Gegenstand des folgenden Beitrags ist eine Notker I. von St. Gallen (gest. 912) zugeschriebene Sequenz auf den Evangelisten Johannes und ihr Gebrauch in der lateinischen Messe und volkssprachlichen Andacht des deutschen Mittelalters. Das Lied, das mit der Apostrophe Iohannes, Iesu Christo / multum dilecto virgo (›Johannes, vielgeliebte Jungfrau Jesu Christi‹) beginnt, spricht den Evangelisten in seiner Rolle als Lieblingsjünger Jesu an. Im Einklang mit der christlichen Tradition setzt das Lied vier Gestalten gleich, die nach heutiger Auffassung voneinander zu unterscheiden sind: den Verfasser des Johannesevangeliums, den Verfasser der Johannesoffenbarung, den in den synoptischen Evangelien erwähnten Apostel Johannes und den im Johannesevangelium erwähnten namenlosen Lieblingsjünger Jesu (Schnelle 2013, S. 552–555). Im ersten Teil meines Beitrags rekonstruiere ich anhand der biblischen und legendarischen Quellen die Gestalt des Lieblingsjüngers, die der frühmittelalterlichen Sequenz zugrundliegt. Im zweiten Schritt unterziehe ich das lateinische Lied einer textnahen Analyse, um das Zusammenspiel von religiösem Inhalt und ästhetischer Form genauer zu bestimmen. Im dritten Schritt frage ich nach dem Gebrauch der Sequenz im Rahmen der lateinischen Messe, wie sie in Messbüchern des deutschsprachigen Raums überliefert ist. Im vierten Schritt wende ich mich einer volkssprachlichen Andacht für Nonnen zu, die auf der lateinischen Messe basiert, aber auch Elemente des Stundengebets integriert, darunter eine Übersetzung des frühmittelalterlichen Hymnus Sollemnis dies advenit. Der Beitrag schließt mit Bemerkungen zum Verhältnis von Liturgie und Ästhetik der Sequenz, der lateinischen Messe und der deutschen Andacht.

1 Der Lieblingsjünger

Das Bild, das die Sequenz vom Evangelisten Johannes entwirft, basiert auf verschiedenen biblischen und legendarischen Quellen. Das Johannesevangelium schließt mit einer Autornotiz, die den anonymen Verfasser mit dem namenlosen Lieblingsjünger identifiziert: »Dies ist der Jünger, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist« (Joh 21,24).Footnote 1 Die Autorität des Evangeliums wird somit aus der Sonderrolle abgeleitet, die der Verfasser in seiner Rolle als Lebensgefährte Jesu und Augenzeuge der berichteten Geschehnisse für sich in Anspruch nehmen kann. Einsetzend mit der Passionsgeschichte, wird die Gestalt des Jüngers, ›den Jesus liebte‹ (quem diligebat [Joh. 21,7 u. Joh. 21,20])Footnote 2, in fünf Schritten eingeführt und ausgebaut. Zum ersten Mal wird er beim Abendmahl genannt, als Jesus Andeutungen über seinen Verräter macht. Petrus bittet den Lieblingsjünger, der an der Brust Jesu liegt, er möge Jesus fragen, wer der Verräter sei (Joh 13,23–26):

»Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es? Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.«

Ein zweites Mal wird der Lieblingsjünger bei der Kreuzigung erwähnt. Wieder handelt es sich um eine Szene großer Intimität. Vom Kreuz herab fordert Jesus den geliebten Jünger auf, er möge sich fortan an seiner Stelle um seine – Jesu – Mutter kümmern (Joh 19,25–27):

»Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.«

Ein drittes Mal tritt der Lieblingsjünger bei der Entdeckung des leeren Grabes in Erscheinung. Nachdem Maria Magdalena die Nachricht überbracht hat, dass der Stein über Nacht weggewälzt worden sei, eilen die Jünger zum leeren Grab. Der Erzähler betont, dass Johannes zwar als Erster dort angekommen sei, Petrus aber den Vortritt gelassen habe (Joh 20,1–6):

»Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; sie liefen beide zusammen, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als Erster ans Grab. Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging jedoch nicht hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein.«

Der vierte Auftritt des Lieblingsjüngers erfolgt bei der Erscheinung des Auferstandenen am See Genezareth. Wieder ist es der Lieblingsjünger, der Jesus zuerst erkennt (Joh 21,4–7):

»Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr keinen Fisch zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr!«

Das Evangelium schließt mit einer rätselhaften Ankündigung des Auferstandenen über die Zukunft des Lieblingsjüngers. Wenn Jesus es so wolle, dann werde sein Liebling nicht sterben, bevor er, Jesus, als Messias wiederkomme (Joh 21,20–23):

»Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus liebte und der beim Abendmahl an seiner Brust gelegen und ihm gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich ausliefert? Als Petrus diesen sah, sagte er zu Jesus: Herr, was wird denn mit ihm? Jesus sagte zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht das dich an? Du folge mir nach! Da verbreitete sich unter den Brüdern die Meinung: Jener Jünger stirbt nicht. Doch Jesus hatte ihm nicht gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht das dich an?«

Der Lieblingsjünger, der (wie der Verfasser des Evangeliums) namenlos bleibt, wurde schon früh mit dem Apostel Johannes identifiziert, der in den synoptischen Evangelien als Sohn des Fischers Zebedäus vorgestellt wird. Als Jesus Johannes zur Nachfolge aufrief, habe dieser seinen Vater im Boot zurückgelassen (Mk 1,19 f.; vgl. Mt 4,21 f.; Lk 5,10 f.):

»Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. Sogleich rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach.«

So konnte die Berufungsszene in die Lebensgeschichte des Lieblingsjüngers integriert werden. Im nächsten Schritt wurde auch der Verfasser der Johannesoffenbarung mit dem Apostel und Evangelisten Johannes identifiziert.

Die legendarische Tradition malte die Vita des Evangelisten weiter aus (vgl. von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 362 f., 581 f.). Eine frühe Quelle sind die im dritten Jahrhundert in Rom entstandenen Monarchianischen Prologe, die gemeinsam mit den Evangelien überliefert wurden. Sie berichten, dass Johannes nicht nur seinen Vater, sondern auch seine Braut zurückgelassen habe, um Jesus nachzufolgen:

Hic est Iohannes evangelista unus ex discipulis dei, qui virgo electus a deo est, quem de nuptiis volentem nubere vocavit deus. cui virginitatis in hoc duplex testimonium in evangelio datur, quod et prae ceteris dilectus a deo dicitur et huic matrem suam iens ad crucem commendavit deus, ut virginem virgo servaret.

›Ein Jungfräulicher ward er von Gott erwählt, und von der Hochzeit weg – er wollte eben heiraten – berief ihn Gott. – Ihm gibt das Evangelium ein doppeltes Zeugnis der Jungfräulichkeit: er heißt vor den andern von Gott geliebt, und ihm hat Gott, da er zum Kreuze ging, seine Mutter anbefohlen, daß der Jungfräuliche die Jungfrau hüte.‹ (Das muratorische Fragment 1908, S. 13; übersetzt nach von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 362).

Da es nicht zum Vollzug der Hochzeitsnacht kommt, spart der Lieblingsjünger seine Jungfräulichkeit für Gott auf, der ihn als seine Jungfrau erwählt: qui virgo electus a deo est. Weitere Details weiß eine apokryphe Apostelgeschichte zu berichten, auf die sich der Kirchenvater Isidor von Sevilla (gest. 636) in seinem hagiographischen Werk De ortu et obitu patrum (›Über das Leben und Sterben der Väter‹) bezieht:

Joannes, apostolus et evangelista, filius Zebedæi, frater Jacobi, virgo electus a Domino, atque inter cæteros magis dilectus, qui etiam super pectus Magistri recumbens, et Evangelii fluenta de ipso sacro dominici pectoris fonte potavit, et quasi unus de paradisi fluminibus, verbi Dei gratiam in toto terrarum orbe diffudit. Quique in locum Christi, Christo jubente, successit, dum suscipiens matrem Magistri discipulus, etiam ipse pro Christo alter quodammodo derelictus est filius. Hic, dum Evangelium Christi in Asia prædicaret, a Domitiano Cæsare in Pathmos insulam metallo relegatur, ubi etiam positus Apocalypsim scripsit. Interfecto autem a senatu Domitiano, exsilio resolutus, recessit Ephesum, ibique ob hæreticorum refutandas versutias, efflagitatus ab Asiæ episcopis Evangelium novissimus edidit. Cujus quidem inter alias virtutes, magnitudo signorum hæc fuit. Mutavit in aurum sylvestres frondium virgas littoreaque saxa in gemmas. Item gemmarum fragmina in propriam reformavit naturam, viduam quoque ad precem populi suscitavit, et redivivum juvenis corpus revocata anima reparavit. Bibens lethifereum haustum, non solum evasit periculum, sed eodem prostratos poculo in vitæ reparavit statum […].

›Johannes, Apostel und Evangelist, Sohn des Zebedäus, Bruder des Jacobus, vom Herrn erwählte Jungfrau, und unter den anderen Jüngern mehr geliebt, der auch an der Brust des Meisters ruhte und den Strom des Evangeliums aus dem heiligen Quell der Brust des Herrn trank, verströmte die Gnade des Wortes Gottes im gesamten Erdkreis. Er nahm die Stelle Christi ein, als der Jünger, dem Befehl Christi gemäß, sich der Mutter des Meisters annahm; auch ist er gewissermaßen selbst für Christus als anderer Sohn hinterlassen worden. Dieser wurde, als er das Evangelium Christi in Asien predigte, vom Kaiser Domitian auf die Insel Patmos zur Arbeit in den Steinbrüchen verbannt, wo er auch wohnte und die Offenbarung schrieb. Nachdem der Kaiser getötet wurde, wurde er aber vom Senat aus dem Exil befreit und kehrte nach Ephesus zurück, wo er, um die Verschlagenheit der Ketzer zurückzudrängen, vom Bischof von Asien aufgefordert, das neueste Evangelium herausgab. Unter all seinen anderen Verdiensten vollbrachte er diese Vielzahl an Wundern. Er verwandelte grüne Laubzweige in Gold und die Steine des Strandes in Edelsteine. Ebenso versetzte er zerbrochene Edelsteine wieder in ihre ursprüngliche Gestalt, erweckte auch eine Witwe auf Bitten des Volks und erneuerte den wieder lebendig gewordenen Körper eines Jünglings, indem er die Seele zurückrief. Als er tödliches Gift trank, entwich er nicht nur der Gefahr, sondern brachte ebendort vom Giftbecher Niedergestreckte in den Stand des Lebens zurück.‹ (Isidor von Sevilla, De ortu et obitu patrum 1862, Sp. 151 f., Übersetzung A. K.; vgl. Acta Apostolorum Apocrypha 1898, Teil 2, Bd. 1, S. 151–216 (Acta Ioannis), hier S. 151).

Auch Isidor, der die Einheit des Evangelisten, Apostels und Lieblingsjüngers voraussetzt, bezeichnet Johannes als ›erwählte Jungfrau Gottes‹ (virgo electus a Domino). Er betont, dass der Jünger, der an der Seite Jesu lag, von jenem heiligen Quell getrunken habe, der der Brust seines Herrn entsprang (vgl. Sir 15,3).Footnote 3 Weiter berichtet Isidor, dass der Apostel vom römischen Kaiser Domitian zur Zwangsarbeit auf die Insel Patmos verbannt worden sei, wo er das biblische Buch der Offenbarung geschrieben habe. Auch von den Wundertaten des Apostels erzählt Isidor: Johannes habe zahlreiche Tote erweckt und nicht nur selbst unbeschadet einen Giftbecher getrunken, sondern auch Vergiftete ins Leben zurückgeholt.

Weit verbreitet war im frühen Mittelalter auch die Legende vom Martyrium des Evangelisten Johannes. Wieder erscheint der römische Kaiser als Gegenspieler. Er habe den Heiligen, der in Asien zahlreiche Kirchen gegründet habe, vor den Toren Roms mit einem grausamen Tod bestrafen wollen. Jacobus de Voragine erzählt die Geschichte in seiner Legenda aurea wie folgt: »Das kam vor den Kaiser Domitianus, der ließ ihn greifen und hieß ihn in eine Bütte voll siedenden Öls setzen vor dem Tore zu Rom, das da heißt Porta Latina. Aus der Bütte ging Sanct Johannes ohn alle Verletzung, gleichwie er ohn alle leibliche Befleckung auf Erden war gegangen« (Jacobus de Voragine 1984, S. 65–73, hier S. 66). Wieder wird die Jungfräulichkeit des Heiligen hervorgehoben, nun als Grund dafür, dass Gott ihn aus dem Martyrium errettete.

Der Theologe Theodore W. Jennings hat der Gestalt des Lieblingsjüngers eine Monographie gewidmet, in der er nicht nur die biblischen Grundlagen untersucht, sondern auch einen Ausblick auf die kulturgeschichtliche Rezeption vom Mittelalter bis zur Neuzeit gibt (vgl. Jennings 2003, vgl. auch Kraß 2016, S. 123–137, 2019). Doch ist die Rolle, die der Lieblingsjüngers in der mittelalterlichen Liturgie spielt, bislang noch nicht untersucht worden. Diese Lücke soll im Folgenden teilweise geschlossen werden.

2 Die lateinische Sequenz

Im Laufe des Mittelalters wurden dem Evangelisten Johannes zahllose liturgische Lieder gewidmet. Clemens Blume führt in den Analecta hymnica insgesamt 219 Belege an, von denen sich 115 auf den Evangelisten im Allgemeinen, 37 auf sein Martyrium im Besonderen und 67 auf die verschiedenen Tagzeiten beziehen (vgl. Analecta hymnica, Register 1978, Bd. 2, S. 144 f.).Footnote 4 Unter den Sequenzen sticht eine hervor, die mit über neunzig handschriftlichen Textzeugen besonders breit überliefert ist (vgl. Analecta hymnica medii aevi 1922, Bd. 53, Nr. 168, S. 276–279). Sie ist Teil des Hymnenbuchs Notkers von St. Gallen, das Wolfram von den Steinen in seinem zweibändigen Werk Notker der Dichter und seine geistige Welt (1948) neu abdruckte, übersetzte, kommentierte und interpretierte (vgl. hier von den Steinen 21978 [1948], Bd. 1, S. 16 f.; Bd. 2, S. 361–365, 581 f.). In seiner Ausgabe lautet die Sequenz, die er als ›Jüngerhymne‹ bezeichnet, wie folgt:

figure a
figure b

Formgeschichtlich betrachtet, folgt die Sequenz dem von Notker eingeführten »ersten Stil«. In dieser Phase stellt sich die Sequenz als Serie unterschiedlich gebauter Strophen dar, die teils aus einem, teils aus mehreren Versikeln bestehen. Im vorliegenden Fall beginnt und endet das Lied mit einem einfachen Versikel: dem Initium (A) und dem Postludium (Z). Die Doppelversikel folgen in horizontaler Hinsicht dem Prinzip der Identität, in vertikaler Hinsicht dem Prinzip der Variation. Wie von den Steinen erläutert, folgt die vorliegende Sequenz dem Formtyp der sogenannten ›Romana‹:

»Sie gehört zu den kleineren [Bauformen] (232 Silben) und hebt sich durch ihre einfache Ebenmäßigkeit heraus. Auf- und Abgesang [Initium und Postludium], in den Textworten eng verklammert, verhalten sich im Umfang wie 2:1; von den 6 Doppelstrofen ist die erste nur halblang (9 Silben), alle andern haben nah an 20 Silben. Dabei sind sie tektonisch verschieden gegliedert; aber die Melodie bleibt in der Mehrzahl der Strofen (5–12) mit geringen Variationen die gleiche […]. Unter diesen Umständen wirkt gelegentlicher Taktwechsel an unbetonten Stellen nur belebend« (von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 585).

An der sprachlichen Umsetzung der Melodie lobt er »die technische Meisterschaft: den Reichtum in der Einfachheit, die freie Bewegung in den sehr exakten Responsionen« (von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 582).

Schauen wir uns die Strophen der Reihe nach an. Die rahmenden Versikel machen deutlich, dass Johannes in seiner Rolle als Lieblingsjünger Jesu im Mittelpunkt des Liedes steht. Das Initium preist ihn als ›von Jesus Christus vielgeliebt‹ (Jesu Christo multum dilecte), das Postludium als ›Liebling Christi‹ (Christi care). Der Schluss lässt sich nicht nur als inhaltliche, sondern auch als formale Entsprechung zum Eingang lesen, denn mit diesem teilt er das Metrum (einen dreihebigen Trochäus mit Auftakt). Das Attribut dilecte ist aus der Formel abgeleitet, mit der das Johannesevangelium den Lieblingsjüngers bezeichnet: quem diligebat (Joh. 21,7 u. Joh. 21,20). Die Steigerung, dass Jesus ihn ›sehr‹ (multum) – und das heißt: mehr als die anderen Jünger – liebte, ist in den Monarchianischen Prologen (prae ceteris dilectus) und bei Isidor von Sevilla (inter cæteros magis dilectus) vorgeprägt. Die Pointe besteht freilich darin, dass Johannes als virgo, als ›Jungfrau‹ Jesu Christi angesprochen wird. Dieses Motiv ist, wie wir sahen, in der Tradition bereits vorgeprägt. Schon die Monarchianischen Prologe und Isidor von Sevilla betonten, dass Christus sich seinen liebsten Jünger ›als Jungfrau erwählt‹ (virgo electus a deo) habe. Das Motiv wird im achten Versikel unterstrichen, der Johannes und die Gottesmutter als Jungfrauen aufeinander bezieht (virgo virginem). Von den Steinen mildert die Bezeichnung des Lieblingsjüngers als Jungfrau freilich ab, wenn er das Wort virgo mit zwei Adjektiven im Maskulinum wiedergibt: »keuscher, reiner«.

Nachdem Johannes als geliebte Jungfrau Jesu vorgestellt worden ist, beginnt die Reihe der Doppelversikel, deren Abfolge sich chronologisch an der Biographie des Lieblingsjüngers orientiert. Zunächst wird im Rückgriff auf Mk 1,19 f. geschildert, dass Johannes seinen leiblichen Vater (carnalem parentem) aus Liebe zu Jesus (eius amore) verlassen habe. Zweierlei ist bemerkenswert: zum einen die Gegenseitigkeit der Liebe, die Jesus und den Jünger verbindet, zum anderen die Ablösung vom Vater, der im Fischerboot zurückbleibt. Johannes wechselt die soziale Rolle vom Sohn zum Jünger und die Bestimmung vom Fischer zum Missionar (vgl. Mk 1,17: »Ich werde euch zu Menschenfischern machen«). Die Verwandtschaftsverhältnisse ändern sich: Johannes ist nicht länger Sohn des leiblichen, sondern des ›höchsten Vaters‹ (vgl. Versikel 11: summus pater). Dieser Wechsel wird durch die Spiegelbildlichkeit des Doppelversikels unterstrichen: die Hinwendung zu Jesus (Versikel 1) führt zum Abschied vom Vater (Versikel 2). Auch in formaler Hinsicht respondieren die Versikel, denn die Wörter entsprechen einander genau hinsichtlich der Silbenzahl (ein einsilbiges Wort, ein zweisilbiges Wort, zwei dreisilbige Wörter).

Ferner fällt auf, dass alle Doppelstrophen mit der Anrede ›du‹, also, phonetisch betrachtet, mit dem Konsonanten t beginnen (Tu, Tu, Tu, Te, Tu, Tibi) (vgl. von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 582). Ein Blick auf die zweite Strophenhälfte zeigt, dass auch hier die Wörter mit Bedacht gesetzt sind: In, Ut, Quae, Ut, Idem, Tu. Hinsichtlich der Anfangsbuchstaben ergibt sie eine Spiegelungsfigur (I U Q U I), die mit einem T endet, das auf die Anfangsbuchstaben der ersten Strophenhälften antwortet und die Reihe der Tu-Apostrophen abschließt. Das I antwortet wiederum auf den Anfangsbuchstaben der rahmenden Versikel am Anfang und Schluss der Sequenz (Iohannes). Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass das zweifach gesetzte Wort ut eine Umkehrung des Wortes tu ist. Diese Spiegelungen, Symmetrien und Klammern dienen gewiss der Unterstreichung der engen Beziehung zwischen Jesus und Johannes, die ihrerseits den ersten Buchstaben ihrer Namen teilen.

Der zweite Doppelversikel schildert eine weitere Ablösung. Wie er sich zuvor vom Vater verabschiedet hat, lässt Johannes nun auch seine Braut zurück, um dem Messias nachzufolgen. Der Wechsel wird durch das Motiv der Brust (pectus) markiert, die metonymisch für die Person steht. Johannes verschmäht den ›sanften Busen‹ (leve pectus) der Ehefrau (coniugis) zugunsten der Brust Jesu (eius pectoris). Wie ein Kind von der Mutterbrust Milch trinkt, so ›trinkt‹ Johannes von der Brust seines Herrn einen ›heiligen Quell‹ (sacra fluenta potare). Biblische Bezugspunkte sind einerseits die Brust (pectus) und der Schoß (sinus) Jesu, an die bzw. in den sich der Jünger während des Abendmahls schmiegt (Joh 13,23: recumbens unus ex discipulis eius in sinu Iesu; Joh 21,20: recubuit in cena super pectus eius); andererseits ein Vers aus dem alttestamentlichen Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus), der Eingang in die Liturgie des Festtags des Evangelisten gefunden hat (Sir 15,3: cibabit illum panem vitae et intellectus et aqua sapientiae salutaris potabit illum). Dem biblischen Doppelmotiv wird wiederum das legendarische Motiv zugeordnet, das bereits in den Monarchianischen Prologen bezeugt ist (de nuptiis volentem nubere). Das Motiv des heiligen Quells, den der Jünger von der Brust seines Herrn trinkt, findet sich wörtlich auch bei Isidor von Sevilla: Evangelii fluenta de ipso sacro dominici pectoris fonte potavit (weitere Belege nennt von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 581). Isidor deutet den heiligen Quell als das Wort Gottes, das in das Evangelium einfließen und in der Welt Gnade spenden wird. An dieser Strophe lässt sich zeigen, wie Sinn in Form und Form in Sinn umschlägt. Der Verfasser führt drei Motive zusammen – das legendarische Motiv der verlassenen Braut, das biblische Motiv der Brust des Herrn und das biblisch-allegorische Motiv des heiligen Quells –, um sie im Zeichen der Brust zusammenzuschließen, in eine Analogie zu überführen und mit geistlicher Bedeutung aufzuladen. Wieder wird die ästhetische Vorgabe der Doppelstrophe genutzt, um den aus der Verschmelzung der Motive gewonnenen Gedanken in eine schöne, sinnträchtige Form zu bringen. Die Responsion der Silben und Wörter ist wieder vollkommen. Die spezifische Zusammenstellung der Motive evoziert explizite und implizite Sinnbezüge, die die intime Atmosphäre stützen: der sanfte Busen der Braut, die stillende Brust der Mutter, die als Ruhekissen dienende, Gnade verströmende Brust des Herrn – und von ferne wohl auch die Seitenwunde des Gekreuzigten, aus der Blut und Wasser fließen (Joh 19,34: »einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus«).

Die biographische Chronologie setzt sich im dritten Doppelversikel fort, der den gemeinsamen Lebenswandel Jesu und seines Lieblingsjüngers im Motiv der Anschauung zusammenfasst. Die logische Beziehung zwischen den Versikeln ist nun eine Opposition. Auf der einen Seite steht der Jünger, der schon zu Lebzeiten auf Erden (in terra) den Sohn Gottes sehen darf, auf der anderen Seite die Heiligen, die ihn erst in der Ewigkeit des Himmels (perenni) erblicken dürfen. Die Gegenüberstellung impliziert eine Überbietungsgeste: der Jünger hat den Heiligen das Privileg voraus, schon im Diesseits die Nähe des Herrn zu genießen. Alliterationen tragen zum Wohlklang der Strophe bei: tuque in terra, solum sanctis. Das Motiv der Anschauung dürfte insbesondere auf die Erscheinung des Auferstandenen am See Genezareth zielen, denn es ist der Lieblingsjünger, der ihn zuerst erkennt, und nicht der Apostelfürst Petrus (Joh 21,7).

Der vierte Doppelversikel thematisiert die Passionsgeschichte. Die Gottesmutter und der Lieblingsjünger stehen unter dem Kreuz, sie werden damit als diejenigen ausgezeichnet, die dem Gekreuzigten zu Lebzeiten am nächsten standen. Jesus überantwortet sie einander: »[S]iehe, dein Sohn! […] Siehe, deine Mutter!« (Joh 19,26 f.) Johannes tritt gegenüber der Gottesmutter in die Sohnesrolle ein, er substituiert den Gottessohn. Die beiden Versikel variieren denselben Gedanken. Zuerst wird Maria als mater und dann als virgo angesprochen und damit ihre heilsgeschichtliche Rolle als jungfräuliche Gottesmutter unterstrichen. Die Wendungen dedit custodem, servares und curam suppeditares wiederholen denselben Sachverhalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln – zunächst aus der Perspektive Jesu, der die Mutter der Obhut des Jüngers anvertraut, dann aus der Perspektive des Jüngers, der der Mutter Schutz und Fürsorge angedeihen lässt. Wieder erhöhen Klangfiguren das Pathos der Strophe: Christus in cruce, triumphans matri und virgo virginem. Bemerkenswert ist der Zusammenschluss von Johannes und Maria. Sie werden einander nicht nur als neuer Sohn und neue Mutter anvertraut, sondern auch als Jungfrauen gleichgesetzt. Die Formulierung virgo virginem erinnert an die in der lateinischen Marienlyrik häufig auftretende Formel virgo virginum. Es geht hier aber nicht um Maria, die die ›Jungfrau der Jungfrauen‹ ist, sondern um Johannes, der sich als Jungfrau der Jungfrau annimmt. Ganz im Geiste des Johannesevangeliums wird das Kreuz als Zeichen des Sieges (triumphans) gedeutet und der Gekreuzigte als der Erhöhte dargestellt.

Der Passionsgedanke, der sich mit der Leidensgeschichte Jesu verbindet, wird im folgenden Doppelversikel auf den Jünger projiziert. Die Anhaltspunkte liefert nicht die Bibel, sondern die Legende (vgl. von den Steinen 21978 [1948], Bd. 2, S. 582). Johannes sei ›von Kerker und Geißeln gebrochen‹ (carcere flagrisque fractus) worden, habe sich aber dennoch über das Martyrium gefreut, da es ihm Gelegenheit gab, ›Zeugnis‹ (testimonio) für Christus abzulegen. Doch stellen die Motive des Kerkers und der Geißeln nur lockere Bezüge zur Legende dar, die nicht von einer Geißelung, sondern von einer Tauchung in siedendes Öl, und nicht von einem Kerker, sondern vom Exil auf der Insel Patmos erzählt. Auf das Martyrium, das er überlebt, folgt in der zweiten Strophenhälfte die Wundertätigkeit des Lieblingsjüngers, der im Namen Christi Tote auferweckt und dem Gift die tödliche Kraft nimmt. Die innere Verbindung zwischen Martyrium (Versikel 9) und Wundertätigkeit (Versikel 10) wird durch eine Responsion im dritten Vers gestützt: Mit dem Leiden legt der Jünger ›Zeugnis für Christus‹ (testimonio pro Christi) ab, die Wundertaten vollzieht er ›im Namen Jesu‹ (inque Jesu nomine). Wieder werden Klangfiguren eingesetzt (flagrisque fractus, venenum vincis).

Der letzte Doppelversikel kommt zunächst auf den Lieblingsjünger als Verfasser des Evangeliums und der Offenbarung zu sprechen. Die Formulierung, dass der höchste Vater ihm das Wort vor allen anderen enthüllt habe, bezieht sich auf verschiedene Motive der vorausgehenden Strophen zurück. Wie der Lieblingsjünger den leiblichen Vater (carnalem parentem) verlassen hat, nimmt sich nun der höchste Vater (summus pater) seiner an. Wie Christus den Lieblingsjünger vor allen anderen Jüngern bevorzugt (multum dilecte), so gibt ihm Gott das Privileg, jenes Wort zu offenbaren, das allen anderen verschwiegen wird (tacitum ceteris verbum suum). Gemeint sind das Wort des Evangeliums und der Offenbarung und zugleich Christus als menschgewordener Logos (Joh 1,14: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt«). An dieser Stelle endet die Rekapitulation der biblischen und hagiographischen Berichte, und es folgt, mit einem neuerlichen Tu einsetzend, die abschließende Bitte, der Lieblingsjünger möge aufgrund all dessen, was zuvor geschildert wurde, die Gläubigen Gott anempfehlen. Die christliche Gemeinde bringt sich in der ersten Person Plural (nos omnes) als Sprecher der seriellen Apostrophe zur Geltung, die in der zweiten Person Singular an Johannes gerichtet wurde. Die Brücke zwischen den Versikeln 11 und 12 schlagen die Motive des Schweigens und Sprechens. Gott hat das Wort (verbum) vor den Menschen verborgen, aber Johannes soll sich mit seinen Bitten (precibus) bei Gott für die Menschen einsetzen. Das Verb, mit dem die Anempfehlung zum Ausdruck gebracht wird (commenda), erinnert an die wechselseitige Anempfehlung der Gottesmutter und des Lieblingsjüngers in der vierten Doppelstrophe, aber auch an die Sterbenden, die, wie Christus am Kreuz, ihre Seele Gott anempfehlen (vgl. Lk 23,46: in manus tuas commendo spiritum meum).

Im Rückblick lässt sich festhalten, dass der Lieblingsjünger in verschiedenen weltlichen und geistlichen Verwandtschaftsverhältnissen gezeigt wird. In weltlicher Hinsicht verlässt er den leiblichen Vater (Versikel 1 f.) und die angetraute Ehefrau (Versikel 3), in geistlicher Hinsicht wird er zum Sohn der Gottesmutter (Versikel 7 f.) und Gottvaters (Versikel 11). Zugleich wird er in gewisser Hinsicht als jungfräuliche Braut Jesu vorgestellt, denn er nimmt als virgo in geistlicher Weise die Rolle ein, die in weltlicher Weise seiner Gattin zukam. Zugleich wird die Gemeinschaft des Lieblingsjüngers mit der Gottesmutter als Verschwisterung zweier Jungfrauen umschrieben (virgo virginem).

3 Die lateinische Messe

Die lateinische Sequenz ist seit dem zehnten Jahrhundert breit überliefert, zunächst in liturgischen Liederbüchern, später auch in lateinischen Messbüchern. Clemens Blume schließt aus der Überlieferungslage, dass sie in Deutschland entstanden sei:

»Sicher war die Sequenz von alters her weit verbreitet und beliebt; nur Spanien scheint sie nicht aufgenommen zu haben; Frankreich hatte sie scheinbar nur im mittleren Osten und in der Normandie in liturgischem Gebrauche; England akzeptierte sie anscheinend erst im 12. oder gar 13. Jahrhundert; somit kann wohl nur Deutschland (oder Norditalien??) als Ursprungsstätte in Betracht kommen.« (Analecta hymnica 1922, Bd. 53, S. 278 f.)

Da inzwischen zahlreiche gedruckte Messbücher des deutschsprachigen Raums als Digitalisate vorliegen, fällt die Rekonstruktion der lateinischen Messe, die am Festtag des Apostels und Evangelisten Johannes gefeiert wurde, nicht schwer.Footnote 5 Als beliebiges Beispiel wähle ich ein Missale, das im Jahr 1501 in Nürnberg gedruckt wurde (VD16 ZV 2846 1501). Das Formular umfasst als übliche Bestandteile des Propriums: Introitus (Gesang zum Einzug), Oratio (Tagesgebet), Lectio (Lesung), Graduale (Antwortpsalm), Alleluja (Gesang vor dem Evangelium), Sequentia (Sequenz), Evangelium, Offertorium (Gesang zur Gabenbereitung), Secreta (Gabengebet), Communio (Gesang zur Kommunion) und Postcommunio (Schlussgebet). Das tridentinische Missale Romanum stimmt in der Gestaltung der Messe mit dem mittelalterlichen Formular überein, streicht aber die Sequenz, die der liturgischen Reform zum Opfer fiel (vgl. Missale Romanum 1962, S. 25 f.).Footnote 6

Im Folgenden drucke ich die Messe gemäß dem Nürnberger Missale von 1501 ab (1501, Bl. 17r–18r). Um die Lesbarkeit zu vereinfachen, löse ich Abkürzungen auf, schreibe an den gebotenen Stellen æ statt e, setze die einzelnen Abschnitte voneinander ab, ergänze fehlende Überschriften, gleiche die Interpunktion sowie die Großschreibung der Eigen- und Gottesnamen an das neuzeitliche Missale Romanum an und füge Verweise auf die betreffenden Bibelstellen ein:

Johannis evangelistæ

[Introitus]

In medio ecclesiæ aperuit os eius: et implevit eum Dominus spiritu sapientiæ et intellectus: stolam gloriæ induit eum [Sir 15,5]. Psalmus. Bonum est confiteri Domino: et psallere nomini tuo, Altissime [Ps 91,2].

Oratio

Ecclesiam tuam, quæsumus, Domine, benignus illustra: ut beati Iohannis Apostoli tui et Evangelistæ illuminata doctrinis, ad dona perveniat sempiterna. Per [Dominum nostrum].

Lectio libri Sapientiæ. Ecclesiasticus xv.

Qui timet Deum, faciet bona: et qui continens est iustitiæ, apprehendet illam, et obviabit illi quasi mater honorificata. Cibabit illum pane vitæ et intellectus, et aqua sapientiæ salutaris potabit illum: et firmabitur in illo, et non flectetur: et continebit illum, et non confundetur: et exaltabit illum apud proximos suos. In medio ecclesiæ aperuit os eius, et implebit eum spiritu sapientiæ et intellectus, et stola gloriæ induet eum. Iocunditatem et exultationem thesaurizabit super eum, et nomine eterno hereditabit illum, Dominus Deus noster [Sir 15,1–6].

Graduale

Exiit sermo inter fratres, quod discipulus ille non moritur. V Sed: Sic eum volo manere, donec veniam: tu me sequere [Joh 21,23].

Alleluia

V Hic est discipulus ille, qui testimonium perhibet de his: et scimus, quia verum est testimonium eius [Joh 21,24].

Sequentia

Iohannes ihesu christo multum dilecte virgo,

Tu eius amore carnalem

In navi parentem liquisti.

Tu leve coniugis pectus respuisti messyam secutus.

Ut eius pectoris sacra meruisses fluenta potare.

Tuque in terra positus gloriam conspexisti filij dei.

Quæ solum sanctis in vita creditur contuenda esse perhenni.

Te christus in cruce triumphans matri suæ dedit custodem.

Ut virgo virginem servares atque curam suppeditares.

Tu te carcere flagrisque fractus testimonio pro christi es gavisus.

Idem mortuos suscitas inque ihesu nomine venenum forte vincis.

Tibi summus tacitum præ ceteris verbum suum pater revelat.

Tu nos omnes precibus sedulis apud deum semper commenda,

Iohannes christi chare.

[Evangelium] Secundum Iohannem ultimo

In illo tempore: Dixit Ihesus Petro: Sequere me. Conversus Petrus vidit illum discipulum, quem diligebat Ihesus, sequentem, qui et recubuit in cena super pectus eius, et dixit: Domine, quis est qui tradet te? Hunc ergo cum vidisset Petrus, dixit Ihesu: Domine, hic autem quid? Dicit ei Ihesus: Sic eum volo manere, donec veniam, quid ad te? tu me sequere. Exiit ergo sermo iste inter fratres, quia discipulus ille non moritur. Et non dixit ei Iesus: Non moritur; sed: Sic eum volo manere, donec veniam: quid ad te? Hic est discipulus ille, qui testimonium perhibet de his, et scripsit hæc: et scimus, quia verum est testimonium eius [Joh 21,19–24]. Credo.

Offertorium

Iustus ut palma florebit: sicut cedrus quæ in Libano est, multiplicabitur [Ps 91,13].

Secreta

Suscipe, quæsumus, Domine, munera, quæ in eius tibi solemnitate deferimus, cuius nos confidimus patrocinio liberari. Per [Dominum].

Præfatio de apostolis. Communio

Exiit sermo inter fratres, quod discipulus ille non moritur: et non dixit Ihesus: Non moritur; sed: Sic eum volo manere, donec veniam [Joh 21,23].

[Postcommunio] Complenda

Refecti cibo potuque cælesti, Deus noster, te supplices exoramus: ut, in cuius hæc commemoratione percepimus, eius muniamur et precibus. Per [Dominum].

Die Dramaturgie der Messfeier sieht einen Wechsel von Lesungen, Gebeten, Liedern und Psalmen vor. In der vorliegenden Messe ist die erste Lesung dem Alten Testament entnommen, sie stammt aus dem Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus). Die betreffenden Verse, die ich im Folgenden nach der modernen deutschen Übersetzung der Vulgata zitiere, bieten eine Allegorie auf die Gerechtigkeit Gottes (Sir 15,1–6):

»Wer Gott fürchtet, wird das [Gute] tun, und wer an der Gerechtigkeit festhält, wird sie begreifen. Und sie wird ihm begegnen wie eine verehrte Mutter […]. Sie wird ihn essen lassen das Brot des Lebens und des Verstehens und ihn das Wasser der heilbringenden Weisheit und des Heils trinken lassen und sie wird durch ihn gestärkt und nicht gebeugt werden. Und sie wird ihn festhalten, und er wird nicht verwirrt werden, und sie wird ihn erhöhen bei seinen Nächsten. Und in der Mitte der Gemeinde wird sie seinen Mund öffnen, sie wird ihn erfüllen mit dem Geist der Weisheit und des Verstehens und wird ihn kleiden in das Kleid des Ruhmes. Sie wird einen Schatz von Fröhlichkeit und Ausgelassenheit über ihn aufhäufen und mit ewigem Ruhm wird sie ihn beerben.« (Biblia sacra vulgata 2018, Bd. 3, S. 1083 [Text angepasst]).

Die göttliche Gerechtigkeit wird mit einer Mutter verglichen, die ihr Kind speist und tränkt. Die Gerechtigkeit erfüllt denjenigen, der an ihr festhält, mit Weisheit und öffnet ihm den Mund, damit er sie in der Gemeinde verkünde. Die Verbindung zur zweiten Lesung, dem Evangelium nach Johannes (Joh 21,19–24), ergibt sich aus dem Motiv der Speisung. Wie die Mutter ihr Kind nährt, so speist Christus beim Abendmahl die Jünger, insbesondere den an seiner Brust ruhenden Lieblingsjünger. Er erfüllt ihn mit dem Trank der Weisheit, damit er als Evangelist in der Kirche Zeugnis ablegt. Außer den Lesungen sind auch die antiphonalen Kurzgesänge der Bibel entnommen. Sie entstammen teils dem Johannesevangelium, teils dem Buch Jesus Sirach und teils den Psalmen. Der Introitus zitiert Sir 15,5 und Ps 91,2, das Graduale Joh 21,23, das Alleluja Joh 21,24, das Offertorium Ps 91,13 und das Gebet zur Kommunion noch einmal Joh 21,23. Hinzukommen als Prosatexte ohne direkten biblischen Bezug das Tagesgebet (Oratio) und das Gabengebet (Secreta).

Von den Antiphonen hebt sich die Sequenz als mehrstrophiges Lied ab. Sie ist, im Unterschied zum Hymnus, Bestandteil des Propriums; ihre Position ist nach dem Alleluja. Da sich die Sequenz auf Verse des Johannesevangeliums und des Buches Jesus Sirach bezieht, auf die auch die meisten anderen Texte rekurrieren, steht sie mit allen liturgischen Komponenten in Verbindung. Die Bitte, die im zwölften Versikel platziert ist, korrespondiert mit den Prosagebeten der Messe. So bildet die Sequenz einen Resonanzkörper für alle Lesungen, Gebete und Gesänge, die ihr vorausgehen und nachfolgen. In ästhetischer Hinsicht stellt sie das Herzstück der Messfeier dar. Sie bereitet das Sakrament der Eucharistie motivisch vor, indem sie das aus dem Buch Jesus Sirach entliehene Motiv der geistlichen Tränkung in die johanneische Abendmahlszene integriert. Wenn der Lieblingsjünger am Herzen Jesu liegt, empfängt er nicht nur geistliche Speise, sondern trinkt auch vom Quell der Weisheit, die aus der Brust des Herrn entspringt.

4 Die volkssprachliche Andacht

Die Messe des Apostels und Evangelisten Johannes wurde auch im Rahmen der volkssprachlichen Laienfrömmigkeit rezipiert. Eine deutsche Fassung ist in mindestens zwei Textzeugen überliefert: einer Karlsruher Handschrift vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts (Badische Landesbibliothek, Cod. Lichtenthal 100, 29v–30r) und einer Berliner Handschrift des Jahres 1505 (Staatsbibliothek, mgo 560, Bl. 199v–201v). Die Frankfurter Handschrift wird im Katalog als »Mess- und Offiziumsbuch« geführt, die Berliner Handschrift als »Gebet- und Andachtsbuch« (Heinzer/Stamm 1987, S. 243; Degering 1932, S. 186). Beide Handschriften wurden vermutlich im Skriptorium des Klosters Frankenthal in der Pfalz angefertigt. Das Berliner Exemplar schrieb der Augustinermönch Niclas Numan. Beide Handschriften waren für Nonnen bestimmt, die Karlsruher Handschrift »[f]ür ein Augustinerinnenkloster am nördlichen Rand des alemannischen Sprachgebiets« (Heinzer/Stamm 1987, S. 232, 244; vgl. Degering 1932, S. 186: »bestimmt zum Gebrauche für Nonnen«).

Die Karlsruher Handschrift gibt eingangs Auskunft über ihren Inhalt: Hye fahen an Antiphona, Ymnus vnd Colect in der vesper vnd die ingenge der messe, Gradale, Sequencz, Offertorium vnd Communio (Bl. 5r). Es handelt sich also um eine Kompilation von Bestandteilen des Stundengebets und der Messe. Aus dem Stundengebet wird nur die Vesper entnommen und aus dieser nur Antiphon, Hymnus und Oration. Aus der Messe werden Introitus, Graduale, Sequenz, Offertorium und Communio entliehen. Dies hat zur Folge, dass die kompilierten Andachten jeweils zwei liturgische Lieder in Übersetzung enthalten können: einen Hymnus und eine Sequenz. Das Andachtsbuch folgt in seinem Aufbau dem liturgischen Jahr, beginnt also mit den Adventssonntagen und dem Weihnachtsfest. Darauf folgt die Dreiergruppe der Andachten zum heiligen Stephan (26. Dezember), dem Evangelisten Johannes (27. Dezember) und den Unschuldigen Kindern (28. Dezember). Diese drei Andachten bezeichnet die Handschrift als Suffragien: Von san steffen Suffragia (25r–27v), Von sant johannes ewangelisten Suffragia (27v–30v) und Von den unschuldigen kindlin Suffragia (30v–31v). Danach folgt eine leere Seite (32r). Wie das Handbuch der katholischen Liturgik erläutert, sind unter Suffragien Anrufungen zu verstehen, die aus einer Oration, einem Versikel und einer Antiphon bestehen und an bestimmten Tagen jenseits der Hochfeste an das Stundengebet angehängt werden konnten: »Nachdem man in der vorausgehenden Tagesoration um die […] Tagesgnade gefleht hat, empfiehlt man sich für den beginnenden Tag (Laudes) und die hereinbrechende Nacht (Vesper) auch noch der speciellen Fürbitte und dem Schutz bestimmter Heiligen, indem man ihrer feiernd gedenkt« (Thalhofer 1890, S. 426 f.; vgl. Vollmer 1997).

Im Folgenden stelle ich die Andacht zum Festtag des Evangelisten Johannes näher vor. Sie enthält, wie gesagt, eine Übersetzung der Sequenz Iohannes Iesu Christo (O Johannes ein jungfrauwe von Christo Jesu liep gehabt)Footnote 7 und eine Übertragung des Hymnus Sollemnis dies advenit (Der hochwirdig tag ist uns zu kumen)Footnote 8. Ich richte den Text nach denselben Prinzipien ein wie zuvor die lateinische Messe:

Von sant Johannes ewangelisten Suffragia

Gar fast ist czu eren der heilige Johannes, der vff der brust des herren in dem abentessen geruwet hat. Got hat in gespißet mit dem brot des lebens vnd der verstentniß, Vnd mit dem wasser der heilsamen wißheit hat er in getrenckt.

Ymnus

Der hochwirdig tag ist vns czu kumen, in dem Johannes, eyn jungfrauwe, der aller groste ewangelist vnd apostel, ist vff gefarn in den hymel.

Darumb die schare vnßers gleubigen ordens ist begirig, jm czu singen andechtiges lob vnd also got frolichen loben czu ere eynen solichen heiligen man,

Den du, herre, uff dynem heiligen hertzen hast ruwelichen liegen lassen czu dem nachtmale, Ee dan du hettest des dotz pine,

Dem du czu dines dotes czyt hast din liebe mutter czu gefuget mit eyner solchen fruntlichen gelůpt, das sie sich vnder eynander also ereten, als eyn sune tut vnd eyn getruwe muter.

Er ist mit sinem libe gewessen vff der erden, aber er hat mit sinem gemut angeruret den hymel vnd hat in erkantniß sins hertzen das vnußsprechlich gotlich wort durch gesehen.

Darumb bitten wir dich, got, mit demuttiger styme, das vns durch sin emsiges gebett geholffen werde, also das du vns von den sunden enbindest vnd vfflosest vnd von dem hymel den lon gebest.

Wir bietten dich an, herre, in dem namen der dryfeltigkeit, vnd sint vnßer antzlit vff die erden geneygt, aber die hertzen sint uber sich zu dir gekert. amen.

Vber das magnificat antiphon

Dißer ist Johannes, dem Cristus am crutz sin muter, die jungfrauwe der jungfrauwen, befalle.Footnote 9

Zu der messe introitus

In mitten der kirchen hat er vffgethan sinen munt, vnd der herre hat in herfult mit dem geyst der wißheit vnd der verstenttnyß. mit dem cleide der claren ere hat er in angethan. V Gutt ist bichten dem herren vnd singen synem namen in den hohsten.

Collecta

Wir bitten dich, herre, das du dine kirchen gnediglichen erluchtest, Vff das, das sie durch die lere sant Johannes, dines aposteles vnd ewangelisten, erluchtet werde vnd kome czu den ewigen gaben. Per [Dominum].

Graduale

Es ist vßgangen eyn rede vnder den brudern, wie das dißer junger nit sterb, sunder also bliben, biß ich komen werde. volge mir nach.

Alleluia

Diß ist der junger, der da gezugniß gibt von den dingen. Vnd wir wissen das sin gezugnyß gewisse ynd ware ist.

Sequentz

O Johannes, eyn jungfrauwe von Cristo Jhesu liebgehabt.

Du hast siner liebe halp dinen liplichen vatter in dem schiff gelassen.

Du hast das licht hertz diner gemahel verachtet Vnd Cristo nachgefolget,

Das du mochtest verdienen, czu trincken heilige trencke uß siner brust.

Du hast auch vff dem ertrich gesehen die glorie des sun gottes, die da alleyn, wir glauben, den heiligen czu sehen verluhen werden in dem ewigen leben.

Cristus, als er hat gesigt an dem crutz, hat er dich siner muter czu eynem hulter geben,

Das du, jungfrauwe, behuttest die jungfrauwe vnd ir dienstberkeit bewissest,

Als du bist vmb Criste gezugniß willen im kercker vnd mit geiseln gepinigt worden, hastu dich des gefreuwet.

Du selbs erquickest auch die toden, auch uberwindestu in dem namen Jhesu das starcke gifft.

Dir offenbart der oberster vater sin wort, verborgen andern menschen.

O, Johannes, liebgehabt von Christo, befelhe vns alsamme auch alzit got mit emßigem gebeett. amen.

Offertorium

Der gerecht wirt bluwen als der palm, vnd als der cederbaum vff dem berge liebano wirt er sich manigfeltigen.

Communio

Es ist ußgangen eyn rede vnder den brudern, wie das dißer junger nit sterbe. Vnd sprach doch Jhesus nit: er stirbt nit, sunder: ich will, das er also bliebe, biß ich werde kumen.

Collecta

Wir, die da gespiset sint mit der hymelschen spise, bitten dich, vnßern got, demuttiglich vnd mit andachte, das wir durch des gebett bewarnet sient vnd beschirmet, in des gedechtnis wir dan diße spiße haben genossen. Durch vnßern herren Jhesum Cristum etc. (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Lichtenthal 100, Bl. 27v–30v)

Die aus der Verschränkung von Vesper und Messe hervorgegangene Andacht stellt sich als spirituelle Großform dar, die neben der Serie kürzerer Gebete und Gesänge zwei Lesungen und zwei Lieder umfasst. Vieles von dem, was oben über die Dramaturgie der lateinischen Messe gesagt wurde, lässt sich auf den Ablauf der Andacht übertragen. Doch fällt auf, dass das Gabengebet (Secreta) nicht aus dem Missale übernommen und somit der eucharistische Bezug der Andacht gelockert wird. Eine signifikante Erweiterung stellt die Verbindung der beiden liturgischen Lieder dar. Der Hymnus Sollemnis dies advenit und die Sequenz Iohannes Iesu Christi, die sonst getrennt voneinander gesungen wurden, werden nun als volkssprachliche Andachtstexte aufeinander bezogen. Der dialogische Charakter tritt besonders deutlich hervor, wenn man die lateinischen Vorlagen miteinander vergleicht. In der Ausgabe der Analecta hymnica lauten die sieben Strophen des Hymnus wie folgt:

1. Sollemnis dies advenit,

    Quo virgo caelum petiit,

    Evangelista maximus

    Iohannes et apostolus.

2. Hinc vota laudis solvere

    Et hymnum gestit promere

    Caterva nostri ordinis

    Honore tanti caelibis.

3. Quem sacro super pectore

    Tuo facis recumbere

    Ultima in cena, Domine,

    Quam patereris, pridie.

4. Cui matrem tali foedere

    Mortis coniungis tempore,

    Ut noverint se colere

    Matris ac prolis nomine.

5. Qui carne solo positus,

    Mente polo contiguus

    Verbum inedicibile

    Cordis conspexit lumine.

6. Cuius prece assidua

    Ut nostra solvas crimina

    Et caelo dones praemia,

    Voce precamur cernua.

7. Sursum erectis cordibus,

    Versis in terram vultibus

    In trinitatis nomine

    Te adoramus, Kyrie. (Analecta hymnica 1922, Bd. 51, Nr. 160, S. 184 f.)

Wie die Sequenz war auch der Hymnus Sollemnis dies advenit im deutschsprachigen Raum weit verbreitet und dürfte dort entstanden sein (vgl. Analecta hymnica 1922, Bd. 51, S. 185: »Nach dem Quellenbestande also möchte man Deutschland als Ursprungsstätte ansehen«). Der Vergleich der Lieder ist unter formalen wie inhaltlichen Gesichtspunkten aufschlussreich. Der Hymnus ist, seiner Gattung entsprechend, vergleichsweise einfach strukturiert. Er besteht aus sieben gleichförmigen Strophen zu je vier Versen, die acht Silben bzw. vier Hebungen umfassen. Auch inhaltlich ist der Hymnus schlichter, denn während die Sequenz legendarische Quellen einbezieht und eine verdichtete Biographie des Evangelisten bietet, hält sich der im Gestus eher preisende Hymnus ganz an die biblische Grundlage. Die erste Strophe begrüßt das Fest des Evangelisten, der, wie in der Sequenz, ausdrücklich als Jungfrau (virgo) gepriesen wird. Die zweite Strophe fordert die Ordensgemeinschaft auf, in das Loblied des Heiligen einzustimmen. Die nächsten drei Strophen korrespondieren mit der Sequenz: die Abendmahlszene (Str. 3, vgl. Versikel 4), die Kreuzigungsszene (Str. 4, vgl. Versikel 7/8) und die Schau des Gottessohns (Str. 5, vgl. Versikel 5/6). In der sechsten Strophe ruft die Gemeinde den Heiligen um Fürbitte bei Gott an (vgl. Versikel 12). Die siebte Strophe beschließt den Hymnus mit einer trinitarischen Doxologie, für die es in der Sequenz kein Gegenstück gibt. Hymnus und Sequenz laufen also streckenweise parallel, verhalten sich aber komplementär. Denn während der Hymnus den feierlichen Lobpreis in den Vordergrund rückt und den biblischen Boden nicht verlässt, erzählt die Sequenz eine verdichtete Vita, die auch Legendarisches einbezieht und die Intimität der Beziehung zwischen Jesus und seinem Jünger in den Vordergrund rückt.

Dasselbe gilt für die volkssprachliche Andacht, die die lateinischen Texte wörtlich übersetzt. Da die deutsche Wiedergabe des Hymnus und der Sequenz in Prosa erfolgt, muss sich der Übersetzer keine formalen Ansprüche auferlegen und kann sich eng an den vorgegebenen Wortlaut halten. Dies zeigt sich auch in der Bezeichnung des Lieblingsjüngers als Jungfrau. Im Unterschied zu Wolfram von den Steinen, der diese Rolle stets mit Adjektiven in männlicher Form umschreibt (A: »keuscher, reiner«, 8: »der Reine«), schreckt die spätmittelalterliche Übersetzung weder in der Sequenz (A: eyn jungfrawe, 8: jungfrauwe), noch im Hymnus (1: eyn jungfrauwe), noch in der Antiphon (der jungfrauwen) davor zurück, Johannes als Jungfrau zu bezeichnen. Die deutsche Übersetzung lässt keinen Zweifel daran, dass unter der virgo tatsächlich eine jungfrauwe zu verstehen sei – sie hätte ja auch zu einer Umschreibung greifen können, wenn sie sich an der weiblichen Überblendung eines männlichen Jüngers gestoßen hätte. Doch im Gegenteil erscheint die Überblendung als Auszeichnung, als Voraussetzung der gnadenhaften Erwählung durch den Gottessohn (vgl. auch Hamburger 2002, 2008; McGinn 2000; Volfing 2001).

Bemerkenswert ist auch das Layout des Andachtsbuchs. Die Überschriften sind rubriziert, rote Lombarden markieren die Abschnitte. In der Mitte der ersten Textseite (Blatt 5r), die außer der Inhaltsangabe den Anfang der ersten Andacht enthält, findet sich eine vierzeilige, gefüllte und mit einem Strahlenkranz umgebene Schmuckinitiale in blauer und roter Farbe, von der aus grüne Blumenranken mit roten, blauen und grünen Blüten in den oberen und unteren Bildrand wuchern. Der Text der Johannesandacht ist, wie auch die anderen Andachten, mit bescheidenem Schmuck ausgestattet. Überschriften und Majuskeln, die die Abschnitte markieren, sind in roter Farbe ausgeführt. Besonders hervorgehoben werden nur der Hymnus (Blatt 25v), der Introitus (Blatt 29r) und die Sequenz (Blatt 29v). Der Hymnus beginnt mit einer zweizeiligen, gefüllten D‑Initiale, die in den linken Bildrand rankt; sie ist in roter Farbe ausgeführt, weist aber auch blaue Punkte im Buchstabeninneren auf. Der Introitus ist mit einer schlichten blauen I‑Initiale markiert, die sich über die sieben Zeilen des gesamten Abschnitts erstreckt. Die Sequenz weist eine gefüllte, zweizeilige O‑Initiale auf, die in grüner Tinte ausgeführt ist und im Inneren des Buchstaben auch rote Ranken und Punkte enthält. In der vorausgehenden Stephanus-Andacht wird die Sequenz besonders deutlich hervorgehoben. Diese beginnt mit einer Schmuckinitiale, die an die erste Textseite der Handschrift erinnert, denn auch von ihr wuchern bunte Blumenranken in den linken und unteren Rand der Seite (Blatt 26v).

5 Liturgie und Ästhetik

Peter Sloterdijk verzichtet in seiner anregenden Geschichte der Theopoesie auf ein Kapitel zur christlichen Hymnendichtung, an der sich mustergültig zeigen lässt, wie Dichter »den Himmel zum Sprechen bringen« (Sloterdijk 2020). Einige Aspekte der liturgischen Ästhetik, die der christlichen Gottesdichtung eignen, lassen sich am Beispiel der Jüngerhymne illustrieren. Dabei lassen sich drei genetische Stufen unterscheiden: (1) die Ästhetik der Sequenz als solcher, (2) die Ästhetik der Sequenz im Kontext der lateinischen Messe und (3) die Ästhetik der volkssprachlichen Andacht, die auf die gebundene Form des Verses verzichtet. Jede dieser drei Stufen umfasst wiederum drei Ebenen, die man als Poetik, Medialität und Performanz der Texte bezeichnen kann. Unter Poetik ist ihre sprachliche Organisation zu verstehen, unter Medialität ihre materielle Repräsentation im Buch und unter Performanz ihre rituelle Aufführung in Gebet und Gesang.

Über das Verhältnis von Liturgie und Ästhetik kann man einiges von Bronislaw Malinowski lernen, der in seinem 1925 veröffentlichten Essay Magie, Wissenschaft und Religion feststellte, dass Zaubersprüche mit drei Mitteln den »Glauben an [ihre] magische Wirksamkeit« erzeugen: mit »phonetische[n] Effekte[n]«, dem »Gebrauch von Worten, die das Gewünschte heraufbeschwören, statuieren oder befehlen«, und der »Bezugnahme auf Ahnen und Heroen der betreffenden Kultur, von denen diese Magie übernommen worden ist« (Malinowski 1983, S. 58). Entsprechend lassen sich auch an liturgischen Texten phonetische, rhetorische und mythologische Strategien aufweisen, derer sich die Verfasser bedienen, um das zu erzielen, was man in Anlehnung an den magischen Effekt der Zaubersprüche als Glaubwürdigkeitseffekt der Liturgie bezeichnen könnte.

Im Falle der lateinischen Sequenz besteht die mythologische Dimension in der Bezugnahme auf die biblischen und legendarischen Quellen, in der Selektion und Kombination der Elemente, aus der sich die Lebensgeschichte des Heiligen zusammensetzt. Der größte Teil der Sequenz (Versikel 1–11) wird aufgewendet, um das mythologische Fundament zu errichten, also das, was in der Terminologie des Zauberspruchs als historiola bezeichnet wird. Auf diesem Sockel wird dann die eigentliche Bitte formuliert (Versikel 12), also derjenige Sprechakt, der der incantatio des Zauberspruchs vergleichbar ist. Eine rahmende Apostrophe (A, Z) verklammert die kommemorierte Geschichte mit der daraus abgeleiteten Anrufung des Heiligen. Im Unterschied zum Zauberspruch wird die historiola also nicht in der dritten, sondern in der zweiten Person geschildert, wie es auch sonst in Hymnen und Sequenzen oft der Fall ist (zum Beispiel im Marienhymnus Ave maris stella und in der Mariensequenz Ave praeclara maris stella, nicht aber in der Mariensequenz Stabat mater dolorosa) (vgl. Berliner Repertorium, ID 6261 [Ave praeclara maris stella], 6860 [Ave maris stella], 6719 [Stabat mater dolorosa]). Die Apostrophe ist bereits Teil der spezifischen Rhetorik der Liturgie, zu der auch alle anderen poetischen Figuren und Tropen zählen, die wir im close reading der Sequenz herausgearbeitet haben. Die phonetische Dimension verweist wiederum auf die Performanz der Sequenz, die ja mit einer Melodie ausgestattet war und gemeinschaftlich gesungen wurde. Die Responsionen und Alliterationen, von denen die Sequenz lebt, kommen ja erst in der konkreten Aufführungssituation, im Widerhall des Chorgesangs zur Geltung. Dass die liturgische Ästhetik der Sequenz nicht auf den akustischen Sinn begrenzt bleibt, sondern ein synästhetisches Erlebnis darstellt, zu dem auch der Raum mit seinen Bildern und Düften beiträgt, versteht sich von selbst.

Im Falle der lateinischen Messe, in die sich die Sequenz einfügt, steigern sich diese Effekte. Die Sequenz tritt in einen Dialog mit den übrigen Gebeten und Gesängen ein, die Teil des Zeremoniells sind. In den übrigen Texten wiederholen sich die Geschichten, die über den Heiligen erzählt werden, und die Bitten, die an ihn gerichtet werden. Die Sequenz ist Teil einer Polyphonie, an der auch die übrigen Teile des Propriums partizipieren. Der Wechsel von Sprechen, Singen und Schweigen, die Abfolge der gebotenen Körperhaltungen und Bewegungen im Raum, die Interaktion der beteiligten Personen bilden den performativen Zusammenhang, in den sich die Sequenz einbettet und zu dem sie ihrerseits als ästhetischer Höhepunkt der Messe beiträgt.

Wie aber verhält es sich mit der volkssprachlichen Andacht? In welchem Maße vermag sie an der liturgischen Ästhetik der Messe im Allgemeinen und der Sequenz im Besonderen teilzuhaben? Als Volkssprache war das Deutsche nicht liturgiefähig, und auch die poetische Form ging weitgehend verloren, wenn, wie im vorliegenden Fall, Hymnus und Sequenz in schlichter Prosa wiedergegeben wurden. Auch in der privaten Leseandacht blieben noch wesentliche Elemente erhalten, die zum Glaubwürdigkeitseffekt der Liturgie beitrugen, insbesondere die Verkoppelung der Andacht mit den liturgischen Zusammenhängen des Stundengebets und der Messfeier, denen die Textbausteine entnommen sind, und die suggestive Wiederholung der Motive, Themen und Bitten, die im Ablauf der Andacht gesprochen werden. Besonders wichtig dürfte aber auch die materielle Gestaltung des Andachtsbuchs gewesen sein, in dem die Nonnen lasen: der lederne Einband, die prächtige Titelseite, die Rubrizierung der Abschnitte, die farbig-ornamentale Gestaltung der Großbuchstaben, mit denen vor allem die Hymnen und Sequenzen hervorgehoben werden. Auch die liturgischen Bücher, die die Hymnen, Sequenzen und Messen enthielten, waren oft in repräsentativer Form gestaltet. Aber in den Andachtsbüchern kam der visuellen Schönheit der aufgeschlagenen Doppelseite eine besondere Bedeutung zu, da sie die liturgischen und ästhetischen Qualitäten, die den lateinischen Texten als solchen innewohnten, nicht verdoppelte, sondern kompensierte. Die Interaktion der Nonne mit dem schönen Buch dürfte in gewissem Maße die liturgischen Interaktionen ersetzt haben, die für das Stundengebet und die Messfeier, aus deren Bestandteilen die Andacht komponiert war, charakteristisch sind. Derart in eine Stimmung der Erhabenheit versetzt, vermochte sie sich in jenem Lieblingsjünger wiederzuerkennen, den sich der Herr als Jungfrau erwählte und den er an seiner Brust ruhen ließ.