1 Einleitung: How to do things with words

»Ein Augenblick. Ich sah das Höllenflackern, den tödlichen paradiesischen Schimmer, der durch die Nachtzellen der Pupillen in die kristallisierten Gehirne schoss und sie vor Angst und Hoffnung hätte zerspringen lassen müssen. Dieses wahnwitzige, einzig wirkliche, sanfte Vibrieren des Gefüges! Schritte. Die Ahnung eines sommerlichen Luftzugs. Musik. Das Herz der Welt, wieder erwacht für einen einzigen Schlag. Seither ist jeder Gegenstand verdächtig. Klar und ohne Ausflucht erkennen wir wieder, dass der Ort, an dem wir uns befinden, unmöglich ist.« (S. 11)Footnote 1

Zunächst räumlich und zeitlich unvervortet beginnt mit diesen Worten Thomas Lehrs Roman 42. Es ist dieser Augenblick, in dem die Zeit in Lehrs diegetischer Welt nach ihrem fünfjährigen Stillstand in der 42. Sekunde wieder einsetzt – um nach drei Sekunden erneut stillzustehen. Erzählerisch gespielt wird mit Eindrücken der lautlichen (»Musik«, »Schritte«) und der taktilen Sinnesebene – mit dem »sanften Vibrieren« des Gefüges, dem »Puls«-Schlag der Welt, die hier elliptisch aneinandergereiht werden. Fokussiert wird aber auch das Moment des Sehens, das – in Anspielung auf die biblische Offenbarung des JohannesFootnote 2 – an eine apokalyptische Schau erinnert. Damit verweist dieser Romaneinstieg bereits auf das apokalyptische Setting, in dem der Roman spielt: In »unsichtbare[n] Seifenblase[n], Betonschale[n], Panzerstahlkuppel[n]« (S. 118) finden sich siebzig Protagonist*innen nach dem Besuch des unterirdischen Teilchenbeschleunigers DELPHI wieder. Außerhalb ihrer »Chronosphären« (S. 151) ist und bleibt alles und jede*r erstarrt – bis auf jenen kurzen Augenblick, von dem der Erzähler in dieser Einstiegspassage berichtet.

Damit werden die Leser*innen eingeführt oder viel eher hineingeworfen in eine diegetische Welt, in der sie sich – ebenso wie der Erzähler auf der Handlungsebene – (raum-)zeitlich desorientiert ihren Weg durch den Roman bahnen müssen. Im Kleinen zeigt sich daran bereits die performative Qualität dieses Textes, der auch das Foschungsinteresse dieses Beitrags gilt. Behandelt werden soll, inwiefern aus der Interaktion zwischen Inhalt, Form und Stil dieses Textes das entsteht, was ich als Poetik der Chronifizierung bezeichnen möchte. Mit dem Begriff der Chronifizierung – ein Neologismus – wird in 42 jener Zustand benannt, den die siebzig Protagonist*innen nach dem Zeitstillstand erleben: Innerhalb ihrer unsichtbaren und untastbaren Kapselmembranen läuft die Zeit weiter; wer sich innerhalb einer Kapsel befindet, ist daher chronifiziert. Unter dem Begriff der Chronifizierung soll im Zuge dieser Analyse jedoch mehr verstanden werden als bloß dieser zeitliche Aspekt. Chronifizierung bedeutet eine Neubefragung der Sinne, insbesondere der Kinästhetik, und nicht zuletzt auch eine Neubefragung des Raumes, die sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch in der performativen Qualität des Textes widerspiegeln. In anderen Worten: Aus dem Zusammenspiel von Erzählebene und Handlungsebene ergibt sich – so die These – eine besondere Performativität dieses Textes, die die Leser*innen regelrecht affiziert oder besser: chronifiziert.

Diese Analyse steht damit im Zeichen des performative turn der Kulturwissenschaften, der »die Aufmerksamkeit auf die Ausdrucksdimension von Handlungen und Handlungsereignissen lenkt«Footnote 3 und davon ausgeht, dass sich die Herstellung von kulturellen Bedeutungen und Erfahrungen durch performative Praktiken vollzieht. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint Kultur folglich nicht länger als ein in sich geschlossenes Bedeutungssystem, ein »Gewebe distinkter, decodierbarer Einzelelemente«Footnote 4, sondern vielmehr als »bedeutungsoffener, performativer und dadurch auch veränderungsorientierter Prozess.«Footnote 5 Damit ist eine gewisse Dichotomisierung zwischen Text und Performanz grundgelegt, die u. a. in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Performanz in und durch Texte kritisch hinterfragt wird.Footnote 6 Rekurriert wird dabei immer wieder auf die Sprachphilosophie John Austins: In seiner Vorlesungsreihe »How to do things with words«, auf die auch im Titel dieses Abschnitts angespielt wurde, erläutert Austin, dass Sprache nicht nur im Modus des Konstatierens verbleibt, sondern selbst performativen Charakter hat – Sprechen heißt zugleich auch handeln.Footnote 7 Vor diesem Hintergrund kann man mit Häsner et al. die Frage stellen, ob man »in Analogie zu den ›performativen Äußerungen‹ im Sinne Austins, von ›performativen Texten‹ sprechen [kann].«Footnote 8

Ausgehend von dieser Frage soll im Folgenden die Performativität von Lehrs Roman 42 und ihre Genese aus einem Zusammenspiel von Inhalt, Form und Stil untersucht werden. Eine solche Betrachtung gestaltet sich nicht einfach, da es – wie Susan Sontag in ihrem Essay »Against Interpretation« schreibt – für den Roman kein »Vokabular der Formen«Footnote 9 gibt, das beispielsweise mit der »entwickelte[n], komplexe[n] und diskutierbare[n] technische[n] Nomenklatur der Kamerabewegungen, der Lichtschnitte und der Rahmenkomposition«Footnote 10 beim Film vergleichbar wäre. Ein solches Vokabular zur Betrachtung der Ästhetik und der Form von Lehrs Roman muss folglich erst anhand des Primärtextes entwickelt werden, um seine performative Qualität treffend beschreiben zu können. Im Zentrum steht dabei die von dem Erzähler in 42 eingeführte Metapher der »Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen« (S. 61), mit der sich viele der formalen und ästhetischen Besonderheiten des Textes beschreiben lassen.

2 »People suffering from Vertigo should be warned«: Chronifizierung durch Sprache

2.1 Schleifen, Parabeln und Co: Wucherndes Erzählen

Lehrs Roman paratextuell vorangestellt ist eine Warnung: »People suffering from Vertigo should be warned that some locations are impressive.« (S. 7) Zitiert wird hier der digitale Visitor-Guide des Schweizer-Forschungslabors CERN, der Besucher*innen mit Neigung zu Schwindelgefühlen vor dem Besuch des unterirdischen Teilchenbeschleunigers DELPHI, wie man aus dem angegebenen html-Code ableiten kann,Footnote 11 warnt. Schwindelerregend-impressiv sind in Lehrs Roman nicht nur die erzählten realgeografischen Orte und locations – die »Betonpiste des PA 8« (S. 243), Genf, München usw. – die nach dem Ende der Zeit plötzlich »gefroren« (S. 33) sind, sondern auch jene Textstellen, die im Rahmen von Exkursen in physikalische und philosophische locations entführen. Dem »soziologische[n] Gruppenexperiment« (S. 126) der Chronifizierung entspricht auf der Erzählebene ein literarisches Experiment, in dessen Zuge man beim Lesen scheinbar den Boden unter den Füßen verliert:

»Elektronen wurden durch Erhitzung aus Metalldrähten gemolken, auf der Hundert-Meter-Kurzstrecke linear angepeitscht, in den ersten Ringbeschleuniger mit 600 Meter Umfang geschossen, bei 3,5- Giga-Elektronenvolt rasend entlassen, jedoch nur, um auf dem 7‑Kilometer-Kreis des SPS noch mehr an Besinnung zu verlieren, damit sie mit gesträubtem Haar, zusammengepressten Augenlidern und flatternden Backen bei 21 GeV im 26- Kilometer-Ring des großen LEP zur finalen Unfallgeschwindigkeit kurz unterhalb von Zeh (c) getrieben wurden, gebündelt in praktischen 250-Billionen-Stück-Packungen und vier Strahlen, die sich an acht Punkten kreuzten und zwar 45000-mal pro Sekunde, so abgefeimt und listig aber doch, dass es fast alle schafften, im letzten Moment den Billionen Geisterfahrern aus der Gegenrichtung innerhalb der engen Tunnelröhre auszuweichen, abgesehen von dem einen angetrunkenen oder juvenilen Trottel alle zwei Sekunden, den es dann in den monströsen Prüfmanschetten von OPAL, ALEPH, L 3 oder DELPHI in die aberwitzigsten Stücke riss, die Kerne der Kerne der Kerne, auf die man es abgesehen hatte, denen die Feldkräfte der erdgrößten Magneten auflauerten, um sie auf ihren lichtschnellen Fluchten aus der Fassung zu bringen, in den Zwiebelschichten der Spurengeräte ihre einst ehrlichen Prallbahnen zu schmerzlichen und mathematisch heimtückischen Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen zu zwingen, so kunstvoll gewunden wie Frauenhaar auf einem Dürer-Stich. (S. 60–61)«

Passagen wie diese, in denen sich der der Physik angeblich unkundige Erzähler zum Teil über Seiten hinweg in physikalischen oder philosophischen Überlegungen ergeht, sind in Lehrs Roman keine Seltenheit. Die Worte scheinen ebenso wie die winzigen Teilchen in dem hier beschriebenen Teilchenbeschleuniger in einen schwerelosen Raum geschossen zu werden, in dem die Syntax zunehmend zu wuchern beginnt und der Inhalt nur mehr peripher verständlich bzw. sinntragend ist. Im Zentrum steht nicht primär die Semantik der Sätze, sondern deren Ästhetik und die desorientierende Wirkung, die sich daraus ergibt. Die »heimtückischen Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen« (S. 61) können dabei am besten dazu dienen, den ästhetischen Effekt von Passagen wie dieser zu beschreiben: Anfang und Ende der Sätze, der Reflexionen, Beschreibungen und Gedankenspiele können meist nur schwer ausgemacht werden; die Syntax scheint überhaupt nicht enden zu wollen. Beim Lesen gerät man dadurch in eine Schwerelosigkeit, in der sprichwörtlich der Boden unter den Füßen verloren geht, da die Länge und Wucherung der Syntax die kognitive Leistungsfähigkeit zu übersteigen scheint. In anderen Worten: Es fällt schwer, die einzelnen Bilder und Erläuterungen folgerichtig zu integrieren, Gliedsätze und Parenthesen zu einem inhaltsvollen Ganzen zusammenzufügen. Francisca Ricinski bezeichnet diesen eigentümlichen syntaktischen Stil im Rahmen eines Interviews mit Thomas Lehr treffend als »wuchernde Perioden, die nicht mehr aufhören wollen.«Footnote 12

Betrachtet man die Syntax im obigen Zitat noch etwas genauer, so zeigt sich, dass sich die Lehrsche Poetik der »Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen« (S. 61) bis in die kleinste Einheit des Textgewebes zieht, denn ein lineares Fortkommen im Satz ist nicht möglich: An den Hauptsatz werden zahlreiche sub- und koordinierende Gliedsätze gehängt, sodass ein Satzgefüge entsteht, bei dem man wortwörtlich den zentralen Pfad – den Hauptsatz – aus den Augen verliert und in syntaktisch unwegsames Gelände gelangt. Ebendiese Erfahrung findet sich auch auf der Ebene der histoire des Textes wieder, wenn die Figuren am Ende des Romans annehmen, sie seien »auf einen falschen Ast geraten. Auf einen abgesägten Ast der Zeit. Ein Totholz, dessen weitere Verzweigungen sämtlich unter der einen Voraussetzung beginnen, nämlich der, dass nur 70 Zombies sich bewegen könnten und sonst niemand.« (S. 336) Angesprochen ist damit die Viele-Welten-Hypothese, die die Figuren am Ende des Romans als Erklärung für ihren Zustand heranziehen. Diesem quantenmechanischen Modell zufolge gibt es nicht nur eine, sondern unendlich viele Welten, die parallel zueinander existieren.Footnote 13 Die Figuren – so ihre Annahme – seien also mit ihrer Welt vom zentralen Pfad abgekommen und in der Zeit verloren gegangen. Ebendiese Erfahrung – das Abkommen von einem zentralen Pfad, das Verlorensein in der Zeit und dem (syntaktischen) Raum –, spiegelt sich auch in Lehrs Erzählstil wider.

Gelesen werden kann die eingangs zitierte paratextuelle Warnung folglich in Hinblick auf die performative Qualität dieses Textes, die ebenso als impressive bezeichnet werden darf, wie der Visitor-Guide es in Bezug auf den Besuch des DELPHI-Detektors verspricht. »Vertigo« (S. 7) oder – wie der Erzähler es nennt – die »leichte[n] Schwindelgefühle« (S. 23) entstehen nicht nur bei den Besucher*innen des DELPHI-Teilchenbeschleunigers, also den Figuren in Lehrs Roman, sondern der Text hat auch durchaus affizierende Wirkung.

2.2 Grenzzustände der Sinne: Taumel und Ekstase in und durch Lehrs Roman

Die taumelartige Wirkung des Textes – oder wie man im Sinne von Lehrs paratextueller Einschreibung sagen könnte, die »Vertigo« (S. 7) – lässt sich mit Böhmes Konzept der »Grenzzustände der Sinne« erschließen.Footnote 14 Böhme bezeichnet damit jene Sinneszustände, in denen sich eine Art »Anästhesie bei höchster Ästhesie«Footnote 15 zeigt. Damit ist nicht die Erfahrung des Ausbleibens einer Sinneswahrnehmung, wie beispielsweise die Stille als Abwesenheit der akustischen Wahrnehmung, gemeint, sondern der »andere Zustand«Footnote 16 (z. B. das akustische Rauschen). Im Falle des kinästhetischen Sinnes, der im Zusammenhang mit Lehrs Roman von besonderer Bedeutung ist, wäre dies jener Zustand, den Böhme mit den Verben »taumeln, strudeln, straucheln […]«Footnote 17 beschreibt. Der Taumel bedeute die »Einbettung meiner Selbst im Gefüge der Dinge zu verlieren, genauer: der Verlust von »Stand«, also von Positionalität.«Footnote 18 Bezeichnet ist damit die Empfindung vollkommener Raumlosigkeit im Zustand des Taumels. Das Verlieren des »[S]elbst im Gefüge«Footnote 19 ist eine Formulierung, die, wenn man die bisherigen Ausführungen zu Lehrs performativem Erzählstil betrachtet, eine gute Beschreibung jenes Effekts darstellt, den 42 vermittelt. »Im Grenzfall«, so schreibt Böhme weiter, »führt dies [der Taumel, J.L.] zu situativem Ich-Verlust mit schweren Orientierungsstörungen, Angst und Untergangspanik.«Footnote 20 Insbesondere die Orientierungsstörungen schlagen sich auch in der Rezeptionswirkung des Romans nieder, wenn man beim Lesen die Zusammenhänge zwischen einzelnen Passagen nicht mehr herstellen kann oder die Sätze so ausufernd sind, dass sie nicht mehr vollständig in ihrem Sinn erfasst werden können. Zugleich beschreibt diese Trias aus Orientierungsstörungen, Angst und Untergangspanik aber auch den Zustand der Chronifizierten: »Ich glaubte in Ohmacht [sic!] zu fallen. Von Boris, Harriet und sogar von Patty Dawson weiß ich, dass sie zu sterben fürchteten. Anna dachte an einen Hörsturz, Sperber an einen Herzinfarkt […].« (S. 31) Auf der Ebene der histoire zeigt sich diese Parallele zu Böhmes Konzept der Grenzzustände auch besonders eindringlich in jener Szene, in der der autodiegetische Erzähler Adrian Haffner den Beginn der Unzeit rekapituliert:

Haffner wird in dieser Situation zu einem (retrospektiven) Beobachter, der in der Lage ist, »Psychologie zu treiben« (S. 33) und die Reaktion der anderen Chronifizierten zu dokumentieren. Nach der Erkenntnis der »Zeitbifurkation«Footnote 21 laufen die siebzig Chronifizierten »umher, greifen sich an den Kopf, drehen sich wie Tanzmäuse um die eigene Achse, starren auf Arme und Beine, sinken in die Knie, heben die Gesichter nach oben, als sei dort gerade ER, SIE oder ES, das fatale Raumschiff vielleicht, entschwunden.« (S. 31) Fast alle vollziehen in dieser Ekstase, wie der Erzähler berichtet, »wirre Bewegungen« (S. 31). Dieser innerfiktionale Taumel, den die Protagonist*innen zu Beginn der Unzeit erleben, spiegelt sich auch hier in Lehrs Erzählstil wider, bei dem durch die asyndetische Aneinanderreihung von Satzteilen ein rasantes Tempo erzeugt wird. Inhalt und Stil werden dabei folglich enggeführt.

Passenderweise nennt Böhme als Beispiele für Situationen, in denen eine derartige Grenzerfahrung der Kinästhesie (freiwillig) ausgelöst wird, die Ekstase und den TanzFootnote 22 – beides Bewegungserfahrungen, die in 42, wie eben zitiert, den Protagonist*innen zu Beginn der Unzeit widerfahren. In all diesen kreisenden, schleifenbildenden Bewegungen spiegelt sich auch jene Metapher wider, die ich als zentral für die Beschreibung der performativen Wirkung dieses Romans erachte: Lehrs »Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen« (S. 61).

3 Das Spiel mit Visualität und Materialität: Über die Viskosität des Textes

Der Zustand der Chronifizierung führt bei den Protagonist*innen zu einer Neubefragung der Sinne: Zunächst bewirkt die Kapselanordnung einen Fokus auf die akustische Sinnesebene, denn bei den Chronosphären handelt es sich um akustisch isolierte Einzelräume. In diesen sind die Figuren ganz auf sich selbst zurückgeworfen und können nur »nichts. Mein Nichts.« (S. 15) akustisch wahrnehmen, sofern sich ihre Kapseln nicht überlagern und eine »chronosphärische Kuppel« (S. 66) bilden. Auch wenn sich dieses akustische Phänomen in einigen wenigen Textpassagen sprachlich widerspiegelt,Footnote 23 stehen in Bezug auf die Parallelisierung zwischen Erzählung und Inhalt resp. Erzählstil und Inhalt andere Sinnesebenen im Fokus. Dabei kommt der Visualität und der Dimensionalität eine besondere Bedeutung zu:

»Ich stand nahe genug bei Marcel, der, flankiert von den beiden Leibwächtern, den Arm ausstreckte und das unübertreffliche Wort fand für all diejenigen, die zum Bereich der Sekt ausgießenden Hostessen gehörten: »Sind die fotografiert worden?« Mumifiziert wäre ebenfalls ein brauchbarer Ausdruck gewesen, aber Mumien sitzen nicht wohlgenährt und fleischesprall auf Motorrädern. Gefroren trifft die relative Starre der beiden Fahrer der CERN-Busse, die sich den Hosenboden kratzend und das Genick massierend gegenüber stehen. Ersetzt ihre Zigaretten durch Fieberthermometer und ihr werdet nichts Auffälliges an ihnen finden. Narkotisiert, somnambulisiert, in komatöse Puppen verwandelt, eingepökelt in den Aspik der Luft, so und ähnlich erscheinen sie uns. […] Fotografiert worden zu sein, auskristallisiert im Fixierbad der Welt – das Kinderwort bleibt unübertrefflich, auch für die dritte Dimension.« (S. 33)

Die Starre in der Welt jenseits der Kapselmembran wird hier eindrücklich beschrieben. Die zahlreichen Partizipien verweisen sprachlich auf die Statik der arretierten Außenwelt und all ihrer eingefrorenen Protagonist*innen, denn in dieser infiniten Verbform bleiben selbst die Bewegungsverben erstarrt und unveränderbar (z. B. massierend, kratzend). Deutlich wird hier auch bereits das veränderte Erzähltempo: Es ist nicht länger der wilde Taumel, der sich über eine verworrene Syntax performativ zum Ausdruck bringt, sondern die eingehende Betrachtung eines paradoxen (Natur‑)Schauspiels. Man beobachtet den Erzähler quasi beim Denken, wie er versucht, eine passende Begrifflichkeit für das, was sich ihm hier visuell darbietet, zu finden. Es ist die Metapher der Fotografie, die trotz ihrer Zweidimensionalität »unübertrefflich [bleibt], auch in der dritten Dimension.« (S. 33) Passenderweise handelt es sich bei der Fotografie, wie Siegfried Kracauer in seinem Essay zur Fotografie schreibt, um die »räumliche Konfiguration des Augenblicks«.Footnote 24 Für Walter Benjamin zeigt die Fotografie das »optisch Unbewusste«: »Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht«Footnote 25, denn auf einer Fotografie wird sichtbar, was zu schnell war, um im jeweiligen Augenblick wahrgenommen zu werden.Footnote 26

Diesen Gedanken aufgreifend lässt sich anhand der Beschreibungen des erstarrten Außenraumes in Lehrs Roman zeigen, dass die Kapselanordnung mit einer veränderten Wahrnehmung der Protagonist*innen einhergeht, die sich auch im Erzählstil widerspiegelt: Der Blick durch die Kapselmembran ist ein Blick auf eine erstarrte Welt, in der – im Sinne des optischen Unbewussten – nun Details sichtbar werden, die zuvor nicht wahrnehmbar waren. Die Wahrnehmung scheint dadurch jeden Filter verloren zu haben, sodass jedes Detail von dem Ich-Erzähler registriert und auch berichtet wird. Die Folge ist eine enorme Zeitdehnung an manchen Stellen des Romans, die zu einem verlangsamten Fortkommen im Text führt. Sehr gut zeigt sich dies beispielsweise in dem scheinbar endlos gedehnten Augenblick, der sich bei Haffners Beschreibung jenes Bildes ergibt, in dem seine Frau und deren heimlicher Liebhaber in einem Hotelzimmer in Florenz erstarrt sind. Haffner ertappt die beiden in der Zeit Erstarrten in flagranti nach dem vollzogenen sexuellen Akt:

»Sie hält die übereinander geschlagenen Beine ausgestreckt, die Arme sind in den Ellbogengelenken durchgedrückt und auf die waagerecht aufliegenden Handteller gestützt. Rechts und links berühren die Innenseiten der Handgelenke ihr Becken, eine Stellung, die nur bei hochgezogenen Schultern möglich ist, von denen sich eine, die rechte, stärker zum Fenster hin gedreht hat. Ein mittäglicher Schatten, verursacht durch eine nicht ganz in die Zimmerecke geschobene Vorhanghälfte, teilt ihren gesamten Oberkörper vom Scheitel ihres links wie schwarzen, rechts kastanienfarbenen Haars bis zum Nabel […].« (S. 246–247)

Diese Beschreibung, die sich in dieser Detailgenauigkeit über eine Seite zieht, erinnert dabei an eine Ekphrasis, die detaillierte Beschreibung eines Kunstwerkes. Passenderweise bezeichnet der Protagonist seine erstarrte Frau auch als »Statue, eine vollendete farbige Skulptur vielmehr, geschaffen vom größten Florentiner Meister, dessen Name die Welt lähmt.« (S. 246)

Der Begriff des Augen-Blicks erhält hier seine wörtliche Bedeutung zurück: Der Fokus liegt ganz auf dem Visuellen, jede Haltung, jeder Körperteil wird in seiner Statik erfasst und beschrieben. Die Handlung scheint, ganz im Sinne von Genettes Begriff der Pause, für einen Moment stillzustehen, während die Erzählung weiterläuft.Footnote 27 Das Ergebnis ist eine enorme Zeitdehnung und ein verlangsamtes Fortkommen im Text.

Ebendiesen Effekt möchte ich mit dem Begriff der Viskosität näher erarbeiten. Angesprochen wurde bereits das Erzähltempo, das in 42 erheblich variiert. Der Roman schafft dadurch – in Zusammenspiel mit der Ebene des Inhalts – einen eigenen Aggregatzustand oder besser gesagt eine veränderte Viskosität im Lesefluss. Unter Viskosität ist in der Physik eine Eigenschaft von Flüssigkeiten und Gasen zu verstehen, die die Zähflüssigkeit des jeweiligen Mediums beschreibt. Je höher die Viskosität, desto dickflüssiger bzw. desto weniger fließfähig ist ein gasförmiger bzw. fluider Stoff.Footnote 28 Mit dem Begriff der Fließfähigkeit ist auch bereits jener Aspekt dieses physikalischen Konzepts erwähnt, der für Lehrs Roman eine wichtige Rolle spielt. Denn in 42 ist es insbesondere die Fließfähigkeit des Leseflusses, die eine eigentümliche Wirkung entfaltet. Ich möchte mich dieser veränderten Viskosität an dieser Stelle über eine Metapher nähern, die der Erzähler in 42 verwendet:

Zitiert wurde bereits jene Textstelle, in der Haffner die veränderte Materialität der Luft beschreibt. So bezeichnet er die Nicht-Chronifizierten als »eingepökelt in den Aspik der Luft« (S. 33, Hervorhebung von J.L.). Dieser makabere Vergleich, der im Bereich der Kulinarik das Einlegen beispielsweise eines Stückes Fleisch in eine geleeartige Substanz bezeichnet, verweist auf die neue Qualität der Luft in der Unzeit. Die veränderte Viskosität der Luft zeigt sich aber auch in den »wohl lächerlichen Schwimmbewegungen« (S. 35), die der Protagonist kurz nach dem Beginn der Unzeit vollziehen muss, da ihm die »Luft […] so schwer geworden« (S. 35) erscheint. Die Liste der Metaphern für die neue Materialität der Luft ließe sich weiter fortführen – die Rede ist etwa vom »Schwimmen (im toten Meer der Unzeit)« (S. 55) oder von Luft »so hart wie Glas« (S. 35) –, zentral ist in Hinblick auf die Performativität des Textes jedoch, wie diese innerfiktional veränderte Viskosität der Luft sich auch in einer veränderten Viskosität des Leseflusses niederschlägt. Dies funktioniert in Lehrs Roman über die unterschiedliche Dichte von konkreten und abstrakten Beschreibungen, die das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit erheblich variieren lassen und damit das Fortkommen im Text entsprechend zu beschleunigen oder zu drosseln vermögen. Sehr gute Beispiele hierfür sind die detaillierten Bildbeschreibungen, wie sie bereits thematisiert wurden,Footnote 29 und die physikalisch-philosophischen, essayistischen Exkurse des Erzählers, wie sie an dieser Stelle noch einmal exemplarisch unter Betrachtung ihrer Viskosität behandelt werden sollen.

Deutlich wird das Feststecken (des Leseflusses) im »Aspik der Luft« (S. 33) ganz besonders anhand jener Textpassage, in der der Erzähler über das Wesen der Zeit nachsinnt.

»Was also ist, verflucht noch mal, die Zeit? Der Abgrund, in den wir fallen, seit dem Augenblick unserer Geburt. Unser tagtägliches, nachtnächtliches, sekundensekündliches Problem, das uns dereinst mit einem Zeigersprung um die Ecke bringt. Die Ecke liegt im Raum und diesen hätten wir nicht, gäbe es keine Zeit. Was um uns herum ein Herum formt, seine Tiefe, Höhe, Breite, der Schacht und Würfel, Abgrund und Kasten, der durchsichtige Block ohne Grenzen faltet sich nur auf, wenn die Uhren ticken, wenn der vorbeifliegende Ball in seinem Rahmen etwas anderes ist als die unhörbar donnernde Folge immer neuer, totaler, ungeheuerlicher Welten – die sich allein durch die Position eines kreisrunden Flecks unterscheiden und nirgends wären ohne das große Regal der Zeit –, nämlich stets derselbe Ball in stets derselben Welt, in der nur etwas um etwas verrückt ist, in der sich aber jeder einzelne Punkt, jedes Staubkorn, jede Pore der Pore und jedes Haar des Haars verändert hat um den Hauch eines Hauchs, den winzigen kosmischen Glockenschlag, der für jeden gilt.« (S. 221)

Analysiert werden soll an dieser Stelle weniger der Inhalt dieses Exkurses, d. h. Haffners Zeitbegriff, wie es bereits in einigen Analysen getan wurde,Footnote 30 sondern vielmehr die Viskosität dieser Passage. Auch wenn diese anfangs regelrecht zu fließen scheint – ein Effekt, der sich aus den asyndetischen Aufzählungen ebenso wie aus den zahlreichen Parallelismen ergibt – hat man durch die scheinbar endlos langen Sätze und die Länge dieser Passage, die sich über mehrere Seiten fortsetzt, schnell das Gefühl, festzustecken in einem zähflüssigen Fluidum, aus dem es wortwörtlich kein Entrinnen gibt. Es geht dabei nicht primär um den Inhalt, sondern vielmehr um die prekäre Erfahrung des Feststeckens in diesem Guss aus Worten, der nicht zu enden scheint. Auch hier zeigt sich, ebenso wie in der oben zitierten ekphrastischen Bildbeschreibung, ein Pausieren der Handlung. Die Viskosität des Textes nimmt hier eindeutig zu; oder, wie man auch formulieren könnte, die Textpassage wird als zähflüssig wahrgenommen.

Auch hier wird folglich die Wahrnehmung der Figuren mit der Rezeptionswirkung des Textes parallel geführt. So wie die Figuren immer wieder auf ein erschwertes Fortkommen in ihrer Welt verweisen, wenn beispielsweise »Schwimmbewegungen« (S. 35) notwendig sind, um sich im Raum zu bewegen, so wird auch das Fortkommen im Text an manchen Stellen durch die wuchernde Syntax, detailgenaue Beschreibungen und/oder inhaltlich nur schwer erfassbare physikalische oder philosophische Exkurse wesentlich beeinträchtigt. Die veränderte Viskosität der Luft, die die Protagonisten auf der Ebene der histoire wahrnehmen, korrespondiert folglich mit höchst zähflüssigen Textpassagen auf der Ebene des discours, die dem Text seine eigentümliche Wirkung verleihen.

4 Chronifizierte Chronologie

4.1 Die chronifizierte Zeitstruktur in 42: Tempus facit saltus

Nach diesem Einblick in die Mikrostruktur des Textes soll nun auch die Makrostruktur und ihre affizierende bzw. chronifizierende Wirkung in den Blick genommen werden: »Erstens: Alles ist, wie es war. / Zweitens: Nichts ist wie zuvor.« (S. 81) Diese Feststellung des Erzählers scheint die inhaltliche und formale Struktur des Textes treffend zu beschrieben: Der Roman besteht aus fünf Kapiteln, die von zwei gleichnamig als »Am See« betitelten Kapiteln flankiert werden. Diese beiden gleichen sich jedoch nicht nur in Bezug auf ihre Betitelung, sondern auch das Setting scheint übereinzustimmen. Der Roman setzt in Zürich, genauer gesagt am Bürkliplatz, ein, von wo der Protagonist nach dem RUCK – dem dreisekündigen Fortlaufen der Zeit und ihrem erneuten Stillstand – nach Genf aufbricht. Dort möchte er herausfinden, »ob sie [die chronifizierten Physiker*innen, J.L.] es tatsächlich geschafft haben« (S. 12), den RUCK auszulösen und damit die Zeit – zumindest temporär – wieder fortlaufen zu lassen. Am Ende des Romans kehrt der Hauptprotagonist wieder an diesen Anfangspunkt, den Bürkliplatz, zurück, wo er alles unverändert vorfindet, schließlich ist auch in der arretierten Außenwelt die Zeit seit seinem Aufbruch nicht weitergelaufen. Zwischen diesen beiden Szenen liegen jedoch extrafiktional betrachtet ein ganzer Roman und innerfiktional einige Monate der Unzeit, die der Protagonist durchlebt hat. Ebendiese Zeit wird, ebenso wie die fünf Jahre in der Unzeit vor dem RUCK, in jenen Kapiteln erzählt, die zwischen den Kapiteln »Am See« liegen. Denn auch, wenn am Ende »alles ist, wie es war«, ergibt sich in der dazwischenliegenden erzählten Zeit doch einiges an Veränderung, sodass »[n]ichts ist wie zuvor.« (S. 81)

Auf der Ebene des discours werden die fünf mittleren Kapitel durch jene »Gesetzmäßigkeiten« (S. 17) strukturiert, die der ehemalige Altphilologe Dr. Magnus Sperber in dem von ihm herausgegebenen, »einzig schnelle[n] und wirklich aktuelle[n] Magazin« (S. 17) der Unzeit postuliert: »1. Schock / 2. Orientierung / 3. Missbrauch / 4. Depression / 5. Fanatismus« (S. 18). Diese Gesetze sind, wie der Erzähler versichert, »rein psychologisch« (S. 17); es sind »Prophezeiungen« (S. 18) und die »Stufen unserer Degeneration« (S. 18). Davon ausgehend können »Sperbers Gesetze, die keine Paragraphen aufzählen und keine anderen Strafen kennen als die Zustände, die sie beschreiben« (S. 17), weniger als Rechtsnorm gelesen werden, sondern vielmehr als Versuch eines Naturgesetzes für die Unzeit: »Nur die wenigsten von uns waren stark oder verrückt genug, sich anders zu verhalten, als die Fünf Gesetzmäßigkeiten es vorsahen.« (S. 17).

Diese fünf Stufen erscheinen den Figuren jedoch nicht nur innerfiktional als deterministisches Gesetz, sondern sie strukturieren, wie bereits erwähnt, auch den discours des Romans, indem sie als Kapitelüberschriften fungieren. Während der formale makrostrukturelle Aufbau des Romans der Chronologie dieser fünf Stufen folgt, scheint dies innerhalb der einzelnen Kapitel jedoch nur bedingt der Fall zu sein. Denn auch wenn beispielsweise innerhalb des Kapitels »Schock« der Fokus auf der Schockwirkung und der Desorientierung in der Unzeit liegt, finden sich in diesem Kapitel dennoch Merkmale und Anspielungen auf die anderen vier Phasen.Footnote 31 Ähnlich verhält es sich auch in den weiteren vier Kapiteln. Die fünf Sperberschen Phasen lassen sich folglich nicht strikt auf die ihnen zugewiesenen Kapitel aufgliedern. Damit zeigt sich bereits ein wesentliches Merkmal des innerfiktionalen Zeitkonzepts: In der Unzeit kann es, das wird hier deutlich, kein lineares Fortschreiten der Zeit entlang eines vorherbestimmten und damit vorhersehbaren Zeitkonzepts geben, denn die Zeit ist nicht länger eine kalkulierbare Konstante, die »kontinuierlich, gleichmäßig und irreversibel durch alle Ereignisse hindurchläuft«Footnote 32, wie sie in Zeitkonzepten der Moderne betrachtet wurde.Footnote 33

Dieses innerfiktionale chronifizierte Zeitkonzept spiegelt sich auch in dem erzählerischen Zeitkonzept wider. Parallel geführt werden zwei Erzählstränge, die jeder für sich größtenteils chronologisch erzählt werden. Dies ist zum einen jener Handlungsstrang, in dem die Geschichte der Chronifizierten beginnend mit dem Einsatz der Unzeit mit einigen Auslassungen bis zu einem nicht näher definierten Zeitpunkt vor dem RUCK berichtet wird. Jener Handlungsverlauf, der mit dem RUCK einsetzt und die Reise des Hauptprotagonisten mit seinen »Zombiefreunde[n]« (S. 265) Anna und Boris nach Genf sowie das finale »EXPERIMENT FÖNIX« (S. 325) umfasst, bildet den zweiten Handlungsstrang. Die Bifurkation der Zeit, die sich auf der Handlungsebene in der Teilung zwischen dem Zeitstillstand jenseits der Kapselmembran und dem Fortlaufen der Zeit innerhalb der Kapsel zeigt, wird hier folglich auch in die Struktur des Textes übernommen. Die beiden Erzählstränge stellen ebenso eine (erzählerische) Bifurkation der Zeit dar: Geteilt wird in zwei Zeitebenen – die Unzeit vor dem RUCK und die Unzeit nach dem RUCK.

Betrachtet man die Zeitstruktur auf dieser makrostrukturellen Ebene, so könnte man, ebenso wie HachmannFootnote 34 und auch Luchsinger und FrankFootnote 35 in ihren Beiträgen zu Lehrs Roman, annehmen, dass »der linearen Organisation des Geschehens« – da die beiden Zeitstränge jeweils größtenteils chronologisch erzählt werden – am Ende des Romans »eine zyklische Ordnung entgegengestellt wird«Footnote 36, denn Anfang und Ende sind, wie bereits erwähnt, gespiegelt. Für Herrmann und Horstkotte impliziert diese zyklische Struktur auch eine Aufforderung, »den Roman unter veränderten Vorzeichen erneut zu lesen.«Footnote 37

Auch wenn die Annahme eines zyklischen Erzählmodells, das die (scheinbar) lineare Progression der Handlung durchbricht, durchaus plausibel erscheint, geht die Beschreibung der Zeitstruktur des Romans als zyklisch m. E. nicht weit genug, da sie die Verstrickung der beiden Zeitebenen, die zahlreichen proleptischen und analeptischen Verweise, die repetitiv erzählten Passagen sowie die bereits diskutierten Genettschen Pausen nicht beachtet. Die desorientierende und die Leser*innen regelrecht chronifizierende Wirkung des Romans ergibt sich jedoch erst aus diesen erzählerischen Raffinessen: Die Erzählchronologie folgt keinem linearen, teleologischen Zeitmodell mehr, sie ist auch nicht immer verständlich strukturiert. Damit zeigt der Roman das, wovon er erzählt. Ersetzt wird das lineare Erzählmodell durch eine, wie ich sie nennen möchte, chronifizierte Chronologie, in der die Reihenfolge der Geschehnisse beim Lesen stückweise rekonstruiert werden muss, um sich den Weg durch die raumzeitliche Struktur des Romans zu bahnen. Dies erscheint insbesondere in Bezug auf die Geschehnisse am Beginn der Unzeit als Herausforderung. »Der weiße Vogel, der mir in der Brusthöhe über den Weg schwebt« (S. 25), dient dem Erzähler dabei als Anlass, die apokalyptische Szene am PA 8, wo die Protagonist*innen in die Unzeit eintreten, erneut zu rekapitulieren:

»[I]ch strecke die Hand aus wie damals Madame Denoux, die rothaarige 60-Jährige mit den klirrenden Goldarmbändern, die im CERN-Bus an meiner Seite gesessen hatte, bei der Anfahrt zum PA 8. Wo eben noch die Ruhe, die Ehrfurcht gebietende Equilibristik der ausgebreiteten Schwingen war – eine kreischende, federnstäubende Explosion. Was sonst sollte geschehen, wenn man einen großen Vogel packt, mitten im Flug? Die Gegenwehr dauert nicht einmal einen Herzschlag lang. Das sorgsam frisierte rote Haar von Madame Denoux war kaum in Unordnung gekommen, als die Möwe schon zu Boden stürzte.« (S. 25)

Damit wird jenes Ereignis, das den Beginn der Unzeit markiert (Madame Denoux’ Griff nach der Möwe) aus seinem Geschehenskontext (der Erzählung jener Ereignisse, die sich am Beginn der Unzeit am PA 8 abspielen) herausgelöst und proleptisch vorweggenommen. Auch raumzeitlich bleibt dieses initiale Ereignis mit Madame Denoux und der Möwe hier noch in der Schwebe: Auch wenn die »Anfahrt zum PA 8« einen Hinweis auf die räumliche Verortung zu geben vermag, wird keine explizite Verortung dieser initialen Szene vorgenommen und auch die Chronologie der Ereignisse am PA 8 oder, noch viel grundsätzlicher, die Frage nach dem, was am PA 8 geschieht, bleibt zunächst offen. Sichtbar wird an der zitierten Passage aber bereits das Ineinandergreifen der beiden Handlungs- und Zeitebenen, zwischen denen auch innerhalb einzelner Sätze hin- und hergesprungen wird. Gegenwart und Vergangenheit (und an anderen Stellen auch die Zukunft, z. B. S. 28, 32) scheinen zu verfließen. Damit folgt Lehrs poetologisches Konzept jenem Zitat Einsteins, das dem Roman ebenfalls paratextuell vorangestellt ist: »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.« (S. 7) Die »Scheidung« zwischen – in Falle der zitierten Textpassage – Gegenwart und Vergangenheit ist kaum zu leisten, insbesondere an jenen Stellen, an denen die grammatischen Zeiten (Präteritum für die Geschehnisse vor dem RUCK, Präsens für die Ereignisse nach dem RUCK) nicht konsequent für die jeweiligen Erzählstränge verwendet werden (z. B. S. 26, 272).

Szenen wie die oben zitierte, in denen es zu Verstrickungen zwischen den beiden Zeitebenen kommt und die in Lehrs Roman keine Seltenheit sind, bilden die textuelle Grundlage für die zutiefst desorientierende Wirkung des Romans. Damit korrespondiert die Leseerfahrung mit jener Erfahrung, die die Protagonist*innen in der Unzeit machen: Sie finden sich in einer Welt wieder, in der das thetische Prinzip »Natura non facit saltus«Footnote 38 ausgesetzt ist. In der Diegese gilt vielmehr das Prinzip »Tempus facit saltus« – das prominenteste Beispiel hierfür ist natürlich der RUCK. Der innerfiktionale Verlust der zeitlichen Konstanz spiegelt sich auf der Erzählebene in dem anachronischen Erzählstil – in der Verstrickung der beiden Erzählstränge, in der nur schwer zu rekonstruierenden Chronologie der Ereignisse und den zahlreichen Pro- und Analepsen. Dadurch wird die intradiegetisch chronifizierte Zeit performativ erfahrbar: Der Roman erzählt nicht nur von einer prekären Zeitkonstellation, sondern er vermittelt sie auch durch seine chronifizierte Chronologie.

4.2 Erzählen als letzter Mensch? – Die Frage nach der Erzählsituation

Die Analyse der chronifizierten Chronologie in 42 geht einher mit der Frage nach der Erzählinstanz dieses Textes: Adrian Haffner, der autodiegetische Erzähler, wird zum selbsternannten »Enzyklopädisten der Unzeit« (S. 273). Seine Vergangenheit vor dem Beginn der Unzeit wird in Analepsen erzählt. Verheiratet mit einer Frau namens Karin lebt er als Journalist in München. Ganz im Sinne seines früheren Berufes dokumentiert Haffner auch die Geschehnisse in der Unzeit in Form von Notizbucheinträgen. So wird bereits sehr früh im Roman, als Haffner das Inventar seines Reiserucksackes offenlegt, deutlich, dass auch »Lektüre, Kalendarien und Schreibzeug« (S. 69, Hervorhebung von J.L.) in dieser »leichten Ausführung für Wanderungen« (S. 69) enthalten sind. Erst sehr viel später wird jedoch auf die Praxis des Schreibens und dessen Bedeutung für die Chronifizierten hingewiesen, denn »[w]er nicht schreibt, wird unsere Welt kaum ertragen.« (S. 161) Schreiben wird zur körperlichen Notwendigkeit und zu einem Bedürfnis, das in einer Schilderung des Protagonisten auf eine Ebene mit dem stoffwechselbedingten Ausscheidungsbedürfnis gestellt wird:

»An einen Baum gelehnt, auf einem sitzgerechten Stein, auf der Unterlage von Fahrradsätteln oder Kühlerhauben verrichten wir unser Geschäft, oft zwei, drei Sätze, einen Einfall, eine Erinnerung. […] Man stelle sich also einen streunenden Hund vor, wenn man sich mich vorstellt, Schleifen und Spiralen ziehend, der immer wieder das Schreibbein am Laternenpfahl der Selbstvergewisserung hebt.«Footnote 39 (S. 161)

Schreiben, das wird hier deutlich, dient in der Unzeit als Mittel zur Selbstvergewisserung; es ist eine »Schreibsucht« (S. 161), die den Protagonisten regelrecht befällt. In diesen Reflexionen über das Schreiben, wird jedoch nicht näher konkretisiert, was hier eigentlich aufgeschrieben und dokumentiert wird (»oft zwei, drei Sätze, einen Einfall, eine Erinnerung«, S. 161). Erst auf der letzten Seite des Romans werden Haffners Schreiben und der Akt des Erzählens zusammengeführt. Zu diesem Zeitpunkt ist Haffner der letzte (chronifizierte) Mensch, denn nach dem gescheiterten »EXPERIMENT FÖNIX« (S. 325) – einem mehr oder weniger kollektiven Versuch der Gezeiteten, das Fortlaufen der Zeit wiederherzustellen – sind auch die anderen Chronifizierten in der Zeit erstarrt und nur der Ich-Erzähler kann sich weiterhin frei bewegen. Einem mysteriösen Hinweis folgend findet Haffner als nunmehr letzter lebender Mensch am Bürkliplatz in Zürich Fotografien, die die Ursache des Zeitstillstandes offenzulegen scheinen:

»Die Aufnahmen zeigen den Detektor zunächst in der Totale, so dass man die unversehrte obere Hälfte gut mit dem unteren, zerfetzten und wie leck geschlagenen Teil vergleichen kann, aus dessen Schwärze eine verbogene eiserne Leiter ragt. Dann nähert sich das Objektiv unserem Leichenfeld, das zu beschreiben ich mir hier, in meinem sechsten Notizbuch, erspare.« (S. 368, Hervorhebung von J.L.)

Durch diesen Halbsatz – »hier, in meinem sechsten Notizbuch« – wendet sich am Ende des Romans der Blick auf den Romantext, der nun, von dem Hauptprotagonisten als sein eigenes erzählerisches Werk inszeniert wird. Dadurch entsteht erneut eine (zeitliche) Verunsicherung, diesmal in Bezug auf den Erzählzeitpunkt – die »Zeit der Narration« in Genettes Worten:Footnote 40 Nimmt man die Aussage des Erzählers ernst, so stellt sich die Frage, wann diese Notizen verfasst wurden. Dies ist insbesondere in Bezug auf jenen Handlungsstrang fraglich, der im Präsens erzählt wird und damit eine gewisse Unmittelbarkeit suggeriert. Besonders paradox erscheint dies, wenn Haffner von dem Weg zum PA 8, wo das finale EXPERIMENT stattfinden soll, im Präsens berichtet, so als würde das Geschehen unmittelbar passieren: »Ich weiß nicht mehr, weshalb ich mitgehe.« (S. 349) Eine eingeschobene Erzählung,Footnote 41 die an anderen im Präsens verfassten Textpassagen denkbar wäre, erscheint hier schlicht und ergreifend unlogisch. Mit dieser Unlogik wird nicht nur die Glaubwürdigkeit des Erzählers angegriffen, sondern der Text weist sich damit auch als »unnatürliche Erzählung« aus. Unter diesem Begriff sind Leonhard Herrmann zufolge u. a. Erzählungen zu verstehen, die »von einer Erzählinstanz und/oder einem Standpunkt aus vollzogen werden, die/der den Gesetzen der fiktiven Wirklichkeit der Erzählung widerspricht.«Footnote 42

Dieses Paradoxon liefert in Lehrs Roman eine letzte Quelle der totalen (zeitlichen) Verunsicherung: Nimmt man Haffners Selbstinszenierung als Autor ernst, so erweist sich der Romantext, wie Herrmann in seiner Analyse des Romans anmerkt, als »lediglich aus Stilgründen im Präsens verfasste, rückblickende Erinnerung an ein für ihn bereits vergangenes Leben gemeinsam mit den anderen Chronifizierten.«Footnote 43 Gleichzeitig entsteht, wenn man Haffner Glauben schenkt, nicht nur dieses zeitliche Paradoxon in Bezug auf den Erzählzeitpunkt, sondern es ergibt sich auch eine Diskrepanz zwischen der Form des Romans – seinem Aufbau, seiner Strukturierung in Form der sieben Kapitel, der avancierten Sprache – und der Behauptung Haffners, es handle sich dabei um ein »Notizbuch« (S. 368). Diese Paradoxien und Unstimmigkeiten machen dabei ein wesentliches Merkmal dieses autodiegetischen Erzählers manifest: Dem Erzähler ist nicht zu trauen.

4.3 Man vereinbart Stillschweigen: Auf der Spur eines unzuverlässigen Erzählers

»In der langen Reihe meiner Hotelschwimmbäder ist mir das Bad im Art-déco-Stil gut in Erinnerung geblieben. Ich hatte zwar die Robbe vergessen […], nicht aber […] die katzenäugige kleine Rothaarige, die sich auf einer gekachelten Bank ausstreckt. Sie wurde gedreht, jemand hat ihr den Badeanzug in Höhe des länglichen nach Kokos duftenden Nabels zerschnitten. Wann? Es war gestern schon so und vielleicht auch vor drei Jahren. Meiden Sie Hallenbäder.« (S. 47)

Noch im ersten der fünf Phasen-Kapitel – 1. Schock – wird diese Beobachtung in dem Hallenbad des Wellnesshotels »Victoria-Jungfrau« geschildert. Angedeutet wird damit bereits der gewalttätige Umgang, den die Chronifizierten – insbesondere die männlichen Chronifizierten – mit den Nicht-Chronifizierten pflegen, auch wenn aus dieser Beschreibung noch nicht eindeutig hervorgeht, wer das in der Zeit erstarrte Mädchen missbraucht hat. Die Unzuverlässigkeit Haffners als Erzähler zeigt sich, wie im Folgenden ausführlich diskutiert wird, insbesondere in Szenen wie diesen, wenn es um den Umgang mit den sogenannten Fuzzis, den Nicht-Gezeiteten, geht. Daher soll zunächst die Beziehungskonstellation zwischen Fuzzis und Gezeiteten im Rahmen eines kurzen Exkurses skizziert werden: Der Begriff des »Fuzzis« (»Sperbers spontan hervorgebrachte, lang anhaftende Bezeichnung«, S. 98) verweist bereits auf den Status, den die Chronifizierten dem erstarrten Rest der Menschheit zuweisen, denn der abwertende Begriff »Fuzzi« bezeichnet im Deutschen einen nicht ernst zu nehmenden, unfähigen Menschen. Die Gezeiteten können über die erstarrten und daher wehrlosen Fuzzis nach ihrem Belieben verfügen und sie besitzen qua ihrer Chronosphäre die Gabe, die Fuzzis »wie faulende Früchte in einem Korb […] mit Zeit zu infizieren« (S. 110), wenn sie ihnen so nahe kommen, dass die Fuzzis in ihre Chronosphäre eintreten. Auch wenn sie die Fuzzis dadurch nicht dauerhaft aus ihrer Erstarrung erwecken können, so werden diese zumindest kurz »ergriffen und animiert«, um für wenige Augenblicke »den ihnen verbleibenden Rest motorischer und nervöser Energie auszuschöpfen, wie epileptische Puppen […].« (S. 51) Eigenständige Reaktionen der Fuzzis oder eine »ANTWORT« (S. 332), wie der Erzähler sie sich wünscht, gibt es allerdings nicht. Daraus entspinnt sich eine asymmetrische Beziehungskonstellation, die in ein gewalttätiges Verhalten gegenüber den Fuzzis mündet, über das die Chronifizierten unter sich jedoch Stillschweigen vereinbaren (vgl. S. 175).

Auch wenn der von Sperber formulierte Verhaltenscodex, die »Chronikette«, »empfiehlt, dass möglichst wenig verschoben, verrückt und vergewaltigt« (S. 102) wird, macht der Erzähler sehr früh deutlich, dass Ethik in der Unzeit »nur eine Frage des Zusammenhangs« (S. 201) sei. Dabei zeichnen sich Parallelen zwischen den Praktiken der Nationalsozialist*innen und dem Verhalten der Chronifizierten gegenüber den Fuzzis ab, wenn die Fuzzis beispielsweise als »Objekte der Säuberung« (S. 212) bezeichnet werden. Besonders eindeutig wird diese Parallele auch bei der Beschreibung des »Dorf[es] der Ahnungslosen« (S. 185), einer Aussteiger-Kommune aus neun Chronifizierten, die »(in einer fuzzifreien Umgebung) eine Gemeinschaft echter, wirklicher, lebendiger Menschen« (S. 213) aufbauen möchte – eine Formulierung, die sehr an den Rassenwahn der Nationalsozialist*innen erinnert. Umgesetzt wird dieses »Projekt« in einer »doch niemanden verletzenden oder gefährdenden! […] Säuberungsaktion« (S. 214), die sehr an das 1944 von der Waffen-SS verübte Massaker von Oradour erinnert:Footnote 44 Die erstarrten und als »Deportierte« (S. 214) bezeichneten Fuzzis werden aus dem Dorf verschleppt und in eine Kirche gepfercht.

Szenen wie diese verdeutlichen den Objektstatus, in den die Nicht-Chronifizierten gedrängt werden. Sie werden für perverse Kunstinstallationen verwendet (vgl. S. 189–195) und – wie sich nach und nach herausstellt – zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse der männlichen Chronifizierten missbraucht. In diesem Zusammenhang wird auch die Unzuverlässigkeit des Erzählers sichtbar, auf die nach diesem kurzen inhaltlichen Exkurs zu dem Verhältnis zwischen Fuzzis und Gezeiteten fokussiert werden soll.

Unzuverlässigkeit im Erzählen wird hier als textuelle Eigenschaft aufgefasst, die durch bestimmte literarische Mittel erzeugt wird.Footnote 45 In Lehrs Roman konstituiert sich die Unzuverlässigkeit des Erzählers intranarrativ, das bedeutet, der Bericht des Erzählers weist in sich selbst auf die Widersprüche im eigenen Erzählen hin, beispielsweise durch explizite Verweise auf Diskrepanzen oder durch eindeutige Selbstwidersprüche:Footnote 46 Bereits im ersten Kapitel deutet der Erzähler seine »Verbrechen« und seinen »Wahn« (S.15) an. Es folgen Zusammentreffen mit erstarrten Frauen, wie die zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Begegnung in dem Hallenbad, bei denen immer wieder das Gefühl aufkommt, der Erzähler würde etwas verschweigen. Dass Haffner seine Verbrechen tatsächlich erzählerisch verbirgt, wird erst etliche Seiten später offengelegt:Footnote 47

»Im Victoria-Jungfrau vor vier Tagen gelang es [das kurzzeitige Erwecken eines Fuzzis bei einem Missbrauch, J. L.] mir so vollkommen, mit Hilfe der Schere, die jene schmale glänzende Brücke des Badeanzugs durchschnitt. Die kleine Rothaarige errötete tatsächlich, als ich an ihren Busch klopfte […].« (S. 196–197)

Der Erzähler offenbart sich hier einerseits als Vergewaltiger des Mädchens und andererseits als lügender Erzähler, der sich zunächst als unwissend inszeniert hat, wer den »Scherenschnitt durch das glänzende Gewebe des Badeanzugs« (S. 48) und den Missbrauch vollzogen haben könnte. Damit behauptet er zu Beginn des Romans »wider bessere[n] Wissen[s] Falsches oder Irreführendes, um sich […] in ein besseres Licht zu stellen«Footnote 48, wie Martínez und Scheffel in ihrer Typologisierung unzuverlässiger Erzähler über die Kategorie des Lügners schreiben.

Betrachtet man die Begegnungen des Erzählers mit den Fuzzi-Frauen genauer, so wird deutlich, dass das unzuverlässige Erzählen in engem Zusammenhang mit der chronifizierten Chronologie des Romans steht. Zeigen lässt sich dies sehr gut an jenem Missbrauch, den Haffner an einem seiner Frau zum Verwechseln ähnlichen »Scheinklon« (S. 125) begeht. Zunächst wird nur das Zusammentreffen der beiden geschildert (vgl. S. 124–125), auf das im Laufe des Romans immer wieder rekurriert wird, wobei die Episode dabei immer weiter vervollständigt wird und der Missbrauch an dem erstarrten Scheinklon immer offensichtlicher wird (vgl. S. 132–133, 141, 256–257). Die Analepsen, in denen immer wieder auf dieses Zusammentreffen Bezug genommen wird, stellen dabei anachronische Einschnitte in den ansonsten weitgehend chronologisch erzählten Handlungsverlauf innerhalb dieses Erzählstranges dar. Beschreiben lässt sich diese Erzählweise über die Metapher der Blase: Der Text wirft mit der initialen Beschreibung einer solchen verdächtigen Szene (z. B. die Beschreibung der Rothaarigen im Hallenbad; das erste Zusammentreffen mit dem Scheinklon) eine Blase auf, die durch die analeptischen Vervollständigungen der jeweiligen Episode anwächst – bis sie schließlich platzt und Haffner als skrupellosen Vergewaltiger enttarnt.

In Genettes Begrifflichkeiten kann hier auch von hypothetischen Ellipsen gesprochen werden. Dabei handelt es sich um Ellipsen, d. h. erzählerische Auslassungen von Handlungsereignissen, die erst retrospektiv in Form einer Analepse kenntlich werden.Footnote 49 So wird in Lehrs Roman zunächst eine Episode, in diesem Fall die erste Begegnung mit dem Scheinklon, erzählt und dabei der Missbrauch elliptisch ausgeklammert. Erst durch die im Laufe des Romans folgenden Analepsen wird die Episode vervollständigt und kann zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Dieses Bild offenbart Haffner – so wie auch viele seiner gezeiteten Kollegen – als notorischen Vergewaltiger, der die Fuzzi-Frauen zu Konsumobjekten degradiert und zu perversen Spielereien missbraucht:

»Eine Zeitlang neigt man dann wohl zu Extremen und Provokationen, etwa indem man sich am aufgedeckten mächtigen Euter der Angetrauten eines stierschädeligen Biergartensäufers melkt, […] indem man inmitten einer von Dutzenden von grillsüchtigen Faulenzern belegten Wiese in das knusprigste Hühnchen hineinfährt, indem man sich in Beichtstühlen, Fahrstühlen, Touristenbussen oder ähnlichen Idealräumen des Klaustrophilen eine kleine rush minute gönnt […].« (S. 198)

Gesteigert wird die Verstörung in Beschreibungen wie diesen durch die verharmlosende Wortwahl (z. B. »rush minute«), die Haffners Taten herunterspielen. Die Vergewaltigungen selbst werden zu einem technisch-präzisen Akt, der erneut die Objektifizierung der Fuzzi-Frauen verdeutlicht: »Am schonendsten dürfte nach wie vor die Methode Kurz und Bündig sein, die pornokinetische Konzentration und Distanz, die nur das Entscheidende zusammenbringt, dafür aber vehement.« (S. 178)

Die Offenlegung der Taten Haffners in Beschreibungen wie den eben zitierten erfolgt allerdings erst im Kapitel »Missbrauch«. Haffner wird dabei, wie bereits erwähnt, nicht nur als Vergewaltiger, sondern auch als unzuverlässiger Erzähler enttarnt. Mit dieser Diskreditierung des Erzählers als glaubwürdige Instanz schwindet eine weitere Konstante, die beim Lesen Orientierung geben könnte: Nicht nur das innerfiktionale Zeitkonzept des Romans, sondern auch der Erzähler selbst bietet keine Gewissheit. Auch dies trägt zu der desorientierenden und verstörenden Wirkung des Romans bei. Passenderweise spricht Sabine Schlickers bei Texten, in denen unzuverlässig und paradox (z. B. metaleptisch) erzählt wird, von »verstörenden Erzählungen«.Footnote 50All diese narratologischen Verfahren dienen Schlickers zufolge dazu, die Rezipient*innen zu täuschen, zu verwirren und zu desorientierenFootnote 51 – eine Beschreibung, die, wie bereits gezeigt werden konnte, auch auf Lehrs 42 zutrifft. In Lehrs Roman wird allerdings nicht nur unzuverlässig erzählt, sondern es zeichnet sich auch ein Spiel mit metaleptischen (Ver‑)Störungen ab, wie im Folgenden noch genauer analysiert wird. Zuvor soll allerdings noch die Frage nach der chronifizierten Räumlichkeit in 42 gestellt werden, die in gewisser Weise ebenso Störungspotenzial aufweist.

5 Chronifizierte Zeit – Chronifizierter Raum?

Die Frage nach der Zeit geht, spätestens seit Einstein,Footnote 52 mit der Frage nach dem Raum einher. Auch wenn in 42, wie Lehr selbst in einem Interview betont, die zeitliche Dimension als »Held des Romans«Footnote 53 im Vordergrund steht, soll die räumliche Dimension – sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Erzählebene – daher nicht unbeachtet bleiben.

Eingeführt wird die räumliche Situation der Protagonist*innen bereits im ersten Absatz des Romans als Ort, der »unmöglich ist.« (S. 11) Was sich hier zeigt, ist die enge Verbundenheit zwischen Raum und Zeit, denn wenn die Zeit erstarrt, erstarrt auch der Raum. Etwas plakativ könnte man auch formulieren: Das Ende der Zeit geht einher mit dem Ende des Raumes. In 42 wird dies anhand der Todesmetaphorik deutlich, mit der die Beschreibungen der realgeografischen Orte aufgeladen sind. So ist die Rede von den »lebenden Leichentücher[n] von Warschau, Budapest, Zagreb, Athen« (S. 167) und der Erzähler spricht von der »vollkommen waagrecht verlaufende[n] Herz-Oszillographenlinie für Mailand, Rom, Florenz.« (S. 167)

An diesen Beschreibungen zeigt sich auch bereits die realgeografische Verortung des Romans, die sich ausgehend von Mategnin (wo dem Erzähler zufolge der PA 8 liegt, S. 26) und Genf in der Schweiz über weite Teile Europas erstreckt. Insbesondere der Schweizer Raum ist dabei semantisch aufgeladen: Im Herzen Europas bildet die Schweiz mit ihrer Nicht-Mitgliedschaft in der Europäischen Union und ihrer eigenen Währung extrafiktional eine Art politische und wirtschaftliche Blase. Dies korrespondiert mit dem Bild der Schweiz, das die Figuren in Lehrs Roman entwickeln, wenn sie zunächst hoffen, dass nicht die ganze Welt, sondern »nur die Schweiz eingefroren« (S. 133), also zu einer Blase des Zeitstillstands geworden sei. Zugleich ist die extrafiktionale Schweiz, genauer gesagt die Stadt Genf, auch der Entstehungsort der Genfer Konvention – ein Abkommen, das mit dem humanitären Völkerrecht befasst ist. In 42 wird »die großherzige, humanitäre Tradition der Stadt Genf« (S. 210) parodiert, wenn es im innerfiktionalen Genf zur »Konvention« (S. 209) wird, Waffen zu tragen und die eigenen Schlafräume mit Anti-Personen-Minen vor anderen Chronifizierten zu schützen.

Von Genf ausgehend verteilen sich die Protagonist*innen wie SondenFootnote 54 über Europa, zum Teil bis nach Asien, um die mögliche Grenze der Zeitlosigkeit – die »Dornenhecke« (S. 106), wie die Protagonist*innen in Anspielung auf das Grimmsche Märchen Dornröschen formulieren – auszuforschen. Haffners Reisen haben jedoch ein weiteres Ziel: In den – für den Roman charakteristischen – schleifenartigen Bewegungslinien, die der Protagonist über Europa zieht, sucht er in den ersten Jahren der Unzeit nach seiner Frau Karin, die vor dem Zeitstillstand angeblich mit einer Freundin an einem Haffner nicht näher bekannten Ort Urlaub machen wollte, während sie eigentlich, wie der Erzähler herausfindet, mit ihrem Liebhaber nach Florenz gereist ist.

Die Reisen, die Haffner auf der Suche nach Karin zurücklegt, werden zu einer regelrechten Odyssee; nicht umsonst spricht Haffner einmal in Anspielung auf den Helden Odysseus von dem »ausgequetschten Akkordeon meiner Irrfahrten« (S. 331). Grund für die Beschwerlichkeit der Reise ist die Tatsache, dass in der Unzeit »kein Flugzeug, kein Auto, kein Motorrad, keine Vespa, kein Fahrrad, kein Tretroller und noch nicht einmal Rollschuhe« (S. 104) verwendet werden kann und die Reisen zu Fuß in der mobilen, undurchsichtigen Zeitkapsel zurückgelegt werden müssen.

Daraus resultiert eine enorme Entschleunigung der Bewegung, die sich diametral zu dem verhält, was der Soziologe Hartmut Rosa als Beschleunigungsprozess der (Spät‑)Moderne diagnostiziert hat. Rosa zufolge kommt es in modernen Gesellschaften zu einer sozialen Beschleunigung, die sich in diversen Lebensbereichen manifestiert.Footnote 55 Ein wesentlicher Prozess in dieser Akzeleration ist die technische Beschleunigung, mit der Rosa die »intentionale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Transport‑, Kommunikations- und Produktionsprozesse«Footnote 56 definiert. Darunter fallen beispielsweise die sekundenschnelle Kommunikation, die durch moderne Technologien auch über Tausende von Kilometern möglich wird, und die beschleunigte Fortbewegung durch moderne Transportmittel. Rosa zufolge wirkt sich diese Beschleunigung auf das Raum-Zeit-Verhältnis aus: »Im Zeitalter der Globalisierung und der Ortlosigkeit des Internets wird Zeit mehr und mehr so verstanden, daß sie den Raum komprimiert oder gar vernichtet.«Footnote 57 Durch die Geschwindigkeit, mit der räumlich weit entfernte Orte kommunikativ, aber auch physisch erreicht werden können, scheint sich der Raum regelrecht zusammenzuziehen.Footnote 58 Diese Kompression des Raumes wird in der Unzeit schlagartig in ihr Gegenteil verwandelt. Die Protagonist*innen finden sich plötzlich in einem weiten Raum wieder, dessen Grenzen nur durch die umgebenden Meere abgesteckt sind und der mühselig langsam zu Fuß durchschritten werden muss. Neben der Unwegsamkeit dieser Reisen, die dem mühsamen Fußmarsch geschuldet ist, stellt der Raum dem Erzähler auch immer wieder materialisierte Störungen in Form von Scheinklonen (z. B. S. 125) und Doppelgängern (z. B. S. 229) entgegen, die Haffner zunehmend verunsichern.

In Analogie zu der vorhergehenden Untersuchung zu dem Wechselspiel zwischen der chronifizierten Zeit der Handlung (histoire) und der chronifizierten Chronologie des Romans (discours), lässt sich auch für die räumliche Dimension fragen, ob sich die Unwegsamkeit der chronifizierten Topografie des Romans und die räumlichen Störelemente auch in Form von Unwegsamkeiten im Textraum widerspiegeln. Herangezogen wird hierfür die Unterscheidung unterschiedlicher literarischer Raumwirklichkeiten nach Wilhelmer, der zwischen vier Ebenen differenziert, von denen jene zwei, die an dieser Stelle relevant sind, näher erläutert werden sollen:Footnote 59

Zu unterscheiden ist demnach der Raum der erzählten Welt von dem Textraum. Ersterer bezeichnet jenen Raum, der sich aus den narrativ vermittelten Relationen von Figuren, Lebewesen, Objekten und Schauplätzen auf der Ebene der histoire ergibt.Footnote 60 Im Falle von Lehrs Roman sind dies beispielsweise die Schauplätze und Städte, die der Hauptprotagonist durchschreitet. Mit dem Begriff des Textraumes ist Wilhelmer zufolge dagegen jener Raum gemeint, der beim Lesen durchquert werden muss. In diesem Sinne wird der Text selbst zu einem Ort, dessen Durchschreiten sowohl durch seine ästhetische Anordnung (z. B. Typografie, Layout) als auch die narrative Gestaltung (z. B. intertextuelle Verweise, die zeitliche Verweisstruktur) beeinflusst, wenn nicht sogar gesteuert wird.Footnote 61 Von dieser Unterscheidung ausgehend ist zu fragen, inwiefern sich im Textraum, ebenso wie in den erzählten Räumen (vgl. die mühsame Fortbewegung zu Fuß; die Doppelgänger und Scheinklone), Hindernisse konstituieren.

Neben typografischen Auffälligkeiten, wie der Kursivsetzung jener Begriffe, die der Protagonist aus dem Sperberschen Bulletin übernimmt, und der Großschreibung einzelner Begriffe und Pronomen, sind es insbesondere die intertextuellen, intermedialen und transdisziplinären Zitate, die den Textraum unwegsam machen. Wortwörtlich zur Störung wird dabei eine besondere Form des Zitats, die Lehr in den Roman einbringt – mathematische Formeln.

Insgesamt finden sich zwei mathematische Formeln im Text wieder: die Wheeler-Witt-Gleichung (vgl. S. 223) – eine grundlegende quantenphysikalische Formel – und eine Formel zum Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem zufolge die Entropie in einem geschlossenen System nur zunehmen kann (vgl. S. 186).Footnote 62 Unabhängig von dem Inhalt der Formeln oder ihrer inhaltlichen Bedeutung für den Zeitbegriff, den der Roman entwirft, stellen sie ein Moment der Störung im Text dar. Denn einerseits handelt es sich hierbei um eine abweichende Nomenklatur, die in literarischen Texten – wie auch Thomas Lehr in einem Essay zu 42 anmerkt – eine Seltenheit darstellen.Footnote 63 Andererseits fallen die Formeln auch durch ihre Typografie auf, denn sie sind handschriftlich in den Text eingefügt.Footnote 64

Benannt oder gar erklärt werden diese Formeln im Fließtext nicht, da auch der Erzähler und die anderen Chronifizierten als »Laien für Weltuntergänge« (S. 34) »nicht viel mehr als Bahnhof« (S. 186) verstehen und sich über die Formeln lustig machen (»Ob das nun bedeute, dass Harriet und seine Freunde Max, Gustav und Thomas [die chronifizierten Physiker, J.L.] alles Nullen seien, erkundigte sich Sperber.«, S. 223). Die Formeln bleiben hier sowohl für die Protagonist*innen, als auch für die Rezipient*innen seltsam undurchsichtig.

Dieses Moment der Undurchsichtigkeit zeigt sich auch bei anderen intertextuellen und intermedialen Verweisen: Der Text ist durchzogen von mehr oder weniger manifesten Anspielungen auf Persönlichkeiten und Werke der Kunst‑, Philosophie‑, Physik- und Literaturgeschichte und Verweisen auf physikalische und philosophische Begrifflichkeiten und Konzepte, die die Vielschichtigkeit dieses Textes hervorbringen. So wird beispielsweise ein Absatz aus der Leibnitzschen Monadologie auf Französisch zitiert (S. 150), auf die calvinische Religionstheorie angespielt (S. 102, 334) und – wie eben zitiert – zwei physikalische Formeln in den Text integriert. Ganz im Sinne der Bedeutung jenes lateinischen Wortes, von dem sich der deutsche Begriff ›Text‹ ableitet (textere), kann Lehrs Roman als Gewebe aus mythologischen, physikalischen, philosophischen und auch literarischen intertextuellen und intermedialen Verweisen bezeichnet werden, die an manchen Stellen (z. B. in den philosophisch-physikalischen Abhandlungen, die bereits diskutiert wurden) den Blick auf die Handlung zu verstellen scheinen. Diese Trübung der Sichtbarkeit, wie ich es nennen möchte, hat eine Entsprechung auf der Ebene der histoire, denn auch die Protagonist*innen machen die Erfahrung, dass ihre Sicht getrübt ist:

»Das Wasser des Sees scheint manchmal in Bewegung, seine türkisblaue, achatblaue, ultramarinblaue, silbrige Oberfläche von kurzen Strömungen erfasst, die in der Sekunde erstarren, in der man sie näher betrachten möchte, und sich genau dann, wenn der fokussierte Blick verwässert und das Bild zu flimmern beginnt, wieder zu beleben scheinen, so raffiniert getarnt, so perfekt und rhythmisch im Flimmern verborgen, dass man sie nie aufrichtig wird glauben können.« (S. 265, Hervorhebung von J.L.)

Diese Trübung der Sichtbarkeit ist, das lässt sich aus den angeführten Überlegungen schlussfolgern, nicht nur ein inhaltliches Phänomen, sondern sie spiegelt sich in übertragener Form auch auf der Ebene des Textraumes wider. Dabei spielen Momente der Störung eine zentrale Rolle, die sowohl auf der Ebene des erzählten Raumes als auch im Textraum konstituiert werden. Auf die Momente der Störung in 42 soll im Folgenden noch weiter fokussiert werden.

6 Das Spiel mit der (Ver‑)Störung

6.1 Metaleptischer »KONTAKT«

»Denkt an die gerade vergangenen Sekunden, um zu verstehen. Ein ruhiger Atemzug. Zwei Pulsschläge. Ein einziger für das große Herz. Der Akkord eines Straßenmusikers. Ein Passant, dem ihr ausweichen wolltet (schon geschehen). Eine flüchtige, gleichgültige Bewegung im Hintergrund. Denkt euch in uns hinein und begreift, dass es nicht mehr bedurfte, um unsere Welt aus den Angeln zu heben, um uns zu zerstreuen, als explodierte eine Bombe über unseren Köpfen.« (S. 20)

Mit dieser Apostrophe endet das erste Kapitel »Am See«. Der Erzähler fordert damit eben jene Rezeptionshaltung, die der Text in Stil und erzählerischen Gesten nahelegt: Das Einfühlen in die innerfiktionale Handlung und das damit einhergehende Chronifiziert-Werden der Leser*innen.

Im Laufe des Romans mehren sich direkte Ansprachen, jedoch unterscheiden sich diese durch zwei wesentliche Aspekte von der oben zitierten. Erstens ist, wie weiter unten noch diskutiert werden wird, bei den folgenden Ansprachen nicht mehr eindeutig, an wen diese adressiert sind. Zweitens fällt die veränderte Typografie auf: In den meisten Fällen werden die Pronomen in diesen Apostrophen als Majuskeln in den Text integriert (z. B. »IHR«, S. 338; »EUCH«, S. 344) und damit nicht nur inhaltlich, sondern auch typografisch zur Störung. Damit wäre auch das Moment der Störung angesprochen, bei dem es sich Christoph Neubert zufolge um eine »unvorhersehbare und aktuell unerwünschte Beeinträchtigung einer natürlichen, sozialen, technischen oder diskursiven Ordnung«Footnote 65 handelt. Störungen oszillieren dabei – so auch in Lehrs Roman – zwischen Zer-Störung und Ver-Störung.Footnote 66 Bevor dies näher erläutert wird, stellt sich jedoch zunächst die Frage, wer mit diesen typografisch auffälligen Apostrophen angesprochen wird.

Der Erzähler trennt klar zwischen den »Zombies/UNS« und »der Menschheit/EUCH« (S. 208), allerdings bleibt ungewiss, ob mit diesen Apostrophen die Leser*innen adressiert (und dabei mit den Fuzzis gleichgesetzt werden) oder ob die innerfiktional erstarrten Fuzzis angesprochen sind. Im Roman bleiben beide Lesarten plausibel. In jedem der beiden Fälle dienen diese Ansprachen dem Herstellen von »KONTAKT« (S. 334) jenseits der Kapselmembran: Entweder zu den innerfiktionalen Fuzzis oder zu den Rezipient*innen des Romans.

Liest man die Apostrophen als Ansprachen an die Leser*innen, so überschreiten diese Äußerungen die Grenze zwischen der intradiegetischen Welt der Chronifizierten und der extradiegetischen Welt der Leser*innen. In der Narratologie werden Phänomene wie dieses unter dem Begriff der Metalepse gefasst. Mit Genette ist darunter »[j]edes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum […] oder auch […] das Umgekehrte«Footnote 67 zu verstehen.

Interessant ist in Hinblick auf die Frage nach der Performativität des Textes jedoch weniger die Klassifizierung dieses Phänomens als vielmehr seine Wirkung. Häufig dienen Metalepsen dazu, die ästhetische Illusion eines Textes zu brechen und damit den Rezipient*innen die Fiktionalität des Erzählten bewusst machen.Footnote 68 Dies trifft jedoch nicht auf jene metaleptischen Erzählelemente zu, die typografisch in 42 hervorgehoben sind: Die Leser*innen werden, sofern man die Apostrophen als Ansprachen an diese versteht, selbst in die Fiktion eingeschrieben: »IHR, die Milliarden von Fuzzis, in EUREM grandiosen ewigen Augenblick« (S. 338). In dieser Gleichstellung der Leser*innen mit den Fuzzis wird nicht die Fiktionalität des Erzählten bewusst gemacht, sondern die Diegese dehnt sich auf die Extradiegese aus. Dadurch entsteht ein Effekt der Metalepse, der, wie Genette es formuliert, zu der »inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese [führt], wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten, d. h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören.«Footnote 69 Demnach kommt der Metalepse ein beträchtliches Störungspotenzial zu, da sie in gewisser Weise zu einer Infragestellung der extrafiktionalen Realität und des eigenen ontologischen Zustandes führen kann.

Von Zweifel und Überlegungen bezüglich der Realität und des eigenen Seins-Zustandes sind auch die Protagonist*innen in Lehrs Roman betroffen. Es stellt sich daher die Frage nach der »Realität der FOLIE« (S. 265) und jenen Störelementen, die diese infrage stellt.

6.2 »Im Illusionstheater«: Das Moment der Ungewissheit

»Für einen sehr kurzen, scharf umrissenen Moment glaubte ich etwas gerade nicht zu sehen oder ganz präzise zu vergessen, es war wie das Aufblitzen einer Befürchtung in der Wirklichkeit und der sofortige Versuch, sie auszublenden.« (S. 234) Woher dieses »Flimmern« (S. 265) kommt und was es damit auf sich hat, wird in 42 nicht ausgeführt. Fest steht, dass es sich dabei um eine Störung handelt, die eine zutiefst verunsichernde Wirkung erzeugt und bei dem Erzähler die Frage nach der »Realität der FOLIE« (S. 265) aufwirft. Mit dem Begriff der »FOLIE« ist bereits jene Bezeichnung eingebracht, die die Protagonist*innen für das Standbild verwenden, das sie jenseits ihrer unsichtbaren und untastbaren Kapselmembranen wahrnehmen. Im Rahmen der zahlreichen physikalischen und philosophischen Theorien darüber, wie dieses Standbild und die Bifurkation der Zeit zustande gekommen sein könnten und welchen ontologischen Zustand die Protagonist*innen darin einnehmen, taucht sehr früh die Frage auf, »inwieweit das, was sich vor meinen Augen nicht mehr abspielt, den Anspruch erheben kann, tatsächlich die gefrorene Wirklichkeit zu sein.« (S. 121) Immer wieder bezeichnet Haffner das »Standbild« als »Simulation« oder »Kulisse« (S. 122). Dabei kommt auch die Metapher des Theaters ins Spiel: »Wir denken an Absicht, immer wieder. Das ist manchmal ein religiöser Impuls, manchmal nur die praktische Schlussfolgerung eines Theaterbesuchers, der die ungeheuerlichsten Kulissen sieht und nicht umhinkann, auch ein dazugehöriges Stück und die Existenz eines Regisseurs zu vermuten.« (S. 126) So wird auch die Realität für die Protagonist*innen in gewisser Weise zu einem »Illusionstheater« (S. 148), auf das das immerwährende Mittagslicht wie ein Bühnenscheinwerfer gerichtet ist. Für die Figuren bleibt dabei weiterhin die Frage ungeklärt, wer oder was die Unzeit ausgelöst hat und wie diese wieder beendet werden könnte.

Der Versuch, die eigene Welt und ihre veränderten Gesetzmäßigkeiten zu erkunden – sowohl theoretisch, wie die Physiker*innen es zunächst tun, als auch im Modus des Erkundens und Entdeckens auf den zahlreichen Reisen –, wirft schlussendlich mehr Fragen auf, als geklärt werden können. Raum und Zeit liefern in immer neuen Phänomenen, wie beispielsweise dem RUCK, neue Quellen der Ungewissheit und Verunsicherung. Dabei spielen visuelle Phänomene eine wesentliche Rolle:

Neben rätselhaften Scheinklonen, die bis auf winzige Details (z. B. Muttermale, S. 165) anderen Menschen (z. B. Haffners Frau) so ähnlich sehen, dass sie kaum als »Kopie« (S. 126) identifiziert werden können, tauchen im Laufe der Erzählung auch Doppelgänger von Chronifizierten auf: »Er [Sperber, J.L.] war elf-, wahrscheinlich zwölfmal, also stets, identisch.« (S. 229) Abgesehen von »Kleidung, Ort und den unmittelbaren körperlichen Folgen der gerade ausgeübten Tätigkeit« (S. 229) ist kein Unterschied zwischen diesen rätselhaften Klonen und den Originalen auszumachen.

Begegnungen mit diesen Doppelgängern, die als fuzzifizierte Chronifizierte in gewisser Weise die Grenzen zwischen Fuzzis und Chronifizierten aufbrechen, haben beträchtliches Störungspotenzial. Hier zeigt sich eine interessante Parallele zu Jean-Louis Baudrys Überlegungen zu Übertragungsstörungen im Kino: Durch die Störung wird die »technische Apparatur, die gerade vergessen war«Footnote 70, sichtbar. Der Realitätseindruck – die Illusion von Realität, die sich beim Betrachten der Leinwand im Kino ergibt – ist folglich stets durch Störungen, z. B. einen Filmriss, gefährdet, die den Zuschauer*innen diese Illusion bewusst machen könnte.Footnote 71

Ähnlich wie ein Filmriss funktionieren in Lehrs Roman das zu Beginn dieses Abschnitts zitierte »Flimmern« (S. 265) und die Doppelgänger, denn sie stellen die »Realität der FOLIE« (S. 265), die in gewisser Weise Parallelen zur Kinoleinwand aufweist,Footnote 72 infrage. So erwecken die Doppelgänger bei dem Erzähler den Eindruck, es handle sich dabei um den »höhnische[n] Scherz eines Schreiberlings« (S. 236) und ihn beschleicht bei deren Anblick »das Gefühl, inszeniert zu sein oder gar ausgedacht.« (S. 236) Bereits zuvor war auch die Rede davon, dass die Handlung, konkret das Ereignis des RUCKS, an das »Manöver eines befremdlichen Science-Fiction-Romans« (S. 144) zu erinnern scheint. Leonhard Herrmann interpretiert Anspielungen wie diese als Hinweise darauf, dass die Figuren sich zunehmend ihrer eigenen Fiktionalität gewahr werden.Footnote 73

Ein starkes Indiz für diese Lesart liefert – wie nun in einem kurzen Exkurs behandelt werden soll – eine weitere materialisierte Störung im Raum: Es handelt sich dabei um die die Wachsfigur eines Schmetterlingfängers im Schweizer Hotel Montreux Palace, die »so geschickt installiert [ist], dass man in den ersten Augenblicken nicht umhinkonnte zu glauben, der […] 60-jährige Bursche mit dem Netz sei tatsächlich in der Hotelhalle auf der Jagd nach Schmetterlingen gewesen und ganz zufällig auf das Podest geraten.« (S. 238) Ganz im Gegensatz zu den anderen erstarrten Menschenfiguren handelt es sich bei diesem Schmetterlingsfänger um eine tatsächlich künstliche Figur, auch wenn Haffner und seine »Zombiefreunde« (S. 265) Anna und Boris sie zuerst für einen Fuzzi halten. Der Effekt dieser künstlichen Figur ist frappierend, bewirkt sie doch bei den Protagonist*innen, dass sich diese wie »ein pneumatischer Hund« (S. 237) fühlen und »sich schon aufgespießt […] und eingereiht unter dutzende andere Zeit-Schmetterlinge« wähnen (S. 238).

Gelesen werden kann diese Figur, wie auch Herrmann in seiner Analyse anmerkt,Footnote 74 als intertextuelle Anspielung auf den Schriftsteller Vladimir Nabokov und seine Erzähltechniken. Das literarische Werk Nabokovs, der die letzten Jahre seines Lebens in jenem Hotel in Montreux verbrachte, in dem die Protagonist*innen in Lehrs Roman diese Wachsfigur vorfinden, ist durchzogen von dem Motiv der Schmetterlinge. In seinen Texten spielt er – das ist an dieser Stelle das Zentrale – auch immer wieder mit unzuverlässigen Erzählern und Erzähltechniken, in deren Rahmen sich die Figuren ihrer eigenen Fiktionalität bewusstwerdenFootnote 75 – ein Erzählgestus, der sich, wie oben erwähnt, auch in Lehrs 42 interpretieren ließe und auf den durch dieses außergewöhnliche intertextuelle Zitat verwiesen wird.

Diese Anspielung auf Nabokov wird in 42 allerdings nicht näher expliziert, vielmehr dient die Begegnung mit der Wachsfigur des Schmetterlingfängers und ihr unerklärlich mystischer Effekt auf die Protagonist*innen als Moment der Ungewissheit: Der Grund für dieses »Gefühl von Minderjährigkeit und Transparenz« (S. 237), das die Protagonist*innen in der Gegenwart des Schmetterlingfängers erleben, bleibt ebenso rätselhaft wie die Existenz der Doppelgänger und das eingangs zitierte Bildflimmern. Aus Leerstellen und Störelementen wie diesen entsteht beim Lesen immer wieder das Gefühl, etwas nicht verstanden oder einen Hinweis übersehen zu haben, der diese Verunsicherung auflösen könnte.

Die Begegnungen mit diesen mystischen Figuren lassen die Protagonist*innen auf der Handlungsebene erneut auf die unbeantwortete Frage nach einer Erklärung für die Unzeit und den Zustand der Chronifizierung fokussieren. Diese Frage steht in engem Zusammenhang mit dem Moment der Ungewissheit in Lehrs Text, das Tzvetan Todorov zufolge als das wesentliche Merkmal fantastischer Erzählungen zu betrachten ist.Footnote 76 Nach Todorov ist die Basis des fantastischen Erzählens ein innerfiktionales Ereignis, das sich »aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt«Footnote 77 nicht erklären lässt. Je nachdem, wie dieses Ereignis im Text erläutert wird, spricht Todorov entweder von der Kategorie des »Unheimlichen« oder des »Wunderbaren«. Trifft ersteres zu, so wird das unerklärliche Ereignis vor dem Hintergrund jener Gesetze und Maßstäbe erörtert, die auch für extrafiktionale Wirklichkeit Gültigkeit haben (z. B. ein Traum). Handelt es sich um eine wunderbare Erzählung, so wird das jeweilige Ereignis dagegen anhand von »neue[n] Naturgesetze[n]«Footnote 78 erklärt, die speziell für die innerfiktionale Welt gelten und die nicht mit jenen der außerfiktionalen Wirklichkeit übereinstimmen müssen (z. B. im Märchen).Footnote 79 Lehrs Roman changiert – ganz so wie Todorov es für die fantastische Erzählung definiert – zwischen diesen beiden Kategorien des Unheimlichen und des Wunderbaren, woraus sich eine konstante Ungewissheit über die (Nicht‑)Erklärbarkeit der erzählten Ereignisse ergibt.Footnote 80

Den Höhepunkt findet dieses Moment der Ungewissheit am Ende des Romans in dem zweiten rahmenden Kapitel »Am See«: Nach dem misslungenen EXPERIMENT FÖNIX begibt sich der Protagonist als nunmehr letzter chronifizierter Mensch nach Zürich zum Ausgangspunkt seiner Reise, wo er dem Hinweis, den er vor dem EXPERIMENT von Stuart Miller, einem anderen rätselhaften Chronifizierten, erhalten hat, folgt und am Bürkliplatz versteckt unter dem Hut einer Passantin Fotos findet. Darauf zu sehen ist der zerstörte Detektor DELPHI, was als innerfiktional plausible Erklärung für den Zustand der Chronifizierung dienen könnte. Die Fotos werfen jedoch mehr Fragen auf, als sie klären, denn »[d]as vorletzte Bild zeigt […] mich selbst, direkt neben Anna und Boris, so als hätte ein irrer chirurgischer Experimentator ohne geeignetes Werkzeug uns zu einem einzigen Menschen zusammenfügen wollen.« (S. 368) Fragwürdig bleibt dabei nicht nur der ontologische Zustand Haffners, sondern auch, wer, wann und wieso diese Fotos für ihn unter dem Hut der Passantin versteckt haben könnte. Denn der Roman endet nicht mit Antworten auf diese Fragen, sondern mit Haffners lethargischer Akzeptanz seines Zustandes: »Das also ist mein Zustand, und nichts anderes habe ich seit Monaten gedacht.« (S. 368) Durchbrochen oder – wie man auch formulieren könnte – »gestört« wird mit diesem Romanende jene Erwartung, die in der Regel an das Ende eines Textes gestellt wird: »Während Anfänge den Anschein erwecken, als entwickle sich alles aus ihnen heraus, ist das Ende maßgeblich für die Sinnstiftung.«Footnote 81 Der Roman widersetzt sich jeglicher Sinnstiftung und Aufklärung und bleibt als fantastische Erzählung im Moment des Ungewissen verhaftet. Silke Horstkotte verweist in diesem Zusammenhang auf eine Parallele zwischen Lehrs Romanende und der Wirkung sogenannter mind game movies, die informell auch als mindfuck movies bezeichnet werden. Logische Ungereimtheiten werden in diesen Filmen nicht aufgeklärt, sondern bewusst inszeniert, um die Rezipient*innen zu verwirren und zu desorientieren.Footnote 82 So auch in Lehrs Roman: Das Ende verstört, weil es keine Antworten liefert.

7 Fazit

»In schmerzlichen und mathematisch heimtückischen Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen« (S. 61) vollziehen dem Erzähler zufolge »die Kerne der Kerne der Kerne« (S. 61) ihre Bahnen in jenem Teilchenbeschleuniger, der im Verdacht steht, die Ursache der Chronifizierung zu sein. Diese kreisenden, schleifenden Formmuster und Bewegungen können auch als Metapher für jenen Effekt betrachtet werden, den Lehrs Roman 42 performativ hervorbringt. Der Text hat eine affizierende, regelrecht chronifizierende Wirkung, die sich – so wie in der These angenommen – aus dem Zusammenspiel von Handlungs- und Erzählebene ergibt:

Die Wahrnehmung und das Erleben der Protagonist*innen auf der Handlungsebene werden immer wieder in Stil und Form des Textes gespiegelt. So vermitteln die wuchernde Syntax, die scheinbar nicht enden wollenden Exkurse des Erzählers und die chronifizierte Chronologie des Romans, in der sich die Leser*innen die Reihenfolge der Geschehnisse selbst rekonstruieren müssen, die »Schwindelgefühle« (S. 23) und Desorientierung, die auch die Protagonist*innen auf der Handlungsebene erfahren.

Besondere Bedeutung kommt dabei dem kinästhetischen Erleben zu. Ebenso wie innerfiktional die kinästhetische und in gewisser Weise auch die taktile und visuelle Wahrnehmung der Protagonist*innen auf einen scheinbar veränderten – eben viskoseren – Zustand der Luft schließen lassen, ist auch die Bewegung durch den Roman von variierender Viskosität, d. h. Zähflüssigkeit, des Leseflusses geprägt: Aus der Dichte an Metaphern, der Detailgenauigkeit der Beschreibungen und den philosophisch-physikalischen Reflexionen des Erzählers ergibt sich für manche Passagen des Romans ein erschwertes Fortkommen im Text, das sich über die Begrifflichkeit der (erhöhten) Viskosität erfassen lässt. Mit dem Begriff der Viskosität konnte damit – so wie es das Ziel dieser Studie war – ein formsprachlicher Begriff entwickelt werden, um die ästhetische Wirkung des Romans treffend zu beschreiben. Ein weiterer solcher Begriff, der im Rahmen dieser Studie anhand des Primärtextes erarbeitet werden konnte, ist die Trübung der Sichtbarkeit. Diese zeigt sich sowohl in der Wahrnehmung des erzählten Raumes durch die Proagonist*innen (z. B. das Bildflimmern) als auch im Textraum, in dem zahlreiche philosophische Reflexionen, intermediale und intertextuelle Anspielungen bis hin zu dem Zitieren zweier mathematischer Formeln den Blick auf die Handlung zu verschleiern scheinen.

Störungspotenzial haben aber auch die metaleptische Erzähltechnik und das unzuverlässige und fantastische Erzählen. Der Roman nutzt damit die Mittel einer »verstörenden Erzählung«.Footnote 83 Noch passender als der deutsche Begriff dieser Erzählform scheint an dieser Stelle jedoch das englische Pendant zu sein, denn hier spricht man von einer perturbatory narration. Dem lateinischen Ursprung des Wortes folgend – denn per-turbare bedeutet ›durcheinanderbringen‹, ›durchschütteln‹ und ›verwirren‹ – spiegelt sich in all diesen Erzählprinzipien und -elementen jene Metapher wider, die als Ausgangspunkt dieser Untersuchung diente: die »heimtückischen Schleifen, Parabeln, Zykloiden, Kardioiden, Spiralen« (S. 61). Als durchrüttelnd, erschütternd, affizierend oder, wie in der These angenommen, chronifizierend lässt sich damit auch die performative Wirkung dieses Romans treffend beschreiben, vor der bereits im Paratext gewarnt wurde: »People suffering from Vertigo should be warned that some locations are impressive.« (S. 7).