Pseudonymes Schreiben richtet sich gegen die Macht des Eigennamens. Wer unter fremdem Namen publiziert, bestreitet das »identische Verhältnis zwischen dem Eigennamen und seinem Träger […], um mit dieser Differenz ein doppelbödiges Spiel zu veranstalten.«Footnote 1 Die Beweggründe, die gemeinhin als Ursache solcher Tarnungen angeführt werden, sind vielfältig: Schutz vor politischer Verfolgung, die Vermeidung von Vorurteilen gegenüber Geschlecht oder Herkunft oder aber ästhetische Motive wie die Poetisierung des Autorennamens.Footnote 2 Doch ungeachtet der Vielfalt dieser möglichen Ursachen besteht in der Regel die Annahme, dass es sich bei Pseudonymen um »Decknamen« handelt, die dazu dienen, den echten »Autor eines Textes« zu »verschleiern«.Footnote 3 Demgegenüber gibt es eine Konstellation, die bisher noch kaum Aufmerksamkeit gefunden hat: Es gibt Fälle, in denen Autorinnen und Autoren ein Pseudonym verwenden, obwohl oder gerade weil nahezu allen Beteiligten klar ist, wer sich dahinter verbirgt und spricht.

Diese Situation war im deutschsprachigen Popjournalismus der 1980er Jahre der Normalfall. So gut wie jeder, der in diesem Jahrzehnt in einem Fanzine oder Szene-Magazin publizierte, hatte ein Pseudonym: Ewald Braunsteiner, Jonas Überohr, Stalin Stalinsen, Lorenz Lorenz, Donald Fuck oder Mary Lou Monroe sind nur einige der Namen, unter denen in Zeitschriften wie Spex, Sounds und Elaste sowie in zeitgenössischen Fanzines publiziert wurde. Die Selbstverständlichkeit, mit der viele Autorinnen und Autoren sich fingierte Zweitnamen zulegten, ist rückblickend nicht mehr selbsterklärend. Denn die Szenen, in denen die Akteure agierten, waren in der Regel so klein, dass man sich in den meisten Fällen ohnehin kannte und wusste, wer welchen fingierten Autorennamen verwendete. Es ging also dezidiert nicht darum, die Identität der Verfasser zu verbergen. Was aber sollte das Schreiben unter falschem Namen dann leisten?

Der vorliegende Beitrag geht dieser Frage anhand eines der bekanntesten Fälle pseudonymer Autorschaft um 1980 nach: Kid P. alias Andreas Banaski. Banaski trat in der Untergrundszene der 1980er Jahre zunächst unter wechselnden Pseudonymen als Experimentalfilmer und als Verfasser von Fanzines auf. Unter dem Namen Kid P. wurde er als Beiträger der Musikzeitschrift Sounds und anderer Szene-Magazine einem größeren Publikum bekannt. In Sounds erhielt Banaski zu Beginn der 1980er Jahre eine Kolumne, in der er die subkulturelle Prominenz von Städten wie Hamburg, Berlin oder Düsseldorf sezierte. Damit trug er zur Begründung eines eigenen Genres bei, das Detlef Diederichsen als »Underground Home Stories« bezeichnet hat.Footnote 4 Es handelte sich um Klatschgeschichten aus der subkulturellen Szene, die einen schonungslosen Blick hinter die öffentliche Fassade von Musikern, Hobby-Autoren, Journalistinnen, Fotografen oder bildenden Künstlerinnen warfen. Statt wohlbegründete, sachliche Kritiken zu formulieren, ging es in den ›Underground Home Stories‹ um radikale, zugespitzte Urteile über das Gehörte und Gesehene, um Habitus, Geheimnisse und Verhaltensweisen von Personen, sowie darum, »Lebenslügen« unterschiedlicher Art offenzulegen.Footnote 5

Warum wurden diese Geschichten nicht unter dem Namen Andreas Banaski, sondern unter dem Pseudonym Kid P. publiziert? Anders als man annehmen könnte, diente der Deckname nicht dazu, ohne Sorge vor sozialen Sanktionen kritische Urteile unter der Gürtellinie fällen zu können. Die Personen, über die berichtet wurde, wussten in aller Regel, wer sich hinter dem fiktiven Verfassernamen verbarg. Wie im Folgenden argumentiert wird, bestand die Funktion des Pseudonyms vielmehr darin, das rollenhafte Sprechen des Klatschkolumnisten zu markieren. Es ging darum, die eigene Person von dem Geschriebenen zu distanzieren: Pseudonyme sollten, wie ein Artikel in Spex bemerkte, im Positiven wie im Negativen den Verdacht des »Inzests« und der Parteilichkeit unterlaufen.Footnote 6 Der distanzierende Gestus des ›Nom de Plume‹ unterstrich, dass es sich bei den indiskreten und distanzlosen Klatschgeschichten nicht um private Auseinandersetzungen oder Invektiven, sondern um Milieubeschreibungen handelte. Nicht obwohl, sondern gerade weil sie so persönlich waren, stand bei den Underground Home Stories mehr auf dem Spiel als individuelle Meinungen oder Aversionen.

Bei Kid P. kam darüber hinaus noch eine Besonderheit hinzu, die es möglich macht, seine Kolumnen auch als eine Auseinandersetzung mit der um 1980 diskutierten Frage nach der Gestaltbarkeit der eigenen Person zu deuten. Implizit geht es in seinen Texten stets auch um den politischen Charakter von Identitäten: Handelt es sich um festgeschriebene Attribute oder aber um autonome Selbstentwürfe? Wie sich zeigen wird, geben Banaskis Texte auf diese Frage eine doppelte Antwort. Einerseits sind sie ein emphatisches Votum dafür, sich unabhängig von den Limitierungen der realen Biografie als Star-Persona zu inszenieren, andererseits aber machen sie immer wieder darauf aufmerksam, dass die Möglichkeit solcher Selbstentwürfe buchstäblich Luxus ist.

1 Boulevard im Fanzine

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Pseudonyme deutscher Popjournalisten um 1980 nichts anderes als ein funktionslos gewordenes Derivat sind, das seine Ursprünge in der britischen Punk- und Fanzine-Kultur hatte. Innerhalb der Punk-Bewegung erfüllten Pseudonyme, wie der britische Popjournalist und Punkhistoriker Jon Savage gezeigt hat, einen doppelten Sinn: Einerseits diente das Schreiben unter fremden Namen bei der Produktion von Fanzines dem Schutz der Verfasser.Footnote 7 Fanzines schlugen oft einen unverhohlenen Ton an, polemisierten gegen einzelne Personen und eigneten sich presserechtlich geschütztes Material an, das sie beliebig zusammenschnitten und wiederverwerteten. Die besten Fanzines, so Savage, waren »verbal and visual rants about whatever took their collator’s fancy«.Footnote 8 Sie wurden anonym oder pseudonym produziert, weil viele der Autorinnen und Autoren fürchten mussten, von ihren Arbeitgebern entdeckt zu werden, ihre Stelle zu verlieren oder anderen sozialen Sanktionen ausgesetzt zu sein. Diese Schutzfunktion mag in den Anfängen der deutschen Fanzine-Szene mitunter noch eine Rolle gespielt haben, hatte aber in den meisten Alternativ- und Undergroundszenen sowie im kommerziellen Popjournalismus, wo ebenfalls viele Autoren ein Pseudonym wählten, keine Bedeutung mehr.

Wichtiger erscheint daher die ideelle Komponente des Zweitnamens, die Savage ebenfalls betont: Die Entscheidung für ein Pseudonym war oftmals Ausdruck der Überzeugung, sich eine selbstgewählte Identität verleihen zu können. Viele Protagonisten der Szene, wie etwa der Musiker und Fanzine-Macher Franz Bielmeier, begriffen die Wahl eines Pseudonyms als Befreiung: »Wir haben ja alle unter Pseudonymen geschrieben […]. Ich war mit meiner ganzen Identität nicht zufrieden. Mit meinem ganzen Leben. Und auf einmal hatte ich eine neue Identität und wurde auch von allen Leuten so akzeptiert«.Footnote 9 Dennoch waren Pseudonyme im deutschsprachigen Fanzine- und Popjournalismus mehr als bloß ein individueller Ausweg junger Erwachsener aus einem als beengt und spießig erlebten sozialen Umfeld. Als Werkzeug, um die eigene Identität neu zu bestimmen und sich nicht auf bestimmte Attribute festlegen lassen zu müssen, kam ihnen auch eine kommunikative und diskursive Funktion zu.

Diese diskursive Funktion wird bereits in Andreas Banaskis erstem Fanzine Preiserhöhung erkennbar, das erstmals 1979 erschien. Beeinflusst von Satiremagazinen wie Private Eye und Teenie-Zeitschriften wie Smash Hits sowie vom Schreiben Julie Burchills und Tony Parsons, die den Stil von Fanzines in den kommerziellen Musikjournalismus importiert hatten,Footnote 10 führte Banaski in seinem Fanzine unterschiedliche Stillagen und Ästhetiken zusammen. Bereits in der zweiten Ausgabe nutzte er eine Collage von Versatzstücken aus der BILD-Zeitung und anderen Boulevardblättern, um sich selbst und seine Zeitschrift als Gegenstand eines Medienskandals zu inszenieren (Abb. 1): Unter der Überschrift »Herrlich! wieder da! Preiserhöhung« stand, ebenfalls in der Typographie von Boulevardzeitungsüberschriften, die Frage: »Wird kid P. geisteskrank?«. Unmittelbar darunter befand sich die Meldung: »Es gibt jetzt keine Alternative zu Kid P«.Footnote 11 Auf der nachfolgenden Seite wurden angebliche Pressemeldungen zu den bisherigen Reaktionen des »deutschen Volks« auf das Fanzine abgedruckt: »Der Schocker des Jahres«, »sprachliche Wucht und Schönheit«, aber auch: »Daß sowas Grauenhaftes noch mal passieren könnte – das macht mir Panik.«Footnote 12

Abb. 1
figure 1

Kid P.: Preiserhöhung, 2. Ausgabe, o.O. 1979, o.S.

Indem Banaski sich selbst als Gegenstand der Boulevardpresse inszenierte, folgte er einer in der Punk-Bewegung geläufigen Strategie der »ironischen Überaffirmation«.Footnote 13 Die Rekontextualisierung und Übersteigerung von Stilmitteln der Regenbogenpresse wurde einerseits dazu genutzt, das Augenmerk auf die typographischen, rhetorischen und gestalterischen Mechanismen der medialen Skandalisierung zu lenken. Die dilettantische Imitation von Sensationsmeldungen parodierte die Mittel, durch die Stars und die mit ihnen verbundenen Skandale fabriziert werden. Andererseits geht die Nachahmung dieser Gestaltungsmittel aber nicht in einer medienkritischen Funktion auf, sondern hat auch eine affirmative Komponente, die sich aus der Opposition gegen ideologie- und kulturkritische Positionen erklären lässt.

Während in großen Teilen der linksalternativen Szene um 1980 alles, »was mit Personenkult zu tun« hatte oder »an Bravo erinnerte«, abgelehnt wurde, griffen die Musiker, Autorinnen und Künstler im Umfeld von Punk und Neuer Deutscher Welle solche als trivial, kommerziell und »billig« geschmähten Ausdrucksformen und Darstellungsmittel emphatisch auf.Footnote 14 Allerdings fand diese Aneignung unter veränderten Prämissen statt. »Der Grundgedanke war: ›Jeder, der unten im Publikum ist, könnte genauso auf der Bühne stehen‹.«Footnote 15 Die Wiederbelebung des Personenkults konnte, mit anderen Worten, nur unter der Bedingung stattfinden, dass die Ästhetik des Improvisierten und Selbstgemachten zur eigentlichen Kunstform und die Dilettanten zu den eigentlichen Stars erklärt wurden. Wenn Banaski sich unter dem Namen Kid P. als Beobachtungsobjekt der Regenbogenpresse inszenierte, dann stand dahinter also auch der gänzlich unironische Gedanke, dass das hierarchische Gefälle zwischen Stars und Publikum, Produzenten und Rezipienten, nicht akzeptiert werden dürfe.

Das Pseudonym diente aber nicht nur der Darstellung der vermeintlichen Beobachtung des Fanzine-Produzenten durch die Boulevardpresse. Zugleich wurde es zum Medium, um selbst die Rolle des Boulevardreporters einzunehmen und Andere zu beobachten. Auch in dieser Hinsicht spielt die Aufwertung des Dilettantischen und die Infragestellung der Grenze zwischen Produktion und Rezeption im Kontext von Punk und Neuer Deutscher Welle eine wichtige Rolle. Die ersten Klatschkolumnen, die in Preiserhöhung erscheinen, handeln von den Protagonisten dieser Szenen, also von Banaskis unmittelbarem Umfeld. Offenbar führte die Entstehung einer Subkultur, in der Künstler, Publikum und Berichterstatter prinzipiell jederzeit die Rollen tauschen konnten, zur verstärkten gegenseitigen Beobachtung: Was »jedes Fanzine vernünftigerweise« habe, so formulierte es Rainald Goetz noch 1984 in einem Spex-Artikel, sei eine Rubrik mit »Tratsch«: »wer die dicksten Titten hat und wen ranläßt, welche Nymphomanin welchen Maler abschleppt, wer mit wem welche Hausflurerlebnisse teilt« usw. Auf der »Höhe seiner Möglichkeiten« sei der Klatsch im Fanzine, wenn »jeder, aber auch jeder« darin vorkomme und beim Lesen »rot« vor »Scham« werde.Footnote 16

In Banaskis Szene-Berichten sind die Gegenstände und Themen etwas andere, das Prinzip einer radikalen Egalisierung, die niemanden davor schützt, selbst zum Gegenstand von Tratsch zu werden, ist aber auch hier leitend. Bereits die zweite Ausgabe von Preiserhöhung enthält einen ausführlichen Artikel über neue Punk- und New-Wave-Bands in Hamburg. Dabei geht es neben der Musik vor allem darum, wie sich die Mitglieder der Szene in der Öffentlichkeit präsentieren: So mokiert sich Kid P. über das »starke-mann-getue« des Musikers Trevor Watkins, das an einen »Nazi-Offizier« erinnere; er klagt darüber, dass der Verfasser des Fanzines bazillus es »allen recht machen« wolle – »auch hippies und polilticos, würg!« –; oder er belustigt sich über den Gitarristen der Band Mittagspause, Franz Bielmeier (»typ high school«), der »jetzt«, mit 19, bereits verheiratet sei.Footnote 17

Die knappen Kommentare zu den Musikern zeigen, wie vielfältig und komplex die symbolischen Abgrenzungsbewegungen in der linken Szene um 1980 geworden sind: Hatte die Distanzierung von der 1968er Bewegung und der Hippiekultur im Punk zu einer – teils ironischen – Affirmation bürgerlicher Lebensformen, von Autorität und Härte sowie zur Verwendung faschistischer Symbole geführt, so galten diese Protestzeichen bald schon als überlebt und entleert. Die wahrgenommene Kurzlebigkeit von Codes und provokativen Gesten hatte zur Folge, dass es bald vor allem darum ging, sich von sich selbst zu »distanzieren«.Footnote 18 Die Klatschkolumne in Preiserhöhung fungiert vor diesem Hintergrund wie ein szeneinternes Kontrollinstrument. Der kritische Blick des teilnehmenden Beobachters zwingt dazu, Lebensformen, Habitus und symbolische Referenzen immer wieder neu zu hinterfragen.

Entscheidend ist dabei, dass Banaski niemals als Außenstehender agiert. Die Aneignung von Techniken des Boulevardjournalismus findet stets unter der Prämisse statt, dass der Schreibende selbst zum Beobachtungsobjekt werden kann. Die Klatschgeschichten von Kid P. unterlaufen in mehr als einer Hinsicht die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem sowie zwischen Stars und deren Beobachtern. Überall da, wo normalerweise Ehrfurcht und Bewunderung vorherrschen, wird auf Distanz- und Respektlosigkeit gesetzt. Die Fiktion der öffentlichen Persona wird nicht akzeptiert. Es ist deshalb kein Zufall, dass Banaski selbst später in Zeitschriften wie Elaste immer wieder zum Gegenstand von Klatschkolumnen wurde.

2 Klassenfragen

Anfang der 1980er Jahre wanderten die Schreibweisen der Fanzines auch in Deutschland in die professionelle Musikpresse. Nachdem Banaski seit 1980 Leserbriefe an Sounds geschrieben hatte, die ähnlich unverhohlen und direkt formuliert waren wie seine Texte in Preiserhöhung und zudem eine stupende Kenntnis der zeitgenössischen Musikszene verrieten, wurde er 1981 durch die Vermittlung des Journalisten und Labelchefs Alfred Hilsberg zum festen Mitarbeiter der Zeitschrift. Seit Januar 1982 erschienen seine Reportagen über die Untergrundszenen unterschiedlicher deutscher Städte, die ihn zu einer berüchtigten Figur des Popjournalismus werden ließen: »Neues und Böses über Düsseldorf«, »Die Wahrheit über Hamburg!« sowie »Kid P. war in Berlin!«.Footnote 19 Auch wenn diese Kolumnen stilistisch sehr stark an die Szeneberichte in Preiserhöhung erinnern, ist bemerkenswert, inwiefern sich der Gegenstand des Tratschs in diesen Texten verändert hat.

Ging es im Szene-Klatsch von Fanzines wie Preiserhöhung vorwiegend darum, Trennungsgerüchte, Ortswechsel und andere personelle Veränderungen zu vermelden oder aber die Musik, das öffentliche Auftreten und den Habitus von Musikern und Künstlern zu kritisieren, so treten in den Sounds-Kolumnen die sozialen Biografien der Protagonisten deutlich stärker in den Fokus. Dabei werden diese Informationen häufig in Parenthese und ohne erklärenden Kommentar eingespeist. So stellt Banaski die Mitglieder der Band Palais Schaumburg in seinem Bericht über die Szene in Hamburg folgendermaßen vor: »Thomas Fehlmann (24, Schweizer Architektensohn – der Vater baute z. B. Krankenhäuser in Kuwait und im Iran –, Maler und Grafiker, 1976 als Kunststudent nach Hamburg eingeladen, Skifahrer), Timo Blunck (20, Zivildienst im Altonaer Kinderkrankenhaus, in dem sein Vater Chefarzt ist, Mutter Mathelehrerin, Abitur im Johanneum mit 1,3, ehemaliger VW Cabrio-Fahrer) und Ralf Michael Hertwig (18, Schüler, Sohn eines Aufsichtsrats der Deutsch-Südamerikanischen Bank, sammelt Musik- und Filmberichte und benutzt die Tönungscreme seiner Mutter)«.Footnote 20 Notorisch nennt der Artikel Ausbildungsorte, Bildungshintergründe, Berufe der Eltern und Abiturnoten. Dabei werden auch die eigenen Kollegen nicht geschont. So heißt es etwa im selben Artikel über den damaligen Sounds-Redakteur Diedrich Diederichsen, er habe sein »Abitur auf Hamburgs Eliteschule, dem 450 Jahre alten Johanneum (mit 2,2)« absolviert.Footnote 21

Die Anhäufung solcher Informationen scheint nicht auf eine Kritik an dem Werdegang individueller Personen abzuzielen. Auch wenn einzelne Bemerkungen, etwa zu Ralf Hertwigs Verwendung der Tönungscreme seiner Mutter, einen spöttischen Unterton haben, ist der Klatsch nicht konzeptionell gegen Einzelne gerichtet. Als persönliche Angriffe erschienen die Aussagen nur, wenn man sie isoliert und aus dem Zusammenhang gelöst betrachtet. In ihrer Aneinanderreihung ergeben sie hingegen ein anderes Bild: Die Summe der von Banaski aufgeführten biografischen Daten bildet eine soziale Kartografie der Hamburger Alternativszene. Deren Protagonisten stammen, wie sich zeigt, überwiegend aus gut situierten, privilegierten und bürgerlichen Verhältnissen.

Indem Banaski die soziale Struktur der subkulturellen Szenen zum Thema macht, weist er auf einen blinden Fleck im linkspolitischen Diskurs um 1980 hin. Die Nennung von Biografien, Elternhäusern und Bildungswegen bringt eine Kategorie ins Spiel, von der die durch die Theorie des Poststrukturalismus geprägte junge 1979er-Linke nicht mehr viel wissen wollte: die Klasse. Die Rezeption der poststrukturalistischen Theorien führte unter anderem dazu, dass Machtrelationen, Subjektbegriffe und soziale Kräfteverhältnisse anders gedacht und die Revolution des Proletariats als politisches Ziel verabschiedet wurde.Footnote 22 Statt Macht ausschließlich als eine hierarchische und repressive, von oben nach unten gerichtete Beziehungen aufzufassen, wurde sie im Anschluss an Theoretiker wie Michel Foucault oder Gilles Deleuze als Bündel komplexer Mechanismen der Steuerung und Selbstregulierung verstanden.Footnote 23 Und statt wie im traditionellen marxistischen Diskurs vom historischen Subjekt der Arbeiterklasse auszugehen, das sich vermittels der Revolution aus seiner Abhängigkeit von der herrschenden Klasse befreien müsse, gewann die Auffassung an Popularität, dass es eine Vielzahl an Minderheiten und Identitäten gebe, die ihre jeweiligen Interessen kleinteiliger und punktueller verfolgen sollten – gemäß dem von Gilles Deleuze und Felix Guattari formulierten Aufruf: »Bildet Rhizome! […] Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten!«.Footnote 24

Von diesen Ideen waren direkt oder indirekt auch die Protagonisten der Neuen Deutschen Welle geprägt. Das Festhalten an einer stabilen Identität galt in ihrem Umfeld geradezu als Hindernis einer progressiven Politik. Auch der Kollektivsingular der Klasse stellte keine positive Identifikationsgröße mehr dar. Das änderte allerdings nichts daran, dass Klassendifferenzen realiter nach wie vor eine große Rolle spielten. Gerade in Hamburg, wo Sounds bis 1983 erschien und wo Kid P. unter anderem Detlef und Diedrich Diederichsen kennengelernt hatte, war der Widerspruch zwischen dem linkspolitischen Selbstverständnis der Mittel- und Oberschicht und der »Realität des Klassismus« um 1980 besonders eklatant.Footnote 25 Es gab »keine Stadt in Deutschland«, so die rückblickende Erinnerung Diedrich Diederichsens, in der »Klasse so eine große Rolle spielte wie in Hamburg« – von der Ausbildung des Nachwuchses an Eliteschulen bis hin zur verpflichtenden Mitgliedschaft im »Hockey- oder Tennisclub«.Footnote 26 Dass dies in einem wahrgenommenen Konflikt zu den eigenen linken Ansichten stand, sei nur partiell reflektiert worden. Banaski war, nicht nur aufgrund seiner sozialen Herkunft aus der Arbeiterschicht, sondern auch durch sein Aufwachsen in der ehemaligen Zonengrenzstadt Büchen, ein »Außenseiter der Szene in Hamburg«.Footnote 27 Seine Zugehörigkeit zur »Working Class« war für ihn ein Lebensthema.Footnote 28 Die Klatschkolumnen aus Sounds spiegeln diese Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und dem sozialen Außenseitertum insofern wider, als dass sie die notorisch im linkspolitischen Diskurs verdrängten Klassenunterschiede ins Bewusstsein rufen.

3 Selbstgewählte Identitäten

Dass Klassenfragen im Umfeld der neuen Linken selbst da kaum noch thematisiert wurden, wo sie nach wie vor eine Rolle spielen, zeigt sich in etwas anderer Weise auch in Banaskis Reportage über Berlin. Die subkulturelle »Szene«, so die Ausgangsbeobachtung, bestehe hier aus Leuten, die aus dem »Bundesgebiet« kamen, »um dem Wehrdienst zu entgehen, zu studieren oder im Bodensatz der alternativen Kunst/Kulturszene auf den Durchbruch zu hoffen. Und alle (fast) alle können mit dem Leben nicht zurechtkommen.«.Footnote 29 Es gebe unter den Mitgliedern der Szene gleichsam einen verdeckten Imperativ, nicht »gewöhnlich« zu sein: »Jeder ist beschäftigt mit lebenswichtigen Sachen wie Musikmachen, Filmen, Performances, Malen blablablabla. Aber rede nicht von so profanen Dingen wie dem täglichen Leben, oder daß du dein Geld als Lastwagenfahrer verdienen mußt.« Max Goldt, der zu diesem Zeitpunkt noch vorrangig als Sänger der »mittelmäßigen« Band Foyer des Arts bekannt war, arbeite etwa unter dem Namen »Matthias Ernst (bürgerlich) als Reiseleiter für Stadtrundfahrten« – und diese wenig glamouröse Nebenbeschäftigung sei ihm höchst »peinlich«.Footnote 30

Es ist kaum ein Zufall, dass Banaski als Beispiel für ein verschämtes Verhältnis zu einem »profanen« Nebenverdienst ausgerechnet Max Goldt nennt, der ebenso wie er selbst aus dem Arbeitermilieu stammte und als erstes Mitglied seiner Familie das Abitur ablegte.Footnote 31 Die Zurückdrängung ökonomischer Fragen und Klassendifferenzen führt, wie die Kolumne deutlich macht, dazu, dass Personen, die wie Goldt eine Künstlerexistenz nur mithilfe von unglamourösen Zweitjobs aufrechterhalten können, keinen proletarischen Stolz, sondern soziale Scham empfinden. Auch in diesem Fall zielt der Klatsch also nicht im eigentlichen Sinn darauf, die betroffene Person selbst bloßzustellen. Die Indiskretionen sind vielmehr ein Mittel, um Widersprüche zwischen dem ideologischen Selbstverständnis und den Lebensrealitäten eines ganzen Milieus offenzulegen. Diese Widersprüche deuten zwar auf allgemeinere Problematiken hin, werden aber jeweils nur im Konkreten sichtbar.

Die Klatschkolumnen von Kid P. geben somit eine zwiespältige Antwort auf die Frage nach der Gestaltbarkeit und der freien Wahl von Identitäten. Auf der einen Seite spricht bereits die Wahl des Pseudonyms Kid P. dafür, dass Banaski von der Möglichkeit fasziniert war, unter einem neuen Namen und mithilfe einer erfundenen Persona an die Öffentlichkeit zu treten. Seine offenkundige Begeisterung für die Band ABC hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die Bandmitglieder trotz oder gerade wegen ihres proletarischen Hintergrunds in Anzügen auftraten und glamouröse Performances veranstalteten.Footnote 32 Andererseits aber richtet sich der Blick von Banaskis Texten immer wieder auf die Klassendifferenzen, die in der subkulturellen Szene nicht thematisiert werden, gleichwohl aber eine mehr als unterschwellige Rolle spielen. Damit führen die Kolumnen vor Augen, dass eine selbstentworfene Persona nie ganz davon zu lösen ist, ob man sie sich leisten kann.

Wer durch ökonomische Zwänge auf eine bestimmte Lebensrealität festgelegt ist, kann sich zwar jederzeit einen Zweitnamen zulegen und sich neu erfinden, wird aber immer wieder daran erinnert werden, dass der Phantasie materielle Grenzen gesetzt sind. Wer dagegen familiär gut abgesichert und wohlsituiert ist, dem fällt es möglicherweise leichter zu behaupten, dass Machtverhältnisse in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr an traditionelle Schichten, Kapitalverhältnisse und Bildungshintergründe gebunden sind. Kid P.s Kolumnen lassen sich vor diesem Hintergrund als Plädoyer dafür lesen, dass man beim Erfinden eines neuen Selbst nie ganz vergessen sollte, wo man herkommt. Das gilt für das Arbeiterkind Matthias Ernst ebenso wie für die Söhne und Töchter der bürgerlichen Hamburger Elite.

Vor diesem Hintergrund muss auch das Pseudonym betrachtet werden, unter dem Banaski schrieb. Der Name Kid P. – wobei das »P.« für »Punk« standFootnote 33 – bot Banaski die Möglichkeit, sich selbst gleichermaßen als »geisteskranker« Star und als vorlauter, distanzloser Star-Reporter zu inszenieren.Footnote 34 Die Persona diente einerseits dazu, den realen Verfasser von dem Geschriebenen zu distanzieren: Der Kolumnist spricht nicht als Privatperson, die Andere aus schlechter Laune, Neid oder Sensationslust bloßstellt und sich lediglich hinter einem fremden Namen versteckt. Es handelt sich vielmehr um eine künstlich geschaffene Stimme, die stets darum weiß, dass sie an den Ansprüchen, die sie formuliert, selbst gemessen wird. Die Sozialzusammenhänge, die der Kolumnist Kid P. beobachtet, werden bewusst selektiv und überspitzt wiedergegeben. Die Zielscheibe sind dabei nicht individuelle Personen, denn die Beobachteten interessieren immer nur als Teil einer Gruppe. In den Berichten über Hamburg, Berlin, Köln oder Düsseldorf geht es um den Habitus und die Verhaltensweisen eines Milieus, das in derartigen Berichten eine Kontrollinstanz hat. Die paradoxe Konstellation des pseudonymen Klatschs besteht, mit anderen Worten, darin, dass es sich um ein Sprechen ad personam handelt, das jedoch nicht persönlich gemeint ist.

Gleichwohl ist der Klatschkolumnist Kid P. von der Person Andreas Banaski nicht zu trennen. Denn die für den Autor stets virulente Frage, wie man sich als Figur aus der »Working Class« in einem bürgerlichen Umfeld verhält und positioniert,Footnote 35 leitet auch die Beobachtungsperspektive der Persona Kid P. an. Die Beobachtung der Fehler, Lebenslügen und Peinlichkeiten Anderer sind deshalb indirekt immer mit einer Hinterfragung der eigenen Lebensrealität verbunden. Programmatisch wird dieser Umstand 1980 im Fanzine Gegendarstellung auf den Punkt gebracht: »Unser Leben ist der Inhalt. Wir schreiben ja doch nur über uns, wenn wir über andere herziehen. Und das ist der Unterschied zu irgendwelchen Zeitschriften/Zeitungen«.Footnote 36 Damit ist der poetologische Grundsatz für das Genre der ›Underground Home Stories‹ formuliert. Der Schreibende setzt sich, gerade indem er Andere beobachtet und kritisiert, immer ein Stück weit selbst aufs Spiel. Pseudonymes Schreiben ist in den Klatschkolumnen des Popjournalismus somit immer auch ein Anschreiben gegen die Souveränität der eigenen Autorschaft.