1 Vorbemerkungen

Entscheiden vollzieht sich in größeren Kommunikationszusammenhängen und auf verschiedenen Ebenen, die über die einzelne Entscheidung hinausragen und nicht ausschließlich über eine Sprechaktanalyse linguistisch erschlossen werden können. In Jacob (2017) werden unterschiedliche Analysekategorien vorgeschlagen, um die kommunikative Praxis des Entscheidens, also größere Kommunikationszusammenhänge, in denen sich Prozesse des Entscheidens in der Sprache vollziehen und die über ein Gespräch und einen Text hinausragen, methodisch und empirisch zu fassen.Footnote 1 Innerhalb dieser Kommunikationszusammenhänge sind ›Praktiken des Entscheidens‹ als Bestandteile des Kommunikationsprozesses eine zentrale Kategorie. Sie können als Einheiten sprachlichen Handelns und Verhaltens verstanden werden, die für das Entscheiden spezifisch sind. Entscheiden ist sprachliches Handeln, weil mit dem Entscheiden immer eine Orientiertheit bzw. Zielgerichtetheit einhergeht, denn entschieden wird immer mit einer bestimmten Intention. Entscheiden ist zugleich sprachliches Verhalten, weil in Prozesse des Entscheidens immer nicht-intendierte Nebeneffekte miteinfließen und diese mitbestimmen, beispielsweise Aspekte habitualisierter Redeweisen oder diskursiver Machtgefüge. Zudem ist kollektives Entscheiden, bei dem die Kommunikation relevanter ist als beim individuellen Entscheiden, geprägt von Effekten der Emergenz – kollektives Entscheiden ist mehr als die Summe von Einzelentscheidungen, das Kollektiv bringt neue Eigenschaften hervor, die die Individuen innerhalb eines Kollektivs nicht haben, beispielsweise ist das Kreativitätspotenzial wesentlich höher. Durch die Interaktion der Individuen im Kollektiv und dabei entstehenden Dynamiken bilden sich mehr Möglichkeiten heraus, wie individuell präferierte Alternativen kombiniert und dadurch gestaltet werden oder sich entfalten (vgl. Neumer 2009, S. 13 f.; Jacob/Landschoff/Littek/Wolf in Vorb.). Im Folgenden werden die Praktiken des Entscheidens genauer erläutert und von den linguistisch konturierten Semantiken und Narrativen des Entscheidens abgegrenzt. Es geht also darum, wie Entscheiden praktiziert (analytisch gefasst durch ›Praktiken‹), benannt (analytisch gefasst durch ›Semantiken‹) und erzählt (analytisch gefasst durch ›Narrative‹) wird. Grund dieser begrifflichen und kategorialen Unterscheidung ist, dass sich Prozesse des Entscheidens unter linguistischen Gesichtspunkten auf unterschiedlichen Ebenen zeigen und analysieren lassen. Zum einen vollzieht sich Entscheiden zu einem großen Teil in sprachlichen Zeichen und ihrem kommunikativen Vollzug, denn entweder verwenden Gruppen von Menschen Sprache, um Entscheidungen zu finden bzw. Entscheiden hervorzubringen und sich über Inhalte und Prozesse des Entscheidens auszutauschen, oder einzelne Menschen berichten in sprachlicher Form von ihren mentalen Vorgängen und verbalisieren ihre Entscheidung.Footnote 2 Sprache – der verbalisierte Gedankengang, das realisierte Gespräch oder der verschriftlichte Text – ist daher das zentrale Medium, in dem sich Entscheiden niederschlägt und das als analytischer Ansatzpunkt herangezogen werden kann. Zum anderen wird über diese Prozesse in Form von expliziten und impliziten Formulierungen metakommunikativ gesprochen. Und des Weiteren lassen sich Narrative in Sprache bzw. Kommunikation beobachten, die dem Entscheiden sehr ähnlich sind, denn wie beim Entscheiden sind auch beim Erzählen Selektionsprozesse typisch. Ziel dieses Beitrages ist es, durch die verschiedenen Kategorien die verschiedenen Dimensionen des Entscheidens herauszustellen, die bei einer linguistischen Untersuchung sichtbar werden.

Das Schaubild Tab. 1 soll die Zuordnung der kategorialen Unterscheidung veranschaulichen.

Tab. 1 Kommunikative Praxis des Entscheidens

Eine linguistische Perspektive auf die kommunikative Praxis des Entscheidens fokussiert die Korrelationen zwischen der sprachlichen Oberfläche (der in Zeichen realisierten Form des Entscheidens) und den kommunikativen Funktionen, die mit den sprachlich realisierten Zeichen in einer bestimmten kommunikativen Situation oder einer diskursiven Sinnformation einhergehen.Footnote 3 Eine Linguistik des Entscheidens nimmt die kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für das Entscheiden sowie die temporalen, lokalen und sozialen Situierungen der beteiligten Entscheidenden ernst (vgl. Jacob 2017, S. 207 ff.),Footnote 4 ergründet diese entweder durch die Lektüre relevanter Sekundärliteratur, meist aus benachbarten Wissenschaftsdisziplinen wie beispielsweise den Politik- und Geschichtswissenschaften, oder aus den Daten selbst. Der analytische Ansatzpunkt ist hier die sprachliche Oberfläche: Ausgehend von einer Analyse sprachlichen Handelns und Verhaltens einerseits (Funktionsanalyse) und einer Analyse sprachlicher Zeichen und ihrem musterhaften Gebrauch im Diskurs andererseits (Formanalyse), werden Korrelationen aufgezeigt, um die kommunikative Praxis des Entscheidens zu beschreiben und zu deuten.

2 Linguistik des Entscheidens – eine Skizze

Die Linguistik hat sich auf dem interdisziplinären Feld der Entscheidungsforschung noch kaum etabliert.Footnote 5 Das mag verwundern, denn wie bereits oben angesprochen ist kollektives, aber oft auch individuelles Entscheiden unmittelbar an Kommunikation gebunden. In meiner Untersuchung zu einer »Linguistik des Entscheidens« (Jacob 2017) wird daher ein Modell präsentiert, mit dem systematisch erfasst wird, wie sich Entscheidungen und Entscheiden zum einen in Sprache niederschlagen, wie diese zum anderen aber auch interaktiv vorbereitet, getroffen und nachbereitet werden. Des Weiteren wird eine linguistische Methode entwickelt, um die kommunikative Praxis des Entscheidens zu analysieren.

Ausgangspunkt ist es, sich an Positionen aus der interdisziplinären Entscheidungsforschung – beispielsweise der Geschichtswissenschaft (vgl. Stollberg-Rilinger 2015; Hoffmann-Rehnitz/Kirscher/Pohlig 2018, S. 217–218) und den Verhaltenswissenschaften – zu orientieren und diese aufzugreifen, sich aber auch von bestimmten Theoriekonzepten – beispielsweise der Rational Choice Theory – zu distanzieren, denn Entscheidungen sind keine rationalen, sondern soziale, historische und weil sie sich in Sprache manifestieren vor allem auch kommunikative Konstrukte.Footnote 6 Davon ausgehend wird Entscheiden als Prozess verstanden,

der mentale Vorgänge wie auch aktionale und interaktionale Dimensionen des Handelns umfasst und von kontextuellen Rahmenbedingungen bestimmt ist. Prozesse des Entscheidens vollziehen sich in sprachlicher und nichtsprachlicher Praxis. Das intendierte Handeln prägt das Entscheiden ebenso wie das nichtintendierte Verhalten. Das Entscheiden vollzieht entweder ein Mensch für sich oder mehrere Menschen miteinander. Wenn mehrere Menschen miteinander entscheiden, dann werden zunächst Alternativen kommunikativ erarbeitet und bearbeitet, um davon ausgehend im Akt der Entscheidung eine Alternative auszuwählen. (Jacob 2017, S. 72)

Diese an Konzepte der interdisziplinären Entscheidungsforschung geknüpfte Arbeitsdefinition wird durch ein heuristisches Verfahren in die Linguistik gespiegelt, indem skizziert wird, was Entscheiden von einem linguistischen Standpunkt aus sein könnte und welche sprachtheoretischen und methodologischen Überlegungen nötig sind, um das Entscheiden als kommunikatives Phänomen zu untersuchen. Dabei wird ein enger Zusammenhang zwischen Sprechen, Handeln und Verhalten vorausgesetzt, weshalb sich auch der Begriff der Praxis (hier verstanden als Gesamtheit aller Praktiken des Entscheidens) und der Begriff der Praktiken (hier verstanden als einzelne kommunikative Einheiten des Entscheidens) eignen (vgl. Jacob 2017, S. 76–80). Praktiken sind an Materie, Medium und Modalität gebunden, setzen Beteiligung voraus, zeigen sich im sprachlichen Handeln, aber auch in Routinen, also im sprachlichen, vorreflexiven und damit nicht-intendiertenFootnote 7 Verhalten, dem indexikalische Symptom- und sozialsymbolische Indikatorfunktion zukommt; sie sind außerdem kontextuell, also temporal und historisch bestimmt (Deppermann/Feilke/Linke 2016, S. 3). Dabei werden die Praktiken als Analysekategorie eingeführt, »um nicht nur das intendierte, sondern auch das nichtintendierte Verhalten aus praxistheoretischer Perspektive zu ergründen« (Jacob 2017, S. 162). Außerdem eignet sie der Praktikenbegriff in besonderer Weise, um Entscheiden linguistisch zu erfassen, denn er ist an das Körperliche der Interaktionen innerhalb eines Kollektivs gebunden. In der mündlichen Kommunikation sind para- und nonverbale Zeichen und Zeigegesten essentiell, wenn Kollektive Entscheidungen hervorbringen. In der hier zugrunde gelegten schriftlichen Kommunikation ist ein großer Teil der Entscheidungstexte Ergebnis mündlicher Kommunikation, weshalb der Praktikenbegriff übertragen wird. Die Praktiken werden wie folgt definiert:

Unter Praktiken werden hier Einheiten sprachlichen Handelns und Verhaltens verstanden, die sich aber auch im mentalen, im aktionalen und vor allem auch im interaktionalen Handeln und Verhalten vollziehen. Sie resultieren aus der sozialen Praxis des Diskurses und sind geprägt von den gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Praktiken haben prozessualen Charakter. Für das Entscheiden im parlamentarischen Diskurs um erneuerbare Energien ist beispielsweise die Praktik der zeitlichen Verortung zu nennen. In den Daten lässt sich diese Praktik beobachten: Die Diskursakteure verorten sich oder einen Sachverhalt in der Gegenwart, um Vergangenes aufzugeben und Zukünftiges zu gestalten. (Jacob 2017, S. 162)

An die Prämisse anknüpfend, und zwar Entscheiden als eine spezifische soziale Praxis zu verstehen, die aus unterschiedlichen kommunikativen Praktiken zusammengesetzt ist, lässt sich nun danach fragen, auf welchem Wissen das Entscheiden basiert, welche Wissensarten es voraussetzt und welche Wissensformationen mit den Praktiken des Entscheidens hergestellt werden (vgl. Jacob 2017, S. 80–84). Konerding bündelt die wissenstheoretische Diskussion und stellt zwei Wissensarten gegenüber, das deklarative und das prozedurale Wissen (vgl. Konerding 2009, S. 83–91). Bezogen auf das Entscheiden kann festgehalten werden, dass es zwar mit dem deklarativen Wissen (mit dem Wissen als mentale Repräsentationen in Propositionen) operiert, dabei aber primär auf dem prozeduralen Wissen (dem Wissen als ein Entscheiden-Können) basiert. Ein prozedurales Wissen wird sowohl individuell als auch kollektiv erlernt sowie dann durch routiniertes Verhalten praktiziert und dabei angepasst und erweitert. Es sedimentiert sich meist implizit in der sprachlichen Oberfläche. Bisweilen werden kommunikative Handlungsformen des Entscheidens schriftlich festgehalten,Footnote 8 meistens sind es aber kommunikative Routinen, die die Interagierenden erfahren, erlernt und manchmal auch partiell reflektiert haben, aber in dem Moment des Praktizierens durch sprachliches, vorreflexives und damit nicht-intendiertes Verhalten realisieren (vgl. Jacob 2017, S. 87 f.).

Weiterhin wird das Vorhaben einer Linguistik des Entscheidens vor dem erkenntnistheoretischen Hintergrund eines gemäßigten Konstruktivismus konzipiert, d. h. obwohl dieses Vorhaben einem konstruktivistischen Paradigma folgt, so nimmt es bestimmte Realitäten an.Footnote 9 Daraus ergeben sich zwei Folgen für das linguistische Vorgehen: Zum einen werden die Kommunikate in Anlehnung an Jochen A. Bär hermeneutisch erschlossen und Deutungsangebote formuliert (vgl. Bär 2015), zum anderen wird im Sinne eines radikalen pragmatischen und kontextsensitiven Ansatzes rekonstruktiv vorgegangen (vgl. Jacob 2017, S. 84–89, 236–240).

Für das konkrete methodische Vorgehen sind methodologische Reflexionen nötig. Um Entscheiden als kommunikatives Phänomen charakterisieren und linguistisch analysieren zu können, ist es sinnvoll, sich mit linguistischen Ansätzen zu befassen, die kommunikative Prozesse in der gesprochenen und geschriebenen Kommunikation untersuchen und die Kommunikate in ihrer Verknüpfung fokussieren, denn Entscheiden vollzieht sich in einzelnen Gesprächen und Texten prozessual, aber vor allem auch durch mehrere hindurch. Weil er als analytische Kategorie diesem Anspruch nachkommt, ist dem Diskursbegriff in diesem Zusammenhang ein besonderer Erkenntniswert zuzumessen.Footnote 10 Hierfür lassen sich zwei Ansätze zusammenführen, die diesen auf unterschiedliche Weise verwenden und die sich mit Blick auf den Entwurf einer Linguistik des Entscheidens ergänzen: die DiskurslinguistikFootnote 11 und die Funktionale Pragmatik (vgl. Jacob 2017, S. 144–244; vgl. auch Januschek/Redder/Reisigl 2012).Footnote 12 Auf der Grundlage eines solchen methodologischen Konzepts und empirischer Untersuchungen (in diesem Fall des parlamentarischen Diskurses um erneuerbare Energien von 1983 bis 2013) lässt sich eine linguistische Typologie zur kommunikativen Praxis des Entscheidens erstellen.Footnote 13 Sie umfasst die kommunikativen Spezifika des Entscheidens, die zugleich als Analysekategorien fungieren und in ein methodisches Vorgehen eingebettet sind (vgl. Jacob 2017, S. 439–447).

Eine zentrale linguistische Beobachtung, die auf der Grundlage der durchgeführten Untersuchungen gewonnen werden konnte, ist, dass Entscheiden nicht nur durch eine Sprechhandlung gekennzeichnet ist, sondern sich über verschiedene Kommunikationsprozesse hinweg erstreckt und zugleich an nicht-intendiertes und vorreflexives Sprechverhalten gebunden ist. Diese Prozesse lassen sich in drei Phasen unterteilen:

  1. 1.

    Sachverhalte werden kommunikativ konstituiert.

  2. 2.

    Konstituierte Sachverhalte werden kommunikativ evaluiert und modifiziert.

  3. 3.

    Aus den evaluierten und modifizierten Sachverhalten erfolgt eine kommunikative Selektion aus Optionen.

Das Entscheiden vollzieht sich als kommunikativer Prozess von der ersten über die zweite hin zur dritten Phase. In der ersten und zweiten Phase werden Entscheidungen vorbereitet, in der dritten wird eine Entscheidung getroffen (vgl. Jacob 2017, S. 93–96). Auf der Grundlage der methodologischen Arbeit und der empirischen Untersuchung konnten dann Spezifika des Entscheidens herausgearbeitet werden (vgl. Jacob 2017, S. 439–447). Für den vorliegenden Beitrag sind dabei vor allem die Praktiken des Entscheidens interessant, um die Zusammenhänge zu Semantiken und Narrativen des Entscheidens aufzuzeigen.

3 Semantiken des Entscheidens

Da sprachliches Handeln und Verhalten eng an sprachliche Zeichen geknüpft sind, impliziert eine Auseinandersetzung mit Praktiken des Entscheidens immer auch eine Beschäftigung mit Semantiken des Entscheidens. Wenn nach zweitem gefragt wird, liegt der Analysefokus auf der Korrelation zwischen der Form sprachlicher Zeichen und ihrer konventionalisierten und situationsgebundenen Bedeutung, die sich im Diskurs stabilisiert hat. Wenn hingegen Praktiken des Entscheidens in den Blick genommen werden, ist der analytische Blick auf die kommunikative Funktion sprachlicher Zeichen gerichtet. Semantiken des Entscheidens sind eine Deutungskategorie, in der verschiedene diskursiv geprägte Bedeutungen formuliert werden. Es geht darum, wie über Prozesse des Entscheidens explizit und implizit gesprochen wird und welche Wissensformationen aus dem Diskurszusammenhang darauf einwirken. Bei der Formulierung von Praktiken des Entscheidens fließen verschiedene Deutungsebenen zusammen: Von der sprachlichen Oberfläche können Deutungshypothesen für mentale Vorgänge aufgestellt werden. Wir erfahren etwas über aktionales und vor allem auch interaktionales Handeln und Verhalten der beteiligten Kommunikationsteilnehmer*innen. Im Unterschied zu den Semantiken, die eher eine analytische Momentaufnahme der Bedeutungsebenen sprachlicher Zeichen beim Entscheiden darstellen, haben die Praktiken prozessualen Charakter. Sie greifen die Dynamik auf, die beim Entscheiden als soziale Praxis im Diskurs vorliegt. Semantiken des Entscheidens werden vor allem auf die sprachlichen Zeichen innerhalb der Daten beschränkt untersucht, in die Formulierung der Praktiken fließt hingegen die Lektüre relevanter Sekundärliteratur aus anderen Disziplinen mit ein. Auf diese Weise können die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen in die Formulierung der Praktiken miteinbezogen werden.

Das Schaubild Tab. 1 kann nun etwas erweitert werden, s. Tab. 2.

Tab. 2 Erweitertes Schaubild »Kommunikative Praxis des Entscheidens«

Um das hier vorliegende Verständnis von Semantiken zu verstehen, ist der linguistische Begriff des Diskurses hilfreich bzw. der in Fußnote 10 skizzierte erste Diskursbegriff: Diskurse sind Regelsysteme, in denen sich sprachliche Zeichen und damit verbundene Wissenseinheiten formieren. Sie zeigen sich meist als thematische Ansammlungen von sprachlichen Zeichen. Felder spricht in diesem Zusammenhang von einem »Text- und Gesprächsnetz zu einem Thema« (Felder 2012, S. 122). Von einem thematisch orientierten Diskursbegriff ausgehend kann dann zwischen zwei Formen diskursunabhängiger Semantiken und verschiedenen Formen diskursunabhängiger Praktiken des Entscheidens (Kap. 3.1) und einer Form diskursabhängiger Semantiken des Entscheidens (Kap. 3.2) unterschieden werden. Die diskursunabhängigen Formen sind typisch für das Entscheiden, und zwar unabhängig vom Thema des Diskurses. Die diskursabhängige Form ist dementsprechend durch das Thema und so auch durch die diskursiv geprägten Bedeutungsformationen bedingt.

3.1 Diskursunabhängige Semantiken und Praktiken des Entscheidens

(1) Benennung des Entscheidens im engen Sinne: Semantiken des Entscheidens im engen Sinne sind lexikalische Realisierungen, die die kommunikative Praxis des Entscheidens explizit benennen, hierunter fallen Lexeme wie Entscheidung und entscheiden, aber auch ihre Synonyme:

Zum Lemma Entscheidung im DUDEN. Das Synonymwörterbuch (2007):

1. Entscheid; (Amtsspr.): Beschlussfassung.

2. Alternative, Auswahl, Entscheid, Entschließung, Option, Wahl.

3. Beschluss, Entscheid, Entschluss, Urteil; (bildungsspr.): Votum.

Zum Lemma entscheiden im DUDEN. Das Synonymwörterbuch (2007):

1. (a) eine Entscheidung treffen, klären, urteilen; (salopp): auskochen; (Amtsspr.): für Recht erkennen; (Rechtsspr.): ein Urteil fällen, judizieren; (Rechtsspr. veraltet): dijudizieren; (Sport): erkennen.

(b) beschließen, bestimmen, festlegen, festsetzen, verfügen; (geh): gebieten; (bildungsspr.): dezidieren; (veraltend): walten; (oft Amtsspr.): befinden.

2. bestimmen, den Ausschlag geben.

Zum Lemma sich entscheiden im DUDEN. Das Synonymwörterbuch (2007):

(a) aussuchen, auswählen, eine [Aus]wahl/Entscheidung treffen, sich entschließen, nehmen, optieren, sich schlüssig werden, vorziehen, wählen, zu einem Entschluss gelangen/kommen, zu einer Entscheidung gelangen/kommen; (geh.): auserkiesen, auserwählen, auslesen; (bildungsspr.): votieren.

(b) sich erweisen, sich herausschälen, sich herausstellen, sich klären, sich zeigen; (geh.): sich erzeigen.

Neben der Arbeit mit Synonymwörterbüchern ermöglicht ein Blick in die Kookkurrenzdatenbank CCDB (Belica 2011), Lexeme ausfindig zu machen, die ähnliche Kookkurrenzprofile haben wie das Lexem Entscheidung:

Entscheidung: Urteil, Entscheid, Grundsatzentscheidung, Beschluss, Beschluß, Personalentscheidung, Urteilsspruch, Urteilen, Grundsatzurteil, Entschluss, Entschluß, Richterspruch, Rechtsprechung, Gerichtsentscheidung, Standortentscheidung, Weichenstellung, Rechtssprechung, ergangen, Investitionsentscheidung, Kaufentscheidung, Verdikt, Schiedsspruch, Spruch, Rechtsauffassung, Fehlentscheidung, Grundsatzbeschuss, Grundsatzbeschluß, Votum, Richtungsentscheidung, Vorentscheidung

(2) Benennung des Entscheidens im weiten Sinne: Semantiken des Entscheidens im weiten Sinne sind lexikalische Realisierungen, die identifiziert werden können, wenn die kommunikative Praxis des Entscheidens empirisch untersucht wird und die relevanten Kommunikationsprozesse durch Verben explizit und spezifischer bezeichnet werden.Footnote 14

(3) Praktiken, die mit der kommunikativen Praxis des Entscheidens einhergehen: Praktiken des Entscheidens sind linguistische Beschreibungen (oben wurden sie als Analyse- und Deutungskategorie bereits genauer definiert), die gewählt werden, um das analytisch zu beschreiben, was eher implizit beim Entscheiden passiert.Footnote 15

3.2 Diskursabhängige Semantiken des Entscheidens

Innerhalb der sprach- und kommunikationswissenschaftlich ausgerichteten Begriffsgeschichte und historischen Semantik (vgl. dazu Müller/Schmieder 2016) ist die Wortfeldtheorie nach Jost Trier ein prominenter Ansatz. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass nicht die Semantik einzelner Wörter analysiert, sondern dass der von de Saussure vorgeschlagenen Ansatz der Beziehungen zwischen Wörtern auf die Bedeutung (Semantik) übertragen wird:

Trier geht davon aus, dass Worte [bzw. Wörter] im Bewusstsein der Sprechenden nicht isoliert existieren, sondern sich um sinnverwandte Ausdrücke gruppieren. (Müller/Schmieder 2016, S. 460)

Eine Wortfelduntersuchung fokussiert die Bedeutungs- und Bezeichnungsgeschichte (Müller/Schmieder 2016, S. 464) und beschreibt Sinnbezirke. Der in den 1930er-Jahren entwickelte Ansatz lässt sich gut mit dem der Linguistischen Diskursanalyse bzw. Diskurslinguistik verbinden, deren Anfänge in der Historischen Semantik liegen, die wiederum aus der kritischen Auseinandersetzung mit der historischen Begriffsgeschichte nach Reinhart Koselleck entstanden ist. Erste Vertreter in der Linguistik sind Dietrich Busse, Martin Jung, aber auch Fritz Hermanns (Busse 1987; Jung 1994; Hermanns 1995). Seit dieser Zeit hat sich die Diskurslinguistik in einer rasanten Geschwindigkeit zu einem fachprägenden Forschungsparadigma entwickelt, in welchem beansprucht wird, dass die Diskurslinguistik zugleich Theorie, Methode und Haltung ist (vgl. Gardt 2007). Wie auch in der Wortfelduntersuchung ist das Erkenntnisinteresse in der Diskurslinguistik, wie die Form-Funktions-Korrelationen sprachlicher Äußerungen musterhaft realisiert werden und sich in diachroner Betrachtungsperspektive entweder verfestigen oder verändern. Die Sinnbezirke der Wortfelduntersuchung sind vergleichbar mit Wissensformationen, die ausgehend von Sprachgebrauchsmustern diskurslinguistisch beschrieben werden können. Im Unterschied zur Isotopieuntersuchung, die für diesen Analyseschritt auch herangezogen werden könnte,Footnote 16 eignet sich die Wortfelduntersuchung besonders gut, weil sich Sinnbezirke über die Textgrenze hinweg erstrecken und dem Diskursbegriff als Text- und Gesprächsnetz nahe kommen. Vor diesem linguistischen Hintergrund lassen sich die diskursabhängigen Semantiken des Entscheidens charakterisieren:

(4) Sinnbezirke, die auf die kommunikative Praxis des Entscheidens wirken: Solche Sinnbezirke entstehen und entwickeln sich durch musterhaften Sprachgebrauch in Diskursen, beispielsweise gehören folgende Ausdrücke dem Sinnbezirk ›Natur‑, Umwelt- und Klimaschutz‹ an:

energieökologische, Gesamtökobilanz, Klimaagentur, Klimagasemission, klimagasemittierende, Klimaparameteränderung, klimarelevant, Klimaschutz, Klimaschutzagentur, Klimaschutzbilanz, klimaschutzgerechte, Klimaschutzgrundsatz, klimaschutzpolitische, Klimaschutzteilplan, Klimaschutzvorzeichen, klimaschutzwirksame, klimaunfreundliche, Klimaunterschied, Klimavertrag, klimaverträgliche, Klimawandel, Klimazölle, Landschaftsverschandelung, Langfristklimaschutzziel, müllvermeidende, Naturschutz, ökologische, Umweltaspekt, Umweltenergienutzung, Umweltenergierecht, Umweltfalle, umweltgerechte, umweltschädliche, Umweltschutz, Umweltschutzprogramm, Umweltverantwortbarkeit, umweltvergiftende, Weltumwelttag, Windschutzmaßnahme (Jacob 2017, S. 295)

Solch ein Sinnbezirk wirkt auf die kommunikative Praxis des Entscheidens, wenn beispielsweise Bundeskanzlerin Merkel am 09.06.2011 in einer Regierungserklärung die Gründe für ihre Entscheidung zum Atomausstieg darlegt:

Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also sichere Energieversorgung in Deutschland. Deshalb füge ich heute ausdrücklich hinzu: Sosehr ich mich im Herbst letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert. (BT-PlPr 17/114 2011, S. 12960 (C))

Es ist hier deutlich zu erkennen, wie die offenbar gefällte Entscheidung auf die Wissenskonstitution zurückgreift, die im Prozess des Entscheidens in sprachlichen Zeichen semantisch geformt wurde.

Das Schaubild von oben kann nun etwas erweitert bzw. verändert werden, s. Tab. 3.

Tab. 3 Erweitertes Schaubild »Kommunikative Praxis des Entscheidens«

4 Narrative des Entscheidens

In dem folgenden Abschnitt wird zunächst eine linguistische Perspektive auf Erzählung, Narrativ und deren Zusammenhang zum Entscheiden reflektiert und an empirischem Material veranschaulicht.

4.1 Konturierung des Konzepts Narrativ mittels literatur- und sprachwissenschaftlicher Ansätze

Martínez liefert eine Definition für Erzählung und stellt dabei notwendige und hinreichende Kriterien auf. In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass Erzählung, Narration und Narrativ im wissenschaftlichen wie auch alltäglichen Sprachgebrauch meist synonym verwendet werden (vgl. Martínez 2017, S. 2). In dem vorliegenden Beitrag wird zwischen Erzählung bzw. Narration und Narrativ unterschieden. Die Erzählung wird im folgenden Absatz genauer erläutert. Ein Narrativ ist hingegen ein diskursives Erzählgeflecht, also ein Fragment einer Erzählung, das in einem Diskurs musterhaft auftritt. Die fünf ergänzenden Aspekte, die für ein Narrativ als Erzählgeflecht in einem Diskurs charakteristisch sind, werden im Anschluss erläutert.

Martínez stellt die Formel »Erzählen ist Geschehensdarstellung + x« auf, um das reine »Erzählen als Geschehensdarstellung« so zu differenzieren, dass es von anderen Kommunikationsformen abgegrenzt werden kann (Martínez 2017, S. 3). Eine Geschehensdarstellung zeichnet sich durch drei Faktoren aus: »Wer erzählt, bezieht sich stets auf ein (reales oder erfundenes) Geschehen, das als solches durch Konkretheit, Temporalität und Kontiguität gekennzeichnet ist« (Martínez 2017, S. 6). Hinreichend ist zwar, dass beim Erzählen »singuläre und konkrete« Sachverhalte dargestellt werden, die »durch eine Sequenz chronologisch geordneter Ereignisse strukturiert« und »räumlich, zeitlich oder kausal aufeinander bezogen« sind, notwendig ist aber ein weiteres Merkmal oder eine Kombination ergänzender Merkmale (Martínez 2017, S. 2). Ein x muss also hinzukommen, damit etwas in Texten oder Gesprächen als Erzählen qualifiziert werden kann. Martínez greift dabei auf etablierte Konzepte in der Literatur- und Sprachwissenschaft zurück: Beim Erzählen verläuft die Linearität der Zeichen häufig parallel zum Verlauf der bezeichneten Ereignisse (Doppelte Zeitlichkeit). Es wird zumeist aus der Perspektive einer Vermittlungsinstanz erzählt. Die Prinzipien der Kausalität und Intentionalität können das Erzählen auszeichnen, da die Ereignisse im Geschehen nicht nur temporal, sondern auch kausal aufeinander folgen und Handlungen der Agierenden absichtlich erfolgen. Die Ganzheit, also die Gesamtheit einer Erzählung, stellt er als weiteres optionales Kriterium auf. Auch die Ereignishaftigkeit ist zentral. Sie knüpft an die Gesamtheit einer Erzählung an und charakterisiert die Erzählung in Texten oder Gesprächen als ein Ganzes mit Teilen, die beim Erzählen durchschritten werden und von Jurij M. Lotman in literarischen Kontexten als Bruch mit Normen oder von Uta M. Quasthoff in alltagssprachlichen Zusammenhängen als Bruch des Plans verstanden werden (vgl. Lotman 1972; Quasthoff 1980). Ein weiteres optionales Kriterium ist die »Erfahrungshaftigkeit«.Footnote 17 Dass subjektiv Erfahrenes erzählt wird, ist aber nicht hinreichend und notwendig, um eine Erzählung zu charakterisieren. Außerdem haftet einer Erzählung in der Regel die Metainformation an, dass sie in einer Erzählsituation als lohnend und relevant charakterisiert wird; im Sinne von William Labov kann auch von »Tellability« gesprochen werden (vgl. Labov 1986). Das letzte Kriterium, das Martínez nennt, betrifft pragmatische Zwänge: »Konversationelle Zugzwänge« stellen die Agierenden (vor allem den Erzählenden) vor die Aufgabe, die Geschehensdarstellung in der Erzählsituation so zu gestalten, dass die Kommunikationsform für alle zu einer Erzählung werden kann (Martínez 2017, S. 3–6).

Die von Martínez aufgestellten Kriterien betreffen das Geschehen selbst, die Art der sprachlichen Darstellung und die damit einhergehenden strukturellen Anforderungen, das heißt er bestimmt die Erzählung auf inhaltlicher (die Qualität der erzählten Ereignisse), auf sprachlicher (die Qualität der Zeichenrealisierung beim Erzählen) und auf pragmatischer (die Qualität der Kommunikationserfordernisse in der Erzählsituation) Ebene.

Diese Kriterien sind auch für Narrative des Entscheidens zentral und werden unten in Abschnitt 4.2 an konkreten Beispielen veranschaulicht. Zunächst ist festzuhalten, dass Erzählen im Allgemeinen »in mehr oder weniger ausgebauter Form in allen Bereichen des Alltags präsent« ist (Spieß/Tophinke 2018, S. 193). Ein Narrativ als Erzählgeflecht in einem Diskurs hat ähnliche Eigenschaften wie die oben beschriebene Erzählung, lässt sich aber durch fünf weitere Aspekte differenzieren, und zwar Kulturalität, Diskursivität, Musterhaftigkeit, Konstruktivität und Hermeneutik. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass eine Erzählung nicht kulturell verankert ist und hermeneutisch erschlossen wird, das heißt die Kriterien der Kulturalität und Hermeneutik treffen auch auf eine Erzählung zu; Diskursivität, Musterhaftigkeit und Konstruktivität sind hingegen Konzepte, die für die linguistische Diskursanalyse und demzufolge vor allem für diskursive Erzählgeflechte, sprich Narrative, und im Speziellen für Narrative des Entscheidens relevant sind.

Kulturalität: In Anlehnung an den literaturwissenschaftlichen Ansatz der kulturgeschichtlichen Narratologie wird das Erzählen in Literatur, aber auch in Sprache überhaupt als Medium »kultureller Sinnstiftung« verstanden (Erll/Roggendorf 2002, S. 73).Footnote 18 Damit verbunden sind die Überzeugungen, die unter dem Stichwort linguistic turn zu fassen sind:

[D]ie symbolische Verfa[ss]theit kultureller Sinnwelten [wird] produktiv [genutzt], um Konstrukthaftigkeit, Subjektabhängigkeit und Standortgebundenheit menschlicher Erkenntnisse sowie deren Konsequenzen für die wissenschaftliche Darstellung fremder und historischer Kulturen aufzuzeigen. (Erll/Roggendorf 2002, S. 75)

In diesem Zusammenhang sind drei Dimensionen zentral, die in der Kultursemiotik ins Verhältnis gesetzt werden: die soziale, die materiale und die mentale. In sprachlichen Zeichen schlagen sich »kollektive mentale Kodes« nieder, die in »kulturellen Objektivationen« zugleich hergestellt werden (Erll/Roggendorf 2002, S. 77). Fokussieren wir mit diskurslinguistischen Methoden Narrative des Entscheidens, sind wir an dem Zusammenspiel zwischen Sprache (der materialen), Wissen (der mentalen) und Gesellschaft (der sozialen Dimension) interessiert.

Konstruktivität: Wie das Zitat oben zeigt, ist der Aspekt der Kulturalität unmittelbar an den der Konstruktivität gebunden. Für einen diskurslinguistischen Zugang, der sich für die Wechselbeziehungen zwischen Sprache, Wissen und Gesellschaft interessiert, ist diese Annahme wichtig, denn wie Entscheiden ist auch Erzählen eine soziale Praxis, die mittels sprachlicher Zeichen Wissen hervorbringt.Footnote 19

Diskursivität: Am Aspekt der Konstruktivität lässt sich der hier gewählte diskurslinguistische Zugang erkennen. Im Foucault’schen Sinne wird Wissen in Diskursen geordnet (vgl. Foucault, 1972). In wissenssoziologischer Rezeption erfolgen diese Prozesse durch Akteure. In diskurslinguistischen Beiträgen wird davon ausgegangen, dass sich dies in Sprache darstellt und zugleich konstituiert (vgl. Warnke 2013; Jacob 2017, S. 132). Der Diskurs, hier verstanden als ein kulturelles Regelsystem, das die Realisierung sprachlicher Zeichen steuert und sich in einem Netz von sprachlichen Zeichen zeigt, bestimmt das Erzählen wie auch das Entscheiden als eine spezifische Form kommunikativer Praktiken. Sie werden durch die Diskursbedingungen und -dynamiken in sprachlichen Zeichen konstituiert und dargestellt.

Musterhaftigkeit: Narrative sind unter diskurslinguistischen Gesichtspunkten durch Muster gekennzeichnet, denn es geht in der Diskurslinguistik um das analytische Nachzeichnen von Wirklichkeitskonstituierung, die sich in der iterativen »Konstruktion« (also »Herstellung von Faktizität«), »Argumentation« (also »Rechtfertigung von Faktizität«) und »Distribution« (also »Streuung von Geltungsansprüchen«) von Wissen in sprachlichen Zeichen zeigt (Warnke 2009, S. 121). Da sich Erzählen als sprachliches »Ausdrücken, Verknüpfen und gleichzeitige[s] thematische[s] Ordnen von […] Fakten zu Geschichten« darstellt, scheinen sich diskursive Sprachgebrauchsmuster und Narrative zu ähneln (Lahn/Meister 2016, S. 6). So liegt es auf der Hand, auch davon auszugehen, dass sich in Narrativen Routinen sozialer Interaktion, mentaler Prozesse und materialer Zeichenrealisierung niederschlagen.

Hermeneutik: Nun stellt sich abschließend noch eine methodische Frage, und zwar wie Narrative linguistisch erschlossen werden können. Zum Prozess des Eintauchens in Sprache liefern linguistische Beiträge zur Hermeneutik hilfreiche Zugänge (vgl. Bär 2015; Biere 2007; Hermanns/Holly 2007), die sich an Gadamers Konzept des Textverstehens orientieren:

Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich beim weiteren Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht. (Gadamer 1960)

4.2 Erzählen über das Entscheiden und Erzählen als Entscheiden

Nachdem das Konzept Narrativ konturiert wurde, stellt sich nun die Frage, wie Entscheiden und Erzählen zueinanderstehen. Es lassen sich zwei Formen beobachten:

  1. 1.

    Erzählen über das Entscheiden, bei dem sich an der sprachlichen Oberfläche Narrative des Entscheidens identifizieren lassen.

  2. 2.

    Erzählen als Entscheiden, bei dem durch die kommunikative Praxis des Entscheidens Narrative des Entscheidens an der sprachlichen Oberfläche entstehen.Footnote 20

Nun lässt sich das Schaubild auch in der rechten Spalte differenzieren, s. Tab. 4.

Tab. 4 Erweitertes Schaubild »Kommunikative Praxis des Entscheidens«

Diese beiden Formen sollen nun am Beispiel (a) der Gedenkrede von Bundestagspräsident Norbert Lammert, die er nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima am 16.03.2011 im Deutschen Bundestag gehalten hat, (b) der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel am 09.06.2011 im Deutschen Bundestag und (c) der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl am 14.05.1986 im Deutschen Bundestag nach den Vorfällen in Tschernobyl veranschaulicht werden. Alle drei Belege sind Teile der Entscheidungskommunikation. Wie sich die Prozesse des Entscheidens in größeren Kommunikationszusammenhängen, sogenannten Entscheidenssträngen, vollziehen, wird ausführlich in Jacob (2017) beschrieben. In diesem Beitrag liegt der Fokus stärker auf den Semantiken und Narrativen des Entscheidens. Beginnen wir mit dem ersten Beispiel: Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnet die Plenarsitzung mit folgenden Worten:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle stehen unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse in Japan, nach denen es kein einfaches Eintreten in die Tagesordnung geben kann. Die Nachrichten über die Lage im Katastrophengebiet halten die Welt in Atem, auch die Menschen in unserem Land. Die geradezu apokalyptischen Bilder aus der betroffenen Region hätte sich fast niemand von uns auch nur vorstellen können, und wir wissen nicht einmal, ob das Schlimmste nun überstanden ist. Mit Bestürzung und Anteilnahme verfolgen wir alle die Folgen der gewaltigen Naturkatastrophe, die Japan und den gesamten pazifischen Raum ereilt hat. Das Ausmaß der immer deutlicher werdenden Verheerungen erschüttert uns alle. Die Auswirkungen auf die Menschen, auf die Umwelt, aber auch auf die Weltwirtschaft sind noch unabsehbar. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (A) (B))

Wenden wir nun die ersten drei Kriterien nach Martínez an, kann festgehalten werden, dass wir es bei der Rede mit einer Geschehensdarstellung zu tun haben, denn es wird von konkreten Ereignissen (der Naturkatastrophe in Japan) erzählt und die Erzählung erfolgt sequenziell. In einer späteren Passage wird eine Reihe von Ereignissen dargestellt (die Kraft der Naturgewalten haben eine Verwüstung ausgelöst), die lokal, temporal und kausal aufeinander Bezug nehmen:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Japan einmal mehr die unbändige Kraft von Naturgewalten erlebt. Sie haben eine unfassbare Spur der Verwüstung hinterlassen. Wir erfahren aber auch die Risiken unserer Zivilisation, einer hoch industrialisierten und -technisierten Welt. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (D))

Aus textlinguistischer Perspektive haben wir es mit einer politischen Rede zu tun, in der Bundestagspräsident Lammert von den Ereignissen berichtet (Informationsfunktion), im Speziellen mit einer Gedenkrede, da der Opfer gedacht wird (Kontaktfunktion):

Im Namen des Deutschen Bundestages habe ich bereits am vergangenen Freitag meinem japanischen Amtskollegen unser tiefes Mitgefühl übermittelt. Auch wenn uns derzeit vor allem die atomare Bedrohungslage umtreibt, gedenken wir in diesem Augenblick insbesondere der Opfer, die das heftige Erdbeben und die reißenden Fluten des Tsunami gekostet haben, der Tausenden Toten und ihrer Hinterbliebenen, der unzähligen Verletzten und der Hunderttausenden, die ihr Hab und Gut – nicht wenige vielleicht auch in schierer Verzweiflung den Lebensmut – verloren haben und die nicht wissen, wie es jetzt weitergehen soll. Ihrer wollen wir morgen auch in der täglichen ökumenischen Besinnung im Andachtsraum des Bundestages in besonderer Weise gedenken. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (B))

In der folgenden Passage ruft Bundestagspräsident Lammert dazu auf, die Risiken zu überdenken (Appellfunktion). Wir können zudem eine thematisierte Obligations- und Deklarationsfunktion identifizieren.Footnote 21 In der Rede selbst wird zwar nicht festgelegt, dass etwas entschieden wird, auch wird durch die Rede keine Entscheidung vollzogen, dennoch werden diese beiden Kommunikationsfunktionen angekündigt:

Zivilisationsrisiken sind in anderer Weise als Naturereignisse kalkulierbar. Wir müssen aber immer wieder neu fragen, ob und unter welchen Bedingungen wir sie eingehen wollen. Die Sorgen vieler Menschen um ihre Sicherheit nehmen wir sehr ernst. Dies erfordert, scheinbare Gewissheiten neu zu hinterfragen. Alle Aspekte, die sich aus der Nutzung unterschiedlicher Energieressourcen ergeben, müssen erneut geprüft und neu bewertet werden. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (D))

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Rede neben den soeben benannten Textfunktionen auch eine Erzählfunktion hat und als Erzählung bzw. Narration klassifiziert werden kann.Footnote 22 Folgen wir der Formel von Martínez, dass eine Erzählung eine Geschehensdarstellung plus x sei, so können wir neben der Tatsache, dass es sich hier um eine Geschehensdarstellung handelt, auch weitere Kriterien heranziehen: Wir haben es mit einer doppelten Zeitlichkeit zu tun, da wir einen Zeitraum der Ereignisse und einen Zeitraum der Geschehensdarstellung der Ereignisse haben. Bundestagspräsident Lammert kommt hier die Funktion der Vermittlungsinstanz zu, die den konversationellen Zwängen unterliegt. Das von Martínez eingeführte optionale Kriterium der Ganzheit einer Erzählung ist nicht erfüllt. Dadurch, dass die Rede verschiedene Funktionen hat, können wir hier eher Fragmente einer Erzählung beobachten, was für diskursive Erzählgeflechte, also Narrative, in faktualen im Unterschied zu fiktionalen Kommunikationszusammenhängen üblich ist (vgl. Attig/Jacob 2015, S. 235–248).Footnote 23 Es lassen sich intentional Agierende identifizieren, die einen Bruch zwischen zwei Erfahrungsräumen erleben, dem sicheren vor der Katastrophe und dem unsicheren nach den Naturgewalten und Verwüstungen, die durch Adjektive wie apokalyptische und Verben wie erschüttert ihren Niederschlag finden. Das Kriterium der Erfahrungshaftigkeit ist in dieser Rede ein besonderes, denn es wird nicht aus der subjektiven Perspektive einer agierenden Person erzählt, die die Nuklearkatastrophe erlebt hat, sondern aus der kollektiven Perspektive, die durch das Personalpronomen Wir markiert wird und sowohl für die Anwesenden im Parlament als auch stellvertretend für alle Bürger*innen in Deutschland steht. Das Kollektiv erfährt von der Nuklearkatastrophe in Fukushima mittels oben angesprochener Medien (Nachrichten und Bilder), nimmt die Risiken wahr und entwickelt gegebenenfalls Ängste, versetzt sich also in die Lage der Betroffenen:

Die Angst vor der atomaren Katastrophe hinterlässt Spuren in der internationalen Staatengemeinschaft, auch in Deutschland. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (D))

Die Relevanz der Erzählung, die Tellability, zeigt sich in der Brisanz der Ereignisse und der unmittelbar darauffolgenden Gedenkrede, durch welche die Bedeutsamkeiten der real stattgefundenen Ereignisse in Fukushima und der potentiell stattfindenden Szenarien in Deutschland verknüpft werden.

Wir konnten nun die entsprechenden Textpassagen als eine Erzählung bzw. als Fragmente einer Erzählung (Narrativ) identifizieren. Kommen wir nun zu den weiteren, oben angesprochenen diskurslinguistischen Aspekten, die für Narrative des Entscheidens zentral sind. Ein Narrativ entsteht im Diskurs, wenn eine Erzählung bzw. Fragmente einer Erzählung wiederaufgegriffen werden. Narrative sind also musterhafte Erzählungen bzw. Erzählfragmente im Diskurs.

Dass sich in der Gedenkrede eine kulturelle bzw. diskursive Praxis niederschlägt, in der durch eine musterhafte Anordnung sprachlicher Zeichen Wissen in Diskursen hergestellt wird, lässt sich belegen, wenn wir uns die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl am 26.04.1986 im Deutschen Bundestag nach der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl anschauen. Hier vollzieht sich eine ähnliche Verschränkung der verschiedenen Textfunktionen (Informations‑, Kontakt‑, Appell‑, Obligations‑, Deklarations- und Erzählfunktion) und eine analoge Anbindung an sprachlich realisierte Konzepte (wie Mitgefühl, Fürsorge, Risiko oder Sicherheit), die die Frage nach politischen Entscheidungen im Bereich der Energiepolitik nach sich ziehen.Footnote 24

Was in Tschernobyl geschehen ist, hat uns alle tief betroffen gemacht. Unser Mitgefühl gilt allen Unfallopfern. Wir haben gemeinsam mit anderen sofort medizinische und technische Hilfe angeboten. Ich möchte dieses Angebot heute ausdrücklich erneuern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so wie bei Abgeordneten der SPD)

Sorge, Unruhe und auch Angst bewegen viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in unseren Nachbarländern. (BT-PlPr 10/215 1986, S. 16522 (C))

Das Mitgefühl wird explizit thematisiert und die Fürsorge zeigt sich in der Betonung des Hilfeangebots, ebenso werden die Konzepte ›Sicherheit‹ und ›Risiko‹ explizit angesprochen:

Gerade das Wissen darum, daß es absolute Sicherheit nicht gibt, daß ein Restrisiko verbleibt, war und ist also die Grundlage für alle Entscheidungen, um größtmögliche Sicherheit bei der Nutzung von Kernenergie zu gewährleisten. (BT-PlPr 10/215 1986, S. 16523 (B))

Wie Narrative erneut aufgegriffen werden, zeigt sich beispielsweise in der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel am 09.06.2011 im Deutschen Bundestag. Hier kündigt Merkel nicht nur Entscheiden durch sprachlich realisierte Narrative an, sondern ihre Narrative bringen Entscheiden hervor:

Wer das [die Risiken der Kernenergie] erkennt, muss die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wer das erkennt, muss eine neue Bewertung vornehmen. Deshalb sage ich für mich: Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen; denn das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen. Das Restrisiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert, weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Jetzt ist es eingetreten. (BT-PlPr 17/114 2011, S. 12960 (B) (C))

Die konkrete Geschehensdarstellung wird aufgriffen, die Konzepte ›Risiko‹ und ›Sicherheit‹ werden wie auch in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl sprachlich entfaltet und münden in einer expliziten Benennung von Entscheidungen, indem die persönliche Haltung in der Ich-Form realisiert und mit einer neuen Bewertung verbunden wird:

Genau darum geht es also – nicht darum, ob es in Deutschland jemals ein genauso verheerendes Erdbeben, einen solch katastrophalen Tsunami wie in Japan geben wird. Jeder weiß, dass das genau so nicht passieren wird. Nein, nach Fukushima geht es um etwas anderes. Es geht um die Verlässlichkeit von Risikoannahmen und um die Verlässlichkeit von Wahrscheinlichkeitsanalysen.

(Ulla Burchardt [SPD]: Das war auch vorher schon bekannt!)

Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also sichere Energieversorgung in Deutschland. Deshalb füge ich heute ausdrücklich hinzu: Sosehr ich mich im Herbst letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert. (BT-PlPr 17/114 2011, S. 12960 (C))

Kommen wir nun zum Erzählen als Entscheiden: Wenn wir die Definition von Martínez (»Erzählen ist Geschehensdarstellung plus x«) mit der Charakterisierung von Lahn/Meister (»Ausdrücken, Verknüpfen und gleichzeitige[s] thematische[s] Ordnen von […] Fakten zu Geschichten«) verbinden, dann ähnelt das Erzählen (eine Erzählung aber auch Narrative) dem Entscheiden. Wenn beim Erzählen sprachliche Zeichen realisiert, miteinander verknüpft und geordnet werden, um Sachverhalte darzustellen bzw. zu konstituieren, dann manifestieren sich darin Prozesse des Entscheidens, wie sie in Kapitel 1 dargelegt wurden, denn das Entscheiden vollzieht sich als Prozess in der sprachlichen Konstituierung, Evaluierung und Modifizierung sowie der abschließenden Selektion aus Optionen von Sachverhalten. Dass ein Narrativ so und nicht anders sprachlich entfaltet wird, deutet auf sprachliche Selektionen bzw. Entscheidungen hin.

Schauen wir uns dazu vergleichend die Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl nach den Vorfällen in Tschernobyl und die Gedenkrede des Bundestagspräsidenten Lammert nach den Ereignissen in Fukushima an. Während Kohl die Sachlage als »Reaktorunfall« (BT-PlPr 10/215 1986, S. 16522 (C)) bezeichnet, spricht Lammert von einer »Naturkatastrophe« und ihren »Folgen« (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (B)). Bereits auf der Ebene der sprachlichen Konstituierung zeichnet sich eine Auswahl ab: Kohl entscheidet sich für eine andere sprachliche Fokussierung und Perspektivierung als Lammert.Footnote 25 Das mag an den verschiedenen Auslösern der Nuklearkatastrophen liegen (in Tschernobyl waren es technische Probleme und angeblich auch menschliches Fehlverhalten; in Fukushima war es zunächst die Naturgewalt des Tsunami). Die Redner hätten durch die Bezeichnung der Ereignisse aber auch einen anderen Fokus legen können, beispielsweise nicht auf die Auslöser, sondern auf die Folgen der Nuklearkatastrophe.

Auf der Ebene der sprachlichen Evaluierung und Modifizierung zeichnen sich Prozesse des Auswählens ab. Bundeskanzler Kohl knüpft an die Ereignisse das Konzept der ›Betroffenheit‹ und des ›Mitgefühls‹ und evaluiert die Situation als eine, die Hilfe vonseiten Deutschlands fordert:

Was in Tschernobyl geschehen ist, hat uns alle tief betroffen gemacht. Unser Mitgefühl gilt allen Unfallopfern. Wir haben gemeinsam mit anderen sofort medizinische und technische Hilfe angeboten. Ich möchte dieses Angebot heute ausdrücklich erneuern. (BT-PlPr 10/215 1986, S. 16522 (C))

Ebenso entfaltet auch Bundestagspräsident Lammert das Konzept des ›Mitgefühls‹ (vgl. BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (B)) und evaluiert die Lage als eine, in der die Betroffenen als hilfsbedürftig eingestuft werden:

Sie alle können mit unserer Solidarität und unserer Unterstützung bei der Bewältigung der Katastrophe rechnen, bei den Sofortmaßnahmen wie beim längerfristigen Wiederaufbau, schon gar in einem Jahr, in dem wir gemeinsam an 150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern erinnern. Ich weiß, dass viele Menschen in Deutschland helfen wollen, und bin mir sicher, dass der Spendenaufruf des Bundespräsidenten auf offene Ohren stößt. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (B)–(D))

Der Sachverhalt wird im Anschluss so modifiziert, dass nicht mehr die Ereignisse in den Krisenregionen, sondern die technischen Risiken für die Anlagen in Deutschland in den Mittelpunkt rücken und die Frage nach ihrer technischen Sicherheit gestellt wird. Kohl spricht von der »Sorge, Unruhe und auch Angst«, die »viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in unseren Nachbarländern [bewegen]« (BT-PlPr 10/215 1986, S. 16522 (C)). Denn:

[e]s geht jetzt nicht um den deutschen Ausstieg aus der Kernenergie,

(Ströbele [GRÜNE]: Doch! Warum nicht? – Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

sondern um den Einstieg in eine internationale Anstrengung für mehr Sicherheit.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP). (BT-PlPr 10/215 1986, S. 16525 (B))

Auch Bundestagspräsident Lammert thematisiert die Ängste der Menschen in Deutschland:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Japan einmal mehr die unbändige Kraft von Naturgewalten erlebt. Sie haben eine unfassbare Spur der Verwüstung hinterlassen. Wir erfahren aber auch die Risiken unserer Zivilisation, einer hoch industrialisierten und -technisierten Welt.

Zivilisationsrisiken sind in anderer Weise als Naturereignisse kalkulierbar. Wir müssen aber immer wieder neu fragen, ob und unter welchen Bedingungen wir sie eingehen wollen. Die Sorgen vieler Menschen um ihre Sicherheit nehmen wir sehr ernst. Dies erfordert, scheinbare Gewissheiten neu zu hinterfragen. Alle Aspekte, die sich aus der Nutzung unterschiedlicher Energieressourcen ergeben, müssen erneut geprüft und neu bewertet werden. (BT-PlPr 17/95 2011, S. 10813 (D))

Die Inhalte, die sprachliche Realisierung und die Pragmatik des Erzählens (also das Organisieren sprachlicher Zeichen beim Erzählen) hängen unmittelbar mit der sprachlichen Konstituierung, Evaluierung und Modifizierung der erzählten Sachverhalte zusammen (also mit den ersten beiden Phasen des Entscheidens, siehe Kapitel 1). Narrative bringen so Entscheiden hervor, denn innerhalb dieser beiden Phasen können wir die dritte Phase (die Selektion aus Optionen) beobachten. Im Erzählen finden daher Selektionsprozesse und Entscheidungen für einen bestimmten Ausdruck oder Verfahren der Geschehensdarstellung statt. Dem Erzählen als Entscheiden liegt die musterhafte Realisierung der drei Sprechhandlungstypen zugrunde: die sprachliche Konstituierung, Evaluierung und Modifizierung und die Selektion aus Optionen.

5 Fazit

In dem Beitrag wurde der Frage nachgegangen, was aus linguistischer Perspektive unter Semantiken und Narrativen des Entscheidens verstanden werden kann. Es wurde gezeigt, dass wir es beim Entscheiden mit einer kommunikativen Praxis zu tun haben, die sich aus verschiedenen sprachlichen bzw. kommunikativen Merkmalen zusammensetzt: Praktiken sind Einheiten sprachlichen Handelns und Verhaltens, die als Analysekategorie vor allem dem prozessualen Charakter des Entscheidens Rechnung tragen. Davon ausgehend wurden diskursunabhängige Semantiken des Entscheidens identifiziert, die unabhängig von einer spezifischen Kommunikationssituation oder einem thematischen Textarrangement für das Entscheiden charakteristisch sind (Benennung des Entscheidens im engen und im weiten Sinne). Außerdem wurden diskursabhängige Semantiken des Entscheidens herausgearbeitet, sogenannte Sinnbezirke, die auf die kommunikative Praxis des Entscheidens wirken. Im Verlauf des Beitrages wurde festgehalten, dass bei den Semantiken die Form-Bedeutungs-Korrelationen, bei den Praktiken die Form-Funktions-Korrelationen im Fokus stehen. Mit der analytischen Formulierung von Semantiken des Entscheidens werden diskursiv geprägte Bedeutungsformationen erfasst, die vor allem eine Art statische Momentaufnahme der Bedeutungsebenen darstellen. Mit der Deutungskategorie der Praktiken des Entscheidens geht der Anspruch einher, den prozessualen und damit dynamischen Charakter des Entscheidens zu erfassen.

Die Auseinandersetzung mit Narrativen hat ergeben, dass diese diskursive Erzählgeflechte sind, die sich im Unterschied zu Erzählungen durch die Aspekte Kulturalität, Diskursivität, Musterhaftigkeit, Konstruktivität und Hermeneutik genauer fassen lassen. Am empirischen Material konnten zwei Formen, ein Erzählen über das Entscheiden und ein Erzählen als Entscheiden, festgestellt werden. Beim Erzählen über das Entscheiden wurden Narrative als diskursive Muster veranschaulicht, indem wiederkehrende Konzepte aufgezeigt wurden. Ein Narrativ ist jedoch keine bloße Wiederaufnahme von verknüpften Konzepten, vielmehr basiert ein Narrativ auf einer einmal realisierten Erzählung bzw. einem Fragment einer Erzählung, die bzw. das dann im Diskurs entsprechend der von Martínez aufgestellten Kriterien auf der inhaltlichen, sprachlichen und pragmatischen Ebene ähnlich realisiert wird (vgl. Martínez 2017). Beim Erzählen als Entscheiden zeigt sich das Narrativ bei der diskursiven Wiederaufnahme der drei Sprechhandlungstypen: der sprachlichen Konstituierung, Evaluierung und Modifizierung und der Selektion aus Optionen.

Wie hängen nun Praktiken, Semantiken und Narrative des Entscheidens als verschiedene Ebenen einer kommunikativen Praxis des Entscheidens zusammen? Im Verlauf der Analyse wurde beobachtet, dass Semantiken (aber auch Praktiken) und Narrative des Entscheidens oft in einem unmittelbaren Wechsel- bzw. Bedingungsverhältnis stehen: Aus Semantiken des Entscheidens sind Narrative des Entscheidens zusammengesetzt, denn verschiedene Bedeutungsebenen ergeben in einem bestimmten diskursiven Zusammenhang sprachlich realisierte Erzählgeflechte, also Narrative. Und aus Narrativen gehen Semantiken (aber auch Praktiken) des Entscheidens hervor, denn diskursiv etablierte Erzählgeflechte bringen verschiedene Bedeutungsebenen zusammen. Diese Beobachtung bedarf weiterer Analysen (vgl. Kückelhaus 2022).

Für eine diskurslinguistisch motivierte Analyse von Semantiken und Narrativen des Entscheidens, die sich nicht nur für einzelne Texte, sondern für ganze Textsammlungen interessiert, wäre eine Operationalisierung sprachlicher Merkmale für quantitative Verfahren und eine differenzierte Analyse der hier dargestellten Semantiken und Narrative des Entscheidens vielversprechend. Erste korpuslinguistische Studien zu narrativen Mustern liegen bereits vor (vgl. Bubenhofer/Müller/Scharloth 2014; Bubenhofer 2018; Bubenhofer/Rothenhäusler 2018; Müller/Scharloth 2017). Diese müssten mit linguistischen Studien zum Entscheiden verbunden werden.