1 Vorbemerkung

Zum umfangreichen schriftlichen Nachlass Albrecht Dürers gehört neben den kunstdidaktischen und kunsttheoretischen Werken sowie Briefen, Tage- und Reisebüchern ein Korpus von 27 Gedichten.Footnote 1 Den größten Teil davon bilden Texte geistlicher sowie moraldidaktischer Thematik, die als Begleiter der Andachtsgraphik publiziert wurden oder wohl mit einer Publikationsabsicht entstanden.Footnote 2 In diesen multimodalenFootnote 3 Werken zeigt sich Dürers Affinität zur literary art am prägnantesten − das wesentliche textuelle Merkmal seiner religiösen Kunst, das in der Forschung nach wie vor nicht berücksichtigt wird.Footnote 4 Gleichzeitig entfaltet sich gerade im Medium des preiswerten Einblattholzschnittes Dürers tiefes Verständnis der Laienfrömmigkeit: Selbst ein Laie, schafft er ein Kunstwerk für ein breites volkssprachliches Publikum.Footnote 5 Der folgende Beitrag lotet diese Aspekte am Beispiel seiner gereimten Übertragung der Patris sapientia aus, indem er diese in der Tradition der deutschen Übersetzungen des Hymnus verortet. Im Fokus wird dabei das besondere ästhetische Potential des multimodalen Einblattdrucks stehen.

2 Der lateinische Hymnus Patris sapientia

Der anonyme Hymnus Patris sapientiaFootnote 6 entstand wohl im ersten Drittel des 14. JahrhundertsFootnote 7 und fand eine weite Verbreitung als einer der Schlüsseltexte der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit. Der gesamte Text lautet:Footnote 8

figure a
figure b
figure c
figure d
figure e
figure f
figure g
figure h

Während die Edition der Analecta hymnica den Text als einen achtstrophigen Hymnus darstellt, ist er in dieser Form nur selten überliefert. In der Regel bildet das Reimgebet Patris sapientia den Kern des Heilig-Kreuz-Offiziums, einer der Basistexte des Stundenbuches. Diese paraliturgische Gattung richtete sich nach dem lateinischen Brevier und spiegelte die unter den Laien zunehmend verbreitete Praxis wider, in Anlehnung an den monastischen Tagesablauf ›ohne Unterlass‹, idealerweise im Drei-Stunden-Schritt zu beten. Dementsprechend werden die einzelnen Strophen der Patris sapientia auf die Gebetshoren verteilt und mit Invitatorium, Antiphonen und Orationes kombiniert.Footnote 9 Die Strophen 1 bis 7 werden dabei als selbständige Hymnen bezeichnet. Sie schildern jeweils eine Station des Leidenswegs Christi: Gefangennahme (Matutin); Jesus vor Pilatus (Prim); Verspottung und Kreuztragung (Terz); Kreuzigung (Sext); Tod (Non); Kreuzabnahme (Vesper) und Grablegung (Komplet). Die gebetartig strukturierte Strophe 8 schließt die Komplet ab. Die Erinnerung an das Leiden Christi dehnt sich somit auf den ganzen Tag aus und bestimmt − gemeinsam mit den liturgischen Wochen- und Jahreszyklen des PassionsgedenkensFootnote 10− die gesamte Existenz des Gläubigen.

Die suggestive Wirkung wird dadurch verstärkt, dass die kanonischen Horen nicht nur in den Überschriften erscheinen, sondern auch im Text als Zeitangaben für jede Szene fungieren. Die Zeit der Betenden, die historische Zeit der evangelischen Ereignisse und schließlich die sakrale Zeit werden im Akt der Meditation verschmolzen; das Heilsgeschehen wird im persönlichen Nachvollzug der Passion Christi vergegenwärtigt. Die Annäherung an den historischen Jesus hat einen gewissen pragmatischen, heilbringenden Zweck: Gerade durch seine Erfahrungen in der menschlichen Gestalt kann Christus mit den Menschen mitleiden und ihnen vergeben.Footnote 11 Dies offenbart auch Strophe 8 im selbstreferentiellen Gestus: Der Betende widmet das Stundenlied dem Heiland und bittet ihn um seinen Trost in der Sterbestunde, der Logik folgend, dass derjenige, der aus der Liebe zur Menschheit selber Todesangst erfahren hat, dieser Bitte auch nachkommen wird.

Die memorative und meditative Funktion des Versgebets prägt in vieler Hinsicht den Stil des Gedichts. Die Edition trennt die siebenhebigen Trochäen nach der Zäsur in zwei Kurzverse (ein vierhebiger Siebensilber und ein dreihebiger Sechssilber) und markiert, dass sich auch die Siebensilber einer Langzeile gelegentlich reimen. Die Sechssilber bilden dabei einen Haufenreim, welcher sich in die Sparsamkeit und Eintönigkeit der Syntax einfügt. Im Unterschied hierzu sind die Offizium-Hymnen in den meisten Handschriften fortlaufend geschrieben. Ein Beispiel für die typische optische Präsentation liefert der Codex St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms 327, Bl. 7v–9v: Die Strophen sind durch Schmuckinitialen und rubrizierte Überschriften hervorgehoben, jedoch von anderen Bestandteilen des Offiziums nicht abgesetzt.Footnote 12 Die Verse sind weder getrennt noch durch Initialen markiert.

Die Schilderung der Passion ist auf die schematische Aufzählung der Ereignisse reduziert und bei den wenigen Tropen handelt es sich um gebräuchliche, fast idiomatische Bezeichnungen Gottes (lumen caeli gratum, vitae medicina). Diese insbesondere für spätmittelalterliche Hymnendichtung typischen Züge führen dazu, dass der Text abrupt und eilig klingt − was David Price als Stakkato-Stil charakterisiert.Footnote 13 Ausgerechnet die parallelen syntaktischen Konstruktionen sowie der Reimschmuck der Strophen werden hier jedoch zu mnemonischen Mitteln im Sinne der mittelalterlichen ars memorativaFootnote 14 und tragen zur Verinnerlichung der geistlichen Inhalte bei.

3 Deutsche Übertragungen der Patris sapientia

Die enorme Beliebtheit von Stundenbüchern vor allem unter der des Lateins unkundigen LaienleserschaftFootnote 15 erklärt die hohe Anzahl der spätmittelalterlichen deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen der Patris sapientia. Wohl den größten Anteil davon bilden die Übertragungen des Liedes in den Korten Getijden van het Heilige Kruis, einem der zentralen Texte in Geert Grootes Getijdenboek, das mit ca. 2000 erhaltenen Exemplaren zu den Bestsellern des Spätmittelalters gehört.Footnote 16 Eine weitere umfangreiche Übertragungsgruppe mit 36 Textzeugen bildet die Prosaparaphrase im Gebetbuch Johanns von Neumarkt.Footnote 17 Darüber hinaus zählt das Verfasserlexikon 15 gereimte Übertragungen (inklusive Dürers Versgebet), die meistens unikal überliefert sind.Footnote 18 Die Online-Datenbank Berliner Repertorium verzeichnet drei weitere Prosaübertragungen mit ein bis drei Textzeugen.Footnote 19 Im Folgenden werden einige allgemeine Beobachtungen über die formalen, inhaltlichen und stilistischen Besonderheiten der deutschen Übertragungen des Liedes zusammengefasst.

Die deutsche Überlieferung weist ebenso wie die lateinischen Vorlagen eine große Variabilität in der liturgischen Einkleidung des Stundenliedes auf.Footnote 20 Selbst die Textzeugen einer Übertragungsgruppe decken manchmal das ganze Spektrum der Ausgestaltungsmöglichkeiten ab, was Stefan Matter am Beispiel der Tagzeiten Johanns von Neumarkt demonstriert hat: Die Strophen des Stundenliedes sind entweder als Hymnen oder als Orationes bezeichnet, mit diversen liturgischen Texten kombiniert und nehmen verschiedene Positionen innerhalb der Horen ein.Footnote 21 Bei aller Heterogenität lässt sich jedoch eine klare Gesetzmäßigkeit erkennen: Während die Prosaübersetzungen fast ausnahmslos im Rahmen des Kreuzoffiziums erscheinen,Footnote 22 fungieren die meisten gereimten Übertragungen als geschlossene Lieder. Der Bezug zum Stundengebet bleibt dabei in unterschiedlichem Grad erhalten. So sind drei solche alleinstehenden Gedichte sogar als Tagzeiten betitelt und die einzelnen Strophen mit Horen überschrieben − sodass man diese Texte als auf ihren Kernbestand reduzierte Offizien lesen kann.Footnote 23 Ein prägnantes Gegenbeispiel liefert eine Flugschrift, welche die Versübersetzung als geistlich lied definiert.Footnote 24 Obwohl der Ausdruck »die sieben Tagzeiten« im Titel erscheint, bezieht er sich nicht länger auf die Gattung, sondern auf den Inhalt des Liedes: Ein hübsch geistlich lied von den siben gezeyten des tags patris sapientia genant. Da außerdem die Angaben über die Gebetszeiten als Beischriften fehlen, ist hier die Offiziumsstruktur nicht mehr zu erkennen.

Eine weitere Besonderheit, die aus der lateinischen Tradition in die deutsche Übertragung übernommen wird, betrifft den Konnex des Kreuzoffiziums zur marianischen Liturgie. Dieses Phänomen spiegelt die wachsende Rolle Marias als Augenzeugin der Passion Christi wider: Die Seelenschmerzen der unter dem Kreuz stehenden Mutter wurden als exemplarischer Ausdruck einer compassio mit Christi Leiden angesehen, die alle Gläubige nachahmen sollten.Footnote 25 Gleichzeitig ist die Erscheinung der Gottesgebärerin auf Golgatha höchst symbolisch: Ihre Gestalt markiert sowohl den Anfang als auch den Endpunkt der evangelischen Erzählung von Christi Lebensweg in menschlicher Gestalt, betont die Prädestiniertheit und den Zweck seines Opfers. Demgemäß wurden die zunächst auf Freitag beschränkten Tagzeiten des Kreuzoffiziums an die täglich zu betenden Horen des Officium parvum B. M. V. angeschlossen.Footnote 26 Diese Praxis ist in der lateinischen Tradition oft in Form gemischter Tagzeiten dokumentiert, in welchen die jeweils zu einer Gebetszeit gehörenden Teile der beiden Offizien direkt aufeinander folgen: die Matutin des Kreuzoffiziums nach der Matutin und den Laudes des Marienoffiziums, die Prim des Kreuzoffiziums nach der Prim des Marienoffiziums usw.Footnote 27 Darüber hinaus entstand ein marianisches Gegenstück zum Kreuzoffizium, die Horae de compassione Mariae. Ihren Kern bildet der Hymnus Matutino tempore, der ähnlich wie die Patris sapientia strukturiert ist und die gleichen Ereignisse aus der Perspektive der mitleidenden Mutter schildert.Footnote 28 Unter den bisher bekannten deutschen Übertragungen der Patris sapientia sind verschiedene Kombinationsmöglichkeiten mit marianischen Tagzeiten überliefert, die sich in drei exemplarischen Textzeugen veranschaulichen lassen:

  1. 1.

    Der Textzeuge im Gebetbuch Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtenthal 97, 215r–238r stellt ein klassisches Beispiel von gemischten Tagzeiten dar.Footnote 29 Die Horen des Kreuzoffiziums sind mit den Horen des Officium parvum verschränkt und in der Überschrift auf Bl. 214v findet sich die Anweisung: Zu wißen das nach yedem gezyt von vnßer lieben frauwen sol gehalten werde gezyt von dem heiligen crutz. Die auf die einzelnen Gebetszeiten verteilten Strophen der Patris sapientia übernehmen dabei die Doxologie der Hymnen aus den marianischen Tagzeiten, was die Zusammengehörigkeit dieses Doppeloffiziums zusätzlich betont.

  2. 2.

    In Freiburg i. Br., UB, Hs. 477, ein Gebet- und Andachtsbuch, geht das Kreuzoffizium (68v–73v) der Horae de compassione Mariae (73v–79r) voran.Footnote 30 Auf Bl. 67v–68v steht eine gemeinsame Überschrift, welche sie als vij zit von dem liden Christi vnd siner lieben můtter bzw. als vij zit Patris sapientia von dem liden Christi von dem mitliden der junpfrawen marie betitelt und damit klar als ein einheitliches Ganzes bezeichnet.

  3. 3.

    Auf Bl. 148v–149r in Augsburg, UB, Cod III.1.8.31, einer geistlichen Sammelhandschrift, finden sich dy siben tag zeit vnsern liben frau vnd der marter christi,Footnote 31 die trotz des Titels nur die Patris sapientia enthalten. Dies könnte freilich die Folge einer Unachtsamkeit des Kompilators bzw. Übersetzers sein, der vergessen haben mag, das Marienoffizium dem Kreuzoffizium beizugeben. Vielleicht hat er dies jedoch einfach nicht als notwendig empfunden: Marienverehrung und Passionsgedenken waren zu diesem Zeitpunkt so eng verschmolzen, dass die Gottesmutter im Gebet zu Christi Martyrium ohnehin stets mitgedacht war.

Anders als die Variationen in der liturgischen Ausgestaltung sind vielfältige rhetorische und inhaltliche Erweiterungen eine Neuschöpfung in der deutschen Überlieferung. Verallgemeinernd kann man drei Arten von solchen Zusätzen hervorheben, die den Text jeweils um einen wichtigen Aspekt ergänzen.

Erstens zeigen die Modifikationen der rhetorischen Struktur des Textes den Einfluss zweier zentraler Gattungen der volkssprachigen geistlichen Literatur: des Gebets und der Predigt. Ein Beispiel dafür liefert die Paraphrase Johanns von Neumarkt, welche die für den Texttyp Gebet konstituierende »dialogische Zuwendung eines Menschen zu seinem Gott«Footnote 32 aufzeigt: Sie ist an Christus adressiert und mit Bitten um Vergebung und Schutz wesentlich ausgebaut. Ähnlich verfährt die Übersetzung in Augsburg, UB, Cod III.1.8.31. Sie öffnet mit einer direkten Anflehung an Christus: Ich pit dich herr christus iesu de(r) dy war weisheit pist (fol. 148v) − und fährt als eine an ihn gerichtete Erzählung fort: do woltestu gefangen werden und da lisen dich alle dein freunt (ebd.). Der Betende vertieft sich in einen intensiven persönlichen Austausch mit Christus und vollzieht seine Marter mit (dz jamert mich, ferner dz sol meinem herzen sein ein pein, ebd.). Die Szenen der Kreuzabnahme und Grablegung verbindet er jeweils mit den Bitten um den eigenen guten Tod (pist gestorben gar wiliglich also mach auch her mich gedultilichen sterben, fol. 149r) sowie um Vergebung der Sünden (pit ich dich liber herr dz du dich erparmest vber mich vnd wolest mir mein sund vergeben, ebd.). In einer Reihe von Übertragungen findet sich eine weitere rhetorische Strategie, die an die fingierte Mündlichkeit der Predigten denken lässt.Footnote 33 Der Text spricht den Leser an und fordert ihn auf, die richtige Lektürehaltung einzunehmen und sich der affektiven meditatio der Passion Christi hinzugeben:

Ach mensch bedenck deines schöpffers tod / vnd seiner lieben muter beschwerung;Footnote 34dys yamer vnd marter betrachte wir gar wol alhie / das wir do mite vnser sunden ledig werden […] Mensche du solt den selben tot / vnd die herb bytter not / deynes erlosers iesu crist / der do in den tod durch vns gemartert ist / mit fleysse in dein hercz dringen alhie / vnd solt gedenken an seyne grosse bein;Footnote 35Mensche nym den tod in deinen muet / so wirt dein gewendet.Footnote 36

Die beiden Modifikationen verringern die Distanz zwischen dem Objekt und Subjekt des Textes − zwischen Gott und dem BetendenFootnote 37 − und passen ihn den Tendenzen der Emotionalisierung und Privatisierung der Andacht an.

Zweitens steigert die Ergänzung des Textes um einprägsame Details des Martyriums Jesu seine Anschaulichkeit. So wird in Erlangen, UB, Ms. B 16 aus den knappen und neutralen Formulierungen des Originals ein grauenhaftes Bild eines übernatürlichen Leidens:Footnote 38

figure i

Besonders bei der Szene der Kreuzigung, dem Höhepunkt der Passion, welche der lateinische Text als cruci conclavatus (Str. 4, V. 2) wiedergibt, offenbaren die Übertragungen den Bedarf nach mehr Plastizität: mit stumpfen nageln durch hend vnd fuß geschlagen;Footnote 39vp dat hilge cruce mytten stumppen nagelen wart he ge negelt dor syne hilgen hante vnde vote;Footnote 40mit groiten stumpen nagelen an dat cruce geslagen ind upgehangen.Footnote 41 Solche Paraphrasen schmücken einerseits die Beschreibung der Leidenswerkzeuge aus, worin sich der Einfluss der Arma Christi-Ikonographie manifestiert: Die Nägel sind groß und stumpf, die Lanze ist breit und die Krone hat besonders spitze und lange Dornen.Footnote 42 Andererseits legen sie einen deutlichen Akzent auf den Leib Christi. Entsprechend dem in zeitgenössischen Visionen und Meditationen bezeugten Wunsch, Christi Wunden ganz nah zu betrachten, zeigen sie im Close-up seinen blutigen Kopf, die durchbohrten Hände und Füße sowie das geöffnete Herz.Footnote 43 Die Erweiterungen lassen den gemarterten Leib Christi auch als Ganzes erblicken: Er wird nacket vnnd bloßFootnote 44 an das Kreuz gebracht und gar bleich durre vnd gelfarFootnote 45 davon abgenommen. Darüber hinaus wird Christi Leib bzw. er selber stets liebevoll als zart,Footnote 46 in einem Fall sogar als marien kint fin vnd zartFootnote 47 bezeichnet, was die emotionale Reaktion auf die Bilder der Folter intensiviert.

Drittens tendieren die Übersetzungen dazu, die Erzählung in Annäherung an spätmittelalterliche Passionsspiele um dramatische Elemente zu ergänzen. Deutsche Texte führen in die überwiegend subjektlosen Sätze des Originals handelnde Personen aus den Evangelien und apokryphen Texten ein: Judas, der seinen Lehrer mit dem falschen Kuss verrät,Footnote 48 die Räuber, die sich über Jesus austauschen,Footnote 49 Nikodemus und Joseph von Arimathäa, die ihn vom Kreuz abnehmen,Footnote 50 oder Maria, in deren Schoß der tote Christus gelegt wird und die ihn bitterlich beweint.Footnote 51 Auch die direkte Rede der lateinischen Vorlage wird wesentlich erweitert, was sich in den folgenden Übersetzungen besonders deutlich zeigt:

Crucifige clamitant (Str. 3, V. 1)

Sie rufften alle crewczigt in crewczigt ynFootnote 52

die Juden alle schryren (sic) kreuczige in er schol scheinlich verderbenFootnote 53

Heli clamans (Str. 5, V. 3)

schray ihesus auß herczen grunt laut hely hely mein got mein got wie hastu mich verlassen jemerlich Footnote 54

Heli Heli schrey er seer o vater nim mein leben Footnote 55

vnde rep myt luden stemme myn god myn god wo heuestu myn gelaten Footnote 56

Eine wichtige Rolle in der Dramatisierung des Geschehens kommt den Juden zu. Der virulente Antisemitismus, der im Spätmittelalter stark expandiert, ist in den deutschen Übertragungen ebenfalls durch die zeitgenössischen geistlichen Spiele vermittelt.Footnote 57 Die falschen,Footnote 58snoedenFootnote 59 und leydigenFootnote 60 Juden sind als Verspotter und Peiniger Jesu geschildert: sein antlucz […] ward von dem juden scheinlich verspeyt;Footnote 61juden die mit schalle sluegen senen leichnam zart;Footnote 62Das crutz er gen der marter truog / Als in die juden twungen.Footnote 63 Ein Textzeuge übersetzt sogar den miles, der in die Seite Jesu sticht und sein Herz versehrt, entgegen dem biblischen Befund als ein Jude.Footnote 64 Vor allem wird in der Szene der Verurteilung die Bestrebung deutlich, die angebliche Kollektivschuld des ganzen Volkes hervorzuheben: alle,Footnote 65all geleichFootnote 66 und die alten als die jungenFootnote 67 Juden fordern Jesu Hinrichtung.

Dieser skizzenhafte Überblick über die deutschen Übertragungen der Patris sapientia zeigt, dass diese die Variabilität in der liturgischen Ausgestaltung aus der lateinischen Tradition übernehmen und gleichzeitig die rhetorische Struktur des Textes modifizieren sowie vielfältige inhaltliche Erweiterungen einführen.

4 Dürers Sieben Tagzeiten

Dürer fing etwa um 1509 an, Gedichte zu schreiben, um [n]och was z’ lernen, daz ich nit kan.Footnote 68 Seine Freundschaft mit den humanistischen Dichtern Willibald Pirckheimer, Lazarus Spengler und Benedikt Schwalbe (Chelidonius) inspirierte ihn dabei wesentlich. Der letztere arbeitete mit Dürer an den Ausgaben der Kleinen Passion (um 1508/1509) sowie am Marienleben (1502–1510) zusammen und verfasste die Verse dazu.Footnote 69 Diese sowohl literarisch als auch künstlerisch aufwändigen Andachtsbücher, die Stellung zu brisanten theologischen Streitfragen beziehen,Footnote 70 wurden gezielt für humanistisch orientierte Gelehrte geschaffen.Footnote 71 Das schlichter gehaltene Andachtsflugblatt mit der Übersetzung der Patris sapientia entstand um die gleiche Zeit und demonstriert, dass Dürer sich als Verleger, Künstler und sogar als Dichter auch an die religiösen Bedürfnisse des breiteren Publikums anpassen konnte.

Das Flugblatt mit den sieben Tagzeiten wurde im Jahr 1510 bei Hieronymus Höltzel in Nürnberg wohl im Selbstverlag gedruckt;Footnote 72 die Datierung erscheint auf dem Holzschnitt und kann außerdem anhand der verwendeten Typen (das D mit zwei Diagonalsehnen sowie das kleine Rubrum) für den ganzen Druck angenommen werden.Footnote 73 Preiswerte und zugängliche Einblatt-Druckgraphik war ein zentrales Andacht förderndes Medium und wurde oft zur Meditation eingesetzt,Footnote 74 wobei insbesondere illustrierte Hymnen und Gebete beliebt waren. Der illustrierte religiöse Einblattdruck fand in den klösterlichen Alltag Eingang,Footnote 75 diente jedoch auch »dem neuen Ziel einer Entgrenzung der klösterlichen Meditations- und Kontemplationsformen in ein breites Laienspektrum hinein«.Footnote 76 Dürers textierter Holzschnitt, der im abgebildeten Exemplar in zwei (zerschnittenen) Teilen vorliegt (Abb. 1), stellt ein frühes Beispiel solcher Druckgraphik dar. Das ungewöhnliche Querformat sowie das unausgewogene Verhältnis zwischen Text und Bild verdeutlichen die Abhängigkeit von der Buchillustration, die sich bei den frühen Flugblattproduzenten gelegentlich zeigt.Footnote 77 Die Abbildung selbst setzt ebenfalls die Tradition der handschriftlichen Überlieferung fort, das Kreuzoffizium mit der Szene der Kreuzigung zu eröffnen.Footnote 78 Das Bild zeigt den Gekreuzigten mit seiner Mutter und dem Lieblingsjünger; Adams Schädel am Fuße des Kreuzstammes weist auf die Erlösung der Menschheit durch den Opfertod Christi.Footnote 79 Der Druck misst 388 × 282 mmFootnote 80 und teilt sich optisch in eine rechte und eine linke Hälfte. Der Holzschnitt mit Überschrift ist im Zentrum der linken Hälfte platziert, darunter stehen die Strophen zur Matutin und zur Prim. Die rechte Hälfte bietet die restlichen Strophen. Der Text ist in zwei Spalten angeordnet und klar gegliedert: Jede Strophe ist mit einer Überschrift in größerer Schrifttype versehen, die Verse sind abgesetzt und ungerade Zeilen eingerückt. Auf Grund des Druckformats nimmt Heike Sahm an, dass das Blatt zu groß war, als dass man es mit sich hätte herumtragen können; vielmehr war daran gedacht, es an die Wand zu heften oder (was das Querformat nahelegt) in ein Buch einzulegen.Footnote 81 Text-Bild Einblattdrucke konnten außerdem als Ersatz für gemalte (Klapp‑)Altärchen fungierenFootnote 82 − dies könnte erklären, warum das Blatt in zwei Hälften geteilt wurde; jedoch kann ohne eine nähere Untersuchung der erhaltenen Teile nur spekuliert werden, wie das Blatt tatsächlich benutzt wurde.

Abb. 1
figure 1

Tagzeitengedicht (Das sind die syben tagezeyt / Darin christus auff erden leyt, Inc.: Des vaters ewige weisheit …). [Nürnberg: Hieronymus Höltzel, (1510)]. Andachtsflugblatt mit Gedichten für die sieben Betstunden des Tages sowie Holzschnitt von Albrecht Dürer: Christus am Kreuz mit Maria und Johannes (Schoch Nr. 148), Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv.nr. A 1878-4, Foto: Andreas Diesend © Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Im Folgenden gebe ich den gesamten Text des Flugblatts wieder:Footnote 83

Das sind die syben tagezeyt / Darin christus auff erden leyt

(1) Zu Metten zeyt.

Des vaters ewige weißheyt,

Die gtlich menscheit christi leyt.

Ward verkaufft den falschen juden,

Die viel groß lg auff jn luden.

Vmb metten zeyt ward er gfangen,

Menschlich natur het groß pangen.

All sein jngren vnd bekanten

Jrn glauben von jm wanten.

Alein Maria, die rein mayd,

Was bstendig in jrm hertzen leyd.

(2) Zu der Ersten stund.

Der herr ward fur Pylato gfurt

Vnd will mit falscher zeugschafft khrt.

Er ward gar vnrechtlich gschlagen,

Das thet christus dultig tragen.

Auch ward der edll herr gantz verspeyt,

Als das der prophet gschriben geyt.

Jm ward verpunden sein gesicht

Vnd sprachen: Jesus, vns bericht,

Welcher dich do hab geschlagen,

Das soltu vns hye weyssagen.

(3) Zu der Drytten stund.

Merck hye auff zu der dritten stund,

Wie alle juden schreyen thund:

Creutzig jn, creutzig jn, pald eyll!

Jn furt Pylatus an eim seyl,

Sptlich becleyt mit purpur gwand,

Vnd zeygt auff jn mit seiner hand:

Sich den menschen in der dorn kron,

Wie ser ich jn gegeysselt han.

Das hulff nit, sein creutz er selbb trug,

Von blen lydt er groß vnfug.

(4) Zu der Sechsten stund.

An das creutz er genagelt ward.

Das thet seim edlen leichnam zart

So schmertzlich we vnd sprach auß pein:

Mich drst! Da gaben sye fur wein

Jm zu tranck essig vnd gallen.

Diden triben schmelichs kallen.

Den schachren ward er gleich geacht

Der linck schacher spot sein vnd lacht

Vnd der ander thet gnad begern,

Des was in Jesus bald gewern.

(5) Zu der Neunten stund.

Zu der neunten stund der herr starb,

Sein tod vns ewigs lebm erwarb.

Er befalch seim vater die sell

Vnd fur gwaltiglich in die hell.

Daraus furt er all die seinen

Vnd erlst sye aus den peynen.

Ein ritter sein seyten durchstach,

Der sunnen schein man nymer sach

Vnd kam ein grosser erpiden,

Das todten von grebern schiden.

(6) Zu Vesper zeyt.

Der herr ward gnumen zvesper zeyt

Vom creutz vnd fur sein mter gleyt.

Die Krafft vnd sterck verporgen lag

Jn gottes gmt den selben tag.

O mensch, merck mit fleiß disen todt,

Ein ertzney fur die grsten not!

O Maria, reyne iunckfraw,

Herr Symeons schwert do anschaw.

Hie leyt die grosse kron der ern,

Die all vnser sund tht verczern.

(7) Zu Complet zeyt.

Joseph von Armathya kam,

Nycodemum er mit jm nam.

Von den ward der edll herr begrabm,

Durch den wir ewigs leben habm,

Mit wolricheten wrtzen gt,

Als das der jden gwonheyt tht.

Darumb sind dise ding gethan,

Das all propheten war gseyt han.

Den todt betracht in deim hertzen

Allweg mit fast grossen schmertzen.

(8) Ein gepet.

O almechtiger herr vnd got,

Die gros marter, die glitten hot,

Jesus, dein eingeborner sun,

Da mit er fur vns gnug hat thun,

Die btrachten wir mit innikeyt.

O herr, gib mir war rew vnd leyt

Vber mein sund vnd pesser mich,

Des pit ich gantz mit hertzen dich.

Herr, du hast berwindung thon,

Drum mach mich teilhaft des sigs kron.

Der Text besteht aus insgesamt 8 Reimpaarstrophen zu 10 Versen und ist durch Überschriften mit Gebetszeitangaben gegliedert. Bemerkenswert ist, dass die Gebetszeiten dort, wo es möglich war, ebenfalls übersetzt wurden, um den Text für die Laienleserschaft zugänglicher zu machen. Der Bezug zu den kanonischen Horen ist hier also noch erhalten, obwohl das Stundenlied aus dem liturgischen Kontext vollkommen gelöst ist. Wie es bei den deutschen Patris sapientia-Übertragungen oft der Fall ist, macht Dürers Version Anleihen bei populären Gattungen der volkssprachigen religiösen Literatur. So führt Dürer eine Sprecherinstanz ein, die mit dem Publikum predigthaft interagiert. Der Lesende wird wiederholt aufgerufen, die Passion Christi zu betrachten; diese Aufforderung hat einen konkreten Zielpunkt in dem Bild der Kreuzigung,Footnote 84 welches die ganze Zeit vor den Augen der Lesenden bleibt: Merck hye auff zu der dritten stund, / Wie alle juden schreyen thund (Str. 3, V. 1–2); O mensch, merck mit fleiß disen todt (Str. 6, V. 5); Den todt betracht in deim hertzen / Allweg mit fast grossen schmertzen (Str. 7, V. 9–10); Da mit er fur vns gnug hat thun, / Die btrachten wir mit innikeyt (Str. 8, V. 4–5). Obwohl sich ähnliche Modifikationen in der deutschen Patris sapientia-Überlieferung finden, ist der ermahnende Charakter in Dürers Text besonders ausgeprägt − dieser »Appell an das eigene Bemühen, die Aktivierung des eigenen Wollens und Handelns«Footnote 85 ist für das Medium Einblattdruck insgesamt charakteristisch.

Noch enger lehnt sich das Versgebet an das geistliche Spiel an. Wie viele andere Übersetzer führt Dürer neue Figuren in die Handlung ein: Maria, zwei Räuber, Joseph von Arimathäa und Nikodemus. Vor allem kommt aber den falschen (Str. 1, V. 3) Juden, die Jesu peinigen und verhöhnen, eine bedeutende Rolle zu; auch hier steht ihre Grausamkeit mit Jesu Zartheit und Geduld in starkem Kontrast. Entsprechend der Tradition der deutschen Übertragungen erweitert Dürers Version die direkte Rede (Creutzig jn, creutzig jn, pald eyll! − Str. 3, V. 3). Darüber hinaus fügt sie Repliken sogar zu den Szenen hinzu, die im Original keine direkte Rede enthalten. Er legt erst Jesu Verspottern Worte in den Mund − Vnd sprachen: Jesus, vns bericht, / Welcher dich do hab geschlagen, / Das soltu vns hye weyssagen (Str. 2, V. 9–10; Lk 22,63); dann Pilatus − Vnd zeygt auff jn mit seiner hand: / Sich den menschen in der dorn kron, / Wie ser ich jn gegeysselt han (Str. 3, V. 6–8; Joh 19,5); und Jesus selbst − vnd sprach auß pein: / Mich drst! (Str. 4, V. 3–4; Joh 19,28). Die dramatischen Szenen der Passion Christi entfalten sich bildhaft vor dem inneren Auge des Lesers, der sie so ganz aus der Nähe betrachten kann und, wie der Text betont, auch soll.

Dürers Übersetzung hebt sich von den Texten seiner Vorgänger durch die besonders große Präsenz Marias ab. Im lateinischen Original fehlt die Figur der Maria gänzlich; in anderen Übersetzungen wird sie zwar erwähnt, jedoch eher nur am Rande.Footnote 86 Im Gegensatz dazu wird Maria hier wiederholt genannt, zum ersten Mal bereits nach der Gefangennahme Christi, als ihn seine Jünger und Freunde verlassen und sie als einzige – zumindest in Gedanken – bei ihm bleibt: Alein Maria, die rein mayd, / Was bstendig in jrm hertzen leyd (Str. 1, V. 9–10). Die Angaben dazu, ob Maria bei der Gefangennahme Christi anwesend war, fehlen in den Evangelien; der Zusatz in Dürers Text zeugt unter anderem vom Bedürfnis des mittelalterlichen Publikums, solche Lücken zu decken und das biblische Narrativ durch Apokryphen und Visionen zu erweitern.Footnote 87 Der Gottesmutter wird auch Jesu Leib nach der Kreuzabnahme übergeben (Str. 6, V. 2). Ferner spricht der Text Maria als Mater Dolorosa an und erinnert sie an die Voraussagung Simeons, der im Kind Jesus den Messias erkennt und seiner Mutter große Seelenschmerzen verspricht (Lk 2,35): O Maria, reyne iunckfraw, / Herr Symeons schwert do anschaw (Str. 6, V. 7–8). Die Rolle Marias in der Andachtsstruktur des Flugblattes ist also mannigfaltig. Sie wird zum Vorbild der rechten Glaubenshaltung sowie zur Vermittlerin der compassio für den Lesenden, was nicht nur der Text, sondern auch der Holzschnitt verdeutlicht: Das Bild zeigt sie fast frontal zum Zuschauer gewendet, »rendering her an object of veneration as well as venerator herself«.Footnote 88 Indem sie aufgefordert wird, an die Prophezeiung Simeons zu denken und diese zu betrachten, belebt diese Erinnerung zugleich das vergangene Heil in der Jetztzeit der Betenden neu.Footnote 89

Den marianischen Schwerpunkt der Dürerschen Übersetzung verbindet David Price einerseits mit der Kreuzigungs-Ikonographie, die Maria in den Vordergrund des Passionsgeschehens rückt, und andererseits mit dem Fest zum Gedächtnis der Schmerzen Marias, das offiziell im Jahr 1495 von Papst Alexander IV. anerkannt wird.Footnote 90 Darüber hinaus liegt die Vermutung nahe, dass die Einführung der Figur Marias mit dem Konnex zwischen dem Kreuzoffizium und den marianischen Horen zusammenhängt. Gerade die Tatsache, dass die liturgische Einbindung hier fehlt − das Versgebet ist auf dem Flugblatt als eigenständiges Werk abgedruckt −, wobei die feste Assoziation des Stundenliedes mit der Marienverehrung aber gegeben ist, konnte den Bedarf erzeugen, die Gottesmutter in besonderer Weise im Text zu würdigen. So finden sich die gleichen Elemente im Stundenlied Matutino tempore, welches den Kern der Horae de compassione Mariae bildet und in der Regel dem Kreuzoffizium folgt: Marias Herzensleid, als sie von der Gefangennahme Christ erfährt, das Schwert Simeons, ihre Beweinung Christi sowie die Apostrophe an die Gottesmutter. Interessanterweise ist die einzige weitere bisher erschlossene Übersetzung der Patris sapientia mit einem vergleichbar signifikanten Fokus auf Maria ebenfalls in einem Flugblatt überliefert; hier ist die ganze Strophe zur Vesper ihrem seelischen Martyrium gewidmet:

Zů der Vesper zeit vnser herr / ward vom Creutz genummen / gelegt Maria auff jr schoß / sie bewaint jm all sein wunden / o Maria můtter Gots / groß not hast du erlitten / dir hat des alten Simeonis schwerdt / schmertzlich dein hertz durchschnitten.Footnote 91

Da die gedruckten Hymnen-Übertragungen bisher nur in einer exemplarischen Auswahl verzeichnet wurden,Footnote 92 muss die Frage, ob diese Modifikation durch die Form der Überlieferung bedingt ist und in Flugblättern häufiger vorkommt, vorerst offen bleiben.

5 Fazit

Die älteren Abhandlungen zu Dürers Version der Patris sapientia betonen, dass die genaue Vorlage für die Übersetzung nicht festgestellt werden kann, und verweisen auf die mangelhafte Erschließung der deutschen Tagzeitentexte.Footnote 93 Seitdem hat sich die Lage dank der Verfügbarkeit des Berliner Repertoriums sowie den Forschungsarbeiten von Stefan Matter wesentlich verbessert. Die Analyse aller heute bekannten Übertragungen des lateinischen Stundenliedes konnte zwar nicht bestimmen, welcher Vorlage Dürer folgt; sie hat jedoch gezeigt, inwiefern sich diese Frage womöglich erübrigt. Dürers Adaptation setzt die Tendenzen fort, die sich in mehreren verschiedenen Übertragungen zugleich abzeichnen: zur Modifikation der rhetorischen Struktur des Textes, zur Dramatisierung der Handlung und nicht zuletzt zum verstärkten Antijudaismus. Auch die Hervorhebung der Rolle Marias im Passionsgeschehen kann mit der Einbindung des Kreuzoffiziums in die marianische Liturgie erklärt werden. Die Erinnerung an diesen Konnex bewahrt die deutsche Überlieferung zumeist. Somit wird Dürers Vertrautheit mit der zeitgenössischen Andachtsliteratur für Laien und sein Vermögen, poetische Schriften im Sinne dieser Literatur zu verfassen, noch deutlicher, als die Forschung es bislang annimmt.

Gleichzeitig zeichnet sich Dürers Versgebet durch eine spezifische mediale Darbietung aus, die seine Rezeption wesentlich bereichert. Die Ikonographie, das Layout und die Textgliederung des Einblattdrucks verweisen auf das Medium des Stundenbuchs, wodurch der Bezug zum multimodalen Geschehen der Tagzeitenliturgie erhalten bleibt. Dabei stellt Dürers illustrierte Adaptation der Patris sapientia eine prägnante, komprimierte Version des Kreuzoffiziums dar − eine Bearbeitungstendenz, die für Einblattdrucke insgesamt charakteristisch ist.Footnote 94 Auf dem Blatt ist die Abbildung der Kreuzigung dem Text direkt gegenübergestellt. Sie dient den Lesenden stets als Meditationsstütze und stellt das im Text geschilderte Passionsgeschehen vor den oculus interioris; die emotionsgeladene Geste der Gottesmutter, die den Tod ihres Sohnes beweint, vermittelt den Betrachtern die richtige Geistes- und Körperhaltung beim Gebet. Mit dem Einblattdruck von den Sieben Tagzeiten schafft Dürer also sowohl auf der textuellen als auch auf der visuellen Ebene ein fesselndes Werk, welches sowohl der Schaulust des frommen Publikums als auch seinem Bedürfnis nach der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens im Gebet entgegenkommt.