1 Am Rand des legendarischen Erzählens

Was heißt legendarisches Erzählen? Dieser Fragekomplex war in den letzten Jahren erkenntnisleitend für eine Reihe von Untersuchungen zur geistlichen Epik des Mittelalters.Footnote 1 Seine literaturwissenschaftliche Attraktivität liegt auf der Hand: Er zielt auf eine historische Bestimmung des Erzählens ab und trifft damit in ein Zentrum literaturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen. Der vorliegende Aufsatz unternimmt den Versuch, vom Rand aus auf dieses Zentrum zu blicken und zur historischen Bestimmung des legendarischen Erzählens beizutragen, ohne über sein erzählerisches Moment zu sprechen. Es geht zum einen ganz buchstäblich um den Rand, nämlich um den Rand des Manuskripts, um das, was an den Rändern und in den Lücken eines historischen Überlieferungsträgers niedergeschrieben ist. Es geht zum anderen aber auch um das Verhältnis von materiellem und ideellem Rand, um Phänomene, die aus fachgeschichtlichen Gründen lange eher als randständig, als marginal betrachtet wurden, wie das Gebet, die Liturgie, die Andachtspraxis im weiteren Sinne.Footnote 2 Wo sich Spuren von Andachtspraxis im Randbereich eines erzählenden Textes zeigen, kann deren ideelle Randstellung, können fachgeschichtlich tradierte Muster des Erkennens mitunter verdecken, dass dieser Randbereich in ein kulturgeschichtliches Zentrum führt.

2 Zeilenfüllsel?

In der Handschrift Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 894 Helmst. ist in einem Faszikel aus dem Jahr 1449 eine Vita Elisabeths von Thüringen in mittelniederdeutscher Reimprosa überliefert,Footnote 3 die textgeschichtlich auf der sog. Reinhardsbrunner Rezension der lateinischen Vita Dietrichs von Apolda beruht.Footnote 4 Die Forschung hält keinen kompakten oder einheitlichen Titel für sie bereit, sie wird in der Regel schlicht als ReimprosalegendeFootnote 5 oder, etwa bei Martin Schubert, als »ein gelegentlich durch Reime geschmücktes Prosa-Elisabethleben«Footnote 6 charakterisiert. Der Codex 894 führt den Text unter dem Titel Sunte Elizabeten passie (vgl. Bl. 211r), den ich hier übernehme, weil ich mich ausschließlich auf diese Überlieferung beziehe. Die Fassung des Codex 894 weist eine Besonderheit auf, die bislang allein kodikologisch beobachtet wurde: Sie fügt an erzählerischen Abschnittsenden eine Vielzahl von Kleinzitaten mit überwiegend liturgischem und gebetspraktischem Charakter als sog. Zeilenfüllsel ein. Der Terminus ›Zeilenfüllsel‹ enthält nun bereits eine Interpretation dieser Textpartikel: Sie erfüllen demnach eine layouttechnische Funktion und dienen, wie es etwa in Karin Schneiders Einführung in die Paläographie und Handschriftenkunde heißt, dazu, »der Schriftseite ein kompaktes lückenloses Aussehen zu verleihen«.Footnote 7 In der Regel handelt es sich bei Zeilenfüllseln tatsächlich um nicht bedeutungstragende Ornamente, z. B. um Wellenlinien, wie sie teils auch im Codex 894 zu beobachten sind. Schneider weist allerdings auch darauf hin, dass »Zeilenfüllung durch rot eingetragene, nicht mit dem Text in Bezug stehende Worte« in Handschriften des 15. Jahrhunderts vereinzelt vorkomme.Footnote 8 In seiner Edition von 1959 hat Werner Stannat die Zeilenfüllsel der Elisabethvita im Codex 894 als Hinweise auf den geistlichen Stand des Schreibers Heinrich von Hanstein gelesen,Footnote 9 der sich im Elisabeth-Faszikel der Handschrift in einem Kolophon nennt:

»Der Schreiber der Handschrift, Heinrich von Hanstein, war gewiß geistlichen Standes. Schon die Wahl des Stoffes könnte darauf hinweisen. Latein beherrschte er gut, wie aus der Verwendung lateinischer Devisen zur Zeilenfüllung am Ende eines Kapitels ersichtlich ist. Am aufschlußreichsten in der Frage seines Standes ist vielleicht die Herkunft dieser Zeilenfüllsel. Es sind nämlich Sequenzanfänge wie ›Veni, sancte spiritus‹, ›Salve regina misericordiae‹ oder liturgische Stücke wie ›Gloria in excelsis‹ und ›Gloria tibi domine‹. Auch das Ave Maria wird gern zur Zeilenfüllung verwendet.«Footnote 10

Festzuhalten ist also, dass die Zeilenfüllsel für Stannat neben ihrer selbstverständlichen Layoutfunktion lediglich Aussagekraft für Stand und Bildung des Schreibers besitzen, ohne in einer Beziehung zu der legendarischen Erzählung zu stehen, von der sie umgeben sind. Stannat ist in den 1950er–Jahren unter dem Einfluss der Textkritik vor allem an Hypothesen über einen möglichen Archetyp interessiert, den er im niederdeutschen Raum verortet; eine These, die Martin Schubert auf der Grundlage neuerer Befunde aus dem mitteldeutschen, oberdeutschen und ripuarischen Raum zu Recht in Frage gestellt hat.Footnote 11 Die Zeilenfüllsel tragen zur Rekonstruktion eines Archetypen naturgemäß nichts bei, sie sind als Schreiberzutat und vermeintlicher Buchschmuck reine Akzidentien des Werkes – sie bleiben Ornamente, auch wenn es sich um semantische Ornamente handelt.

Demgegenüber möchte ich nach produktions-, vor allem aber nach rezeptionspragmatischen Funktionen der Zeilenfüllsel fragen, die über das hinausweisen, was der Begriff impliziert. Meine Überlegungen beruhen auf materialphilologischen Annahmen, d. h. sie gehen davon aus, dass es gewinnbringend ist, den Text im vorliegenden Fall nicht von der materiellen Gestalt seiner Überlieferung zu abstrahieren, weil diese maßgeblich zum historischen Sinnbildungsprozess beiträgt.Footnote 12 Diese Entscheidung geht auf Kosten eines ideellen Werkbegriffs bzw. sie materialisiert ihn, sofern das möglich ist. In diesem Sinne betont etwa Martin Baisch, dass die Anerkennung der Singularität der Handschrift eine Auffassung von mittelalterlicher Textualität mit sich bringt, die »den Codex als Werk versteht«;Footnote 13 eine Auffassung also, die den Werkbegriff gewissermaßen von der Idealität seines Ursprungs in der Intention eines Autors ablöst und es erlaubt, die materielle Ebene der Handschrift sowie Bedingungen ihrer Herstellung und ihres historischen Gebrauchs in den Blick zu nehmen.

In einem ersten Schritt ordne ich Sunte Elizabeten passie knapp in den Kontext der Handschrift ein, um in einem zweiten Schritt die Zeilenfüllsel inhaltlich und im Hinblick auf produktionsseitige Aspekte zu charakterisieren. In einem dritten Schritt ist nach rezeptionspragmatischen Funktionen einer Auswahl von Zeilenfüllseln zu fragen. Abschließend beziehe ich meine Beobachtungen auf Diskussionszusammenhänge der jüngeren Forschung, insbesondere zum Verhältnis von Legendarik und Liturgie.

3 Zur Handschrift

Der primäre Rezeptionsort des Codex 894, dessen Einband sich einer Braunschweiger Werkstatt zuordnen lässt,Footnote 14 ist noch ungeklärt. Heinrich Rüthing hatte zunächst das Zisterzienserinnenkloster Wöltingerode angenommen,Footnote 15 die jüngere Forschung geht hingegen von den niedersächsischen Chorfrauenstiften Marienberg oder Heiningen aus. Diese Annahmen beruhen auf einem etwas eigentümlichen, bibliotheksgeschichtlich bedingten Schlussverfahren: Laut einer von Antonella Calaresu zitierten Auskunft Bertram Lessers ist die Handschrift vermutlich 1572 mit zahlreichen anderen Beständen aus niedersächsischen Klosterbibliotheken nach Wolfenbüttel überführt worden. Sämtliche dieser Bestände trügen Ankunftsvermerke, mit Ausnahme derjenigen aus Marienberg und Heiningen. Weil der Codex 894 nun keinen solchen Vermerk trägt, sei die Wahrscheinlichkeit seiner Herkunft aus Marienberg oder Heiningen hoch.Footnote 16

Die Handschrift besteht aus insgesamt drei Faszikeln, von denen der hier im Zentrum stehende dritte die Elisabethlegende in mittelniederdeutscher Reimprosa enthält. An weiterer geistlicher Epik sind zudem eine von Calaresu beschriebene Maria-Magdalena-Legende im ersten Faszikel und Bruder Philipps Marienleben im zweiten Faszikel zu nennen.Footnote 17 Für den marianischen Schwerpunkt der Handschrift steht auch die Paarreimdichtung Unser vrouwen klage im ersten Faszikel,Footnote 18 zudem ist dort ein ausgeprägtes Interesse für Tugend- und Lasterthematik zu beobachten.Footnote 19 Der dritte Faszikel enthält außer der Elisabethlegende noch einen Tagzeitentext zum Leiden Christi, der dem Großen Seelentrost entnommen ist,Footnote 20 worauf noch einmal zurückzukommen sein wird. Wie aus dem Kolophon des dritten Faszikels hervorgeht, wurde dessen Niederschrift 1449 vom bereits genannten Schreiber Heinrich von Hanstein abgeschlossen.Footnote 21 Die übrigen Faszikel stammen von unterschiedlichen anderen Händen und lassen sich mithilfe ihrer Wasserzeichen in die Zeit zwischen ca. 1445 und 1450 datieren.Footnote 22

4 Charakteristik der Zeilenfüllsel

An den Abschnittsenden des Elisabeth-Textes finden sich neben ornamentalen Wellenlinien insgesamt 38 semantische Zeilenfüllsel, sämtlich Rubra, die inhaltlich schwerpunktmäßig auf Maria und Christus bezogen sind.Footnote 23 In Tab. 1 sind diese Zeilenfüllsel in arabischen Ziffern durchnummeriert. In römischer Nummerierung aufgenommen sind Abschnittsenden, die mit einer gebetshaften Wendung oder einer Akklamation enden, ohne formal in die Position eines Zeilenfüllsels zu rücken. Nachweise zitierter oder anklingender Bibelstellen, Sprichwörter, Sentenzen und anderer Texte finden sich in den Anmerkungen; für Referenzierungen der Gesänge s. Tab. 2.

Tab. 1: Zeilenfüllsel und Abschnittsenden

Zeilenfüllsel und Abschnittsenden

  1. 1.

    Bl. 212r: ach leue ma(r)ia

  2. 2.

    Bl. 214r: ach ma(r)ia

  3. 3.

    Bl. 215v: Gl(ori)a in excelsiß

  4. 4.

    Bl. 217r: Ihesuß ma(r)ien kint

  5. 5.

    Bl. 219v: Elemosina distingwit [lies: extinguit?]Footnote 24

  6. 6.

    Bl. 220v: aue maria

  7. 7.

    Bl. 221r: gratia plena

  8. 8.

    Bl. 222r: Ihesuß cristus

  9. 9.

    Bl. 222v: I n r i

  10. 10.

    Bl. 223r: O ma(r)ia

  11. 11.

    Bl. 223v: O ma(r)ia floß virginu(m)

  12. I.

    Bl. 224r: deß helpe vnß god dor syne(n) heylige(n) doth amen

  13. 12.

    Bl. 225r: amor vincit o(mn)iaFootnote 25

  14. II.

    Bl. 227v: des helpe vnß god vnse here amen

  15. 13.

    Bl. 229v: veni sancte spi(ri)tus

  16. III.

    Bl. 230v: deß helpe vnß god ame(n)

  17. 14.

    Bl. 232r: Ihesuß cristus

  18. 15.

    Bl. 235r: Salue regina mi(sericordi)e

  19. 16.

    Bl. 235v: ach leue god van | amor

  20. 17.

    Bl. 237v: O ma(r)ia floß virginu(m)

  21. 18.

    Bl. 239r: ach me dignare

  22. 19.

    Bl. 239v: aue regina celor(um) mater regiß

  23. 20.

    Bl. 241r: I n r i

  24. 21.

    Bl. 242v: Criste fili dei viui

  25. 22.

    Bl. 243v: Maria virgo semper

  26. 23.

    Bl. 244r: In ecc(les)ia noli m(ur)mura(r)eFootnote 26

  27. 24.

    Bl. 244v: Morß nulli percit

  28. 25.

    Bl. 245r: O ma(r)ia floß virg(inum)

  29. 26.

    Bl. 245v: Gloria tibi domi(n)e

  30. 27.

    Bl. 246r: Crist(us[?]) ma(r)ien

  31. 28.

    Bl. 246v: Aue ma(r)ia

  32. 29.

    Bl. 247r: [Abschnittsende:] des helpe vnß de vader vnde de sone vnde de heylge geyst [Zeilenfüllsel:] amen dat gheschey

  33. 30.

    Bl. 248v: Salue regina mi(sericordi)e

  34. 31.

    Bl. 249r: Dilige deum ex toto corde

  35. 32.

    Bl. 249v: fuge luxuriam

  36. IV.

    Bl. 250r: Aue ma(r)ia

  37. 33.

    Bl. 250v: alle de dat horen vnde lesen de solen dar an gedenken wo se ereme bilde volgeden an eyneme guden leuende amen

  38. 34.

    Bl. 251r: Ama parenteß

  39. 35.

    Bl. 252r: Amo deu(m)

  40. 36.

    Bl. 252v: Virgo ma(r)ia

  41. 37.

    Bl. 253r: I n r i

  42. 38.

    Bl. 253v: Ih(es)uß cristus

  43. V.

    Bl. 254r: God de sy gelouet nu vnde iumbermere amen an godeß name(n) amen

Die Zeilenfüllsel lassen sich aus verschiedenen Gründen nicht trennscharf kategorisieren. Die Kürze der Textpartikel führt dazu, dass in einigen Fällen nicht vom Wortlaut aus entscheidbar ist, ob etwa Namen und Epitheta (z. B. Nr. 4: Ihesuß ma[r]ien kint) wie Invokationen aufzufassen sind (z. B. Nr. 1: ach leue ma[r]ia) oder ob kurze Invokationen (z. B. Nr. 10: O ma[r]ia) zugleich als Kleinzitate etwa aus Gesängen (wie z. B. Nr. 11: O ma[r]ia floß virginu[m]) fungieren. Zudem bleibt offen, ob Invokationen als Initien nicht verschriftlichter Folgegebete dienen. Die Kürze bedingt auch, dass sich bestimmte Textinitien vom Wortlaut aus nicht eindeutig zuordnen lassen: So sind etwa eine Reihe von Gesängen mit dem Incipit veni sancte spi(ri)tus (Nr. 13) bekannt (s. auch Tab. 1, Nr. 4); selbst das Gl(ori)a in excelsiß (Nr. 3) begegnet nicht nur als Incipit des bekannten Messgesangs, sondern auch als Incipit sowie im Textinneren von Antiphonen;Footnote 27 das Gloria tibi domi(n)e (Nr. 26) ist als Doxologie und als Initium doxologischer Schlussstrophen von HymnenFootnote 28 weit verbreitet; ach me dignare (Tab. 1, Nr. 18) könnte als Kleinzitat aus dem Lied O Maria mater Christi aufgefasst werden,Footnote 29 ohne dass dies zwingend ist. Diese Beispiele führen vor Augen, warum der Versuch einer positivistischen Auswertung der Zeilenfüllsel bereits bei der recht einfach erscheinenden Frage an eine Grenze gerät, wie oft etwa welche Gesänge zitiert werden. Dies vorangestellt, enthielte ein Suchraster für eine Kategorisierung der Zeilenfüllsel Invokationen (z. B. Tab. 1, Nr. 1), Namen (z. B. Tab. 1, Nr. 8) und Epitheta (z. B. Tab. 1, Nr. 4; Nr. 9 [Kreuzestitel]), Gebetsinitien (z. B. Tab. 1, Nr. 2; Nr. 28; Nr. 33), Initien oder Kleinzitate aus liturgischen Gesängen (Antiphonen, Hymnen, Sequenzen, Responsorien [s. Tab. 2]), möglicherweise auch aus Liedern (Nr. 18), und paränetische Sprüche oder Ermahnungen, die teilweise auf schulische Wissenszusammenhänge (Schülerregeln; Disticha Catonis [s. Anm. 26; 29]) verweisen (z. B. Tab. 1, Nr. 23; 24; 32; 34).

Als Incipits oder Kleinzitate aus liturgischen Gesängen oder Liedern kommen 13 der Zeilenfüllsel in Betracht, wobei eine klare Identifikation aus den oben genannten Gründen vom Wortlaut aus nur in einigen Fällen möglich ist; in anderen Fällen legt der legendarische Kontext bestimmte Deutungen nahe.Footnote 30 Auf mögliche Unschärfen in den Zuordnungen wird in der folgenden Tabelle (Tab. 2) durch ein eingeklammertes Fragezeichen hingewiesen. Die ermittelten Gesänge werden über die Analecta Hymnica,Footnote 31 das Repertorium Hymnologicum (Chevalier)Footnote 32 sowie die Cantus-Index-DatenbankFootnote 33 referenziert. Initien besonders populärer Gesänge werden gegenüber möglichen Zitaten aus dem Textinneren anderer Gesänge bevorzugt (z. B. Tab. 2, Nr. 1).

Tab. 2 Liturgische Gesänge

Auf der Ebene der Textproduktion öffnen die Zeilenfüllsel den Blick auf einen intertextuellen und intermedialen Resonanzraum liturgischer, gebetspraktischer und paränetischer Referenzen, die teils vom unmittelbaren Kontext der Elisabeth-Vita angeregt worden zu sein scheinen, teils einer eigenen Logik folgen. Einen klaren Kontextbezug weist etwa Tab. 1, Nr. 24 (Morß nulli percit) auf, das als gnomischer Kommentar zum sich ankündigenden Tod isabeths dient.Footnote 34 Auch Tab. 1, Nr. 3 (Gl[ori]a in excelsiß) ist eng auf die Handlung bezogen und geht einem Messbesuch Elisabeths unmittelbar voraus.Footnote 35 Dagegen lassen sich etwa die konsekutiven Textpartikel Tab. 1, Nr. 6 (aue maria) und Tab. 1, Nr. 7 (gratia plena) sowie Tab. 1, Nr. 10 (O ma[r]ia) und Nr. 11 (O ma[r]ia floß virginu[m]) aus Folgeassoziationen beim Schreibprozess erklären. Eine strenge Regelhaftigkeit des Textbezugs ergibt sich im Ganzen nicht, doch gerade darin liegt auch ein Reiz für die historische Betrachtung: Die Zeilenfüllsel erwecken den Eindruck produktionsseitiger Spontaneität. Vom Vitentext angeregte Assoziationen werden aufgegriffen, sofern sie passend sind, aber nicht systematisch gesucht. Deutlich wird, dass der Assoziationsraum der Vita durch Liturgie und Andachtspraxis bestimmt ist: Basisgebete wie das Ave Maria oder populäre Gesänge wie die marianischen Antiphonen Ave regina caelorum und das Salve reginaFootnote 36 sind dem Schreiber im Kontext seiner legendarischen Textproduktion präsent, sie scheinen sich bei der Finalisierung der Elisabethvita gewissermaßen ›einzustellen‹.

In der Forschung sind vergleichbare Assoziationsräume von Schreibern bislang vor allem mit Blick auf Federproben beschrieben worden, insbesondere von solchen, die sich auf kanonisierte Texte der höfischen Literatur beziehen. So hat Kurt Gärtner dazu angeregt, literarische Federproben zusammenzutragen, um »unsere Vorstellungen von der Präsenz mittelalterlicher Dichtungen in den Skriptorien oder den Köpfen der Schreiber zu erweitern.«Footnote 37 Anders als Federproben, die, wie Karin Schneider bemerkt, »mit dem Text in keinerlei Beziehung stehen und das betreffende Buch lediglich als Beschreibstoff nutzen«,Footnote 38 sind die semantischen Zeilenfüllsel in Sunte Elizabeten passie vom Text, der sie umgibt, nicht ablösbar. Zeilenfüllsel gehören selbst bei ornamentaler Gestaltung noch zur mise en page und steuern daher in jedem Fall in gewisser Weise die Rezeption – und sei es nur, indem sie für einen ausgeglichenen Schriftspiegel sorgen und damit einen Eindruck von Abgeschlossenheit erzeugen. In Sunte Elizabeten passie spricht vieles dafür, dass die Zeilenfüllsel deutlich darüber hinausgehende Wirkungen ausüben konnten. Die These lautet daher, dass sie nicht nur das Layout oder den Referenzhorizont des Schreibers betreffen, sondern dass sie aussagekräftig auch für die Rezeptionspragmatik der Reimprosalegende sind: Inseriert an erzählerischen Zäsuren und gebunden an die Absatzgliederung des Textes,Footnote 39 nutzen sie die Unterbrechung, die Pause im Handlungsfortgang, um die Lektüre mit liturgischen Semantiken anzureichern, sie interrituell zu vernetzen oder in konkrete Frömmigkeitsvollzüge einmünden zu lassen.

5 Rezeptionspragmatische Aspekte

Ein zunächst eingängiges Beispiel, das diese Funktionen der Zeilenfüllsel nahelegt, bildet das Gebetsinitium Ave Maria (Abb. 1), das sich an drei der Abschnittsenden findet (s. Tab. 1, Nr. 6; 28; 33). In der Gebetbuchliteratur des Spätmittelalters ist es überaus üblich, dieses Initium am Ende eines Abschnitts, teils auch in der formalen Position eines Zeilenfüllsels einzufügen, um zum Beten eines Ave Maria aufzufordern, etwa als Abschluss eines anderweitig ausformulierten Gebets- oder Meditationstextes. Abb. 2 zeigt ein solches Beispiel aus dem norddeutschen Raum.Footnote 40 Auch hier befindet sich das Rubrum pater noster Aue maria in der formalen Position eines Zeilenfüllsels, ist aber klar als pragmatische Anweisung zu verstehen. Auch die Ave Maria am Ende eines Erzählabschnitts erhalten vor diesem Hintergrund den Charakter einer Andachtsanweisung, die dazu anregt, die Lektüreeinheit mit einem der mittelalterlichen Basisgebete abzuschließen.Footnote 41

Abb. 1
figure 1

Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. 894 Helmst., Bl. 220v. CC BY-SA 4.0

Abb. 2
figure 2

Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. conv. 3, Bl. 22r. CC BY-SA 4.0

Aufforderungen zum Andachtsvollzug sind Sunte Elizabeten passie auch sonst nicht fremd. So findet sich z. B. in der Beschreibung eines Trauerzugs für Elisabeths Ehemann Ludwig IV., der während einer Kreuzzugsunternehmung stirbt, handlungsintern die Aufforderung an die Rezipierenden, ein Pater noster zu beten: De dat ivmber hore de spreke eyn pater n(oste)r gode to loue vnde to eren vnde alle den hulpeden zelen de dar in der bedevart ware(n) (Bl. 228v). Zudem enden vier Erzählabschnitte sowie der Textschluss mit einem kurzen Bittgebet, einer Ermahnung oder einem Gottespreis, die durch die Akklamation Amen zu bekräftigen sind (s. Tab. 1, Nr. I–V; 29). Eines dieser Beispiele schließt sich an den Tod Ludwigs an: alduß vor de salige pelgrim von desseme liue(n) to deme ewigen dar he vorwan alle syne noth also mote we alle deß helpe vnß god dor syne(n) heylige(n) doth amen (Bl. 224r). Auch hier schließen die Lektüreeinheiten also in teils gebetshafter Weise. Die Grenzen zwischen Haupttext und dem sog. Zeilenfüllsel sind dabei fließend: Während das Amen in vier Fällen, wie im zitierten Beispiel, durch eine rote Unterstreichung im Haupttext hervorgehoben ist, rückt es in einem Fall als Rubrum amen dat gheschey (s. Tab. 1, Nr. 29) im Layout in die Position eines Zeilenfüllsels, ohne dass es sich funktional von den übrigen Fällen unterscheidet.

Die Gebetsinitien am Abschnittsende lassen sich nicht zuletzt mit der verbreiteten Praxis legendarischer Schlussgebete in Beziehung setzen, auf die zuletzt Kathrin Chlench-Priber kursorisch am Beispiel von Der Heiligen Leben aufmerksam gemacht hat; sie lässt sich seit Ende des 13. Jahrhunderts bereits im Passional, teils auch im Väterbuch oder im Märterbuch beobachten.Footnote 42 Zahlreiche weitere Beispiele lassen sich der materialreichen Arbeit zum Dichtergebet von Christian Thelen entnehmen.Footnote 43

Ähnlich wie beim zitierten Pater noster kann das Beten eines Ave Maria im Anschluss an einen Textabschnitt als Würdigung des vorangehenden Inhalts verstanden werden und zugleich seiner subjektiven Aneignung dienen. Es fördert eine andächtige Rezeptionshaltung und erweitert die Kommunikationssituation auf die des Gebetes,Footnote 44 sodass in die Rezeption der Legende auch jenseitige Instanzen einbezogen werden; ein Umstand, der mit geläufigen Modellen literarischer Kommunikation bislang kaum greifbar ist. Darauf hat auch jüngst Elke Koch in ihrem Beitrag zum ›fidealen Erzählen‹ hingewiesen, wenn sie etwa feststellt, dass Invokationen oder Gebete im hagiographischen Kontext nicht einfach als narrative Metalepsen aufzufassen sind:

»Oft machen legendarische Texte die jenseitige Existenzweise ihrer Protagonisten explizit, indem sie eine Anrufung an die oder den Heiligen beinhalten oder die Rezipienten zu ihrer oder seiner Verehrung mahnen. Solche Elemente sind daher keine Metalepsen, sondern verankern den Umstand, dass der Text nicht nur auf eine irdische Realität referiert, sondern über deren Grenzen hinaus, im Text selbst. Für Invokationen und ähnliche Sprechakte, die aus der Diegese heraus oder an ihren Rändern auf die Heiligen als Heilsmittler zugreifen, lassen sich beliebig viele Beispiele aus der Legendarik beibringen.«Footnote 45

Besonders ausgeprägt ist diese Kommunikationssituation in einem Gebetstypus, für den Nigel Palmer den Terminus ›Legendengebet‹ vorgeschlagen hat, und den er auf lateinische Gebete des Basler Kartäusers Heinrich Arnoldi zurückführt.Footnote 46 Hier wenden sich die Rezipierenden in umfangreichen narrativen Apostrophen an die Heiligen, um ihnen betend und meditierend deren Legende zu erzählen und die erzählten Episoden für das eigene Heil fruchtbar zu machen; ein Phänomen, dem sich auch die Dissertation von Verena Spohn widmet.Footnote 47

Entscheidend ist, dass die Sinndimensionen der Legende sich nicht im legendarischen Erzählen erschöpfen: An die Erzählung lagern sich im Fall von Sunte Elizabeten passie ganz augenfällig Praktiken an, die über den Akt des Erzählens selbst hinausgehen.

Die Incipits und Zitate aus liturgischen Gesängen weisen in eine ähnliche Richtung. Dass volkssprachliches legendarisches Erzählen eng mit liturgischen Gesängen vernetzt sein kann, hat etwa Martin Schubert am Beispiel einer Reihe von Zitaten und Übersetzungen aus dem Passional herausgearbeitet. Im Unterschied zur hier untersuchten Reimprosalegende handelt es sich jedoch überwiegend um handlungsinterne Gesänge, etwa wenn Maria im Marienleben des Passionals das Magnificat spricht.Footnote 48 Die Gesänge in den Zeilenfüllseln von Sunte Elizabeten passie hingegen führen aus der erzählten Welt hinaus und verweisen auf unterschiedliche liturgische oder paraliturgische Kontexte, die für die Deutung ihres legendarischen Funktionszusammenhangs rekonstruiert werden müssten. Fragen, die sich hier stellen, können am Beispiel des Veni sancte spiritus-Zitats (Tab. 1, Nr. 13; Tab. 2, Nr. 4) veranschaulicht werden.

Einen Deutungsvorschlag für dieses Zeilenfüllsel zu finden, ist schon deswegen nicht ganz einfach, weil, wie bereits erwähnt, eine Reihe von Texten mit dem Incipit Veni sancte spiritus überliefert sind.Footnote 49 Zwei von ihnen sind besonders weit verbreitet, nämlich die häufig Stephen Langton zugeschriebene Sequenz Veni sancte spiritus (et emitte caelitus) und die Antiphon Veni sancte spiritus (reple tuorum corda fidelium).Footnote 50 Beide stehen im Zusammenhang mit der Pfingstliturgie. Für die deutlich kürzere Antiphon ist allerdings auch vielfach ein außerliturgischer Gebrauch bezeugt. Franz Josef Worstbrock etwa spricht von einem »frei verwendbare[n] Anrufungsgebet«, das »wiederkehrender Bestandteil zahlreicher Gebetssammlungen und Andachtsbücher« war.Footnote 51 Mit Blick auf den Rezeptionshorizont der Legende scheint das Incipit am ehesten diese Antiphon zu evozieren. Ihr Text lautet:

Veni sancte spiritus,

reple tuorum corda fidelium

et tui amoris in eis ignem accende.

Qui per diversitatem linguarum cunctarum

gentes in unitatem fidei congregasti.

Halleluia, Halleluia.Footnote 52

Dass bestimmte Gesänge liturgischen Ursprungs im Spätmittelalter ins frei verfügbare Repertoire der Frömmigkeitspraxis eingehen, ist vielfach belegt. Lydia Wegener hat dies am Beispiel der Antiphon Salve regina nachgezeichnet, die auch zwei Mal in den Zeilenfüllseln der Reimprosalegende zitiert wird (s. Tab. 1, Nr. 15; 30; Tab. 2, Nr. 5; 13). Das Salve regina gehörte ähnlich wie das Pater noster oder das Ave Maria zum Grundbestand der mittelalterlichen Gebetskultur, zu den »jederzeit verfügbaren, keine besondere Vorbereitung erfordernden Grundinstrumentari[en].«Footnote 53 Ein ähnlich verfügbarer Status sowie ein konkreter Gebrauchszusammenhang, der für die Reimprosalegende interessant sein könnte, lässt sich für die Antiphon Veni sancte spiritus aus der zeitgenössischen Andachtsliteratur heraus belegen. So stellt Bertholds Zeitglöcklein des Lebens und Leidens Christi, ein populäres Gebetbuch des ausgehenden 15. Jahrhunderts (Erstdruck um 1491),Footnote 54 die Antiphon als eines von mehreren Gebetsmodulen zur Auswahl, die am Beginn eines Frömmigkeitsvollzugs für eine andächtige Haltung sorgen können:

Den ettlich bruchend den anhab/als die heilige christenheit im anfang yeglicher siben tagzitten pfligt ze bruchen. Nemlich/Deus in adiutoriu(m) meum intende/Domine ad adiuuandu(m) me festina Gloria patri et filio et spiritui sancto Sicut erat in principio et nu(n)c et semper et in secula seculoru(m)/Amen/Alleluia. Ettlich spreche(n)d die antiffen vom heilige(n) geist/Veni sancte spiritus reple tuoru(m) corda fideliu(m) et tui amoris in eis igne(m) acce(n)de. Das lutet also. kum heiliger geist füll die hertzen diner gloͤibige(n) vn(d) zünd in inen an dz fhür diner liebe. Ettlich das pater noster/Aue maria/vnd des glichenn mit anrüffung vmb gnad des sich ettlicher benügen laszt für eyn anhabe Den(n) gott der herr gibt gnad vn(d) andacht dene(n) die darumb bittend mit demütigem hertze(n).Footnote 55

Die Antiphon Veni sancte spiritus fungiert hier als Gebet, das das andächtige Subjekt für einen umfangreicheren Frömmigkeitsvollzug buchstäblich aufwärmt: Im Text heißt es ja ausdrücklich, der Heilige Geist solle das Feuer seiner Liebe in den Gläubigen entfachen. Wenn der Gebrauch der Antiphon am Anfang eines Frömmigkeitsvollzugs üblich ist, so ließe sich das Zeilenfüllsel vor allem als Gebetsanweisung für den Beginn einer Lektüreeinheit deuten. Es wäre ein Hinweis auf mögliche Techniken, mit denen die Lesenden vor Beginn der Lektüre in eine andächtige Haltung zu finden versuchen. Von hier aus wäre zu überdenken, ob die bereits angesprochenen Ave-Maria-Zeilenfüllsel nicht auch in beide Richtungen verweisen könnten, in die eines abschließenden und die eines initiierenden Gebets, denn auch letzteres ist ja im Zeitglöcklein beschrieben.

Die Unklarheiten bei der Identifikation von Gesängen oder anderen Textpartikeln, die in vielfältigen Zusammenhängen verbreitet sind, legen es methodisch insgesamt nahe, weniger nach Festschreibungen zu suchen, als nach den Potenzialen zu fragen, die in ihnen angelegt sind. Auf einen vergleichsweise festen liturgischen Ort verweist allerdings das Zeilenfüllsel Gl(ori)a in excelsiß (s. Tab. 1, Nr. 3), das sich als Textanfang des Gloria deuten lässt, das zum Ordinarium missae, also zu den im Kirchenjahr gleichbleibenden Teilen der Messfeier, gehört. Es ist sinnfällig direkt vor der Schilderung eines Messbesuchs Elisabeths eingefügt. Dieser Messbesuch rekurriert auf ein Motiv, das die Vita immer wieder aufgreift: das der repräsentativen höfischen Kleidung im Kontrast zum nackten und leidenden Christus. Elisabeth, die als ungarische Königstochter am thüringischen Landgrafenhof zur Regierungszeit Hermanns I. aufwächst, symbolisiert ihre Christusnachfolge, indem sie immer wieder ihre prunkvolle Kleidung ablegt. Diese Motivreihe der Selbstdevestitur hat Caroline Emmelius an Dietrichs von Apolda lateinischer Vita herausgearbeitet, die Sunte Elizabeten passie textgeschichtlich zugrundeliegt.Footnote 56 Nach dem Gloria-Zitat kommt die Kleiderthematik wie folgt zur Sprache:

Et was in eyner tid dat de vrowe here von der borch solde [...] here neder gan to der missen mit erer sweyr vnde mit andere(n) vrowen vele Se waß sere geciret mit golde vnde mit edelme gesmide Do se solde in de kerken gan · Do sach se eren scheppere in deme cruce stan · naket vnde bloth vnde vo(n) blode bernende roth Se begvnde sere in ere herte kere(n) vnde bedencke(n) dat se were asche vnd stoff vnde stvnde dar mit golde vnd mit siden behangen alse se eyn godynne we(re) Dar vo(n) quam se in also groten angest vn(de) begvnden ere de luft to wegen veyen vn(de) wywater vnder dat antlate sprenge(n) Do gaff ere god to bekennende wo se al er leuent solde setten an welker mate se solde ton vnd ouer late de cledere der se van koningliker ere io nicht vmberen mochte we se de solde hauen vnd tragen dat se to der sele ne weren neyn schade (Bl. 216r).

Wie bereits bei Dietrich spiegelt die Szene eine frühere Episode, in der Elisabeth beim Besuch der Messe ihren Kopfschmuck ablegt.Footnote 57 Dort heißt es mit ganz ähnlichen Formulierungen:

do sach se · Dat got aller werlde here an dem(e) cruce hangede mit so man(n)iger pine vnde smaheit waß vmbe vangen se na(m) de crone van deme houede vnde legede se nedder vp de erde Se begunde sere to wenende vnde dencke(n) wat se were wen eyn stoff vnde erde vnd solde den worme(n) tho eyner spise werden vnde se were geciret sere mit golde vnd mit eddelen steynen vnde he hangede an dem(e) cruce naket vnde blote (Bl. 213r).

Das Gloria-Zitat im Zeilenfüllsel vor der zweiten Episode korrespondiert mit diesen Szenen über den situativen Kontext: Es verweist auf den gottesdienstlichen Zusammenhang der Messe, in dem sich Elisabeths Selbstdevestituren auf Handlungsebene abspielen und verknüpft die erzählte Handlung mit einem markanten Punkt in der Messliturgie. Dass von den Engeln in der Weihnachtsgeschichte zur Verherrlichung Gottes angestimmte Gloria (vgl. Lk 2,14) tritt damit in einen prägnanten thematischen Kontrast zur vana gloria, die durch eine prunkvolle Kleidung zum Ausdruck kommt.

Diese Verknüpfung von legendarisch dargestellter Handlung und liturgischem Ritus lässt sich vor dem Hintergrund der mittelniederdeutschen katechetischen Literatur vielleicht noch konkreter ausdeuten. Eine auffällige Parallele findet sich im Großen Seelentrost. In einem Abschnitt zur Messerklärung, der sich u. a. dem Gesang des Gloria in excelsis widmet, ihn übersetzt und historisch herleitet, beruft sich der Seelentrost auf Elisabeth von Thüringen als vorbildliche Gottesdienstbesucherin. Anlass ist die Vermittlung einer detaillierten Regie körperlicher Haltungen und Gesten während der Messe. Um den Zusammenhang deutlich zu machen, zitiere ich etwas ausführlicher einen Passus, der mit dem Ende der Erklärung des Gloria einsetzt:

[...] Dijt Gloria in excelsis nemoste to dem ersten male neyn man beghynnen sunder allene der bisschoppe. Dar na quam eyn pawes, de hette Symachus, de sach an de werdicheit des presteres, dat se god getogen heft bouen de engele, in deme dat se synen licham benedien; des en mach en engel nicht don. Darumme satte he, dat alle prestere begynnen mogen dat Gloria in excelsis. – Dar na volget Dominus vobiscum, so schaltu stan. Wan men de Collecten lest, so machstu liggen ouer de bank, oftu wult. Wan men sprekt: Per dominum nostrum Ihesum Christum, so schaltu vallen vppe dyne kne. Wan men de Epistolen lest, so machstu sitten oftu wult. Wan men singet dat Gradual na der Epistolen, so machstu sitten oftu wult. Wan men singet dat Alleluia, so machstu stan. Wan men singet de Sequencien, so machstu sitten oftu wult. Wan men lest dat Ewangelium, so schaltu stan vnde schalt dynen hot edder dyne kogelen van deme houede nemen. Sunte Elzebe, de wile se junckfruwe was, so plach se de krone van ereme houede nemene, wan men dat Ewangelium las vnde vnder deme Stilnisse.Footnote 58

Der mit dem Motiv der Selbstdevestitur verknüpfte legendarische Wissensbestand fügt sich hier problemlos in eine praktische Unterweisung für den Messbesuch ein. Er verleiht dem geforderten Abnehmen von Kopfbedeckungen während der Lesung des Evangeliums und während der Kanonstille nicht nur als Akt der Ehrerbietung Sinn, sondern auch als konkrete imitatio einer populären Heiligen. Das Gloria-Zitat in Sunte Elizabeten passie könnte gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung wirken, indem es einen liturgischen Referenzpunkt in den legendarischen Zusammenhang einfügt, als Appell, sich während der eigenen Messbesuche an Elisabeths Verhalten zu orientieren oder die Betrachtung des nackten und leidenden Christus kontrastierend auf die eigene Situation zu beziehen. Dass der Elisabeth-Faszikel mit einem Tagzeitengebet schließt, das dem Großen Seelentrost entnommen ist,Footnote 59 legt wenigstens nahe, dass die dort entworfenen Verhaltensmodelle im diskursiven Umfeld der Reimprosalegende verfügbar waren.

Das legendarische Wissen über Elisabeths Selbstdevestituren wurde in niedersächsischen Chorfrauenstiften auch anderweitig in praktisch anleitendes Schrifttum integriert. Dies belegt der Traktat Die weiße Lilie der Keuschheit, den Britta-Juliane Kruse aus einem Steterburger Rapiarium des späten 15. Jahrhunderts ediert hat. Dort heißt es:

Meer wu wy vns schullen keren van der vthwendigen schonheit vnde geuen vnd [lies: vns?] tho der inwendigen tziringe vnde guden werken leret vns Elizabeth dar wy van lesen dat se vp eyne grote hoichtid wol getziret kam tho der kerken vnde slöch vp ore ogen an dat belde des cruces vnde wart denkende wu dat vnse leue here suluen naket hangede an dem galgen des cruces Vnde was gecronet myt eyner dornen crone vnde dorch genegelt in henden vnde in voten Hyr van krech se so grote beweginge in sick suluen vnde dachte Sü dyn here hanget naket vnde blot du vnsalige mynsche bist ghekledet myt klederen Hyr van krech se so grote begeringhe des medelidendes vnde dat se na der tyd alle tziringe affleide dar se na der tyd nicht meer vmme gaff vnde held dat so alle ör leue dage[.]Footnote 60

An diese Beispielreihe lassen sich nun einige Schlussüberlegungen anknüpfen.

6 Legendarik und Liturgie

In einem Beitrag zum Verhältnis von Legendarik und Liturgie hat Norbert Kössinger sich mit der Ablösung legendarischer Erzählungen aus liturgischen Zusammenhängen beschäftigt und diese im Rahmen eines literaturgeschichtlichen Prozesses der Ausdifferenzierung gedeutet:

»Die These, der ich im Folgenden nachgehen möchte, beruht auf der Beobachtung, dass sich die deutschsprachigen Legenden im diachronen Schnitt betrachtet punktuell grundsätzlich vom ›Kalender‹, von liturgischen Kontexten und Praktiken lösen und in anderen Kontexten Verwendung finden können. Damit soll nicht einer ›literarischen Autonomie‹ jüngerer legendarischer Texte das Wort geredet werden, sondern lediglich der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Legenden eben nicht mehr vollständig in den angedeuteten spezifischen funktionalen Zusammenhängen aufgehen müssen.«Footnote 61

Die Vorsicht, mit der Kössinger seine Formulierungen mit Blick auf jüngere Texte wählt, indem er die beschriebene Ablösung etwa von ›literarischer Autonomie‹ unterscheidet, ist mit Blick auf die im Spätmittelalter stark expandierende Frömmigkeitskultur gut begründet. Sein Fallbeispiel, Alberts Ulrichslegende, entsteht allerdings bereits in der Zeit um 1200, »also gleichzeitig mit großen Werken der höfischen Literatur, mit dem Nibelungenlied und mit den frühen Werken Hartmanns von Aue.«Footnote 62 Der in der Mitte des 15. Jahrhunderts aufgezeichneten Reimprosalegende fehlt dieser Nimbus. Sie ist in traditionellen Maßstäben der germanistischen Mediävistik ein vielleicht allzu junger Text. Es ist fraglich, ob der latent idealistische Werkbegriff der hochdeutschen kanonischen Literaturgeschichtsschreibung in der Lage wäre, die Verzahnung der stilistisch durchaus anspruchsvollen Reimprosalegende mit ihrem liturgischen Referenzrahmen zu erhellen. Sunte Elizabeten passie konterkariert die literaturgeschichtliche Behauptung der Ablösung von Literatur und Liturgie. Nicht ein Prozess der Ablösung der Legende von der Liturgie, sondern ihre Einbettung in liturgisch geprägte Andachtspraktiken, die zugleich liturgisch geprägte Subjektivierungsformen sind,Footnote 63 ist hier zu beobachten. Ein wichtiger Katalysator dürfte in den religiösen Reformbewegungen im spätmittelalterlichen Norddeutschland zu vermuten sein.Footnote 64 Die Hypothese lautet demnach, dass die Ablösung legendarischer Texte von der Liturgie nur für einen begrenzten Bezirk legendarischer Poetiken gilt, nicht aber als diachroner Trend der Gattungsgeschichte zu betrachten ist. Im Gegenteil dürfte je nach Region und Zeitraum gerade im 15. Jahrhundert mit einer intensivierten Rückbindung von Legenden an liturgische oder liturgisch geprägte Andachtspraktiken zu rechnen sein. Um dem weiter nachzugehen, wären die materiellen Erscheinungsformen der Legendenüberlieferung und Mitüberlieferungen dieser Zeit verstärkt zu untersuchen und die Frage nach dem legendarischen Erzählen um die nach den devotionalen Praktiken zu erweitern, auf die dieses Erzählen bezogen ist.

Dass Kössinger sich gegen die Unterstellung absichert, einer literarischen Autonomie das Wort zu reden, verweist nicht zuletzt auf die Wirkmächtigkeit eines Paradigmas, das mittelalterliche Literatur immer schon an einer bestimmten, eigentlich aber erstaunlich unbestimmten Vorstellung von moderner Literatur misst: das Paradigma ihrer Alterität. ›Literarische Autonomie‹ dient unter dem Einfluss dieses Paradigmas oftmals als eine Art Kurzformel für den Punkt, an dem die Literatur historisch zu sich selbst kommt.Footnote 65 Die Aufgabe von Literaturgeschichte besteht dann darin, die Grenzen von Mittelalter und Moderne auszutarieren, ihre Bruchlinien zu bestimmen, die mittelalterliche Literatur als Literatur ›vor der Literatur‹Footnote 66 zu beschreiben oder sie ›auf dem Weg zur Literatur‹Footnote 67 zu begleiten. Die Emphase der Alterität bringt dialektisch das Desiderat von Modernität hervor.

Zumindest unterschwellig scheint dies auch Kössingers Überlegungen einzuholen. Denn wenn die Ulrichslegende aufgrund ihrer höfischen Prägung und ihrer textuellen Verfasstheit entschieden über den Horizont von Kult und Liturgie hinausweist,Footnote 68 so beginnt sie damit doch unweigerlich am Horizont der Literatur zu funkeln, wenn sie auch noch nicht im Zenit der literarischen Autonomie erstrahlt. Literaturwissenschaftliches Prestige scheint sie gerade durch dieses Moment zu gewinnen. Kössingers Beobachtungen zur Faktur der Legende verlieren dadurch nichts von ihrer Gültigkeit. Doch das Narrativ, in das sie sich einfügen, führt die Tendenz mit sich, die Würde literaturwissenschaftlicher Gegenstände stillschweigend doch am Grad ihrer ästhetischen Ausdifferenziertheit oder ihrer Nähe zu Texten festzumachen, die als große Werke bereits ästhetisch validiert sind.