1 Figur/Persona – modernes Doppelkonzept und historische Kippfigur

Der Begriff der Figur zählt zu den narratologischen Elementarkategorien. Er ist impliziter Bestandteil jeder Erzähltheorie, doch erst in der jüngeren Narratologie wurde er zum Gegenstand einer eigenen, ausführlichen theoretischen Explikation. In Folge dieser Entwicklung sind drei Begriffsvarianten voneinander zu unterscheiden: eine erzähltheoretische, eine fiktionstheoretische und eine allgemeine. Dabei stellt die zweite, fiktionstheoretische Figurenauffassung einerseits eine Spezifizierung des erzähltheoretischen Elementarbegriffs dar, die andererseits mit Blick auf nicht-narrative, außerliterarische Gemeinbegriffe modifiziert werden kann. Durch diese theoretische Doppelbewegung entsteht in den expliziten Bemühungen um den Figurenbegriff ein Dilemma: Was auf den ersten Blick als Erweiterung des narratologischen Grundverständnisses erscheint, führt sowohl zu einer historischen Einengung der erzähltheoretischen Figurenauffassung auf die Moderne als auch zu einer unfreiwilligen Distanzierung vom Anspruch der klassisch-modernen Narratologie, eine allgemeine Theorie des Erzählens zu sein. Für die Ziele einer historischen Narratologie wäre dieses Dilemma aufzulösen.

Als narratologischer Elementarbegriff verstanden, bildet die Figur im Rahmen der Definition des narrativen Prozesses als einer semantischen Zustandsveränderung das Gegenstück zum Ereignis (Chatman 1980, S. 26; Schmid 2014, S. 3; vgl. Bleumer 2020, S. 26 f.). Denn in dessen Definition oder systematischer Expansion wird die Figur entweder metaphorisch einbezogen (Lotman 1973 [1970], S. 350, 356 f.; Greimas 1987 [1973]) oder sie wird dem Ereignis im Sinne einer ›Open Theory of Character‹ (re)konstruierten, d. h. über die Bildung einer in die Leerstellen des narrativen Diskurses inferierten und über das alltägliche Personenwissen modellierten Subjektkategorie gegenübergestellt (grundlegend Chatman 1980, S. 107–145, zit. S. 119; vgl. auch Rimmon-Kenan 2002, S. 7, 31–44). Derart über die Subjekt-Objekt-Dichotomie aufgefasst und als agierende, wahrnehmende oder sprechende Entität der Diegese rekonstruiert, kann die Figur dann im Einzelnen je nach den in der jeweiligen narratologischen Modellbildung angesetzten Unterbegriffen weiter bestimmt werden.

Demgegenüber tendiert die jüngere narratologische Diskussion dazu, den Begriff der Figur historisch zu spezifizieren und zu de-narrativieren, indem sie ihn, dem allgemeinen literatur- und filmwissenschaftlichen Figurenverständnis folgend (Eder/Jannidis/Schneider 2010, S. 7, 10–16), vorrangig fiktionstheoretisch bestimmt. Das hat den Effekt, dass nicht das Erzählen als die Voraussetzung der Figur, sondern die Figur als die Voraussetzung des Erzählens erscheint. Weil durch den Fiktionsbegriff und die mit ihm verbundenen historischen Fiktionalitätskonventionen zugleich die Realitäts- und Realismuskonventionen der Moderne als Bezugsgröße der Bestimmung gelten, d. h. das historische Mimesis-Verständnis epistemisch verflacht, löst sich die Figur vom Ereignis. Stattdessen wird als Gegenbegriff das Alltagsverständnis der ›Person‹ ins Kalkül gezogen (Jannidis 2004, s. u.). Im Ergebnis heißt das: Was der literaturwissenschaftlichen opinio communis zufolge lange als Kardinalfehler der wissenschaftlichen Interpretation galt – die Konzeption einer literarischen Gestalt über die emphatische Vorstellung einer als natürlich gesetzten, menschlichen Entität – wird nun in Anlehnung an die kognitionswissenschaftlichen Annahmen zu einem methodisch kontrollierten Schritt der Analyse.

Damit bildet die jüngere Figurendiskussion den impliziten Grundanspruch des Erzählens zwar weiterhin ab, wie er notwendig auch im Umgang mit dem Elementarbegriff der Figur deutlich ist. So wie die Erzählung die Interpretation des Nicht-Narrativen durch das Narrative – also etwa des Geschehens durch die Geschichte und der Erzählung durch die Narration – darstellt (Bleumer 2015, S. 218 f.), so beinhaltet auch das Erzählen selbst eine Korrelation von nicht-narrativen und narrativen Begriffen: Diese Korrelation setzt die jüngere, fiktionstheoretische Diskussion in der Relationierung von Figur und Person offenbar fort. Nur dreht der Ansatz über seinen Realismusprimat im Fiktionsbegriff das Verhältnis von Figur und Person zugunsten einer eindeutigen Festlegung um. Die Figur erhält mit der realistisch verstandenen Person eine nicht-narrative Bezugsgröße außerhalb der Erzählung, die durch die narrative oder deskriptive Darstellung verarbeitet wird, im Gegenzug tritt aber die genuin narratologische Bestimmung der Figur als korrelativ im Erzählen selbst gegebene Kategorie zurück.

Der historische Anspruch einer Narratologie von Figur und Person wird damit auch in dieser Forschungsrichtung weiterhin nicht aufgegeben, gleichwohl ist er im Rahmen des modernen Fiktionsverständnisses stark begrenzt. Mit Blick auf das Projekt der aktuell vielfach angestrebten historischen Narratologie hat das paradoxerweise nicht nur dazu geführt, dass die Forschungsrichtung, obwohl impulsgebend, hier zunächst ausgeklammert wird (Philipowski 2019, S. 116 f.; anders Philipowski 2013, S. 331–341). Vielmehr sind die narratologischen Begriffsinstrumentarien auch generell stark in den Hintergrund getreten: Die systematische Berücksichtigung der narratologischen Basiskategorien wird zugunsten einer typisierenden Heuristik zurückgestellt.

Diese reservierte Haltung gegenüber vorgefertigten narratologischen Begriffsschablonen hat zwar den Vorzug, dass sich die verschiedenen, gattungsspezifischen Typen des literarischen und pragmatischen Figurenbegriffs, die in der mediävistischen Forschungstradition mit unterschiedlichen methodischen Zugriffen erarbeitet wurden, berücksichtigen lassen. Zudem lässt sich das heuristische Vorgehen anhand der Erzählphänomene des Romans der frühen Neuzeit fortführen, bei denen die Forschung sich der kompositorischen Voraussetzungen der Figurendarstellung immer noch zu vergewissern versucht (Reuvekamp 2019, S. 129, 132). Allerdings erweist sich damit eine Systematisierung der Befunde als zunehmend schwierig, weil jenseits der narratologischen Systematik eine historisch akzeptable Figurentypologie nur über eine möglichst vollständige Berücksichtigung der mittelalterlichen Gattungssystematik zu gewinnen wäre. Weil diese aber ein notorisches Problem der germanistischen Mediävistik darstellt (Kuhn 1969; Jauß 1977 [1972]; Grubmüller 1999), muss offenbleiben, auf welcher wissenschaftlich-systematischen Grundlage sich ein allgemeiner Begriff der Figur überhaupt entwerfen lässt. Eine Bestandsaufnahme der mediävistischen Figurenforschung mit ihren konkreten Befunden zu den Einzeltexten fehlt.

Wollte man eine solche heuristische Bestandsaufnahme in Angriff nehmen, so könnte diese – als Grundlage für eine ausdifferenzierte historisch-narratologische Begriffsbildung – an den vorliegenden, nahezu vollständigen, an Figurennamen orientierten Indizes für Epos und Roman ansetzen (Gillespie 1973; Chandler 1992) und könnte etwa die rhetorisch-exemplarische (Reinitzer 1977), genrespezifisch kognitive (Lienert 2016), genealogische (Kellner 2004) und sozialgeschichtliche Auffassung der fraglichen narrativen Entitäten (Brall u. a. 1994) als Ausgangspunkte bei der Begriffsbildung zu Person und Figur berücksichtigen. Dabei dürfte bereits die Beobachtung hilfreich sein, dass die Kritik der sozialen Rollen im Sinne einer Persona ein eigenes Erzählmotiv darstellt, das im Roman und der Novellistik häufig auftritt (Margetts 2002). Was eine Figur poetisch ausmacht, wird im Erzählen über die Kritik an der Persona dargestellt. Die so vorgenommenen Entlarvungen, also wörtlich: Demaskierungen, führen dabei nämlich gerade nicht einfach auf die Vorstellung einer Person, sondern narratologisch genauer formuliert auf das poetische Konzept der »brüchigen Figur« (Huber 2002, S. 287–289) als einer Diskursinstanz, in der Handeln und Sprechen, äußerlich sichtbare Gestalt und implizite Axiologie auseinandertreten. Das heißt bereits: Figur und Persona treten über Sprache und Handlungen in ein Korrelationsverhältnis ein, das sie zugleich voneinander abhebt.

Zur methodischen Kontrolle dieser Beobachtung wäre es unerlässlich – und dem exemplarischen mittelalterlichen Gattungsverständnis gemäß – die Begriffs- und Forschungsgeschichte an einzelnen, gattungsgeschichtlich paradigmatischen Texten unter konsequenter Synchronisierung der Forschungsstände zu den mediävistischen und erzähltheoretischen Figurenbegriffen (mit großer Umsicht: Möllenbrink 2020, S. 13–29) und unter Einbeziehung der allgemeinen narratologischen Begriffsgeschichte (Zudrell 2020, S. 14–49) nachzuvollziehen. Dieses exemplarische Vorgehen, das aus den literarischen Gegenständen und ihrer Geschichte den jeweiligen historischen Figurenbegriff erarbeitet, ist theoretisch insofern weiterführend, als es das technische Missverständnis vermeidet, das auf dem umgekehrten Wege entsteht. Wenn nämlich insbesondere die kognitivistischen Annahmen der modernen narratologischen Figurendiskussion als transhistorisch gesetzt gelten und nurmehr über ihre technische Anwendung am Text illustriert werden (Reuvekamp 2014, S. 113 f.), läuft die historisch-narratologische Frage nach der Figur in einen modernistischen Zirkel hinein, der mechanisch nur das Postulat der eigenen Anwendbarkeit in seinen Ergebnissen illustriert. Weil die interpretatorisch notwenige theoretische Offenheit des Methodenbegriffs ignoriert wird, vermag ein Verfahren dieses Typs keinen eigenen Beitrag zu einer Erzähltheorie der Figur zu liefern, sondern ist als »narratological criticism« einzustufen (Nünning 2003, S. 251).

Für die weiteren, theoretischen Ansprüche einer allgemeineren diachronen oder historischen Narratologie dürfte demnach die allgemeine Integration der exemplarischen Befunde in ein methodisch offenes, elementares Erzählmodell unverzichtbar sein. Insbesondere ist dabei die Berücksichtigung des neuen Interesses an der Figur unabdingbar, weil die Korrelation der Figur mit einer anthropomorphen Entität im Wahrnehmungsprozess des Erzählens als irreduzibel gilt (Martínez 2011, S. 145; 2016, S. 147). Es müsste demnach darum gehen, deren Doppelkonzept einerseits entschiedener über die elementare narrative Korrelationsbewegung im Rahmen eines allgemeinen narratologischen Modells zu fassen, diese Korrelation wäre andererseits über ihre lange, doppelte Begriffsgeschichte von Figur und ›Person‹ zu beschreiben.

Dann könnte sich das folgende wort- und begriffsgeschichtliche Narrativ erweisen: In seinen wort-, dichtungs- und poetologiegeschichtlichen Spielarten erscheint der Figurenbegriff durch seine mediale und generische Komplementärbeziehung zu Wort und Konzept der Person, das historisch zunächst als lat. persona gefasst wird, zunehmend implikationsreich. Aus der Sicht einer historischen Erzähltheorie gehen die Begriffe im Doppelkonzept von Figur/Persona eine Allianz ein, die in ihrer Genese als eine mediale Kippfigur im Sinne Wittgensteins erscheint (Wittgenstein 1984 [1922], S. 518–524), deren Ambivalenz sich theoriegeschichtlich zunehmend zuspitzt und schließlich über das moderne, alltagssprachlich reduzierte Personenkonzept in ein fiktionstheoretisches Verständnis der Figuren umschlägt. Durch die im modernen Fiktionalitätsbegriff angelegten realistischen Episteme sind die historischen Implikationen der Begriffskorrelation von der neueren Narratologie nur begrifflich verdeckt worden, sie bleiben gleichwohl im narratologischen Modell als Ganzem dort als Desiderat wirksam, wo dessen Grundkategorien weiterhin korrelativ gedacht werden. Doch erst jenseits der Moderne, in der postmodernen Semiotik, hat sich die Kippfigur, die im Konzept der Figur/Persona historisch-semantisch durchhält, auch theoretisch grundsätzlich formulieren lassen (Barthes, S/Z, 1987 [1970]). Durch die so im theoriegeschichtlichen Narrativ zuletzt auftretende, signifikante Analogie zu den praktischen Lösungen des mittelalterlichen Figurenproblems zeigt sich ein historisch-narratologisches Angebot, das genauer zu explizieren wäre.

2 Begriffsgeschichte und Wortgeschichte

2.1 Zur modernen Wende der Begriffsgeschichte in der Narratologie

Die moderne Narratologie tendiert dazu, den Doppelcharakter des poetischen oder literarischen Figuren- und Persona-Konzepts zu unterdrücken, weil der Figurenbegriff durch den zunehmenden Einfluss der realistischen Epistemologie im Rahmen eines modernen Fiktionalitätskonzepts mit Blick auf die Wort- und Begriffsgeschichte der Persona eine blinde Stelle erzeugt. Die Persona erscheint zunehmend als Person und wird als das menschliche Individuum verstanden, von dessen grundlegendem Konzept sich die Figur zwar abhebt, auf das sie aber durch ihr realistisches Fiktionskonzept prinzipiell bezogen bleibt (Margolin 2008; Eder/Jannidis/Schneider 2010; Jannidis 2014). Gewiss lässt sich ein stärker historisch-narratologischer Anspruch auch auf dieser Grundlage für den Figurenbegriff über die Berücksichtigung der Inferenz des jeweils historisch gültigen Weltwissens reklamieren: Diese Inferenz betrifft einerseits das außerliterarische Personenkonzept, andererseits die innerliterarische Poetologie der Figur (Jannidis 2004, S. 47 f., 81 f., 119 f., 185 u. 241; Eder 2008, S. 28–32, 63 f., 129, 707–726). Solange dabei jedoch das Verhältnis von Person und Figur im Sinne einer einfachen, aufsteigenden Ebenenhierarchie gedacht, die Person also als real gesetzte Voraussetzung der poetischen Re- und Neukomposition in der Figur im literarischen Medium aufgefasst wird, kommt es zu einer historisch-systematischen Schieflage im Verhältnis der Begriffe.

Sie wird schon dadurch indiziert, dass die in der Mediävistik am meisten beachtete, umfängliche moderne narratologische Figurentheorie von Fotis Jannidis (2004), obwohl sie sich ausdrücklich als Beitrag zu einer historischen Narratologie versteht, aufgrund der von ihr angesetzten Begriffssystematik nicht recht mit den historisch-praktischen Befunden zum Erzählen in der Vormoderne zusammenpasst (Stock 2010, S. 192 f.). Denn den kulturhistorischen Forschungsständen entsprechend, löst schon das Postulat, die Inferenz von Weltwissen könne den Personen- und Figurenbegriff konkret füllen und ließe sich dann kognitionswissenschaftlich beschreiben (Margolin 2008, S. 52–54), die grundlegende Vorstellung von Person und Figur als begrifflicher Einheit am historischen Gegenstand praktisch auf.

Dieses historisch-narratologische Begriffsproblem wird bereits deutlich, wenn man die Frage nach den Konzepten von Person und Figur vor dem Hintergrund der breiten Diskussionen um Subjektivität, Identität und Individualität der germanistischen Mediävistik betrachtet (Gerok-Reiter 2006, S. 4, 14–16, 32–42; Müller 2007, S. 225–229). Persona und Figur sind im literarischen Kontext keine fest umrissenen Rahmenkonzepte, sondern selbstreflexive, offene Aggregate, in denen handlungsfähige Subjekte über einen Typisierungsprozess als personale Identitäten benannt und durch Abgrenzung und Einordnung individualisiert erscheinen. Historisch-narratologisch lassen sich die Begriffe von Persona und Figur demnach nicht pauschal vorab definieren und dann nachträglich durch weitere Merkmale historisieren, sondern die Historisierung muss an den Begriffen selbst ansetzen, um beobachten zu können, wie diese im Erzählen immer wieder neu ausgehandelt werden.

Dabei lässt sich ebenso feststellen, dass die Ergebnisse dieses narrativen Aushandlungsprozesses in der Zeit vor dem institutionalisierten Literaturbegriff je nach literarischem Gattungszusammenhang verschieden sind. Sehr vorläufig lassen sich vier verschiedene, jeweils komplementäre Typen unterscheiden, die insgesamt einen terminologischen Chiasmus ergeben. So scheinen schon die Persona‑/Figurenkonzepte in den narrativen Großformen von Epos und Roman gegenläufig angelegt zu sein. Das Gleiche gilt dann noch einmal für die geistlichen Erzählformen, namentlich die Legende auf der einen und die vormodernen, rational-weltlichen Spielformen der frühen Novelle auf der anderen Seite. Je nach Gattungsorientierung weisen der implizite Figurenbegriff der Forschung, die Befunde der nicht-narratologische Figurenforschung und die wenigen, dezidiert historisch narratologischen Befunde zur Figur in jeweils verschiedene Richtungen. Die Begriffskorrelation von Persona und Figur erscheint gleichwohl in all diesen Versuchen zentral zu sein.

Damit besitzt die in den Varianten des Doppelkonzepts angelegte Fragestellung für einen historisch-narratologischen Brückenschlag zwischen neuerer und älterer Literaturwissenschaft eine genügende historische Reichweite. Zum Zweck einer solchen methodischen Verbindung ist allerdings eine sehr grundsätzliche terminologiegeschichtliche Eigenart der Germanistik zu bedenken. Die neuere historisch-narratologische Diskussion neigt dazu sie zu übersehen, weil sie sich beständig nur an das Paradigma des neuzeitlichen Romans hält: Wenn in der modernen Erzähltheorie von der ›Figur‹ die Rede ist, dann entspricht dem der wissenschaftlich ältere Begriff der Person im Sinne der ›Persona‹ aus der Dramentheorie. Für den germanistischen Begriffsgebrauch kommt es nämlich erst durch die Umstellung vom Drama auf den Roman als Leitgattung des literaturtheoretischen Vorverständnisses zur heute dominierenden Verschiebung zwischen den Termini. Daher versucht das allgemeine germanistische Begriffsverständnis zunächst aus seiner dramentheoretischen Denktradition heraus roman- und erzähltheoretische Auffassungen in das Konzept der Figur zu integrieren, wie dann umgekehrt die Dramentheorie Kommunikationsmodelle der Erzähltextanalyse zur Bestimmung der Persona übernimmt, die derart als fiktive Figur erscheint (Pfister 2001 [1988], S. 221–264; Platz-Waury 1997).

Diese Verschiebung von der Persona zur Figur lässt eine terminologische Leerstelle zur Person zutage treten, die in der englischen oder auch französischen Diskussion weniger ausgeprägt ist, weil deren Diskurse mit ihren Termini von engl. character und frz. personnage bzw. russ. перcонаж im dramatischen Dispositiv verbleiben. Wo in der deutschen Begriffsdiskussion selbstverständlich mit Übersetzungen gearbeitet wird, erzeugt dies blinde Stellen, weil der Paradigmenwechsel von der Persona zur Figur in den Diskussionsvorlagen unbemerkt getilgt wird. Die fragliche Leerstelle zur Person ist demnach im Deutschen gleich doppelt historisch über das Verhältnis von Persona und Figur zu vermessen: wortgeschichtlich und begriffsgeschichtlich.

Das Problem der modernen begriffsgeschichtlichen Umstellung vom dramatischen Dispositiv der Persona auf die Rahmenvorstellung des Romans und seiner Figur verstärkt sich durch die Internationalisierungsbestrebungen der deutschen Narratologie sogar noch einmal, wenn der deutsche Begriff der Figur wieder ins Englische übersetzt werden soll, hier aber mit dem Ausdruck character wiedergegeben wird. Denn mit diesem Terminus wird erneut auf die rhetorische und dramentheoretische Wort- und Begriffsgeschichte verwiesen, die im Deutschen theoretisch ausgeklammert und terminologisch verdeckt wurde. Die englische Terminologie kehrt demnach die aktuelle germanistische Begriffsintension vollends um.

Mit Blick auf das Französische ist das Problem ebenso deutlich, hier bei der Übersetzung ins Deutsche. Die missverständliche Nähe der geläufigen Ausrücke von personne und personnage, die bei Gérard Genette die rigorose Ablehnung der Kategorie der Person bei der Bestimmung der Erzählinstanz wissenschaftsrhetorisch als evident erscheinen lässt (1972, S. 251–259), taucht im Deutschen wieder auf (1998a, S. 174–181), weil die Übersetzung als ›Figur‹ nicht nur die Nähe zur Person vermeidet, sondern auch die dramatischen Konnotationen der personnage tilgt, in der die Beziehung zum englischen Begriff des character bestehen bleibt. Dass gleichwohl der disours du personnage (1972, S. 194), der nun, nachdem die Person aus dem Spiel ist, konsequent ›Figurenrede‹ hätte heißen müssen, immer wieder fälschlich als ›Personenrede‹ übersetzt wird, zeigt, dass die terminologische Pointe dort als unklar erscheint, wo die dramatische Herkunft der Figur aus der Persona übersehen wird (1998a, ›Figurenrede‹: S. 124; daneben: ›Personenrede‹: S. 18, 121, 123 u. ö.).

Nicht zuletzt verschwindet das dramatische Begriffsverständnis im Umgang mit einigen der prominentesten Vertreter der slavischen Erzähltheorie. Deren Vertrautheit mit der deutschen rhetorischen Tradition ist bekannt und insbesondere für den russischen Formalismus nachdrücklich betont worden (Doležel 1990). Diese rhetorische Anlage schließt den Terminus der ›Figur‹, der in der Rhetorik als begriffliche Metapher zur Bezeichnung der bildlichen Gestalt des rhetorischen oder poetischen Diskurses als ›Rede-‹ oder ›Gedankenfigur‹, gelegentlich auch allgemein zur Bezeichnung der Tropen verwendet wird, geradezu programmatisch aus (»Kunst ist Denken in Bildern« Šklovskij 1969 [1916], S. 4 f., vgl. bes. S. 6–8). Entsprechend verwendet das spätere Poetiklehrbuch des russischen Formalismus von Boris Tomaševskij, seiner rhetorischen Grundanlage gemäß, anfangs die Figurenmetapher klassisch für die Gestaltung des poetischen Diskurses, den dramentheoretisch geprägten Begriff der Persona (перcонаж) dagegen für die Ebene der dargestellten Handlung. Im Rahmen des dramatischen Kompositionsprimates des Ansatzes ist das systematisch stimmig, mit der deutschen Übersetzung als ›Figur‹ entsteht indes die Schwierigkeit, dass der Primat der kompositorischen Motivierung gegenüber der realistischen Motivation undeutlich wird, weil das Konzept der Figur eine ebenso unausgesprochene Affinität zur realistischen Motivation besitzt wie die Persona zur kompositorischen Motivierung. Denn erst auf der Ebene der Komposition und der Motive liegt deren Funktion: »Die Person(a) ist der Leitfaden, sich in der Fülle der Motive zurecht zu finden« (Tomaševskij 1985 [1931], S. 238).

Ein ähnlicher Effekt tritt im Umgang mit der berühmten Definition von Ereignis, Sujet und Persona nach Jurij M. Lotman auf, dessen hochgradig metaphorischer Charakter in den deutschen Übersetzungen aufgelöst wird: in der die Offenheit der semantischen Transgression betonenden Formel »Ein Ereignis ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes hinaus« (Lotman 1973, S. 350) ebenso wie in der eine strukturale Geschlossenheit andeutenden Übersetzungsvariante »Ein Ereignis ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« (Lotman 1972, S. 332) bzw. auch »die Versetzung einer Person über die Grenze eines semantischen Feldes« (Schmid 2007, S. 99). Tatsächlich wählt auch Lotman weder Figur noch den Personenbegriff, sondern ebenfalls den der persona (перcонаж), womit gerade auch seine Äußerungen zu narrativen Texten im Rahmen eines dramatischen Dispositivs zu denken sind. Die persona ist traditionell eine rhetorische Theatermetapher, die hier ausgespielt wird (s. u.). Denn wörtlich geht es um die »Personifizierung der Sujetfunktion« (Lotman 1973, S. 364), wobei die Persona wie das Sujet transgressiv gedacht ist, denn die »Verwandlung der Sujetfunktion in eine Persona [… ergibt] ein Bild [russ. образ im komplexen Sinne von lat. figura] mit den Kennzeichen des Menschen« (russ. 1970, S. 295, Lotman 1973, ebd. S. 366 die Übersetzung: »in eine Figur – ein Bild mit den Merkmalen des Menschen«).

In der Konsequenz dieser terminologischen Vorprägung liegt es, dass der Terminus der Figur, wenn er tatsächlich auftaucht, in einem diesem rhetorisch-dramatischen genau entgegengesetzten, gleichwohl nicht weniger metaphorischen Verständnis etabliert werden soll. Im sog. Aktantenmodell von Julien Algirdas Greimas bezeichnet ›Figur‹ – im Anschluss an Louis Hjelmslev – ähnlich wie bei Lotman, die dritte Konkretisierungsstufe semantischer Terme oberhalb der syntaktischen Ebene der Aktanten und der axiologischen Ebene der Akteure, auf der thematische und soziale Rollen in der Erzählung eingespielt werden (Greimas 1987 [1973]). Diese thematische Besetzung macht die Figur damit zum Terminus für den Ort einer metaphorischen Figuration, die strukturale Semantik geht also nicht etwa von der Figur als konkreter Gestalt aus, die nachträglich zu interpretieren wäre, sondern versucht umgekehrt die Dynamik semantischer Prozesse in ihrem Term zu figurieren.

Das Problem solcher verdeckter terminologischer Gegenläufigkeiten ist auch in der Autorschaftsdiskussion evident, die vermutlich deshalb das rhetorisch begründete Konzept des implied author so hartnäckig verzerrt zitiert, nämlich nicht als implizierten (Booth 1991 [1961], S. 151; dt. 1974, S. 156), sondern als impliziten (engl. implicit) Autor fasst, weil sie das dramatische Konzept der Persona verdrängt. Im Unterschied zu Booth, der den Autor in seinen Umschreibungen mehr als deutlich im imaginären Dispositiv des Theaters bestimmt (»Even the novel in which no narrator ist dramatized creates an implicit picture of an Author who stands behind the scenes« [1991 [1961], S. 151]), scheint mit dem Verschwinden des dramatischen Dispositivs jenseits der Persona als Autorbild nur noch die fiktionstheoretische Unterscheidung von Person und Figur überzeugend zu sein.

Weil die so in die Theorie inferierte Person des Autors für die Interpretation keine Rolle spielt – das tut sie auch bei Booth nicht – wandelt sich die Instanz, die von der Persona im dramatischen Dispositiv sprachlich impliziert wird, zu einem allgemeinen Implikat des Textes, der angesichts des Figurenbegriffs seinen Ort verliert. Damit wird z. B. automatisch auch die Pointe der Unterscheidung in telling und showing unverständlich (Lubbock 1972 [1921], S. 62–76 u. passim.; das Unverständnis klassisch, mit weitreichenden Folgen für die Begriffsbildung, bei Genette 1998a, S. 116 f.), die im dramatischen Dispositiv evident ist. Weil die performative Deixis des Sprechens einer Persona, die in jedem Akt der ›ich‹-, ›hier‹- oder ›jetzt‹-Aussage als ein Sich-Zeigen im Sinne des stimmlich-deiktischen Selbstverweises erscheint, im Rahmen einer rein textuellen Imagination keine selbstverständliche Vorstellung mehr ist, wird die textlogische Betrachtung für den Effekt blind, dass die Rede einer Persona diese in rhetorischer und dramatischer Denktradition immer als Figur zeigt. Wer auf der Bühne spricht, wird durch seine Rede sichtbar: Auf diesen deiktischen Effekt will auch der erzähltheoretische Betriff des showing selbstverständlich hinaus.

Die vermeintliche Differenziertheit der jüngeren narratologischen Bemühungen zu Figur und Person bedeutet angesichts dieser immer wiederkehrenden, weitreichenden Implikationsprobleme gerade keine Klärung der Begriffe. Sie scheint vielmehr eher auf einer schlichten epistemischen Grundentscheidung zu beruhen, die über den Fiktionalitätsbegriff getroffen wird. Wenn die Fiktionalität des Erzähltextes nämlich damit begründet wird, dass literarische Welten bzw. die Diegesen von fiktionalen Erzähltexten in Opposition zur realen Erfahrungswirklichkeit zu denken sind, auf die sie gleichwohl in ihrer Künstlichkeit mehr oder weniger deutlich bezogen werden, dann erscheint es als evident, dass die Figur immer in einem Beziehungsverhältnis zu einem entsprechend realistischen Konzept der Person steht. Schon terminologiegeschichtlich ist dieser Eindruck aber das Ergebnis eines missverständlichen Vereinfachungsprozesses, der selbst historisch bedingt ist und die methodische Reichweite des narratologischen Ansatzes historisch einschränkt.

Schlaglichtartig illustrieren lässt sich der besagte historische Reduktionsprozess nicht zuletzt am gespaltenen Begriffsgebrauch der Figur/figura zwischen Mediävistik und Neugermanistik. Ausgehend von seinem rhetorischen Gebrauch erhält das Wort figura in patristischer Zeit im lateinisch-geistlichen Diskus, hier in der Figuralexegese (Auerbach 1967 [1938]), seine besondere christliche Weihe, die noch in der modernen terminologischen Diskussion der germanistischen Mediävistik problematische Auswirkungen gehabt hat (Ohly 1977; Warning 1979, S. 561–568; Haug 1992, S. 98 f., 224–226). Nicht nur aufgrund dieser historischen Prägung, sondern vor allem auch durch ihre mediävistisch notorische Problematik ist z. B. die Verwendung des Adjektivs ›figural‹ in der Altgermanistik von der in der Neugermanistik verschieden: Während ›figural‹ in der Neugermanistik und neueren deutschsprachigen Narratologie im Rahmen eines realistischen Figurenkonzeptes oft nur noch ›zu einer literarischen Figur gehörig‹ bedeutet (Schmid 2014, S. 142–146, s. u.), meint das Adjektiv in der Mediävistik immer noch das mit leicht anderer Akzentuierung auch als ›Typologie‹ bezeichnete, exegetisch sanktionierte, bildlich-metaphorische Interpretationskonzept rhetorischer Provenienz. Der Begriffsgebrauch in der Germanistik ist damit nicht nur gespalten, sondern historisch asymmetrisch.

Eben diese historische Asymmetrie zeigt sich gleichfalls in der Begriffskorrelation Figur und Person, nur gilt diese Asymmetrie nun sowohl für die Alt- als auch für die Neugermanistik. Diese allgemeinere terminologische Asymmetrie ist zuerst wortgeschichtlich bedingt, d. h. dem Umstand geschuldet, dass mit dem Übergang vom Fremd- zum Lehnwort sowohl für ›Person‹/persona als auch für ›Figur‹/figura verschiedene Begriffsimplikationen aus dem Lateinischen in die zunächst vorbegrifflich-offene Wortwahl des Deutschen importiert werden. Die verdeckten Auswirkungen dieser Implikationen führen letztlich im modernen, alltagssprachlichen Deutsch zu dem Eindruck, dass ›Person‹ das gleichsam authentische, natürliche Konzept darstelle, das einen Menschen in seiner individuellen Eigenart bezeichne, Figur dagegen der Ausdruck für eine diese Person repräsentierende, fiktive Entität sei. Um diesen historisch-naiven Gebrauch mit Blick auf die Person aufzuklären, genügt es daran zu erinnern, dass es sich schon bei der ›natürlichen Person‹ um einen juristischen Kunstbegriff handelt. Historisch ist daher die Annahme einer aufsteigenden Artifizialität von der Person zur Figur nicht zu begründen.

Das heißt insgesamt: in der Zeit der älteren deutschen Literatur, in der Zeit der Texte vor der institutionalisierten Literatur, ist das Korrelationsverhältnis von Persona und Figur ein offener Prozess der Begriffsbildung. Erst im Rahmen des institutionalisierten Literaturverständnisses werden auch Figur und Persona zu abgrenzbaren Rahmenkonzepten, die gleichwohl praktisch fortgesetzt miteinander korrelieren. Diese Korrelation wird theoretisch in der deutschsprachigen Erzähltheorie und Narratologie mit der weiteren Umstellung von der performativen Leitgattung des Dramas auf die schriftliche Medialität des Romans und seiner textuellen Fiktionalität in einem Reduktionsprozess vereindeutigt. Die Balance der Konzepte kippt in eine wissenschaftlich eindeutige Hierarchisierung zugunsten der Figur um. Die älteren Ambivalenzen der Begriffsimplikationen, die zuvor schon der wissenschaftliche Übersetzungsprozess zu tilgen begonnen hat, werden dadurch schließlich vollends verdeckt.

Gerade die fortgesetzten terminologischen Ambivalenzen zwischen Drama und Roman verweisen aber in ihrer rhetorischen Herkunft darauf, dass eine historische Narratologie der Figur, vor der Frage nach der Person, immer auch eine der Persona sein muss. Das Doppelkonzept von Figur und Persona erscheint demnach durch die beiderseitigen, historisch variablen Inferenzen von poetisch-ästhetischen Konventionen auf der einen und dem praktischem Weltwissen auf der anderen Seite als historisch-dynamisches Vexierbild. Es ist derart selbst als epistemische, dynamische Kippfigur beschreibbar, die sich über das moderne Fiktionsverständnis jedoch nur noch in eine Richtung wahrnehmen lässt und damit ihre ästhetische Pointe theoretisch einbüßt. Praktisch erscheint sie gerade deshalb als ästhetisches Faszinosum. Damit ist die literarische Ästhetik der Erzähltheorie intellektuell voraus.

2.2 Wortgeschichte: persona und figura auf dem Weg zu ihrer Korrelation

Um das Problem dieser wiederholten historischen Missverhältnisse zwischen älterem und neuerem Wort- und Begriffsgebrauch für das vielfach angestrebte Projekt einer diachronen oder historischen Narratologie aufzulösen, wären demnach zunächst die Wortfelder zu berücksichtigen, die im allgemeinen erzähltheoretischen Figuren- und Personenverständnis zusammenwirken. Wortgeschichtlich sind sowohl ›Figur‹ als auch ›Person‹ Fremdworte, die als rhetorische Begriffe auf unterschiedlichen Ebenen liegen und deren historische Semantiken gegenläufige mediale Aspekte beinhalten, die letztlich auch begriffsgeschichtlich miteinander korrelieren. Erst über die Berücksichtigung der historischen Medialität dürfte demnach auch das Verhältnis von Figur und Persona vollends theoriefähig werden.

2.2.1 Rhetorische Grundlagen des historischen Verständnisses

Das Wort ›Figur‹, aus lateinisch figura, impliziert durch seine Bedeutung als ›(sichtbare) Gestalt‹, ›Gebilde‹ oder ›Bild‹ die durch den Umriss bestimmte Visualität der jeweiligen Erscheinung über das Medium des Blicks. Über diese Visualität ergibt sich die metaphorische Inanspruchnahme des Wortes als Begriff in der lateinischen Rhetorik. Hier bezeichnet figura allgemein eine bestimmte sprachliche Gestaltungsweise, die über die Ebene des Einzelwortes hinausgeht, insbesondere gedankliche oder sprachliche Gesten, d. h. Gedanken- oder Redefiguren, die komplexere sprachliche Akte darstellen. Die figura ist damit im rhetorischen Produktionsstadium der elocutio angesiedelt, oder bereits narratologisch formuliert: die Figur gehört terminologisch zur Ebene des Diskurses, genauer der Erzählung als narrativer Kompositionsebene (Schmid 2014, S. 224).

›Person‹ dagegen – aus lateinisch persŏna, griech. πρόσωπον (prósopon), mit seiner historisch im Lateinischen emergenten Pseudoetymologie aus lateinisch per-sōnare – bezeichnet die Maske des singenden oder mit getragener Stimme sprechenden Schauspielers, durch die Stimme und Wort ›hindurchtönen‹. Gerade weil diese Etymologie, angesichts des ursprünglich wohl aus dem Etruskischen stammenden Lehnwortes, das erst in klassischer Zeit aus dem Bereich der Theatersprache in die Rhetorik übernommen wird (Schouler/Boriaud 2003, S. 804–806, zur sprachlichen Herleitung ausführlich Düll 1937, s. u.) falsch sein dürfte, ist sie medienhistorisch so aufschlussreich: Die persona impliziert metaphorisch – durch ihre Herkunft aus dem Theater – selbst als rhetorischer Begriff die durchdringende Auditivität der Erscheinung über das Medium des Klanges, d. h. genauer: die persona beruht auf einem transgressiven Moment der Stimme.

Durch dieses transgressive Moment der Theatermetapher avanciert die persona zum rhetorischen Zentralbegriff, an dem die Rede generell ansetzt, die also dem Konzept der (Rede- oder Gedanken‑)Figur prinzipiell vor oder nachgeordnet ist. Die persona ist eine stimmlich evozierte soziale Maske, sie verkörpert über die Stimme die Instanz, welche die Rede mit ihren diskursiven Gesten oder Figuren öffentlich ausführt, die von der Rede in persona des Richters oder Publikums adressiert oder die als in der Rede als die am Tatverlauf beteiligte persona entworfen und verhandelt wird (Lausberg 1990, § 139, S. 86; § 289, S. 164 u. ö.). Narratologisch ist dabei besonders interessant, dass die persona als eine Hauptinstanz der narratio über die sermocinatio, die vorgestellte, fiktive Rede, dramatisiert werden kann (Lausberg 1990, §820 f., S. 165 f.). Die persona erscheint also außerhalb und innerhalb der Rede, konstituiert sich aber in beiden Fällen erst durch die ihr zugerechnete Rede im Rahmen des durch sie entworfenen, imaginären Gerichtsdramas.

Die Kippfigur von persona und figura deutet sich nun dort an, wo die persona als sprachliche Fiktion innerhalb des rhetorischen Diskurses in exkursartigen descriptiones vor Augen geführt wird (Lausberg 1990, §811, S. 401; §1133, S. 544). Die Instanz der Stimme findet einen bildlichen Ausdruck: Dieser metaphorischen Basisoperation entsprechend verbildlichen die Beschreibungen der persona diese, indem auch sie wiederum Metaphern verwenden, und werden damit schließlich selbst zu Metaphern der einer Gestalt zugeschriebenen Qualität: In der Rhetorik wird die Persona nicht beschrieben, wie sie wirklich aussieht, sondern sie wird als die beschrieben, die sie in Wahrheit ist. Es handelt sich also, angefangen bei der nur metaphorisch lösbaren Aufgabe, eine Stimme im Bild sichtbar zu machen, um eine fortgesetzte Korrelation des metaphorischen Denkens. Im Bild der Figur wird die Stimme metaphorisch gezeigt, die jenseits der Maske und durch sie hindurch stimmlich hörbar ist, so dass die Maske letztlich zugunsten der Figur verschwindet. Und diese metaphorisch begründete Kippfigur zeigt sich insbesondere in den lateinischen Poetiken des Mittelalters. Die Stimme der Persona wird in der Figur sichtbar.

Im Zentrum der rhetorischen Semantik der persona steht immer die Frage ihrer Werte. Es geht darum, zwischen dem Redner und dem Publikum eine axiologische Übereinstimmung im ethos, lat. mores, herzustellen und diese durch eine positive Hervorhebung in der Persona zu steigern oder aber durch deren negative Darstellung zu durchkreuzen. Diese Begriffe finden sich nicht nur in der Rhetorik, sondern auch schon in der ›Poetik‹ des Aristoteles zur Bezeichnung der über die práxeós, lat. agentes, versinnbildlichten sittlichen Qualität. Die moderne narratologische Auffassung des character (engl.) als dezidiert ethisch-rhetorischem Konzept verwendet diese Vorstellung pointiert (Phelan 2014, S. 531, 539–442).

Dass diese axiologischen Qualitäten nach antiker Auffassung durch die Handlung des Dramas in Erscheinung treten, ist auch für das spätere, rhetorische Verständnis der persona und ihrer figuralen Semantik zentral. Die figurale Transgression der persona von der Stimme ins Bild zielt darauf, deren unsichtbare Werte sichtbar zu machen. Umgekehrt ist festzuhalten, dass aufgrund desselben Werteprimates in der aristotelischen Poetik der neuzeitliche Begriff der konkreten Person und ihres moralischen Charakters schlicht nicht vorkommt, ja sogar ausdrücklich ausgeschlossen ist (»die Tragödie ist nicht die Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung«, Aristoteles 1993, S. 21 [1450a]), und erst im 18. Jahrhundert in den Text hineinübersetzt wurde (Curtius 1753, S. 12–14), weil die semantischen Möglichkeiten des Deutschen mit denen des Griechischen wie auch des Lateinischen im entscheidenden Punkt nicht zur Deckung zu bringen sind. In der modernen Narratologie zur Figur wird dieser Umwertung der Charakter-Vorstellung, die im Übrigen den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem aristotelischen und dem realistisch-modernen Mimesis-Verständnis markiert, bislang keine angemessene Beachtung geschenkt. Darum ist festzuhalten: Die Suggestion, Aristoteles sei es in seiner Poetik des Dramas um die mimetische Darstellung von »menschlichen Handlungen« gegangen (Martínez 2011, S. 145; 2016, S. 147), ist irreführend (vgl. Chatman 1980, S. 108 f.).

Denn im Griechischen geht es darum, Handlung selbst darzustellen, zu der die Wertpräferenzen hinzukommen, die in der Handlung prozessiert werden. Die Träger der Werte sind begrifflich weder Figuren noch Personen, sondern sie sind als práxeós, lat. agentes performative Einheiten. Was sie axiologisch bestimmt, ist ihr ethos, lat. mores. Ins Deutsche oder Englische übersetzt, werden diese ›Handelnden‹ von den nominalisierten, objektiven Ausdrucksformen eines gegebenen dramatischen, eigentlich verbalen Prozesses jedoch zu dessen Subjekten, d. h. zu ›handelnden Personen‹ oder auch moralisch handelnden ›Charakteren‹, ohne dass es diese subjektiven Entitäten im griechischen oder lateinischen Text gegeben hätte. Kurz: Die Übersetzung wechselt die Wortart, das Verb wird zum Nomen, das Objekt der Handlung wird zum Subjekt, das handelt.

Demgegenüber ist genauer festzuhalten: Die aristotelisch-poetische Denkweise ist mereologisch, d. h. sie geht nicht etwa im späteren, realistischen Sinne vom praktischen Handeln Einzelner, sondern von der Handlung als semantischer Ganzheit aus. Sie ist im Übrigen damit nicht etwa archaisch, sondern hat ihre klassisch-moderne, theoretische Entsprechung in der Denkweise der strukturalen Semiotik und Semantik, nur steht sie dem technischen Handlungsverständnis einer nur formalen oder typisierenden erzähltheoretischen Analyse deutlich entgegen.

So ist letztlich auch der dramentheoretische Begriff des ›Charakters‹ für die moderne Narratologie ebenso hilfreich wie missverständlich geworden. Festzuhalten ist nämlich ebenso bei seinem Gebrauch, dass er zwischen Antike und Neuzeit einer Wende unterliegt. In der antiken Dramenpoetik bringt die Handlung in Verbindung mit dem ethos den Charakter als performative Einheit aus Normen und Werten hervor, in der neuzeitlichen Rezeption ist umgekehrt der Charakter die Voraussetzung dafür, dass sich dessen Normen und Werte in der Handlung zeigen können. Mit der neuzeitlichen Wendung des ethos oder der mores zum ›Charakter‹ bleibt so die Vorstellung erhalten, dass die handelnde Persona/Figur den primären Ort der narrativen Axiologie darstellt. In der älteren Praxis kommt allerdings die Vorstellung Persona oder Figur demnach ganz zuletzt und ist eigentlich unwesentlich, in der neueren, technisierten Theorie kommt sie zuerst und wird zur wesentlichen Denkvoraussetzung. Der Vorstellungsbereich des Mittelalters liegt dazwischen und ist zwischen lat. persona und figura doppelt bestimmt.

Besonders deutlich wird die Ambivalenz in der figuralen Verbildlichung der Qualität in der persona im Übergang der lateinischen Rhetorik in die mittelalterliche ars dictandi und Poetik. Hier nimmt die Beschreibung der persona großen Raum ein, deren aus der Rhetorik übernommener, metaphorischer Status noch einmal dadurch verstärkt wird, als diese Musterbeschreibungen innerhalb der Poetiken wiederum selbst deren programmatische Visualisierung darstellen.

Weil für die lateinische Poetik im Mittelalter – über den Weg der Rhetorik von der Vortragskunst und ihrer schriftlichen Funktionalisierung in den Briefrhetoriken – die konkrete Medialität des mündlichen Vortrags in den Hintergrund tritt, wird sie selbst zu einer reinen Diskurstheorie. Damit ist die Mündlichkeit aber nicht verschwunden, sondern gerade aus der Latenz heraus weiter wirksam. Und das heißt für das zuvor klar getrennte Ebenenverhältnis von persona und figura: Beide gehen eine Korrelationsbeziehung ein, die sich als wechselseitiges Bedingungsverhältnis darstellt. Die persona erscheint in den Beschreibungen ähnlich wie ein sprachliches Gemälde als sichtbare figura oder forma (Matthaeus von Vendome, Ars versificatoria, hg. Munari 1988, 1,47, 1,50–59; Galfried von Vinsauf, Poetria Nova, hg. Faral 1958 [1924], V. 554–665). Deren Bildlichkeit ist gleichwohl nicht einfach zweidimensional wie die des gemalten Bildes im Sinne einer pictura, sie ist dreidimensional, weil die persona transgressiv gedacht ist: Man durchschaut das Bild der Figur in der Weise auf seine Qualität hin, wie man zuvor die Stimme durch die Maske des Schauspielers hindurch hören konnte. Die dritte Dimension der mit Hilfe der figura konkretisierten persona ist die der Semantik.

In dieser medialen Gegenläufigkeit aus Klang und Blick, Stimme und Bild und ihrer transgressiven Semantik ergibt sich demnach bereits die Grundlage der historischen Kippfigur, in der jeweils ein Medium das andere evoziert: Der Klang der Stimme, der durch die persona hindurch zu hören ist, führt bereits zur Imagination der sichtbaren Figur auf der Bühne; doch erst das sichtbare Bild, das als figura in Erscheinung tritt, verschmilzt mit der stimmlich evozierten imago zum Eindruck einer dynamischen, lebendigen Person. Mit dem Übergang von den performativen Formen von Rhetorik und Dramatik in die Schriftlichkeit, insbesondere die der Narrativik, setzt sich diese Korrelation unwillkürlich in der Imagination fort.

2.2.2 Das Begriffsproblem im Wortfeld der Vormoderne

Das Mittelhochdeutsche hat keine explizite Poetik wie das Lateinische hervorgebracht, gleichwohl hat die Literatur selbst, neben den expliziten Aussagen in Nebentexten, Prologen, Exkursen oder Epilogen, in ihrer Metaphorik und – wie in den descriptiones der lateinischen Poetik schon angedeutet – in ihren Bildbeschreibungen implizite, narrative Poetiken entwickelt. Die ekphrasis ist der metaphorische Ort der Poetik (Wandhoff 2003, S. 7–10, 30–35; vgl. Bleumer 2010, S. 141–152). Der poetische Begriff der Figur wird daher in der Beschreibung der persona oder figura zugleich deutlich. Dabei kommen in den Beschreibungen nicht nur wiederum die Bezeichnungen für persona, mhd. persône, und figura, mhd. figûre vor, sie erweisen sich durch ihren vorbegrifflichen Status als Teil eines gemeinsamen Wortfeldes, in dem sie ihre Doppelbeziehung eingehen.

Als Fremdworte lateinischer Herkunft konnotieren sowohl ›Person‹ als auch ›Figur‹ ihren besonderen, semantisch-terminologischen Anspruch in dem Maße, wie sie noch nicht zu Lehnworten werden und damit ihren lateinischen Alteritätseffekt im Kontext des Deutschen einbüßen. Gleichwohl können sie diesen im Kontext der volkssprachigen Literatur nicht denotieren. Auf was sie genau verweisen, bleibt dadurch jeweils offen. Der terminologische Anspruch existiert gleichwohl durch seine längere Dauer im Lateinischen neben der deutschen Begrifflichkeit weiter und beeinflusst diese in ihrem historischen Prozess sowohl theoretisch wie praktisch.

So ist die lateinische Pseudoetymologie der Person aus per-sonare – trotz der unterschiedlichen vokalischen Quantitäten im Lateinischen (/ŏ/ vs. /ō/) – aus der Sicht des Deutschen so wirksam, dass sie in der Germanistik seit der Vermutung von Jacob Grimm als gesetzt gilt und auch in der dramentheoretischen Auffassung der Person/Figur der modernen Germanistik weiter als korrekte Etymologie zitiert wird (Grimm 1866, S. 370 f.; Grimm 13, 1984 [1889], Sp. 1561–1565; Platz-Waury 1997, S. 587 f.). Diese eigentümliche Evidenz mag damit zusammenhängen, dass sich im Übergang vom Lateinischen zum Deutschen die Vokalquantität ändert (lat. persŏna, mhd. persône). Vom Mittelhochdeutschen bis ins 19. Jahrhundert ist die Semantik gleichwohl stark kontextabhängig, an sich kann persôn(e) vorbegrifflich die bloß äußere Gestalt des Menschen bezeichnen, so dass die Semantik mit dem entsprechend allgemeinen Vorverständnis von lat. figura zusammenfällt (Benecke/Müller/Zarnke II, 1, 1990 [1863], Sp. 472; Lexer I, 1979 [1872], Sp. 218). Neuzeitlich kommt es zu einer deutlicheren Trennung der Ausdrücke bei gleichzeitig zunehmender Spezifizierung, hier bezeichnet ›Person‹ insbesondere das Typische der menschlich-sozialen Individualität. Je nach diskursivem Kontext kann diese Typik im Sinne des jeweils entscheidenden sozialen Rollenverständnisses variiert werden, etwa in geistliche, weltliche, rechtliche, adlige Personen etc. (Grimm 13, Sp. 1984 [1889], 1563). Diese klar diskursabhängige, begriffliche Inanspruchnahme der Person über das jeweilige praktische ›Rollen‹-Verständnis verweist erkennbar auf deren vorherige rhetorische und dramatische Begriffsprägung zurück.

Analog zu diesen Spezifizierungstendenzen ist auch für die Frage nach dem historischen Begriff der Figur festzuhalten, dass dieser im Mittelhochdeutschen noch nicht mit dem Einzelwort figûre bezeichnet werden kann, Wort und Begriff also inkongruent sind. Auch hier muss der Ausdruck jeweils kontextabhängig begrifflich spezifiziert werden, wobei sich schon am Anfang des 12. Jahrhunderts – besonders bei Gottfried von Straßburg und, in dessen Nachfolge, später bei Konrad von Würzburg – eine spezifisch poetologische Inanspruchnahme der figûre zeigt (Benecke/Müller/Zarncke III, 1990 [1861], Sp. 309; Lexer III, 1979 [1878], Sp. 346; Grimm 9, 2006, Sp. 475–478). Die Semantik von figûre als Einzelwort, auch hier stets vom Alteritätseffekt des Fremdwortes begleitet, meint dagegen im Deutschen zunächst jedwede Gestalt. Erst im jeweiligen Verwendungszusammenhang oder durch die Kombination mit bild oder gemeld auch die spezifisch bildliche Gestalt. Im Neuhochdeutschen kann Figur als bildlicher Ausdruck für einen abstrakten Gedanken, aber auch im rhetorischen Sinne als Bezeichnung für eine typische Gestaltungsweise der Rede verwendet werden, womit sich eben jener rhetorisch-dramatische Begriffsgebrauch durchsetzt, der auch für die Person prägend ist.

Noch bei diesem neuhochdeutschen Verständnis der Figur als spezifisch ›bildlicher‹ Gestalt ist in historischer Hinsicht zu bedenken, dass auch mhd. bilde nicht nur das gemalte Bildnis (pictura) oder vorgestellte Bild (imago), sondern zunächst das ›Gebilde‹, also die dreidimensional gestaltete forma bedeutet. Welches Medium mit mhd. bilde gemeint ist, wird jeweils durch Spezifizierung von dessen Materialität bezeichnet (hülzîn bilde, gemâltez bilde, êrîn bilde etc.) (Benecke/Müller/Zarncke I, 1990 [1854], Sp. 120 f.; Lexer I, 1979 [1872], Sp. 273, Grimm 5, 2018, Sp. 217–223). Wichtig ist dabei, dass ein bilde zunächst nicht selbständig, sondern nur als bezogene Form gedacht werden kann, da es schon dem Wort nach die typisch-schematische Gestalt darstellt, die einer anderen bil (vgl. nhd. billig, Billigung) ist, d. h. der communis opinio entspricht. Das bilde ist demnach ein visueller Typus, es meint nicht etwa eine individuelle visuelle Kopie eines sichtbaren Gegenstandes, sondern die Visualisierung eines im allgemeinen Anschauungsprozess vorhandenen Begriffsschemas. Entsprechend ist die figûre als Bild verstanden nicht realistisch-mimetisch, sondern hat immer eine diagrammatische Zeichenfunktion.

Angelegt ist der diagrammatische Verweischarakter von mhd. figûre schon von Anfang an in der historischen Semantik von figura im Lateinischen: Sie entwickelt sich vom klassischen Latein über die geistliche Inanspruchnahme der rhetorischen Tropenlehre in der Patristik bis hin zum mittelalterlichen Verständnis der Figuralexegese (s. o.). Der plastische Gestaltbegriff tritt hier schon früh zugunsten des bildlich-zeichenhaften Charakters der imago zurück, der in der Menschwerdung Christi als einer der drei göttlichen Personen aufgehoben ist. Entsprechend verweisen die meisten Überlieferungsbelege zu persône im Mittelhochdeutschen auf das Paradox der personalen Dreieinigkeit Gottes (MHDBDB 1992–2020).

Die sich hier im geistlichen Textverständnis besonders ausgeprägt abzeichnende Dialektik von Figur und Person bzw. Person und Figur ist gleichwohl keine genuin geistliche Praxis. Wie im römischen Recht und der damit zusammenhängenden forensischen Rhetorik, wo die persona ein zentraler, repräsentationslogischer Grundbegriff für eine Partei (Fuhrmann 1979, S. 94–97) darstellt, die einen eigenen rechtlichen Anspruch vertritt, so führen auch das mittelalterliche Recht und seine politische Öffentlichkeit diese Stellvertretungslogik in einer symbolischen Variante weiter, nach der etwa der König als Rechtsperson von dem jeweiligen historischen Individuum zu unterscheiden ist, die das Königsamt übernimmt und es damit symbolisch konkretisiert (Kantorowicz 1994, S. 31–46). Im Spiel oder Drama sind die dramatis personae die vorgestellten, durch die Akteure getragenen Rollenbilder, und erst deren Reden gelten, als Pendant zu den diese Rollenbilder performativ verlebendigenden Gesten, als die figurae (Velten 2020, S. 513 f., 519 f.; Ehrstine 2001, S. 419–424). Dass diese figurae als gestische Redeakte im schriftlichen Diskurs, hier vor allem im Erzähltext, dazu dienen können, die fiktive persona bildlich zu visualisieren, heißt nicht nur, dass die Figuren metaphorische Illustrationen einer personalen Instanz sind, sondern auch, dass diese gerade dort, wo sie als konkrete Person anmutet, bereits wieder zur Metapher wird. Das mittelalterliche Erzählen verfügt daher in der Summe über die ganze Bandbreite von Korrelationsmöglichkeiten, von der literarischen Figur als metaphorische Personifizierung einer bestimmten moralischen Qualität des Menschen bis hin zur allegorischen persona als Darstellung einer ›Denkfigur‹ (Benjamin).

3 Historisch-narratologische Begriffskorrelation

Die terminologischen Probleme der modernen Narratologie lassen sich über die Wortgeschichte wohl am einfachsten auflösen, wenn man die wortgeschichtliche Doppelfigur aus persona und figura in das korrelative Vier-Ebenen-Modell von Wolf Schmid einträgt (Schmid 2014, S. 223–225). Es hat begriffshistorisch die größte Reichweite, denn es steht nicht nur in der forschungsgeschichtlichen Tradition des russischen Formalismus, sondern ist noch deutlicher als dieser rhetorisch strukturiert. Daher erweist sich die rhetorische Begriffstradition der Persona mit ihrer langen Dauer hier wieder als anschlussfähig.

Analog zu den partes artis der klassischen Rhetorik ist das besagte Ebenenmodell zunächst ›idealgenetisch‹ konzipiert, d. h. es entwirft seine Kategorien über eine aufsteigende Hierarchie narrativer Ebenen von Geschehen, Geschichte, Erzählung und ›Präsentation der Erzählung‹ (d. h. Narration). Damit kehrt es die für die Literaturinterpretation methodisch grundlegende, poetische Inversion des rhetorischen Modells bei Tomaševskij (1985 [1931]), also den dezidierten poetischen Ansatz an elocutio und actio, insbesondere an den Tropen und der Klanggestalt des sprachlichen Kunstwerks, um. Das Modell ist aber gerade in dieser analytischen Umkehr von der primären Sprachlichkeit der dichterischen Rede zum gedanklich präsupponierten Geschehen in einer erzählten Welt korrelativ angelegt: Es operiert auf der Basisunterscheidung von korrespondierenden narrativen und nicht-narrativen Begriffen, die letztlich das ganze Modell in einen paradoxen Zirkel überführen. In ihm verdoppeln sich die Ebenenrelationen und treten zueinander in ein komplementäres Korrelationsverhältnis.

So können nicht nur am vermeintlichen Ende des Modells, auf der Ebene der Narration des Erzählers, alle Ebenenbegriffe diskursiv neu durchlaufen werden (vom Erzählgeschehen über die Erzählgeschichte etc.). Vielmehr zeigt sich schließlich auch wieder, dass schon das Geschehen, welches zum Zweck der Analyse als semantischer Ausgangpunkt gewählt wurde, immer schon ein Produkt der Narration ist. Die letzte Ebene des narratologischen Modells ist derart ebenso zugleich die erste, wie die erste Ebene zugleich die letzte ist. Die forschungsgeschichtliche Inversion der Ebenenhierarchie gegenüber der formalistischen Poetik bedeutet also keine einfache Rückkehr zur Schrittfolge der Rhetorik, sondern zielt auf einen dialektischen Prozess des poetischen Erzählens.

Die besagte doppelte Korrelation müsste nun auch das Konzept der Figur betreffen, die vor dem Hintergrund der rhetorischen Persona entsprechend korrelativ zu fassen wäre. Das ist aber nur ansatzweise der Fall. Als einfachste Grundunterscheidung kann man dazu festhalten: Figuren handeln und sprechen, wobei Sprechen immer auch Handeln ist. Im narrativen Text, der vom Ereignisbegriff abhängt, heißt das auch für Schmid: Die Figur wird auf der Ebene von Geschehen und Geschichte als Entität der Handlung gedacht, die durch ihren Kontakt zum Ereignis narrativ wird. Diesseits der Ereignishaftigkeit oder praktisch vorgestellten Narrativität lässt sich die Figur aber erst durch die Rede innerhalb der erzählten Welt konkret determinieren: als sprechende, teilnehmende oder wahrnehmende Instanz repräsentiert sie die Funktionen von Autor oder Erzähler auf der einen sowie die des Adressaten oder fiktiven Lesers auf der anderen Seite innerhalb der Erzählwelt. Dieser Unterscheidung entsprechend bezeichnet Schmid die Figur als handelnde Instanz in der Diegese (bei Schmid 2014, S. 7 u. ö. ›Diegesis‹) als ›Aktor‹ (ebd., S. 92 u. ö.), als erzählende soll sie dagegen ›Narrator‹ heißen.

Auch wenn die Unterscheidungen bereits etwas mühsam anmuten, müsste man sie im Sinne der korrelativen Logik des Modells sogar noch weitertreiben. So wären Figuren, die gegenüber dem Ereignis eher Statisten bleiben, also nicht handeln und so an der Geschehensdynamik nicht beteiligt sind, noch keine rechten narrativen ›Aktoren‹; ebenso haben sprechende Figuren, die in ihrer Rede nicht erzählen oder durch ihre Rede nicht an der Narrationsdynamik teilhaben, als ›Narratoren‹ an sich nichts Narratives. Und doch erweisen sich die so möglichen Differenzierungen in ihrem Spiegelungsverhältnis insofern als zwei Seiten einer Medaille, als Handlungen und Äußerungen der Figur in der Geschichte bzw. in der erzählen Welt ihre figürliche Pointe in der narrativen Perspektive der Erzählwelt finden. Mit anderen Worten: Die komplementäre Begriffsanordnung gewinnt ihre Spiegelungsverhältnisse über einen axiologischen Mittelpunkt.

Die narrative Perspektive ist nämlich genau genommen ein axiologischer Zentralbegriff, der nicht mit den technisch reduzierten Terminologieangeboten zur Erzählperspektive in der Nachfolge Genettes zu verwechseln ist. Schon die Geschichte benötigt grundsätzlich eine Perspektive (ebd., S. 121); in der handelnden und sprechenden Figur werden deren Parameter, die in der Narratologie in der Debatte um den point of view und deren problematische Differenzierung in Stimme und Fokalisierung aufgelöst wurde, nach Schmid innerhalb der Erzählwelt letztlich nur konkret pointiert (ebd., S. 122–127, 132–139). Die räumliche, ideologische, zeitliche, sprachliche und – vor allem – ›perzeptive‹ Einstellung einer Figur erscheint dabei als das objektivierte Gegenstück der allgemeinen Bestimmungen des Erzählers, der außerhalb der Diegese ›narratorial‹ als abstrakte Sprechinstanz des Textes oder innerhalb der Diegese ›figural‹, d. h. figürlich konkretisierte Instanz erscheinen kann, was zu der Unterscheidung in Erzählertext und Figurentext führt (ebd. S. 142–146).

In der Konsequenz dieser Begriffe liegt es, die ideologische Komponente der Figur im Sinne der älteren, rhetorischen und dramentheoretischen Begründung des ›Charakters‹ aus dem ethos stärker zu betonen: Schon nach Schmid gibt es keine Geschichte ohne Perspektive, die Perspektive ist wiederum axiologisch verankert – und der Ort dieser axiologischen Verankerung ist die Figur. Diese Interpretation legt im Übrigen auch der formalistische Begriff der ›Intrige‹ nahe, der als Konzept für das individuelle oder kollektive axiologische Kalkül einer an der Geschichte beteiligten aktorialen Einheit (Tomaševskij 1985 [1931], S. 216) auf die ältere, dramentheoretische Auffassung einer axiologischen Zuspitzung im ›dramatischen Konflikt‹ zurückverweist (Pfister 2001 [1988], S. 320 f.). Diese implizite Bestimmung der Persona/Figur als Ort eines spezifisch axiologischen Blickpunktes führt zu der vereinfachten Formel: Keine Geschichte ohne Werte, keine Wertung ohne Figur. Und wenn sich auch das Ereignis als das zentrale axiologische Moment der narrativen Semantik verstehen ließe (Bleumer 2020, S. 180 f.), dann wäre die Figur derart sein ›perzeptives‹ Gegenstück. Historisch passt diese Annahme im Übrigen zu der Beobachtung, dass Figuren im höfischen Roman gleichsam als Ort von Entscheidungssituationen aufgefasst werden, deren normative Dilemmata mit der übergeordneten Wertinstanz des (implizierten) Autors korrespondieren (Gerok-Reiter 2010, S. 141 f., 150–152).

Insgesamt laufen diese Bestimmungen darauf hinaus, die Figur als idealen, pointierten Gegenhalt zum narrativen Raum der Diegese zu konzipieren, die selbst wiederum den Raum für das ›mentale Ereignis‹ bietet (Schmid 2017). Als Teil der narrativen Fiktion der Diegese ist auch die Figur eine fiktive, nur gedachte Einheit, in ihrem Denken können sich aber alle narrativen und nicht-narrativen Kategorien der Erzähltheorie gewissermaßen seitenverkehrt widerspiegeln. Das führt zu der Paradoxie, dass die ideale Figur sozusagen eine umfassende Nullstufe darstellen müsste, die mit dem Erzähler zusammenfällt, und alle daraus abgeleiteten, konkretisierenden Einzelbestimmungen der Figur als Reduktionsformen dieses Ideals zu sehen sind.

Diese paradoxe Kreisfigur kommt indes nur dadurch zustande, dass eine der Unterscheidungen, die Schmid für das Ereignis und die Geschichte vorgenommen hat, für die Figur nicht in der gleichen Weise theoretisch reproduziert wird. Während nämlich für das Geschehen und die Geschichte anhand der Ereigniskategorie zwischen nicht-narrativen und narrativen Prozessen bzw. Diskursen unterschieden wird, ist diese Differenzierung für die Figur, wie schon bemerkt, nicht entsprechend deutlich. Das Modell verläuft sich sozusagen in einem Differenzierungsdilemma, ohne seine axiologische Pointe klar genug benennen zu können.

Hier ist historisch-narratologisch anzusetzen. Anfangs wäre schlicht zwischen beschriebenen und erzählten Figuren zu unterscheiden, ebenso wie die ›Aktoren‹ und ›Narratoren‹ sich danach unterscheiden ließen, ob sie nur Teil des Geschehens oder Teil der Geschichte sind, bzw. ob sie wiederum Vermittlungsinstanzen eines Diskurses (= Rede) oder eines narrativen Diskurses (= Narration) sind. Dadurch träte in der Narratologie von Schmid die alte dramatische bzw. rhetorische Unterscheidung in persona und figura wieder in Kraft. Und damit würde die Beschreibung der Verhältnisse deutlich weniger kompliziert.

Als Vereinfachungsvorschlag formuliert: Alle allgemein sprechenden oder im engeren Sinne erzählenden Instanzen werden durch ihre Rede oder Narration zur stimmlich konzipierten Persona. Ebenso wie der sprachlich dargestellte Text die Maske des Autors und die erzählte Welt die Maske des Erzählers ist, so emergiert in der sermocinatio, der vorgestellten Rede einer fiktiven, stimmlichen Instanz in der Erzählwelt, die Figur hörbar als persona. Dagegen werden die bezeichneten, beschriebenen oder an der Handlung beteiligten Entitäten als figurae konkret objektivierte, visuelle Konzepte. Sie sind rhetorisch gesehen die narrativen Gesten des Erzählens in Geschehen und Geschichte bzw. im Rahmen von Deskriptionen sichtbare Figuren. Das korrelative Moment wird dabei durch den Erzähltext medialisiert: Die Persona, die als Figur sichtbar wird, ist eine stimmliche Instanz, die nicht sprechen muss, um eine Stimme zu haben, die Persona, die spricht, muss nicht beschrieben werden, um den Blick auf sich zu ziehen. Jede Seite des medialen Doppelkonzepts konzeptualisiert so ihr Gegenstück als Leerstelle.

So kann eine Autorpersona durch den Text gegeben sein, sie ist im Prozess der Lektüre keine Abstraktion, sondern eine semantische Gegebenheit im Sinne einer unsichtbaren Stimme, die nicht notwendig als Autorfigur konkretisiert werden muss. Eine Autorfigur kann wiederum innerhalb des Textes sichtbare Züge aufweisen, die mit der Autorpersona nicht übereinstimmen müssen. Für die Erzählerpersona und -figur gilt, weil sie einmal als diskursive Vermittlungsinstanz und einmal als perzeptive Instanz konzipiert werden können, dasselbe. Und sichtbare Figuren, die im dramatischen Modus dargestellt werden, avancieren damit wiederum als personae.

Für den narrativen Prozess ist dabei jedoch entscheidend, dass die Korrelation der Begriffe als automatische Kippfigur beachtet wird. Die narrative Dynamik ergibt sich nämlich erst im Umschlag von der Persona zur Figur und umgekehrt. Der Umschlag stellt vermutlich sogar das entscheidende Faszinationsmoment der Figur/Persona dar, es handelt sich um das narrative Ereignis dieser Doppelkategorie im Gegenzug zum Ereignis der Geschichte (Stückrath 2004 [1992], S. 44–50). Denn wenn die Person, die hörbar ist, sichtbar wird, ist dies ebenso eine Grenzüberschreitung, wie wenn die Figur, die sichtbar ist, hörbar wird. In diesem Moment emergiert etwas Drittes, das man realistisch gesehen als einen Realitätseffekt der Person bezeichnen könnte, der aber historisch einen Anstoß zu einem mentalen Ereignis bedeutet. Beschreibt man diese Kippbewegung zwischen Persona und Figur weiter als einen Oszillationsprozess (d. h. Figura/Persona im Sinne des diagrammatischen Titels ›S/Z‹ von Barthes 1987 [1970], zur Figur/Person S. 71 f.), dann wäre die Frequenz der Schwankung zugleich das Maß für den Effekt figürlicher Ereignishaftigkeit. In der ständigen Kippbewegung von Figur und Person wird die literarische Gestalt, um ein altes Goethewort zu bemühen, ›schwankend‹ und tritt ästhetisch intensiv in Erscheinung.

Für das realistische Figuren- oder besser: Personenproblem bedeutet dieser Eintrag der historischen Begriffe in das Modell der vier narrativen Ebenen offenbar eine Lösung, denn die reale Person ist in dieser doppelt-gegenläufigen Korrelationsfigur nur eine uneingesehene, konkrete Metapher, ein narratives Projekt semantischen Geschehens, das nur solange als konkrete, menschliche Entität in der Geschichte verstanden werden kann, wie die paradoxe Zirkelstruktur des Erzählens nicht erkannt ist. Der ambige semantische Status des Geschehens im Übergang zur Geschichte schlägt sich dabei auch in der Semantik der Person nieder, denn – mit Hilfe der narratologisch geläufigen Unterscheidung Gottlob Freges in der Zuordnung zur Unterscheidung von histoire und discours gesagt (Frege 2002 [1892]; Todorov 1972 [1966], S. 36 f.) – die Person ist als Persona die Personifizierung von Bedeutung. Umgekehrt dazu ist die Figur nicht einfach eine Fiktion, die in Analogie zur Person in der Realitätswahrnehmung für die Imagination konstruiert wird, sondern im Gegenzug zur Persona als konkretem metaphorischem Bedeutungsträger zuerst eine diskursive Metapher zwischen Erzählung und Narration, in der sich der narrative Sinn konstituiert. Wenn die Persona demnach in die Figur umkippt, wird der narrative Sinn frei.

4 Mediävistische Narratologie: Rezeption und Adaptation moderner narratologischer Konzepte

Die Kategorie der Figur ist in der Germanistischen Mediävistik bereits vor dem Aufkommen der modernen Narratologie als problematisch markiert worden. So galt es schon früh als methodischer Fehler, die Handlungsweise literarischer Figuren durch die Unterstellung von mentalen Modellen der Alltagswirklichkeit zu interpretieren. Dieses Vorgehen stand für einen emphatischen Zugriff, weil es angesichts der kompositorischen Zeichenhaftigkeit der narrativen Prozesse zu einem poetisch und epistemisch ungerechtfertigten ›Psychologisierungsfehler‹ führte (Müller 1998, S. 201–203; dagegen: Haferland 2013, S. 102–110). Hinzu kommt: Weder sehen die Poetiken der älteren Literatur eine Vorstellung einer narrativen Psychologie der Figur vor, noch kennen die mittelalterlichen Episteme eine Psyche von der Art des modernen, in die Kausalitäten einer empirischen Realität gestellten Individuums. Das heißt im Übrigen nicht, dass die mittelalterlichen Texte von der Psyche keinen Begriff hätten. Vielmehr gilt gerade hier: als bildgebendes Vermögen kann die Psyche mehr, als sich aus Sicht der modernen Rationalität träumen lässt.

Die ältere Forschung war jedoch noch nicht auf dieses imaginative Potential aus, sondern versuchte lediglich, die unwillkürliche moderne Logifizierung der Psyche, also den ›Psychologisierungfehler‹ zu vermeiden, der in die Handlungsweisen der Figuren kausale Motivationen als psychische Ursachen hineinliest. So versuchte für die Heldenepik schon Werner Hoffmann das Interpretationsproblem der Figur dadurch zu umgehen, dass er vorschlug, auf den Begriff ganz zu verzichten und den älteren Begriff der Gestalt wieder zu beleben (Hoffmann 1967, S. 19–22). Dieser Begriff verweist mit seinem ganzheitlichen, die ästhetische Einheit von Form und Inhalt postulierenden Verständnis der Erzähleinheiten auf die Morphologie Goethes und deren ambigues Gestaltkonzept zurück (Hahl 1997; Buchwald 2001, S. 824 f., 837 f.). Er hätte narratologisch zur Erläuterung des semantischen Anspruchs der Morphologie Vladimir Propps und ihres auf den Funktionsbegriff übertragenen Verständnisses der Gestalt im Märchen nützlich sein können (Propp 1972 [1969], S. 27, 31–66), das sich programmatisch auf Goethes Morphologie bezieht. Der Vorschlag Hoffmanns hat aber ebenso wenig eine Nachfolge, geschweige denn eine Weiterentwicklung gefunden wie der gegenläufige Versuch von Matthias Meyer für den Roman, genauer den Artusroman, der das Personenkonzept über den rhetorischen Begriff des Charakters zu rehabilitieren versuchte (Meyer 1999, S. 147–151; Meyer 2001, S. 532–538; vgl. Phelan 1989, S. 205–211). Zumindest für die morphologische Auffassung der Gestalt sind damit wichtige metaphorische Denktraditionen narratologisch ungenutzt geblieben, deren Relevanz aktuell für die Literatur- und Kulturwissenschaft herausgestellt wird (Axer/Geulen/Heimes 2021a; bes. dies. 2021b, S. 8–36). Diese Traditionen lassen sich über den Formbegriff nicht zuletzt bis in zentrale Grundannahmen und Basistheoreme der germanistischen Mediävistik hinein verfolgen, so für den Begriff der Symbolischen Formen bei Ernst Cassirer (Heimes 2021, S. 107–127), den der Einfachen Form bei Andrè Jolles (Axer 2021, S. 239–253) und – narratologisch folgenreich – den der Form der Individualität, d. h. das formale Figurenkonzept bei Clemens Lugowski (s. unten).

In der Kritik an der historischen Emotionsforschung setzt sich dagegen lediglich das Psychologisierungsproblem der Figur fort. Dass die poetischen Texte, insbesondere die des Romans, als Ganzes die Vorstellung einer Psyche im Rahmen der mittelalterlichen, rhetorisch-psychopathologischen Imaginationstheorie voraussetzen und derart als allgemeine Imaginationsprogramme fungieren (Scheuer 2005, Reich 2011; Strittmatter 2013), ist gewiss nicht zweifelhaft. Sobald aber die in den Texten durch Bilder, Gesten und Reden dargestellten emotionalen Prozesse bei ihrer wissenschaftlichen Systematisierung in einem realistisch personalisierten Sinne einer Figur zugeordnet werden, droht erneut der traditionelle ›Psychologisierungsfehler‹, d. h. die Inferenz einer alltagspsychologisch aufgefassten Motivation zur Erklärung der Emotion, die historisch wie poetologisch problematisch ist (Eming 2006, S. 46–51, 332 f.; Ackermann 2007, S. 10–12). Dies gilt auch dann, wenn man versucht, die syntagmatische Kohärenz der personalisierten Figur mit Hilfe einer eher episodischen, nur im weitesten Sinne paradigmatischen Auffassung differenzierend an einzelne Situationen zu binden (Eming 2015, S. 29 f., 58 f. u. ö.).

Dagegen ist festzuhalten, dass schon die Namensnennung im poetischen Erzähltext auf eine andere, imaginative Logik hinauswill. Der namentlichen Benennung einer Figur kommt zunächst eine zentrale rezeptionslenkende Funktion sowohl in der dargestellten Geschichte wie in der Narration zu, entsprechend sind schon die Namensnennungen in den Interpretationen des Romans als diskursive Kernereignisse des Erzählens erkannt worden (Green 1982, S. 14–19 u. passim). Dieses diskursive, durch den Namen ausgelöste Ereignis ist im Rahmen der mittelalterlichen Imaginationstheorie als die Potenz der topischen Entfaltung der Geschichte in der Narration bekannt (Reich 2011, S. 15–17, 56–85). Die mentale oder psychische Fokussierung erfolgt demnach nicht zuerst über die dargestellte Figur, sondern über den Rezipienten, für den die Narration als Ganzes zum dynamischen, mentalen Programm wird. Narrative sind diesem Ansatz im Namen immer schon angelegt, sie lassen sich über die Nennung des Namens in der Geschichte über die Handlung der Figur ent- und am Ende der Narration wiederum einfalten. In dieser klassisch-topischen Dynamik aus Entfaltung und Einfaltung werden die Figuren anhand des Namens imaginativ intensive, semantische Ereignisse.

Das traditionelle Psychologisierungsproblem hat sich gleichwohl auch performativ auflösen lassen, indem die Figur als beweglicher Ort der Verbildlichung von emotionalen Haltungen, Konflikten und Klärungsprozessen aufgefasst wurde (E. Koch 2006, S. 68–78, 284–288). Insofern geht die Generalkritik an der Emotionsforschung, die der Forschungsrichtung pauschal die Implikation eines Personenbegriffs im Rahmen eines zivilisatorischen Entwicklungsnarrativs unterstellt, an der Forschungsrichtung vorbei (Schnell 2004; Eming 2007; E. Koch 2008), auch wenn die Emotionsforschung noch stärker an die Imaginationstheorie anzuschließen wäre. Denn umgekehrt bleibt das Konzept der Figur durch die Betonung der Performativität der Emotionen hier noch auffällig vage.

Die so für die Figur über die Emotionsdynamik betonte Performativität fügt sich erkennbar zu den Befunden aus dem zum bildtheoretisch begründeten Ansatz der ›literarischen Medialität der Figur‹ (S. Koch 2014). Dieser Ansatz geht von der sprachlichen Bildlichkeit der Figur als einem dynamischen Doppeleffekt zwischen ›Benennen‹ und ›Beschreiben‹ aus und vermag so das Figurenkonzept einerseits über den schon von Auerbach (2001 [1946], S. 5–27, vgl. S. Koch 2014, S. 33 f.) prominent beschriebenen, paradoxen Prozess der extremen imaginativen Leerstellenbildung durch bloße, gezielt unanschauliche Benennung und andererseits über die narrative Intensivierung durch die ekphrasis, d. h. über kontrastive Spannungsverhältnisse dynamisierte descriptio der Figur zu bestimmen. Sowohl die emotionstheoretisch-performative wie auch die bildtheoretisch-imaginative Auflösung der Figur besitzen damit bereits eine erkennbare Affinität zum Konzept der Narrationsdynamik, wären aber noch entsprechend mit den narratologischen Begriffen zu vermitteln.

Eine solche Vermittlung hätte zunächst die frühe Figurentheorie zu berücksichtigen, die in den romantheoretischen Grundbegriffen zur ›Form der Individualität‹ von Clemens Lugowski enthalten ist. Die Figur steht dabei unausgewiesen im Gegensatz zum modernen Konzept der Person, sehr deutlich aber in der Nachfolge der morphologischen Gestaltauffassung Goethes. Die ästhetischen Implikationen dieses Zusammenhangs hat Matíaz Martínez in seiner mit einem Goethe-Zitat betitelten Studie Doppelte Welten nachdrücklich hervorgehoben (Martínez 1996, S. 35). Das Interesse von Martínez galt dabei dem Motivierungs- bzw. Motivationskonzept nach Lugowski, dessen ästhetische Ambivalenz er bereits über die ambigue Relation einer Kippfigur oder des Vexierbildes beschrieben hat (ebd. 33 f.).

Mit Blick auf die Figur lässt sich diese Beschreibung des ästhetischen Doppeleffekts im Rahmen der Erzählung als kompositorischer »Ganzheit«, die kein individuelles Einzelnes, sondern nur Teile des Ganzen kennt (Lugowski 1994 [1932], S. 13, 86, 114), weitergehend bis zu Goethes Konzept der ›schwankenden Gestalt‹ verlängern. Lugowskis »Form der Individualität«‹ gehört dabei insofern gut erkennbar in das »Leben der Form« (Axer/Geulen/Heimes 2021a), als die Figur als kompositorisches Passepartout einer narrativ erzeugten Individualität erscheint, in dem Varianten der Form aus verschiedenen Zeitstufen zu einer Gestalt verbunden werden, die in allen ihren Formen auf eine dahinterstehende poetische Individualität hin durchsichtig wird. Thematisch wirksam wird diese kompositorische Rahmung als ›Gehabtsein‹ der Figur, deren Individualität strikt poetisch und nicht psychologisch gedacht ist: Die Figur handelt nicht aus dem einfachen Antrieb der Liebe heraus, sondern ihr Handeln ist vom poetischen Motiv der Liebe her bestimmt (Lugowski 1994 [1932], S. 61 f.). Die Figur ist weniger das Subjekt, das liebt, als vielmehr das Objekt der Liebesdarstellung. Im Interesse dieser Liebesdarstellung beginnt die Figur in ihrer Form oder Gestalt zu schwanken, gleichsam hin und her gerissen zwischen kausaler und finaler Motivation, die doch nur Spielarten der kompositorischen Motivierung sind.

Diese kompositorische, objektivierende Auffassung ist im historisch-narratologischen Rekurs auf die Kategorien von Lugowski von Martínez angelegt, aber mit Blick auf die Figur nicht explizit diskutiert worden, was forschungsgeschichtlich dem anfangs noch geringen narratologischen Interesse an der Kategorie entspricht. Stattdessen wurde auch von Martínez später eine kognitionswissenschaftliche Begründung der Figureninterpretation favorisiert, die mit der eigenen, historisch-narratologisch grundlegenden Arbeiten zur kompositorischen Motivierung oder Motivation von hinten nicht mehr recht zur Deckung kommt (Martínez 2000, S. 644).

Anhand dieser interessanten konzeptionellen Bruchstelle lässt sich zugleich auch ein auffälliges Dilemma des dezidiert narratologischen Neueinsatzes interpretieren, der sich aktuell für die germanistische Mediävistik abzeichnet (Möllenbrink 2020, S. 38–49; Bittner 2019, 7–30). So ist für den Artusroman im Gegenzug zur differenzierten, historisch-narratologischen Fokalisierungsdiskussion von Gert Hübner (2003, S. 74–76, 406 f.), die durch die Kombination ihres rhetorischen Grundansatzes mit der modernen Narratologie, mit der das Figurenkonzept auf das Abstraktionsniveau von narrativen Instanzen der Informationsvergabe und Informationslokalisierung gehoben wurde, der anthropomorphe Begriff der ›fokalen Figur‹ und ihrer ›Fokussierung‹ vorgeschlagen worden (Dimpel 2011, S. 162–168). Damit taucht hier ein Problem der Anthropomorphisierung wieder auf, das aus der klassischen Narratologie aus der Kritik am Konzept des ›Focalizers‹ schon bekannt ist (Genette 1998b [1972], S. 241–244; zuletzt Bal 2017, S. 12, 104 f., 133–137). Es wird nun aber nicht nur auf Nebenfiguren verlagert, sondern der emphatische Zugriff soll methodisch kontrolliert über den Begriff der ›Sympathiesteuerung‹ analytisch nutzbar gemacht werden (Dimpel 2011, S. 64–75; Dimpel/Velten 2016).

Tatsächlich hängt die Legitimität dieses Zugriffs davon ab, wie stark sie die kompositorische Verortung der jeweiligen Figur im Sinne ihrer Gehabtheit nach Lugowski berücksichtigt. Ansonsten wird die sogenannte fokale Figur buchstäblich defokalisiert, womit die narratologische Begriffsdiskussion ad absurdum geführt worden wäre. Auf dem Umweg über die narratologische Figurendiskussion kehrt dann die emphatische Einfühlung in die präsupponierte, literarisch dargestellte Person zurück.

Dieses Problem tritt angesichts der Diskussion um die Person im Epos zunächst nicht auf. So ist hier unter dem Stichwort der ›Personenerkenntnis‹ oder ›Personenidentifizierung‹ (Hahn 1977; Schulz 2008, S. 5–36) mit Rücksicht auf die Gattungskonventionen des Epos von vornherein zu berücksichtigen, dass die auftretenden Gestalten über ihre sozialen Handlungsrollen determiniert sind. Die Krieger im Epos handeln demnach wie dramatische personae, nur dass die Handlungsrollen im Erzählen als Vorgaben narrativen Handelns zu sehen sind, die sich aus dem Handeln der kriegerischen Persona und ihren familiären Verpflichtungen im Rahmen der mittelalterlichen Rechtssymbolik ableiten (Schulz 2008, S. 73 f., 185, 500 f.). Diese rechtlich-symbolische oder ›metonymische‹ Auffassung der erzählten Gestalt wird dabei grob mit der mittelalterlichen Anthropologie, in der weiteren historisch-narratologischen Modellbildung genauer der Typenbildung der Humoralpathologie einerseits und allgemeinen Kognitionsvorstellungen andererseits kurzgeschlossen, um die Mechanismen der kriegerischen Grundemotionen, insbesondere die des Zorns, zwischen Emotion und Reflexion beschreiben zu können (Schulz 2015, S. 29–43).

Beide Aspekte, Rollenhaftigkeit und historische Emotionalität und Kognition, werden schließlich vollends narratologisch im Sinne der strukturalen Semantik über eine aufsteigende Hierarchie der Begriffe von Aktant, Akteur und Figur gewichtet (Schulz 2015, S. 10–19). Dabei kommt es aber zu einer Verwirrung der Begriffe, weil zwar bei der praktischen Interpretation stillschweigend mit dem Konzept der Persona bei der Zuweisung der thematischen Rollen an die Figur operiert wird, für die theoretische Modellexplikation aber nur der alltagssprachliche Begriff Person als Gegenbegriff zur Figur zur Verfügung steht. So wird das semantische Modell gleich doppelt um seine Pointe verkürzt. Es erscheint als Hilfsmittel zur Analyse einer dargestellten Handlung, die in der Literatur als schematisierte Ansicht realen Handelns wiederkehrt (Bittner 2019, S. 25 f.). Und die Figur wird als künstliche, in ihre Rollenhaftigkeit reduzierte und pointierte Person verstanden, der nun erneut eine Psyche zugeschrieben werden könne (Dietl u. a. 2017, S. XI).

Dagegen ist nochmals, nun aber genauer festzuhalten (s. o.): Die strukturale Semantik, gerade wo sie auf dem Modell der Erzählaktanten aufruht, ist kein Beschreibungsmodell praktischen Handelns, sondern der dargestellten Handlung als semantischem Akt. Die Handlung stellt genauer eine Ganzheit dar, in der sich ein Spiel von Normen und Werten zeigt. Die Figur ist im Rahmen dieses Spiels gerade nicht die modern verstandene, mimetische Abstraktion einer Person und ihres Handelns, sondern oberhalb der abstrakten Ebene der Aktanten ein gestisches Objekt, eine konkrete Figuration der narrativen Darstellung, in der die Handlung konkret in Erscheinung tritt.

Dieses Objekt ist der Ort der thematischen Rollen, die durch das Spiel der Werte im Erzählen interpretiert werden. Die vorgängige Subjekt-Objekt-Dichotomie – im Aktantenmodell grundsätzlich schon auf der allgemeinsten Ebene der Aktanten als Basisopposition angesiedelt – wird in der Figur als dargestelltem Objekt der Handlung semantisch, und zwar je nachdem, ob Figuren als Objekte oder Subjekte der Handlung erscheinen und ob sie Werte darstellen oder sich zu attribuieren versuchen. Den Übergang der Figur vom Objekt- zum Subjektstatus und zurück kann man sich leicht klar machen, wenn man den zyklischen Wertetransfer, der nach dem Aktantenmodell der Geschichte zugrunde liegt, mit zwei einfachen Sätzen illustriert: (1) ›Der Werber entführt die Tochter des Königs‹. (2) ›Der König entführt die Braut des Werbers zurück.‹ Werber, König, Königstochter und Braut sind Figuren, die sich durch soziale Rollen konstituieren. Diese Figuren können sowohl Subjekt (1: Werber; 2: König) als auch Objekt (1: König; 2: Werber; 1 u. 2: Tochter/Braut) sein, wobei die Königstochter wiederum in ihrem Objektstatus unverändert bleibt, dafür in ihrer Rolle schwankt (Tochter/Braut). Nicht die Figur bestimmt demnach die Handlung, sondern die Handlung bestimmt die Figur.

Die objektivierte oder subjektivierte Figur der strukturalen Semantik wird damit im narrativen Aktantenmodell im Sinne einer dramatischen Persona behandelt, nur als deren narratives Gegenstück, in dem die Stimme der Persona durch die Figur als Geste ersetzt wird: Die Akteure mit ihren Axiologien führen in der Maske der Persona die Erzählung wie in dramatischen Akten mit verteilten Rollen auf, deren Gesamtheit als Mythos der Handlung gefasst wird. Die Figur ist so gesehen also keine Reduktionsform des alltäglich möglichen Handelns von Personen, sondern umgekehrt das narrative Objekt semantischer Komplexitätserzeugung und ihrer Interpretation. Praktisch will der Ansatz an der Personenidentifizierung auf genau diesen poetisch produktiven Zusammenhang hinaus, theoretisch wird der aktantielle Begriff der Figur aber unterlaufen.

In Wahrheit schlägt hier das Dilemma der Vorstellung von Person und Figur durch. Es kommt allerdings in der älteren Literatur selbst vor, nur wird es auch problematisiert und dargestellt: Modellhaft im Tristan Gottfrieds von Straßburg, wie Möllenbrink (2020) unter Bezug auf die narratologisch-kognitivistischen Positionen von Eder und Jannidis, d. h. der Berücksichtigung der Inferenz von Weltwissen bei der Wahrnehmung der literarischen Person/Figur ausführt (S. 84 f., 88). So zeigt sich am Beispiel des Tristan praktisch, dass bei der Interpretation der literarischen Figur nicht die Ebene des dargestellten Geschehens, sondern die der narrativen Komposition als Nullebene des Analysemodells zu gelten hat. Ausgehend vom Kompositionsprimat lässt sich das Verhältnis von Person und Figur als ein Oszillationsprozess zwischen künstlerischer (ebd. S. 121–131, 405, 407) und realistischer Konzeption der Person als Artefakt bestimmen: Der Begriff der literarischen Figur wäre für den Tristan demnach im Sinne der modernen Narratologie als der eines poetischen Objekts zu bestimmen, in dem die Vorstellung einer bloßen artifiziellen Überformung der Person zum Artefakt gerade metapoetisch kritisiert wird. Tristan stirbt schließlich nicht nur als zentrale Kunstperson, die nicht nur selbst durch einen Zeichenprozess maskiert und damit recht eigentlich erst erzeugt wurde, sondern die weitergehend diese Maskierung zur Kunstform erhoben hat, einen zeichenhaften Tod. Das Zeichen tötet so nicht einfach die Person unter der figürlichen Oberfläche, es hinterlässt die Frage, was je unter dieser Oberfläche der Zeichen gewesen ist.

Dass sich der Tristan auch genau umgekehrt, nämlich nicht als figürliche Maskierung der als real gedachten Person, sondern als Personifizierung der sprachlich als Zeichenspiel konzipierten Figur lesen lässt (Scheuer 1999, S. 414–424), ist damit auch aus dieser Sicht kaum abzuweisen. Nur bedarf es zur Austarierung beider Sichtweisen nicht nur des Begriffs der Person, sondern der Persona. Dann zeigt sich, dass beide Sichtweisen gerade keine Alternativen, sondern Teil des grundsätzlichen Bedingungsverhältnisses sind. Tristan spielt nicht nur sichtbar seine Rollen im Figurenhandeln aus, er verlebendigt sie pointiert als Sänger, ebenso wie das Objekt seiner Begierde, Isolde, von ihm zum Kunstobjekt erhoben wird, das seine vollkommene Wirkung erst im Gesang entfaltet. Die entsprechende Szene der Sängerin Isolde ist ein Musterbeispiel der medialen Korrelation von Persona und Figur: Als Isolde zu singen beginnt, wird ihr Bild durch ihre Stimme so schön, dass die Zuhörer den Blick nicht von ihr abwenden können. Die lyrische Schönheit Isoldes ist nicht die einer Person, die als schöne Figur erscheint, sondern die einer schönen Figur, die durch die Stimme als Persona interpretiert wird und damit zu einem lebendigen Bild wird, das schöner ist, als man es in einer Figurenbeschreibung fassen könnte. Die doppelte historische Medialität von Figura und Persona in Blick und Stimme wird hier paradigmatisch deutlich. Sie gilt nicht nur für Isolde, sondern für die Ästhetik des Tristan als Ganzes.

Mit einem vergleichbaren ästhetischen Anspruch wird dieses Verhältnis von Figur und Persona offensichtlich auch im Parzival Wolframs von Eschenbach durchgespielt, eine entsprechende, genauere Untersuchung wäre hier lohnend. Parzival wird schrittweise äußerlich als Figur konstituiert, wobei der Protagonist auf der Suche nach sich selbst ist, während ihm unablässig Figuren in einer zunehmend metaphorischen Diegese begegnen, zu deren Verständnis es gilt, die Figur durch die Persona zu bestimmen: Die äußere Erscheinungsweise der Figur wird erst verständlich, wenn man sie durch die Fragen zum Sprechen bringt. Dann zeigen sich die sichtbaren Figuren als irreführende Masken, die durch die Stimme, sei es die des Erzählers oder die der Figuren selbst, als Persona verständlich werden.

Zur Illustration des immer auch metaphorischen Oszillationsprozesses taucht letztlich der Bruder Parzivals als eine objektivierte Metapher der narrativen Poetik im Roman auf, die am Bildeffekt der Oszillation von Schwarz und Weiß im Flug der Elster, selbst als ageleistervar ist, also im Sinne des Prologs für das ›elsternfarbige‹ Erzählen steht. Feirefiz ist nicht nur als sichtbare Figur zugleich schwarz und weiß, er führt in Bezug auf seinen Bruder, d. h. sein konzeptionelles Gegenstück Parzival auch als konkretisierte Metapher den Oszillationsprozess von Figur und Persona vor Augen, die sich nur durch die Frage nach der Stimme verstehen lässt. Parzival erkennt seinen Bruder erst, als dieser zu sprechen beginnt.

Zur weiteren Beschreibung dieses Oszillationsprozesses zwischen Persona und Figura wäre der Vorschlag von Lena Zudrell (2020) zu einer historischen Narratologie der Figur wichtig, in dem der Begriff der Person nämlich skeptisch gemieden wird (64), um stattdessen die Figur über die paradoxe Korrelation von histoire und discours zu beschreiben, in der die Figur als Gestalt im Erzählten erscheint, das sie aber zugleich durch Handeln und Erzählen gestaltet (ebd. S. 219 f., 228). Zudrell betont erstmalig das, was man als die narrative Paradoxie der Figur bezeichnen könnte, d. h. den spezifisch narrativen Effekt ihrer dynamischen Verselbstständigung. Greifbar wird er, wenn der Ursprungsort der Figur noch entschiedener als bislang (Stock 2010, S. 191 f., 201; Philipowski 2013, S. 341 f.) auf der Diskursebene angesiedelt wird, zugleich als Minimalbestimmung der Figur im allgemeinsten Sinne die Erkenntnis- und Sprachfähigkeit angesetzt werden (Zudrell 2020, S. 39–42, 220), die eine (Selbst- )Reflexion des Verhältnisses von Innen und Außen ermöglichen. Dass diese Minimalbestimmung sich über die historische Medialität der Stimme der Persona pointierten lässt, sollte gezeigt werden.

Ein konkretes mentales Modell für das Innere der Figur ist dann verzichtbar, was das Risiko bannt, über die vermeintlich kognitivistische Begründung mit dem Postulat der »ästhetische(n) Simulation des Menschlichen« (Reuvekamp 2014, S. 114) in der Figur unversehens einen Avatar der modernen, personalisierten Subjektkategorie wieder in die historische Narratologie einzuführen. Dieser Subjektinferenz, die im Übrigen mit der Subjekt-Objekt-Dichotomie der strukturalen Semantik im Aktantenmodell wenig zu tun hat, widerspricht sehr konkret schon im Hochmittelalter für die Heldenepik deren stark rollenhafter und normativer Figuren-, bzw. besser: Persona-Konzeption, die das Konzept des mentalen Modells gleichsam aushöhlt (Lienert 2016, S. 71–75). Aber auch in der Verschiebung des Erzählens zu den späteren, frühneuzeitlichen Epistemen gilt: Gerade dort, wo – wie im anonymen Fortunatus – die Figuren für die modernen Kognitionsansätze als Träger von mentalen Modellen der Personen erscheinen, operieren die Erzähler begriffsgeschichtlich in der Frühen Neuzeit mit dem Konzept der Persona (zum Fortunatus bereits grundlegend, unter Explikation des Persona-Begriffs, Vogl 2011, S. 20–35, 177–185). Zugleich erzählt gerade der Fortunatus mit seiner neuen Erzählökonomie die Geschichte vom Verlust einer Axiologie, durch den sich die Vorstellungen des antiken ethos oder die der lateinisch-mittelalterlichen mores bereits auflösen, ohne dass schon ein moderner, dramatischer ›Charakter‹ gefunden wäre. Alle Akteure erscheinen daher entweder als orientierungslose Narren, berechnende Intriganten oder einfach als hoffnungslose Schurken: weil der Wert in dieser Diegese gerade noch keinen personalen Ort hat. Und wo dann die Persona in die Figur umkippt und die unsichtbare Grenze zwischen ihnen als der Ursprung ihrer Emergenz erkennbar wird (›/‹), offenbart Erzählen statt der axiologischen Transzendenz ein heilloses Nichts – und verweist so auf sein zentrales Desiderat. Narratologisch heißt das: Die Person bleibt hier gerade eine historische Leerstelle des Erzählens. Vielleicht deshalb ist die historisch narratologische Vermessung und Interpretation ihrer Vorgeschichte über die Kippfigur von Persona/Figur so reizvoll.

5 Zusammenfassung und Ausblick: Fünf Thesen zur Figur im Rahmen einer historischen Narratologie

Der hier vorstellte, sehr gedrängte Orientierungsversuch kann nur als vorläufige Skizze verstanden werden. Was in ihr angedeutet wurde, bleibt schon angesichts der breiten jüngeren historisch-narratologischen Diskussion in den Literaturnachweisen notgedrungen unvollständig und andeutend. Ebenso wäre eine genauere Überprüfung der Thesen an den historischen Einzelfällen des Erzählens wünschenswert. Daher muss es auch zur abschließenden Bilanzierung und Kontextualisierung des Gesagten bei einer thesenhaften Pointierung bleiben, die lediglich die Grundlinien des Gesagten widerzugeben versucht.

These 1:

›Person‹ ist ein moderner Alltagsbegriff, der durch seine wissenschaftliche Präzisierung und Kontextualisierung einen historisch spezifischen, d. h. diachron begrenzten, streng synchronen Aufschlusswert besitzt. Für die vormodernen Verhältnisse treffen seine Spezifikationen noch nicht, für die postmodernen nicht mehr zu. Ihn als allgemeine historisch-narratologische Ausgangsgröße anzusetzen, führt daher entweder zum Problem einer unangemessenen Begriffsübertragung oder aber zu einer antiterminologischen Rückkehr zum bloßen Alltagsverständnis. Als Grundbegriff von langer Dauer ist die Person daher historisch-narratologisch nicht verwendbar.

These 2:

Auch eine so extrem terminologiebewusste Forschungsrichtung wie die Narratologie weiß in ihren Modellen insgesamt mehr, als sie in ihren Einzelbegriffen sagen kann. In ihrem Begriffsoptimismus unterschätzt sie den Reichtum der eigenen sprachlichen Implikationen und ihrer Wechselspiele. So ist das lateinisch-rhetorische Konzept der Narratologie, das für den russischen Formalismus evident ist und in seiner modernen narratologischen Variante terminologisch später wieder eigens angezeigt wird, anhand des Figurenkonzepts ebenso folgenreich wie die dramentheoretische Herkunft erzähltheoretischer Grundbegriffe. Eine stärkere Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte, die sich zudem in unterschiedlichen Begriffstraditionen im französischen oder englischen Diskurs niederschlägt, ist inzwischen dringend erforderlich, weil in den deutschen Übersetzungen der einschlägigen theoretischen oder methodischen Angebote die dortigen rhetorischen oder dramatischen Begriffstraditionen nivelliert werden, umgekehrt aber auch die deutsche Narratologie, wenn sie sich englisch ausdrückt, traditionelle Valenzen ihrer Begriffe tilgt. Gerade der forcierte Terminologiegebrauch wird derart unterminologisch.

These 3:

Die Wortgeschichte ist für die literaturwissenschaftliche Begriffsgeschichte ein wichtiger Hinweisgeber, da sie jene praktischen Implikationen enthält, die theoretisch ausgeschieden werden. Hier heißt das: Figur und Persona erweisen sich als Begriffe der historischen Medialität. Sie implizieren die Medien von Blick und Stimme und führen diese im Bildkonzept ästhetisch zusammen. Die Wortgeschichte der Fremdworte wäre demnach historisch-narratologisch zu berücksichtigen, zumal die modere Narratologie für die Person das Verständnis des Fremdwortes der Persona ins Gegenteil verkehrt hat. Dies führt auf Seiten der Theoriebildung zu einem Wirklichkeitseffekt in der Betrachtung der Person, den es historisch so nicht gegeben hat.

These 4:

Im Rahmen der Erzählung und des Erzählens ist der Begriff der Figur nicht ohne den der Persona zu denken und umgekehrt. Beide bilden über den Angelpunkt der historischen Medialität eine Kippfigur, deren Oszillation als Gradmesser der narrativen Intensität dienen kann, mit der die Figur im Erzählen ästhetisch in Erscheinung tritt. Die Struktur der medialen Verbindung ist dabei wesentlich metaphorisch: Das Bild wird durch die Stimme, die Stimme wird durch das Bild ausgedrückt. Daraus ergibt sich eine Minimalbestimmung der Figur durch die Persona, die sich, der frühen, historischen Anregung von Matías Martínez zum Vexierbild folgend, neben dessen jüngere, moderne Bestimmung setzten lässt. Dort heißt es zur Figur: »Das einzige unerlässliche Merkmal ist wohl, dass man ihr Intentionalität, also mentale Zustände (Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten) zuschreiben können muss.« (Martínez 2011, S. 145). Historisch weniger voraussetzungsreich ist dagegen das Implikat der Stimme. Die Figur muss eine Stimme haben können, also auch Persona sein. Dies gilt auch hier nur als Implikation, die theoretisch einfacher ist als das komplexe, voraussetzungsreiche Konzept des Bewusstseins, dafür historisch gerade mehr Möglichkeiten lässt, weil die Stimme auf Bewusstes wie Unbewusstes, Kognition wie Emotion verweisen kann.

These 5:

Im Rahmen der historischen Narratologie sind Figuren als ästhetische Objekte zu konzipieren. Der Begriffsvorschlag des ›Artefakts‹ weist bereits in diese Richtung, geht man genauer vom Modell der Erzählaktanten aus, dann lässt sich diese These weiter bekräftigen. In den Oppositionsverhältnissen zwischen den Aktanten, die über Konflikte ausgetragen werden, stehen sich nicht nur Subjekte gegenüber, die sich Objekte aufgrund ihres Werts zu attribuieren versuchen. Aus der Sicht des Autors oder Erzählers sind alle Subjekte zuerst seine Objekte, ebenso wie Figuren, die in der Handlung von Subjekten instrumentalisiert werden, von diesen als Objekte angesehen werden. Figuren können damit nur deshalb zu Subjekten werden, weil sie zunächst Objekte waren. Sie letztlich als ästhetische Objekte zu behandeln, trägt dabei dem Oszillationseffekt zwischen Persona und Figur Rechnung, in dem sich mehr zeigt, als gesehen werden kann.

Was Wittgenstein angesichts der Kippfigur oder des Vexierbildes zunächst als Beobachtungsdilemma zwischen zwei Ansichten, dann aber als paradoxe Möglichkeit eines anderen Sehens, nämlich als »Aufleuchten des Aspekts«, das »halb ein Seherlebnis, halb ein Denken« sei (Wittgenstein 1984 [1922], S. 525), beschrieben hat, wird in der Korrelation von Persona und Figur, Stimme und Bild, immer schon ästhetisch ausgespielt. Zunächst sind Figuren nur ästhetische Objekte des Erzählers, wenn ihnen aber im Rahmen der kompositorischen Ganzheit der Handlung eine Subjektposition zugewiesen wird, beginnen auch Subjekt- und Objektstatus fortwährend zu changieren. Damit beginnt eine Dynamik, in der sich noch die Kippfigur der Figur/Persona als Begriff für eine poetologische Pointierung verstehen lässt, die selbst wiederum in ästhetische Offenheit umschlägt. Wenn man diesen Kippeffekt, in dem die mediale Metapher des Erzähltextes ästhetisch im narrativen Prozess wirksam wird, als eine Form des anderen Sehens bezeichnen möchte, dann wäre auch dies noch genauer im Zusammenhang der aktuellen, weitgespannten Bemühungen um eine andere Ästhetik der älteren Literatur (Braun/Gerok-Reiter 2019; Gerok-Reiter/Robert 2019) zu diskutieren, anhand der Frage: Müsste eine Figurentheorie des Erzählens nicht zuerst eine Theorie des ästhetischen Objekts sein?