabsetzung zum Objekt menschlicher Verfügung. In der Kudrun ruft das Vogelhafte des Boten eine gewandelte Sicht auf Vögel hervor, im Zweifler und im Mönch Felix zeigen sich Verschiebungen der Selbst- und Umweltwahrnehmung. Auch wenn sie jeweils auf das menschliche Gegenüber bezogen bleiben, sind die transformativen Effekte in allen drei Texten von der Eigenheit vogelspezifischer Seins- und Artikulationsweisen nicht zu trennen.

3 Diesseitige Botenflüge: Hybride Raben

In spätmittelalterlichen Erzählungen vom Hl. König Oswald steht ein Rabe in enger Beziehung zum KönigFootnote 97 und tritt seit dem 14. Jh. – auch ikonographisch – als festes Attribut Oswalds auf (vgl. Müller 2001, S. 458). Zur Textgruppe gehören zwei deutschsprachige Verserzählungen, der Wiener und der Münchner Oswald, deren Textzeugen ins 15. Jh. datieren. Darin übernimmt der von Oswald aufgezogene sprechende Rabe die Brautwerbung für seinen Herrn. Als Bote fliegt er in ein fernes, nicht-christliches Land und überzeugt die Prinzessin, sich – gegen den Willen ihres Vaters – zum christlichen Glauben zu bekennen und Oswald zu ehelichen. Darauf folgt die Reise Oswalds, dem es gelingt, die Königstochter mit sich zu nehmen und schließlich ihren Vater und viele seiner Krieger zum Christentum zu bekehren. Nachdem der Rabe für den Erfolg der Brautwerbung gesorgt hat, wird er in den Erzählungen nicht mehr erwähnt. In den ersten beiden Dritteln der Texte generiert sein Einsatz als Bote jedoch vielfältige Szenarien der Vogel-Mensch-Kommunikation, die auf verschiedenen Ebenen von Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten geprägt sind.

Die Rolle des Raben als Werbungshelfer und Bote fügt sich nicht unmittelbar zu den mittelalterlichen Deutungstraditionen, denn Bibel und Bibelexegese figurieren ihn als unzuverlässigen Botenvogel: Statt zu Noah zurückzukehren (Gen 8, 6 f.), frisst er lieber Leichen. Die christliche Naturlehre deutet seine schwarze Farbe als Zeichen des Teufels und der Sünde. Allerdings kann der Rabe in Heiligenlegenden auch als Beschützer auftreten, womit sich eine grundlegende Ambivalenz in der Deutung des Raben abzeichnet.Footnote 98 Innerhalb der beiden Oswald-Erzählungen bewirken die zugrunde gelegten religiösen Ordnungsmodelle, zusammen mit Vorstellungen von Zähmbarkeit und Zahmheit des Raben, Mehrdeutigkeiten in der Vogel-Mensch-Kommunikation. Damit gehen Textstrategien einher, die – je nach Fassung – die Anthropomorphisierung des Vogelboten befördern oder seine ›Rabenhaftigkeit‹ hervorkehren und durch Anschluss weiterer Modelle zu einer Hybridisierung der Vogel-Identität führen können. Der Komplex von Vogel-Mensch-Kommunikation und Raben-Identität kann daher auf Diskursebene eine zusätzliche Dimension der Mehrdeutigkeit erzeugen.

Religiöse Ordnungen sowie die Zähmung und Haltung von Vögeln greifen bereits zu Beginn der Rabe-Mensch-Kommunikation ineinander. Zwei Bedingungen ermöglichen die Kommunikation: die Sprechfähigkeit des Raben und die räumliche Nähe von Vogel und Mensch. Während der König seinem Vogel im Wiener Oswald selbst das Sprechen beigebracht hat, ist es im Münchner Oswald Gott, der dem Raben die Sprache verleiht. Die beiden Texte beziehen sich damit auf je unterschiedliche Diskurse und Realitätsebenen: Göttliche Einwirkung steht der lebensweltlichen Annahme gegenüber, dass Raben zu den Singvögeln gehören, die sprechen bzw. das Sprechen erlernen können.Footnote 99 Die unterschiedlichen Begründungen sind ihrerseits mit Vorstellungen von der Vogelhaltung verknüpft. Obwohl der Rabe zu Beginn der Handlung bereits seit Jahren von Oswald gehalten wird,Footnote 100 ist von einem Vogelkäfig oder -haus in beiden Texten nicht die Rede; stattdessen fliegt der Rabe im Münchner Oswald frei herum und hält sich nicht in unmittelbarer Nähe des Herrschers auf. Diese räumliche Anordnung mündet zunächst in Unsicherheit, denn die (von Gott verliehene) Sprachbeherrschung des Raben kann so lange nicht überprüft werden, wie er sich auf einem Turm sitzend dem Zugriff entzieht (vgl. MO v. 382). Erst ein direktes Eingreifen des himlisch hailant (MO v. 395) sendet den Raben vom Turm herab. Unklar bleibt, auf welche Weise Oswald den Raben über zwölf Jahre erzogen (MO v. 347) hat: Menschliche Nähe sucht der Vogel jedenfalls nicht, er ist also nicht in diesem Sinne ›zahm‹, wobei auffallen muss, dass ihn der Text auch nicht als ›wild‹ bezeichnet.Footnote 101

Seine Befürchtung, am Hof der fremden Prinzessin gefangen oder erschossen zu werden (MO v. 449), illustriert seine Einsicht in die Gefährdung durch menschlichen Zugriff, die spätere Episoden seiner Gefangennahme und Fesselung bestätigen.Footnote 102 So wird nachvollziehbar, weshalb sich der Rabe auch nach seiner Rückkehr zu König Oswald wieder auf einen hohen turen (MO v. 1300) setzt und damit erneut eine aufwendige Kontaktaufnahme erforderlich macht. In einen Mantel aus Zobelfell gehüllt begibt sich Oswald zum Sitzplatz des Raben und wirft den Mantel auf die Erde. Der Rabe lässt sich darauf nieder, woraufhin Oswald ihn liebleich (MO v. 1332) hochhebt und in seine Kemenate trägt.Footnote 103

Ganz anders gestalten sich die räumlichen Dimensionen der Kommunikation im Wiener Oswald, der die Nähe des Raben zum Menschen voraussetzt. Ohne alle Schwierigkeiten lässt der König seinen Raben vor sich bringen. | her satzte in uf sine schoz (WO v. 128 f.). Der Rabe ist offensichtlich so zahm und an die Gesellschaft von Menschen gewöhnt, dass er bei Berührungen nicht davonfliegt. Vom König lässt er sich über das Gefieder streichen (her strichte im sin gefidere | von dem houpte biz hernidere, WO v. 131 f.), und bei seiner Rückkehr von der Botenreise setzt er sich Oswald uf di achsel (WO v. 749), sucht also selbständig dessen Nähe. Auf der späteren gemeinsamen Reise fliegt der Rabe uf den arm (WO v. 942) Oswalds und erkundigt sich, wie es ihm geht (vgl. WO v. 943 f.). Schon zu Beginn der Erzählung finden sich weitere Gesten der Nähe und liebevolle Berührungen:

Verse

Verse sinte Oswalt mit lusten do den raben kuste vorne an sinen spitzen munt und dructe in zu der selben stunt an sin herze liplich (WO v. 147–151)Footnote

Im Münchner Oswald küsst der König den Raben, nachdem dieser seine Bereitschaft erklärt hat, die Brautwerbung zu übernehmen: sant Oswalt kust sein raben | an sein haubt und an sein schnabel (MO v. 432 f.). Umso mehr fällt auf, dass der König im Wiener Oswald seinen Raben ohne pragmatische Gründe küsst und streichelt. Dies zeigt auch die Verwendung des Adjektivs nutze (›nützlich‹, ›nutzbringend‹): Im Münchner Oswald ist der Rabe dem König nutzer (MO v. 353, 1804) als ein ganzes Heer. Der Wiener Oswald spricht dagegen nie davon, dass der Rabe ›nützlich‹ sei.

Inniger Körperkontakt rahmt die sprachliche Kommunikation zwischen Oswald und seinem Raben, dem er hier selbst das Sprechen beigebracht hat. Die Handlungen des Königs bezeugen leibliche Zusammengehörigkeit und Vertrautheit; der Rabe reagiert ausschließlich verbal, nimmt die Interaktion jedoch positiv wahr (wi wenig in das vordroz! WO v. 130). Damit entwirft der Text eine spezifische ›Kontaktzone‹ zwischen dem Raben und Oswald:Footnote 105 Der von Haraway geprägte Begriff verweist auf körperliche Verflechtungen und Interaktionen zwischen Mensch und Tier, die transformatives Potenzial besitzen. In der ›Kontaktzone‹ verschwimmen im taktilen Austausch die Grenzen zwischen Subjekten oder Entitäten zugunsten einer fluiden (Inter‑)Relationalität.Footnote 106 Zahmheit und Kontakt gehen allerdings mit einer Anthropomorphisierung des Raben einher: Im Kuss wird sein Schnabel zum spitzen munt. Die innige Nähe zwischen Vogel und Mensch ist weiterhin nicht auf Oswald beschränkt, denn während seiner Werbungsreise streichen sowohl Prinzessin Spange als auch eines ihrer Mädchen über das Federkleid des Raben (vgl. WO v. 616 f., 625). Spange trägt den Raben in ihre Gemächer und drückt ihn liplich (WO v. 387) an sich; der Rabe bittet seinerseits wenig später: juncfrou min, | nim mich an den arm din (WO v. 403 f.).Footnote 107 Selbst dort, wo keine Berührungen stattfinden, wird Innigkeit vermittelt. König Oswald, andere Figuren und der Erzähler sprechen den (namenlosen) Raben zuweilen mit der Koseform rebelin an (z. B. libez rebelin, WO v. 236; vgl. WO v. 469) und dokumentieren damit emotionale Zugewandtheit.Footnote 108 Gleichwohl nennt der Wiener Oswald den Raben nirgendwo ›zahm‹. Im Gegensatz dazu finden sich zahme Vögel in der Nähe der Prinzessin: Zwei gezähmte Adler (gezamte adelare, WO v. 346c) fliegen stets über ihr und spenden ihr als lebender Sonnenschutz Schatten. Zeigt sich darin eine besondere Affinität der Prinzessin zu Vögeln, so wird zugleich der Sonderstatus des Raben betont. Weder im Wiener noch im Münchner Oswald lässt er sich der fundamentalen Opposition wild/zam eindeutig zuordnen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage zeigt sich gleichwohl eine auffällige Differenz, denn der Rabe, dem Oswald das Sprechen selbst beigebracht hat, wird in große Nähe zu den menschlichen Figuren gerückt, während der von Gott ermächtigte Rabe lieber auf Distanz geht.

Religiöse Ordnungen und die jeweilige Zahmheit des Raben strukturieren nicht allein die beschriebenen Kommunikationsmöglichkeiten, sondern auch Kommunikation als Sprachhandeln sowie ihre Inhalte. Als Bote in der Brautwerbung muss der Rabe Oswalds Botschaften übermitteln, die in ein christliches Ordnungssystem eingebunden sind. Der (heilige) Oswald wirbt um eine nicht-christliche Prinzessin, die in die Eheschließung und die Konversion zum Christentum einwilligen soll. Die vom Raben übernommene Brautwerbung besteht aus einer mündlichen Botschaft und einem Ring als materiellem Zeichen, im Münchner Oswald lässt der König zusätzlich einen Brief an Prinzessin Paug schreiben.Footnote 109 Sprach- und Flugfähigkeit des Raben bedingen seine Eignung zum Boten, da er den langen Weg in kurzer Zeit zurücklegen und die Botschaft zuverlässig vermitteln kann. Eigenständigkeit bei der Formulierung der Inhalte oder Vogel-Autorschaft spielen im Münchner Oswald dagegen keine Rolle. Der König verfasst einen (trotz Versform) recht prosaischen Text (MO v. 595–602), den der Rabe im späteren Gespräch mit der anvisierten Braut fast wortgetreu wiedergibt (MO v. 1099–1109). Dass in der eigentlichen Werbungsrede keinerlei Eigenanteil des tierlichen Werbers auftritt, wird aus Sicht des Textes keinesfalls negativ gewertet, sondern unterstreicht vielmehr »Zuverlässigkeit und Vorbildlichkeit« (Bockwyt 2007, S. 133) des Raben. Einen eigenständigen Beitrag zum Werbungsgeschehen leistet er allerdings, indem er vorschlägt, der Prinzessin einen Brief schreiben zu lassen (MO v. 565–585).

Diametral entgegengesetzt erzählt der Wiener Oswald: Zumal ein vorgegebener Wortlaut der Werbung nirgends formuliert wurde,Footnote 110 ist der Rabe eigenständiger Urheber seiner Rede an Prinzessin Spange. Seine poetische Ansprache unterscheidet sich markant von den nüchternen Ausführungen im Münchner Oswald:

Verse

Verse her sprach ›got gruze dich juncfrou, got gruze dich lilgen, ein rosentou, got gruze dich lichter morgenstern, mine ougen di sehen dich gern, got gruze dich meienris, got gruze dich bluendez pardis, got gruze dich edele kunigin vor Spange libe juncfrou min!‹ (WO v. 411–418)Footnote

Müller (2015) bespricht eine Handschrift, die den Münchner Oswald überliefert (Morgan Library, MS B.61) und diesen ›Minnegruß‹ ebenfalls enthält. Dass diese Passage im Wiener Oswald verankert ist, erwähnt Müller leider nicht.

Offensichtlich handelt es sich um einen eher konventionellen Mariengruß: Die Rede folgt Vorgaben religiösen Sprechens und steht in einer spezifischen Texttradition.Footnote 112 Die Autorschaft des Raben besteht also nicht im selbständigen Erdenken der Begrüßung, sondern im souveränen Umgang mit artifizieller Sprache und poetischen Modellen, die in einen christlichen Horizont eingebettet sind. Die Grußrede erschöpft sich jedoch nicht in der rhetorischen Gewandtheit des Raben oder im Zitat eines religiösen Genres, sondern bringt einen affizierenden Wohlklang hervor. Die poetisch geformte Sprache situiert die Angesprochene im Bildbereich des Pflanzlichen, des Blühenden, der Schönheit und des Lichts, worauf Spange mit dem Ausruf reagiert ›got vorgelde dir! | so waz kanst du mir | also schone spruche sagen!‹ (WO v. 419–421).Footnote 113 Erst im späteren Gespräch erklärt sie sich auch bereit, Oswalds Werbung anzunehmen. Die ästhetische Wirkung des ›schönen Gedichts‹ entfaltet sich dagegen in einem Moment großer Nähe zwischen Rabe und Prinzessin, die den Vogel auf seinen Wunsch in den Arm genommen hatte: Liebesgruß und Berührung fallen zusammen. Zwischen König Oswald und Spange findet dagegen kaum ein direkter sprachlicher – geschweige denn ein poetischer – Austausch statt. Nur ein einziges Mal umarmt und küsst der König seine Braut, mit der er eine keusche Ehe führen wird, nämlich als der Rabe sie ihm ›zuführt‹.Footnote 114 Allein der Rabe richtet also affizierende Sprache an die Prinzessin; körperliche Nähe wird zu großen Teilen aus der menschlichen Beziehung ausgelagert. Zwar agiert der Rabe als Bote in gewissem Maße als Stellvertreter des Königs, doch durchkreuzt diese Differenzsetzung eine Deutung des Raben als Alter Ego des Königs.Footnote 115 Innige, körperlich-affektive Kommunikation ist fast ausschließlich dem Raben (als Vogel) möglich.

Die beiden Fassungen entwerfen damit unterschiedliche Modelle von Vogel-Autorschaft: Ein gewisser Grad an Zahmheit sowie die Sprechfähigkeit des Raben, die aus menschlicher Gesellschaft resultiert, führen zu selbständigen Artikulationsmöglichkeiten des Vogels. Der Rabe, dem Gott die Sprache verleiht, bleibt hingegen bloßer Übermittler in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Allerdings zeigt der Rabe auch im Münchner Oswald – wenngleich an anderer Stelle – sprachliche Eigenständigkeit, denn er hält eine Schimpfrede, die weder menschlichem Auftrag folgt noch anderweitig vorgegeben ist. Am Hof des ›heidnischen‹ Königs vermutet der hofschalk (MO v. 849) ganz richtig, dass der Rabe wegen der Prinzessin gekommen ist. Da der König alle Werber hinrichten lässt, ist dies eine gefährliche Anschuldigung. Der Rabe begegnet ihr mit einer Beleidigung:

Verse

Verse der teufel in der hell[e] cloffet zuo aller stund dir aus deinem valschem mund! daz dir dein maul verwachsen wär, daz taucht[e] mich ain liebes mär […]‹ (MO v. 856–860)

Anders als im poetischen Mariengruß des Wiener Oswald konstituiert sich selbständige Autorschaft in der Beschimpfung eines Widersachers: ein Kommunikationsakt, der zudem nicht in der Brautwerbung angelegt ist. Zweimal bezichtigt der Rabe den Höfling der Falschheit (obwohl dieser die Wahrheit sagt); zweimal nimmt er zudem Bezug auf Mund bzw. Maul des hofschalks und positioniert sich als Vogel (mit einem Schnabel, nicht mit einem spitzen munt wie im Wiener Oswald) gänzlich außerhalb der angeblich falschen Rede. Den menschlichen Mund kennzeichnet der Rabe als Instrument des Teufels, und der Ausruf daz dir dein maul verwachsen wär gleicht einer Verfluchung, die eine (Vogel‑)Macht zur Verunstaltung menschlicher Physiognomie evoziert. Vogel-Autorschaft und spezifische Vogel-Perspektive äußern sich in der Herabsetzung menschlicher Körperlichkeit und widersetzen sich implizit einer gestaltlichen Anthropomorphisierung.

Trotz der eben beschriebenen Abgrenzung treiben Sprachvermögen und Kommunikationsfähigkeit des Raben in beiden Texten seine Vermenschlichung voran. Neben der Verfügung über Sprache werden dem Raben im Münchner Oswald Gedanken und ein Streben oder Verlangen (geträchte, MO v. 729, 903)Footnote 116 attestiert: Zum Beispiel richtet er seine Gedanken darauf, einen Fisch zu fangen oder den Meerfrauen zu entrinnen, die ihn gefangen haben.Footnote 117 Der Münchner Oswald thematisiert zudem die Wahrnehmung des Raben (MO v. 1329: des nam der rab guot war; vgl. auch MO v. 826). Neben der Sprache verfügt der Rabe also explizit über weitere Aspekte von Bewusstsein und Empfinden, die menschlicher Intentionalität gleichen.Footnote 118 Nur punktuell und im engeren Sinne bezieht die Anthropomorphisierung die Gestalt des Raben mit ein.Footnote 119 Stattdessen unterstreichen beide Texte in diesem Bereich seine Vogelhaftigkeit, insbesondere seine Flugfähigkeit, die in zwei Vollzugsformen vorgeführt wird: zum einen in der Überwindung weiter Strecken, zum anderen im unbeweglichen ›Schweben‹, etwa über der Burg (vgl. MO v. 776, 1298; WO v. 970). Im Münchner Oswald sind dem Raben hoch gelegene Orte – wie die Turmspitze oder die Zinnen der Burgmauer – zugänglich, die ohne Flugvermögen unerreichbar wären (vgl. MO v. 771–816). Derartige ›Rabenhandlungen‹ sind mit seinem Körper eng verknüpft: Immer wieder schüttelt der Rabe sein Gefieder oder schwingt es empor: sein gevider er erschwang (MO v. 647).Footnote 120 Im Wiener Oswald tritt sein Gefieder dagegen im Zusammenhang mit streichelnden Berührungen hervor. Auch für das Überbringen der Botschaften ist das Rabengefieder von Belang: Brief und/oder Ring werden vor dem Abflug unter seinem gevider (MO v. 585) bzw. unter dem Flügel (WO v. 183) befestigt – z. B. mit einer seidenen Schnur – und nach seiner Ankunft entfernt.Footnote 121 Im Wiener Oswald verliert der Rabe den Ring der Prinzessin, weil er auf einer Rast sein Gefieder schüttelt; im Münchner Oswald lösen sich die Seidenschnüre im Sturm und der Ring fällt ins Meer.Footnote 122

In beiden Erzählungen konstituieren Flug und Gefieder Vogelhaftigkeit. Der Münchner Oswald verstärkt dies durch spezifische Lautäußerungen. Von seinem erhöhten Sitz auf einem Turm oder Schiffsmast produziert der Rabe mehrfach ungeheuren Lärm: er traib ein ungefuogen schal, | daz ez in der purg erhal (MO v. 1301 f.).Footnote 123 Obwohl schal ›Klang‹ oder ›Gesang‹ sowie insbesondere Vogelsang bezeichnen kann, weist das Adjektiv ungefuoge darauf hin, dass die Laute ›ungehörig‹, ›ungeheuer‹ oder ›unangenehm‹ sind. Auch in seiner Beleidigungsrede äußert sich der Rabe mit geschell[e] (also ›geräuschvoll‹, ›mit Getöse‹), bedient sich aber menschlicher Sprache. Wenn das Verb trîben (›hervorbringen‹, ›ausführen‹) an den übrigen Stellen in Verbindung mit dem Lärm steht, ist dagegen wohl das Ausstoßen von Rabenlauten gemeint. Auch der König spricht zu Beginn des Münchner Oswald vom geprächt des Raben (MO v. 366; ›Lärm‹, ›Geschrei‹), eine stimme (MO v. 363) dagegen habe er noch nie von ihm vernommen. Verweise auf Lärm oder Geschrei des Raben fehlen im Wiener Oswald völlig, im Gegenteil: Der Mariengruß des Raben ist als Wohlklang zu verstehen – und deshalb wohl auch ganz unrabenhaft.

Mehrdeutig zwischen Anthropomorphisierung und Raben-›Natur‹ nimmt sich im Münchner Oswald die »Gefräßigkeit« des Raben aus (Dietl 2022, S. 21): Am fremden Hof isst und trinkt er fröhlich, bevor er seine Werbung absetzt (vgl. MO v. 900–904); von den Meerfrauen lässt er sich mit Braten, besten Speisen, semel und guoten wein (MO v. 695) bewirten; Prinzessin Paug kredenzt ihm ebenfalls ein festliches Mahl (vgl. MO v. 1083–1090), und auch Oswald muss ihm erst semel und guoten wein (MO v. 1359) vorsetzen, bevor er Auskunft über Erfolg oder Misslingen der Brautwerbung erhält. Als er sich selbst auf die Reise übers Meer macht, vergisst Oswald seinen Raben zu Hause, der sich später gleich zweimal beklagt, dass er in dieser Zeit mit Ferkeln und Hunden fressen musste, weil er von den Hofbediensteten keine Speise mehr erhielt (MO v. 1847–1864, 1967–1975). Auch im Wiener Oswald bleibt der Rabe zunächst unbeabsichtigt in Oswalds Burg zurück und klagt darüber, dass er mit den Säuen essen musste (WO v. 862). Dietl versteht die ›Gefräßigkeit‹ des Raben im Münchner Oswald als Zeichen seiner »Ich-Bezogenheit« und weist auf »das Spiel mit aus Fabel und Bibel bekannten Eigenschaften des Raben (Gefräßigkeit, Eigenwille, Stolz)« hin (Dietl 2022, S. 21). Damit rücken literarische Sinnhorizonte in den Blick, die innerhalb bestimmter Diskurstraditionen spezifisch ›Rabenhaftes‹ verbürgen. Anders als im Fall von Flug oder Gefieder handelt es sich jedoch um menschliche Zuschreibungen. Insgesamt treten Gefräßigkeit, Lautstärke und Beleidigungen des Raben im Münchner Oswald in scharfen Kontrast zu seiner Botenrolle und produzieren Mehrdeutigkeiten, denn diese Form des ›Rabenseins‹ geht nicht in der literarischen Funktion eines Brautwerbers auf.

Die Identität des Vogelboten verstärkt der Wiener Oswald dagegen durch ein anderes Deutungsmodell, das eng mit religiösen Ordnungsmustern verknüpft ist. Auf Anraten eines Pilgers lässt der König das Gefieder des Raben von einem Goldschmied verschönern: Gefieder und Schnabel sind zu vergolden, die Füße zu versilbern, außerdem ist eine goldene Krone für den Raben anzufertigen (vgl. WO v. 115–121). Zwar ist die prunkvolle Ausstattung königlicher Boten durchaus geläufig, doch das Gefieder des Raben wird noch ein zweites Mal verziert und in einen weiteren Deutungszusammenhang überführt: Die Prinzessin und ihre Mädchen bringen Perlen und Edelsteine, Stoffe und Geschmeide auf Beinen, Knien, Füßen, Schnabel und Federn des Raben an und setzen ihm erneut eine Krone aufs Haupt. Der Rabe gleicht nun einem engel here | uz dem pardise (WO v. 622 f.; vgl. v. 597–629). In der Tat hält ihn der Fischer, der ihm hilft, den verlorenen Ring zurückzuerlangen, zuerst für einen Engel, spricht ihn dann aber mit du rabe an (WO v. 695; vgl. v. 681 f.). Diese ›Engelhaftigkeit‹ seiner Erscheinung korrespondiert mit dem Mariengruß, den der Rabe an Spange richtet: Rückt der Gruß den Kommunikationsakt in den Kontext der Verkündigungsszene,Footnote 124 so verschiebt ihn die Engelsgleichheit des Raben weiter in die Richtung religiöser Deutung. Allerdings wird der Rabe erst nach dem Mariengruß von den Mädchen geschmückt und mit einem Engel verglichen, sodass ›Verkündigung‹ und ›Angelisierung‹ des Boten auseinandertreten. Die religiöse Allusion bleibt auch deshalb mehrdeutig, weil es ausgerechnet ›heidnische‹ Mädchen sind, die den Raben engelsgleich umgestalten.

An diesem Punkt gerät die fundamentale Opposition christlich/›heidnisch‹ ins Schwimmen: Nicht-christlichen Gemeinschaften und Kulturen wird in mittelalterlicher Literatur häufig IdolatrieFootnote 125 unterstellt, die ihren Archetyp im biblischen ›Tanz um das goldene Kalb‹ (Ex. 32, 1–29) hat. Wenn der Rabe einerseits einem Engel gleicht und den Engelsgruß in seiner Werbungsrede poetisch abwandelt, andererseits aber nur durch äußeren Prunk und Schmuck einem Gottesboten ähneln kann, lässt sich sein Status also weder der einen noch der anderen Seite eindeutig zurechnen. Die Mehrdeutigkeit, die aus der religiös geprägten Kommunikation eines Vogels mit einer nicht-christlichen Prinzessin resultiert, bleibt unauflösbar.

Die ›Angelisierung‹,Footnote 126 die zur beschriebenen Anthropomorphisierung und den vogelhaften Merkmalen des Raben hinzutritt, hat eine weitreichende Hybridisierung des Vogelboten zur Folge. Dessen literarische Inszenierung vereint Anthropomorphes und Rabenhaftes und schießt zugleich über beide Komponenten hinaus. Dass die ›Angelisierung‹ keinen geradlinigen Akt christlicher Sinnstiftung oder Legitimation darstellt, sondern in mehrdeutige Hybridität mündet, unterstreicht der Wiener Oswald zudem gegen Ende der Erzählung. Hier findet die ambivalente ›Angelisierung‹ Anwendung bei einem weiteren Tier: einem Hirsch, der – ebenfalls mit Silber und Gold geschmückt – zur Ablenkung der ›heidnischen‹ Krieger dienen soll.Footnote 127 Genau wie der Rabe scheint der Hirsch uz dem pardise (WO v. 1060) zu kommen: obe iz ein engel were | von silber und von golde (WO v. 1063 f.). Die Analogisierung von Hirsch und Rabe treibt die Äußerlichkeit der Engelhaftigkeit und deren Einbindung in ›heidnische‹ Reaktionsmuster weiter hervor und verstärkt die Ambivalenz tierlicher ›Angelisierung‹. Dagegen zeigt ein ›echter‹ engel (WO v. 1259) dem andersgläubigen Brautvater eine Vision der Hölle, die den Ausschlag für seine Bekehrung gibt. Der wahre Engel verfügt aber mitnichten über goldene Flügel oder wertvollen Schmuck: Wird damit der hybride Status des ›engelsgleichen‹ Raben implizit unterstrichen, kommt es andererseits doch nicht zur Oppositionsbildung ›wahrer‹ und ›falscher‹ Engel. Die besondere Figuration des Raben steht damit quer zur Differenz christlich/›heidnisch‹, so wie sie sich auch nicht in das geläufige Koordinatensystem des Zahmen und des Wilden einfügt.

4 Fazit

Nicht von alltagsweltlichen, sondern von wundersamen, erstaunlichen und Menschen mitunter überlegenen Vögeln erzählen die analysierten Texte, die im gleichen Zug eine grundlegend anthropozentrische Ausrichtung der Vogel-Mensch-Konfigurationen zu erkennen geben. Wenn unter ›Agency‹ eine eben nicht anthropozentrisch gedachte Handlungsträgerschaft oder Wirkungsmacht verstanden werden soll, wäre sie den von uns betrachteten Vogelboten also abzusprechen. Gleichwohl verfügen sie mehrheitlich über Sprachvermögen und Intentionalität. Subjekthaftigkeit, im Sinne von Selbstbezug und Selbstgewissheit, wird ihnen ebenso zugeschrieben wie Formen von Widerständigkeit, Unberechenbarkeit oder grundsätzlicher von »Involviertheit« (Stobbe 2019, S. 103)Footnote 128 sowie das Potenzial, Veränderungen auszulösen: sämtlich Kriterien, die dem Agency-Begriff Kontur verleihen.Footnote 129

Angesichts dieser weitreichenden Übereinstimmungen gewinnt die Herleitung oder Legitimation der Intentionalität, Handlungsträgerschaft und Wirkmacht der Vögel besondere Bedeutung. Zur transzendent begründeten Ermächtigung der Vogelboten in der Kudrun, im Mönch Felix-Stoff und im Münchner Oswald tritt ein adlig-höfischer Bedingungsrahmen im Lai de l’oiselet und im Wiener Oswald, der von den selbstmächtigen Vogelprotagonisten indes deutlich überschritten wird. Aus dieser transgressiven Grundfigur gehen die beobachteten Aushandlungen und Umgewichtungen von Dominanzverhältnissen zwischen Menschen und Vögeln hervor. In diesem Bereich konzentrieren sich weiterhin die aufgewiesenen Formen von Mehrdeutigkeit, denn sie betreffen vorrangig die Stellung der gefiederten Boten in den Ordnungen des Seins. Das vormoderne Weltgefüge ermöglicht gleitende Übergänge und Positionswechsel zwischen Tier, Gestaltwandler und Boten jenseitiger Sphären sowie eine Teilhabe am Außermenschlichen oder Göttlichen. Diese Möglichkeiten nutzen die Texte, um in je eigenen Figurationen von Botenvögeln ihren menschlichen Protagonisten und Protagonistinnen neue Formen des Erkennens und Erlebens zu erschließen. Daher gestalten sich auch die jeweiligen Verhältnisse von Anthropomorphisierung und tierlicher Andersheit polyvalent, denn die Übertragung menschengleicher Sprechfähigkeit auf Vögel und Vogelgestalten stellt zwar – in fast allen Fällen – Kommunikationsmöglichkeiten her, doch bedarf es zugleich tierlicher Andersheit, damit die punktuelle Grenzüberschreitung ihre besondere Wirksamkeit entfalten kann. Die literarischen Imaginationen der resultierenden Vogel-Mensch-Beziehung reichen von Dominanzwünschen über innige Nähe bis hin zum paradieshaften Zustand, literarisch realisiert als poetisches Ideal oder als jenseitige Offenbarung. An diesem Ende des Spektrums tragen die Vogelboten zu einer Annäherung an Transzendentes bei: Die unnachahmliche Schönheit ihres Gesangs konturiert dann die Begrenztheit irdischer oder gesellschaftlicher Ordnungen und signalisiert eine Unverfügbarkeit, die Überirdisches und Tierliches ineinander verschränkt.