1 Vorbemerkungen

Der Beitrag setzt sich mit dem Vorlesungstext von Olga Tokarczuk anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur auseinander. Darin entwickelt die Preisträgerin – und der Titel kündigt es bereits an – für die Literatur das Schlüsselkonzept des liebevollen Erzählers und versucht es der Welt-Öffentlichkeit von Stockholm aus bekanntzumachenFootnote 1.

Der ursprüngliche Gedanke unserer Untersuchung war, dieses Konzept in erster Linie aus textlinguistischer Perspektive zu beleuchten. Es erwies sich aber als notwendig – was bei einem solchen Vorhaben durchaus als begründet erscheint, denn die Perspektive der Autorin ist bekanntlich breit angelegt –, weitere Gesichtspunkte, nämlich lexikologische, semantische sowie solche der ErzähltheorieFootnote 2 mit zu berücksichtigen, wobei wir uns bewusst sind, dass die Interpretationsoffenheit, die ein Text besitzt, auch durch das Interesse des/der Rezipient*in determiniert ist. Auch Tokarczuk schreibt der Interpretation eine große Rolle zu, wenn sie in einem Essay über ihre Leseerfahrungen konstatiert: »Interpretation ist nicht eine andere Perzeption, sondern eine Sinnverleihung.«Footnote 3 (Tokarczuk 2020d, S. 113)

Das Thema einer Vorlesung anlässlich der Verleihung des Nobelpreises weckt immer großes Interesse, nicht nur unter Schriftsteller*innen und Literaturwissenschaftler*innen, sondern überhaupt in der Welt der Kultur und Politik, weil – wie zu Recht angenommen wird – ein/eine Nobelpreisträger*in eine universale Botschaft zu verkünden hat.Footnote 4 So auch im Falle von Olga Tokarczuk, die in ihrer Vorlesung erstmals ihr Konzept des ›liebevollen Erzählers‹ für die Literatur öffentlich macht.Footnote 5 Ihre Vorgehensweise, das Thema vorzustellen und zu entwickeln, ist dabei nicht weniger aufschlussreich als die Schlüsselinstanz selbst. Hellhörig macht allein schon die Kollokation czuły narrator (›der liebevolle Erzähler‹), die weder im Polnischen noch im Deutschen bislang gebräuchlich war.Footnote 6 Dabei sind die von Olga Tokarczuk geprägte Kategorie czułość (›Zärtlichkeit‹) und das Konzept czuły narrator (›der zärtliche Erzähler‹/›der liebevolle Erzähler‹Footnote 7) nach Ryszard Nycz »revolutionäre Ideen, die das Potenzial besitzen, uns richtig durcheinander zu bringen und traditionelle Vektoren unserer Haltungen und Dispositionen zum Guten zu wenden: Denn: Ist Zärtlichkeit nicht all dem wohlgesinnt, was für die Existenz (im individuellen sowie im planetarischen Bereich) als gut gilt?«Footnote 8

2 Einige Aspekte zum Leben und Schaffen von Olga Tokarczuk

Im ersten Schritt des Beitrags wollen wir auf einige Aspekte des bisherigen Lebens und Schaffens der Schriftstellerin aufmerksam machen. Anschließend soll die textuelle Einbettung der Wörter, Ausdrücke und Begriffe wie czuły, narrator, czuły narrator und czułość sowie ihre Rolle bei der Interpretation der Wirklichkeit, bei der Bewertung der heutigen Welt verdeutlicht werden. Daneben soll auch die Möglichkeit des liebevollen Erzählers, Haltungen der Menschen zu beeinflussen, Gegenstand der Betrachtung sein.

Krzysztof Uniłowski macht darauf aufmerksam, dass nach einer Zeit anfänglicher Zurückhaltung und Distanzierung der literarischen Kritik gegenüber Tokarczuk die Zeit der spektakulären Gesten ihrer »Heiligsprechung« kam (vgl. Gołek-Sepetliewa 2020). Literaturkritiker*innen und Leser*innen heben hervor, dass Tokarczuks Schaffen durch eine reiche Vorstellungskraft gekennzeichnet seiFootnote 9, dass ihr die Welt ihrer Protagonisten viel bedeute (vgl. beispielsweise Tokarczuks Vortrag »Psychologia narratora« 2020e) und dass die Schriftstellerin nach neuen Antworten auf Fragen suche, die mit schwierigen Problemen der Gegenwart verbunden sind, aber dass sie auch »aus vielen mythologischen Traditionen der Welt schöpft, angefangen mit dem Judentum und dem Christentum, über den Glauben der Slawen bis zu Jungs Psychoanalyse.« (Kozłowska 2020, S. 1) Dabei offenbare sie ihre persönlichen Gedanken und Erfahrungen, auch um »die Grenzen des Geistigen, die in Natur, Materie und Menschen eingebettet sind, zu entdecken« (Nalepa 2013, S. 133).

Es fehlt aber auch nicht an kritischen Stimmen. Sie betreffen vor allem den Anfang der schriftstellerischen Tätigkeit Tokarczuks. Betont werden u. a. kulturhistorische Ungenauigkeiten, eine populäre Art und Weise, Ausführungen zu gestalten, eine zu starke Transparenz der Sprache oder Schmeicheleien gegenüber dem Geschmack der Leserschaft (vgl. beispielsweise Kantner 2019).

Es wird darauf hingewiesen, dass Tokarczuk an die kreative Macht des Wortes glaubt, dass sie »das Wort sehr ernst nimmt, sich dem kabbalistischen Glauben und seiner Wirkkraft nähert und es als ein verstecktes Gewebe der Wirklichkeit betrachtet« (vgl. Kantner 2019, S. 10). Tokarczuk selbst, die sich mehrmals zur Literatur und zur Poetik des Romans geäußert hat, schlägt einen Kommunikationspakt mit den Leser*innen vor: »Wir gehen nicht davon aus, dass die Kunst unverständlich und unzugänglich ist, dass sie durch großen Ehrgeiz und kühle Distanz geprägt ist, wir gehen davon aus, einen solchen Kontext der Geschichte zu schaffen, in dem wir uns Rücken an Rücken lehnen und uns das Schicksal vorhersagen werden« (nach Kącka 2020, S. 13). Dieser Ausgangspunkt ist wichtig, weil das Schaffen der Nobelpreisträgerin, wie Eliza Kącka schreibt, eine Rückkehr zu den Wurzeln bedeutet; es ist die Stimme der Schriftstellerin, der Mitgestalterin der kollektiven Vorstellungskraft, die Stimme der Erzählerin im Hintergrund der Stimmen anderer Heilerinnen (Kącka 2020, S. 11).

Es stellt sich mithin für diejenigen, die eine Analyse der Texte dieser Schriftstellerin wagen, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Eine Analyse der Vorlesung in toto und des von der Schriftstellerin holistisch angelegten Plädoyers, die Relation zwischen Literatur und Welt zu gestaltenFootnote 10 und über sie so zu erzählen, dass damit Einfluss auf die sich in tiefer Krise befindende Welt ausgeübt werden kann, vermag ein/eine Linguist*in nur partiell zu leisten. Im Falle der Nobelpreisrede handelt es sich zwar nicht um einen literarischen Text im engeren Sinn, sondern um eine essayistisch orientierte Vorlesung, aber seine Prägung durch die Schriftstellerin-Autorin ist doch sehr deutlich, was ihn zweifellos zu einem sprachlich und inhaltlich anspruchsvollen Stück Wortarbeit macht.Footnote 11

3 Die Lexeme czułość und czuły aus lexikologischer Sicht

Es scheint angeraten, einer linguistischen Analyse des Konzepts des liebevollen Erzählers einige lexikologische Bemerkungen zu den im Titel des Kapitels erwähnten Lexemen voranzustellen, weil sie für unser Vorhaben von grundsätzlicher Bedeutung sind. Wir konzentrieren uns in erster Linie auf die polnischen Lexeme, weil der Ausgangstext auf Polnisch verfasst wurde, für den diese lexikalischen Einheiten den Interpretationsrahmen eröffnen.Footnote 12

Als Derivationsbasis für die Derivate czucie, czułość, czuły, czulić się, czułki, czujny gilt das slawische Verb czuć (urslawisch: čuti) (›fühlen‹), das bereits im 14. Jahrhundert vorkommt. Im etymologischen Wörterbuch von Długosz-Kurczabowa (2006) wird es folgendermaßen definiert: »Sinneseindrücke erfahren, Gefühle erfahren, etwas innerlich erleben, sich etwas bewusst werden«; das Adjektiv czuły (aus dem Ursl. čul) hat die Bedeutungen czujny, wyczulony, wrażliwy (ebenda, S. 92) (›aufmerksam‹, ›wachsam‹, ›empfindlich‹, ›sensibel‹).Footnote 13

Für jede Bedeutungsvariante von czuły gibt es einige Synonyme:

  1. 1.

    czuły (bezogen auf die Person), z. B. Geliebter, Sohn – ›zärtlich‹, ›liebevoll‹, ›herzlich‹;

  2. 2.

    czuły (Stimme, Blick) – ›sanft‹;

  3. 3.

    czuły (auf Ungerechtigkeiten, auf Schönheit) – ›empfindlich‹;

  4. 4.

    czuły (Mechanismus) – ›fein‹, ›genau‹ (vgl. Bańko 2008, S. 110).Footnote 14

Die Vielfalt der Bedeutungsvarianten hat zur Folge, dass die Lexeme czuły/czułość eine allgemeine und weit gefasste Bedeutung verbindet: Sensibilität, Liebe, Wärme und Sorge ausstrahlend. Die Analyse der GebrauchskontexteFootnote 15 des Lexems czuły zeigt, dass es in bestimmten Ausdrücken vorkommt: czuły i wrażliwy (›zärtlich und sensibel‹), czuły i opiekuńczy (›zärtlich und fürsorglich‹), czuły i serdeczny (›zärtlich und herzlich‹), czuły i troskliwy (›zärtlich und sorgsam‹), czuły i delikatny (›zärtlich und empfindsam‹). Czułość also kommt die Bedeutung einer wichtigen Kategorie zu, deren Bestimmung die philologische Tiefensonde erfordert, um möglichst alle Bedeutungsschattierungen ans Licht zu befördern. Alle diese Eigenschaften beziehen sich auch auf den liebevollen Erzähler, der, wie schon erwähnt, ein immenses Wissen besitzt, alles versteht, viel erlebt, die Welt interpretiert, Zeitgrenzen transzendiert, der mehr als die anderen, ja sogar alles sieht und die Erlebnisse der Protagonisten mitempfindet und nachvollzieht.Footnote 16 An dieser Stelle drängen sich einige Fragen auf: Hat er auch die Kraft, den Menschen und die Welt zu beeinflussen? Wie (re)konstruiert Olga Tokarczuk die Kategorie des liebevollen Erzählers? Welche Vorstellungswelt wird in der Vorlesung evoziert? Es werden im Folgenden Antworten dazu gesucht, die sich auf die (text)linguistische Analyse stützen.

Was die Wiedergabe dieser lexikalischen Einheiten in der deutschen Übersetzung anbelangt, so kommt im polnischen Text die Verbindung zwischen czułość und czuły in der Wortbildung deutlich zum Ausdruck. Das Adjektiv czuły stellt eine Wurzel zur Bildung des Substantivs czułość dar, was man mit dem Adjektiv zärtlich und seinem Derivat Zärtlichkeit verdeutlichen könnte. Das deutsche Lexem zärtlich würde deshalb mit dem Substantiv Zärtlichkeit als Derivat eine analoge Relation zwischen den beiden Wörtern wiedergeben. Dies wird in der deutschen Übersetzung mit dem Lexem ›liebevoll‹ und der Wortgruppe ›liebevolle Zuneigung‹ nicht erreicht, so dass für die deutschsprachigen Leser*innen der Charakter der polnischen Kollokation czuły narrator in gewissem Sinne verlorengeht.Footnote 17

In diesem Zusammenhang auch noch eine Anmerkung zu Kollokationen: Wie die Analyse der Kontexte zeigtFootnote 18, kommt das Lexem narrator (›Erzähler‹) in Verbindung mit dem Adjektiv czuły nicht vor, diese Kollokation ist nicht gebräuchlich. Üblich sind andere polnische Lexeme, die als Kollokationen auftreten, beispielsweise bezogen auf opowiadanie, książka, historia, pamiętniki (›Erzählung‹, ›Buch‹, ›Geschichte‹, ›Tagebücher‹) (mit dem Genitiv). Das Adjektiv czuły kommt dagegen oft mit Substantiven vor, die als Personenbezeichnungen fungieren, beispielsweise kochanek, mężczyzna, kobieta, matka (›Geliebter‹, ›Mann‹, ›Frau‹, ›Mutter‹) oder mit Bezeichnungen der Sinne: dotyk, głos, wzrok (›Tastsinn‹, ›Stimme‹, ›Sehkraft‹). Es kann sich somit laut des angeführten Wörterbuchseintrags und der darin angegebenen Kontexte um Kollokationen mit solchen Wörtern wie słowa (›Worte‹), pozdrowienia (›Grüße‹), powitania (›Begrüßungen‹) oder listy (›Briefe‹) handeln. Die Kollokation des Lexems czuły und des literaturwissenschaftlichen Terminus Erzähler ist somit originell. Man kann ihn auf den czuły obserwator (›der aufmerksame Beobachter‹/›Betrachter‹) beziehen, besonders dann, wenn der Erzähler als ein wichtiges Element der Erzählsituation angesehen werden kann, als Subjekt der Narration.

4 Kategorien der Erzählung und des Erzählers

In welcher Beziehung steht nun der liebvolle Erzähler zu den Erzähltypen der Erzähltheorie?Footnote 19 Es muss gleich vorausgeschickt und hervorgehoben werden, dass es nicht das Ziel von Tokarczuk ist, einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Erzähltheorie zu leisten, etwa eine neue Typologie des Erzählers anzustreben, auch wenn sie das grundlegende Begriffsinstrumentarium der Erzähltheorie, d. h. die Bezeichnungen ›Ich-Erzähler‹, ›Erzählen‹, ›Fabel‹ und ›Fiktion‹ in der analysierten Vorlesung im allgemeinen Sinne benutzt und zu bedienen versteht.

Die Kategorie des Erzählers wurde von Tokarczuk bereits in einem früheren Vortrag mit dem Titel »Psychologia narratora«Footnote 20 (›Psychologie des Erzählers‹) im Jahr 2018Footnote 21 behandelt – und damit offensichtlich der Weg zu dem hier im Mittelpunkt der Analyse stehenden liebevollen Erzähler aus der Nobelpreisrede angebahnt. Es ist derselbe Erzähler, der in der Nobelpreisvorlesung als liebevoller Erzähler oder Erzähler in der »vierten Person« (narrator czwartoosobowy) firmiert.Footnote 22 Es handelt sich bei der Anknüpfung aber nicht um grammatische Eigenschaften, die übereinstimmen würden, sondern um die Art und Weise, die Welt zu empfinden sowie um die Schaffenskraft, d. h. um die potentielle Wirksamkeit, die Handlung des Werkes zu gestalten.

Auf eine spannende Art und Weise macht die Autorin in diesem Text ihre Leserschaft mit den verschiedenen Typen des Erzählers bekannt. Sie widmet sich dieser Frage aus ihrer Erfahrung als Schriftstellerin heraus, nicht aus der Sicht der Literaturwissenschaft, und führt zahlreiche Beispiele, vor allem aus dem eigenen Schaffen, aber auch aus anderen epischen Werken an, wobei sie auf den Zusammenhang zwischen der Art der Geschichte und dem jeweiligen Erzähler hinweist. Tokarczuk selbst charakterisiert den Erzähler in »Psychologia narratora« folgendermaßen: »Es ist etwas, was im Schlaf versunken ist, das seine Kraft offenbart wie ein nicht-aktives Gen (…)« (2020e, S. 155). Aus diesem Zitat ist deutlich zu ersehen, dass hier die Perspektive der Literatur, die auf der Vorstellungskraft beruht und nicht literaturwissenschaftliches Wissen aktivieren soll, im Spiel ist. Gleich am Textanfang wird die Rolle des Erzählers angesprochen, wenn Tokarczuk konstatiert, dass für das Schreiben einer guten Geschichte das beste Thema, sorgfältige Recherchen und gute Arbeitsbedingungen nicht ausreichend sind, man brauche stets den Erzähler. Für die Autorin stellen ihre Überlegungen zum Erzähler und zu seiner Gestaltung einen langwierigen Prozess dar, der beim Schreiben des Romans »Dom dzienny, dom nocny« (»Taghaus, Nachthaus«) begonnen hat. Sie bezeichnet ihre Bemühungen und Erfahrungen um die Gestaltung der Erzählfunktion als ćwiczenia z narratoraFootnote 23 (›Übungen zum Erzähler‹), als ihr Abenteuer mit potenziellen Erzählern. Sie hat dabei die neue Bezeichnung narrator panoptykalny – niezwykły, dziwny (›außerordentlich‹, ›ungewöhnlich‹, ›panoptisch‹) geprägt – eine unpersönliche Erzählinstanz im Text, deren Perspektive und Wissen praktisch unbegrenzt sind (ebenda, S. 170).

Es ist somit die Rede vom allwissenden Erzähler, den Tokarczuk als Leserin liebt. Sie merkt dabei jedoch an, dass er von dem/der Autor*in eine Yoga-Konzentration verlangt. Als Gegenpol nennt sie den Ich-Erzähler, der sich emotional an der Handlung beteiligt.

»Psychologia narratora« berechtigt zu der folgenden Schlussfolgerung: Wenn man versuchen würde, das Konzept des liebevollen Erzählers erzähltheoretisch zu fassen, müsste man sagen, dass es nicht zu leisten ist, weil sich die Schriftstellerin nicht auf der Ebene der Erzähltheorie bewegt, sondern nur bestimmte ihrer Elemente benutzt. Tokarczuk strebt, wie gesagt, keine Erzähltypologie an. Die Gemeinsamkeit mit der Erzähltheorie von Genette könnte man lediglich darin sehen, dass der Erzähler in der vierten Person bei Tokarczuk als Figur vorkommen kann (wie Jenta im monumentalen Roman »Die Jakobsbücher«) oder nicht. Interessanterweise sind in diesem Werk bereits andere Erzähler – der dissoziative Erzähler, der sich von der Autorin löst, der Er-Erzähler, der sich von ihr distanziert, also der autonome Erzähler – vorhanden, die der Schriftstellerin jedoch nicht ausreichen. »In einem Moment des Schreibens fühlte ich, dass ich ratlos dastehe und dass ich bereits alle Möglichkeiten, die Narration bietet, genutzt habe.« (ebenda, S. 176) berichtet Tokarczuk. Es zeigte sich, dass in einem so komplexen Werk noch eine Erzählstimme notwendig war, die die Zeitgrenzen überschreitet und alles von oben betrachtet. Jenta, eine der Hauptfiguren, wird zu einer solchen Erzählerin. Sie übernimmt diese Stimme. Die Schriftstellerin spricht in ihrem Fall von der Erzählerin in der vierten Person (narratorka czwartoosobowa), was mit der Bezeichnung und Rolle des liebevollen Erzählers in der analysierten Nobelpreisvorlesung koinzidiert, wo er jedoch als zentrales Konzept viel ausführlicher charakterisiert wird.

Die von Tokarczuk genannten Typen von Erzählern sind in erster Linie auf ihre Erfahrungen, die sie beim Verfassen ihrer konkreten Werke gemacht hat, zurückzuführen. Die Schriftstellerin sagt, dass sie beim Verfassen des hier behandelten diskutierten Romans »Księgi Jakubowe« immer wieder ratlos war, weil sie bereits alle erzählerischen Möglichkeiten im Hinblick auf die komplizierte Handlung ausgenutzt zu haben schien und vor dem Problem stand, das Werk als Ganzes zu schaffen. Die Schriftstellerin fasst es bildhaft wie folgt: »Als ich in tiefe Verzweiflung bei der Betrachtung des unfertigen Textes geriet, tauchte Jenta ruck zuck wie ein Flaschengeist aus Aladins Wunderlampe auf – eine Figur, deren physische und psychische Grenzen nicht mehr nach menschlichem Maß sind. Dank dessen schaut Jena durch die Zeit und sieht alles von oben.« (ebenda, S. 176 f.)

Man könnte hier bestimmte Züge des auktorialen Erzählers im Sinne von Stanzel (2008) oder der Nullfokalisierung im Sinne von Genette (2010) ausmachen, aber es würde sich dann um keine klare Zuordnung handeln, weil es nicht die Absicht Tokarczuks ist, eine Typologie zu erstellen. Die Vagheit der Erzählerqualität resultiert vielmehr aus der Tatsache, dass hier zwei Ebenen im Spiel sind – nämlich die der literaturwissenschaftlichen Terminologie und der damit zusammenhängenden Sachverhalte einerseits und die der Welt der Schriftstellerin anderseits –, in der die gängigen Begriffe des ›Ich-Erzählers‹ und der ›Erzählung‹ zwar erscheinen, in der jedoch der liebevolle Erzähler als Tokarczuks schriftstellerische Erfindung gilt.

5 Die sprachliche Manifestation des liebevollen Erzählers und der liebevollen Zuneigung im Vorlesungstext

5.1 Das Konzept czuły narrator (›der liebevolle Erzähler‹)

Im Folgenden geht es um die explizite Erscheinungsweise des liebevollen Erzählers im Sinne seiner Nennung und seiner impliziten Thematisierung verdeutlicht werden.

Bereits die erste Lektüre des Textes macht deutlich, dass dem ›liebevollen Erzähler‹ (als Kategorie!) im bzw. als Titel eine strategische Position zukommt; auch wird er gleich im Schlusssatz des ersten Kapitels explizit erwähnt. Ohne Zweifel eröffnet die Verwendung und somit die Thematisierung dieser Kollokation eine im Hinblick auf den weiteren Textablauf kataphorische Erwartung, die mit der Frage zusammenhängt, wie diese Instanz von Tokarczuk aufgefasst und welche Rolle ihr zugeschrieben wird. Im Textganzen und am Schluss des Textes kommt dagegen das Verb erzählen als Manifestation einer umfangreichen Isotopiekette vor. Im Titel erscheint die bloße Bezeichnung der liebevolle Erzähler ohne weitere begleitende sprachliche Elemente, was die Prägnanz dieses Ausdrucks verstärkt und ihm eine aufmerksamkeitssteuernde Funktion verleiht, die damit zugleich in den Mittelpunkt rückt und als zentrales Konzept des Gesamttextes gilt.

Gleich in der Eingangspassage wird ihm eine besondere Rolle zugeschrieben. Als Schöpferin fungiert die Mutter der Autorin, die durch ihre emotionale Kraft in der Lage ist, dem nicht Existierenden in gewissem Sinne zur Existenz zu verhelfen. Sie erklärt ihrer kleinen Tochter, dass, als sie noch nicht auf der Welt war, sie bereits von ihr vermisst wurde. Tokarczuk drückt es so aus, dass ihre Mutter, eine junge, nichtreligiöse Person, ihr »den liebevollsten Erzähler der Welt zur Seite [stellte].« (S. 14)

Damit kommt eine Überzeugung zur Sprache, dass das Gefühl des Vermissens nicht nur mit einem konkreten Verlust verbunden sein muss, sondern dass man auch jemanden vermissen kann, den es noch nicht gibt. Die Mutter erklärt: »Wenn man jemanden vermisst, bedeutet das, dieser Jemand ist schon da.« (S. 13) Die Nobelpreisträgerin greift nicht zufällig auf die Beziehung zur Mutter gleich am Anfang der Vorlesung zurück. Es geht dabei um den Prozess der Gestaltung der Persönlichkeit der Tochter in ihrer Kindheit, der die Mutter diese Geschichte erzählt und dadurch ihre Sensibilität anregt, was auch mit der Vorstellungskraft der Schriftstellerin in Verbindung steht. Es drängt sich bei dieser intensiven persönlich geprägten Äußerung eine Analogie auf, dass der noch nicht bekannte liebevolle Erzähler, der mit der Seele, d. h. mit einer geistigen Größe gleichgesetzt wird, auch eine besondere Kraft besitzen muss.

Der Ausdruck der liebevolle Erzähler wird dann im 6. Kapitel wieder aufgenommen. Als wichtig für die Interpretation der Vorlesung kann Tokarczuks Frage betrachtet werden, die direkt an die Bibel anknüpft und der sich drei weitere Fragen anschließen. Sie gehen dem Schlüsselbegriff der liebevolle Erzähler voran.

So zitiert Tokarczuk zitiert aus dem Johannes Evangelium: »Im Anfang war das Wort.« Diese rhetorisch geprägte Anknüpfung an die Bibel initiiert die eigentliche Einkreisung des liebevollen Erzählers.

»Haben Sie schon einmal gefragt, wer dieser wunderbare Erzähler (pl. cudowny opowiadacz, vgl. S. 52) ist, der in der Bibel mit weithin tönender Stimme verkündet: ›Im Anfang war das Wort‹? Der die Schöpfung der Welt beschreibt, ihren ersten Tag, an dem die Wirrnis von der Ordnung geschieden wird? Wer durchlebt sie, die Serie von der Entstehung des Kosmos? Wer kennt Gottes Gedanken, Gottes Zweifel, wer bringt mit sicherer Hand jenen außerordentlichen Satz zu Papier: ›Gott sah, dass es gut war‹? Wer ist es, der weiß, was Gott dachte?« (S. 52 f.)Footnote 24

Hier ist ebenfalls eine gewisse Analogie zum ersten Kapitel zu bemerken, in dem der liebevolle Erzähler mit einer äußerst positiven Wertung versehen und sogar superlativisch als »der liebevollste Erzähler« bezeichnet wird.

Bemerkenswert ist, dass die beiden Stellen in einen Kontext eingebettet sind, in dem Sachverhalte auftauchen, die das Immaterielle, das Geistige besonders kennzeichnen und herausstellen – der Erzähler erscheint zuerst als eine literarische Paraphrase der Seele (Kap. 1) und wird als Instanz entworfen, die offenbar die Gedanken Gottes kennen kann (vgl. oben, Kapitel 6). Eines steht fest: Die Transzendenz ist in beiden Passagen präsent.

Der liebevolle Erzähler erscheint jedoch nicht ausschließlich als eine neue Instanz. Er erwächst in erster Linie aus der Kontrastierung mit dem Ich-Erzähler, der im vorausgehenden 2. Kapitel thematisiert wird. Letzterem wird viel Aufmerksamkeit gewidmet, seine scheinbaren Vorzüge, vor allem aber seine Unzulänglichkeiten und Mängel werden deutlich gemacht. Hier wird die Suche nach einer neuen Erzählinstanz deutlich: Eben die Auseinandersetzung mit der Ich-Erzählung macht einen wesentlichen Teil des 2. Kapitels aus und stellt ein relevantes Teilthema des Gesamttextes dar. Die Wiederaufnahme dieses Teilthemas im 6. Kapitel der Vorlesung, übrigens das vorletzte Kapitel insgesamt, ist im Hinblick auf die Kohärenzstiftung als strategischer Zug zu werten. Tokarczuk stiftet Kohärenz mit dem Textganzen, indem sie die Rolle des Wortes und die des Erzählens als fundamental hervorhebt.

Das vorletzte Kapitel schließt mit einer Parallele an ein für die europäische Kultur fundamentales Werk an, und zwar »Doktor Faustus« von Thomas Mann, und einer seiner Figuren, dem Tonsetzer Adrian Leverkühn, der eine neue Tonart erfindet; diese besitze die Fähigkeit, die Welt zu verändern. »Was Mann jedoch nicht schildert, ist ihre Form; er schafft lediglich eine Vorstellung davon, wie diese Musik klingen könnte.Footnote 25 Vielleicht besteht die Rolle des Künstlers eben genau darin – eine einen Vorgeschmack darauf zu geben, was sein könnte, und so dafür zu sorgen, dass es eben vorstellbar wird. Vorstellbarkeit ist schließlich die erste Stufe des Seins.« (57 f.)

Auch hier drängen sich wieder Parallelen auf, und zwar zur Mutter, die ihre noch nicht geborene Tochter vermisst, und zum liebevollen Erzähler, was von besonderer Wichtigkeit ist. Noch nicht Existierendes kann dank der Vorstellungskraft seinen Anfang nehmen.

Des Weiteren ist beachtenswert, wie der liebevolle Erzähler implizit im Text dargestellt und charakterisiert wird. Diese Strategie ist von einem/einer aufmerksamen Leser*in zu entschlüsseln. Dem liebevollen Erzähler ist nämlich eine bestimmte Erzählweise eigen: Statt die Geschichte zu schreiben und zu erzählen, soll er an der bzw. die Geschichte ›weben‹; dieser Ausdruck kommt mehrmals in der Vorlesung zur Sprache. Er soll die Welt eines ›Ich‹ betrachten, sein eigenes Schicksal erzählen, die Kreation ›einer Stimme, die spricht‹ darbieten, eine Erzählung konstruieren, in der alles Wesentliche enthalten ist.

Emotionen betonen das reiche Innenleben des Erzählers, der an der Geschichte webt. Er ist eine Gestalt, die nicht nur alles weiß, sondern auch alles miterlebt, die durch eine reiche Vorstellungskraft gekennzeichnet ist, die es versteht, Empathie zu zeigen und die Vorstellungskraft der Leser anzuregen und zu entwickeln. Zum Ausdruck emotionaler Zustände dienen bekanntlich verbale Mittel, die im Medium der Schrift dominieren sowie nonverbale und paraverbale Mittel, die für direkte Kontakte charakteristisch sind. (vgl. Awdiejew 2007, S. 122; Awdiejew/Habrajska 2006, S. 10 f.) In dem analysierten Text sind sowohl Bezeichnungen für Gefühle und Emotionen präsent, die in erster Linie das semantische Feld des Erlebens repräsentieren, als auch Ausdrücke, die die nichtverbale Intensivierung von Empfindungen wiedergeben, z. B. sich sehnen, fühlen, überlief mich (…) ein Schauer, mit heißen Wangen und Tränen in den Augen. All die Bezeichnungen beziehen sich auf die Schriftstellerin selbst, die ihre emotionalen Reaktionen charakterisiert und somit ›vorführt‹, wie der zärtliche Erzähler, den sie selbst verkörpern will, sprachlich handelt.

Derart konturiert sich ein sensibles Wesen, das durch profunde Erlebnisse gekennzeichnet ist und entsprechend intensiv auf die Wirklichkeit reagiert, eine scharfsinnige Beobachter- und sensible Schöpferfigur, wobei weitere Attribute des geschichtenwebenden Erzählers zu Tage treten. Die Nobelpreisträgerin gibt in ihrem Text Entwicklungsetappen ihres liebevollen Erzählers preis: das allseitige Beobachten, die Anregung der Vorstellungskraft, das Erleben, der Glaube, die Nähe und die Erinnerung an die Mutter.

Die sinnlich geprägte Auffassung der Welt wird auch in der folgenden initialen Passage spürbar, in der ›die Geburt‹ des liebevollen Erzählers beschrieben wird:

»Das erste Bild, das ich bewusst wahrgenommen habe, ist ein Foto meiner Mutter noch aus der Zeit vor meiner Geburt. Leider ist es eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, dadurch lassen sich viele Details schwer erkennen, lediglich als graue Schemen. Das Licht ist weich wie bei Regen, ein Frühjahrslicht ist es wohl, das durchs Fenster sickert und den Raum nur schwach erhellt. Meine Mutter sitzt bei dem alten Radio – es ist einer dieser Apparate mit grünem Auge und zwei Knöpfen, einem für die Regulierung der Lautstärke, einem für die Sendersuche. […] Ich glaubte fest daran, dass durch das Radio andere Sonnensysteme und Galaxien zu mir sprachen und mir zwischen Knacken und Rauschen Botschaften sandten, die ich einfach nicht entschlüsseln konnte. […] Die leicht gebeugt dasitzende Frau hat ihren Blick auf einen Punkt jenseits des Bildrandes gerichtet. Sie sieht etwas, was dem Betrachter verborgen bleibt. Als Kind meinte ich, sie betrachte die Zeit. Auf dem Foto ereignet sich nichts; es bildet einen Zustand ab, keinen Prozess. Die Frau wirkt traurig, in Gedanken versunken, abwesend. […] Und so gab mir diese junge Frau, die nie religiös gewesen war – meine Mutter –, etwas, das man früher »Seele« nannte – und stellte mir damit den liebevollsten Erzähler der Welt zur Seite.« (S. 11–14)

Bei der ersten Lektüre scheint es die gewöhnliche, einfache Beschreibung eines alten Schwarz-Weiß-Fotos zu sein, aber es lässt sich ohne weiteres behaupten, dass hier der liebevollen Zuneigung Ausdruck verliehen wird. Ein Betrachter spricht nicht vom Sehen oder von der durch das Betrachten ausgelösten Erinnerung, sondern vom bewussten Erleben des Fotos. Das Verb przeżyć (›erleben‹), przeżyć świadomie (›bewusst erleben‹) drückt die Bedeutung »starke Emotionen erfahren in Verbindung mit bestimmten Ereignissen oder Enttäuschungen«Footnote 26 aus. Ein solches Erleben, das mit positiven wie negativen Geschehen verbunden sein kann, ist tief, stark und offenbart die Sensibilität des Betrachters. Unwichtig werden die Einzelheiten, unbekannt bleibt, wo und wann sich etwas abspieltFootnote 27, weil der liebevolle Erzähler nicht alles sagt. Es bleiben unbestimmbare Stellen der Offenheit, da es sich um das Erleben, um Emotionen, um einen Lebensmoment und nicht um Präzision handelt. Es gibt noch mehr solcher Unklarheiten – die Einzelheiten verlieren sich, sichtbar sind lediglich Umrisse und Schemen, aber über das Sehen werden auch alle anderen Sinne aktiviert. »Das Licht ist weich wie bei Regen, ein Frühjahrslicht ist es wohl […]« (S. 11), manchmal verstummt der Ton, das Kind hört die Stimme anderer Sonnensysteme und Galaxien zwischen Knacken und Rauschen. (S. 12)

Eigenschaften des liebevollen Erzählers – von Tokarczuk verkörpert und umgesetzt – sind Sensibilität und Aufmerksamkeit. Alles ist für sein Bewusstsein wichtig: alte Gegenstände das Radio, Knöpfe für die Regulierung der Lautstärke und für die Sendersuche, die empfindlichen AntennenfühlerFootnote 28, die Offenheit für die Welt sichern, aber auch der Mensch und die Umstände, in denen sich jemand und etwas befindet, was zur Entdeckung des Inneren, des Seelenzustands, des Bewusstseins einer nahe stehenden Person führt. Die Mutter auf dem alten, undeutlichen Foto ist durch einige Eigenschaften gekennzeichnet: Sie hat ihren Blick auf einen Punkt jenseits des Bildrandes gerichtet, ist leicht gebeugt, wirkt traurig, ist in Gedanken versunken, abwesend. Die Schriftstellerin steht der Mutter sehr nahe, und als eine Person, die das Bild betrachtet, hat sie die Fähigkeit, das mitzuempfinden, was die im Bild ›lebende‹ und fühlende und sehende Mutter empfindet.

So gelingt es der Autorin, eine Erinnerung wachzurufen, wenn sie bei der Beschreibung die Worte sorgfältig wählt und von Gesten, Blicken, Licht spricht; es erlaubt, die Seele zu entdecken, und damit den liebevollsten Erzähler der Welt.Footnote 29 Die Verbindung der SeeleFootnote 30 mit dem liebevollen Erzähler unterstreicht die Rolle des Gefühls und der Sensibilität, sie veranlasst auch den/die Rezipient*in dazu, dieses Verstehen der Seele als bevorzugt zu betrachten.

Warum wurde die Fotobeschreibung zum Ausgangspunkt der Festrede, deren Zuhörerschaft so wichtig und zugleich so heterogen ist? Ein Grund dafür ist, dass ein Foto mehrdeutig und vielsagend ist und dass es bei seiner Beschreibung nicht um die Oberfläche geht, sondern um die Entdeckung, was im Foto bzw. was dahinter steckt und was die Vorstellungskraft und Fantasie animiert. Zudem geht es um die Fähigkeit, Interesse zu wecken. So schreibt Susan Sontag zur Rolle der Bilder und zu ihrem Einfluss auf die Weltwahrnehmung:

»Jedes Foto ist mehrdeutig: Etwas als Bild zu sehen, heißt einen potenziellen Gegenstand der Faszination zu finden. Die definitive Weisheit eines Fotobildes verbirgt sich hinter der Feststellung: Das ist eine Oberfläche. Und jetzt denkt darüber nach, oder besser erspürt, was dahinter steckt, wie die Wirklichkeit sein muss, wenn sie so aussieht.« (Sontag 2017, S. 31).

5.2 Die Kategorie die liebvolle Zuneigung

Im Schlusskapitel (Kapitel 7), also an einer topologisch wichtigen Stelle, wird dagegen die liebevolle Zuneigung an sich charakterisiert. Die darin vermittelten Sachverhalte sind auf die Botschaft der Schriftstellerin zurückzuführen, der ihre Erfahrung als Schriftstellerin sowie ihre Vorstellungskraft zugrunde liegen. Dabei wird die Relevanz der liebevollen Zuneigung hervorgehoben, weil sie durch die positive Hinwendung zu jedwedem Wesen gekennzeichnet ist und die auf dem Gefühl beruhenden zwischenmenschlichen Relationen prägt.Footnote 31 Das LexemFootnote 32czułość (›liebevolle Zuneigung‹) erscheint im letzten Kapitel in einer sehr hohen Frequenz. Durch seine Repetition gewinnt der thematisierte Inhalt an Relevanz. Tokarczuk macht deutlich, dass es sich um eine einzige Größe bzw. ein einzigartiges Gefühl handelt, die bzw. das die gespaltene Welt zusammenfügen kann. Man kann der Passage eine geistige, ja religiös-metaphysische Prägung nicht absprechen. Die Botschaft vom liebevollen Erzähler lässt sich folgendermaßen situieren: Im polnischen Original drängt sich eine gewisse Parallele zum Hohelied der Liebe (Hymn o miłości) aus dem 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs des Paulus von TarsusFootnote 33 auf, wobei die eigentliche Beschreibung der Liebe in 13,4–8a erfolgt, von »Die Liebe ist langmütig« bis zu »Die Liebe vergeht niemals« (dazu noch 13,13: »die Liebe ist die größte«).

Die metaphysische Provenienz von Tokarczuks Positionen zu vielen in der Vorlesung behandelten Teilthemen steht außer Zweifel, inwieweit sie aber mit Religion und mit Gott verbunden sind, müsste aus literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive im Hinblick auf ihr Gesamtschaffen behandelt werden.Footnote 34

Aus der charakterisierten Passage könnte man somit im Vergleich mit dem Hohelied der Liebe folgendes zu konstatieren wagen: Die Liebe (miłość) ist die Eigenschaft des Schöpfers, czułość (›Zärtlichkeit‹) soll die des Erzählers werden.

Wenn man die Kohärenz in weiteren Textpassagen verfolgt, ist es wichtig hervorzuheben, dass Tokarczuk durch die Charakterisierung der liebevollen Zuneigung eine Brücke zwischen diesem Gefühl und der Literatur schlägt, wobei die liebevolle Zuneigung als ein immanenter Bestandteil der Literatur angesehen wird:

»Literatur gründet auf der liebevollen Zuneigung, die wir jedem anderen Sein entgegenbringen. Und das ist der entscheidende psychologische Mechanismus des Romans. Dem wunderbaren Instrument der liebevollen Zuneigung – der raffiniertesten Art der menschlichen Kommunikation – ist es zu verdanken, dass unsere Erfahrung durch die Zeit reisen und jene erreichen kann, die noch nicht geboren sind, aber einmal das zur Hand nehmen werden, was wir über uns und unsere Welt erzählt haben.« (S. 60 f.)

Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Autorin die liebevolle Zuneigung mit der Fiktion, die der Literatur eigen ist, in Verbindung setzt. Und zwar findet sich zur Fiktion bei Tokarczuk die folgende Bestimmung:

»Ich schreibe fiktionale Geschichten, doch sind diese Geschichten niemals gänzlich »erfunden«. Wenn ich schreibe, muss ich alles in mir fühlen. Der Weg aller Wesen und Dinge in meinen Büchern, alles Menschlichen und Außer-Menschlichen, alles Lebendigen und Nicht-mit-Leben Beschenkten führt durch mich. Jedes Ding und jede Person betrachte ich lange und aufmerksam, um sie zu verkörpern, zu personifizieren.

Dazu dient mir mein liebevoller Blick – denn liebevoll zu sein, ist die Kunst der Verkörperung, der Einfühlung, der fortwährenden Suche nach Gemeinsamkeiten.« (S. 58)

In Anschluss an die voranstehende Analyse seien noch Kontexte genannt, in denen von der liebevollen Zuneigung im Sinne einer Implizität gesprochen werden kann, d. h. dass die Formulierung nicht explizit verwendet wird, sondern dass sie vielmehr der poetischen Struktur immanent ist.Footnote 35

Die liebevolle Zuneigung manifestiert sich auch in der Haltung der Autorin. Es wird gezeigt, dass das Interesse der Schriftstellerin allen Lebewesen und Dingen der Welt gilt – Tokarczuk spricht von einem anderen Sein im Allgemeinen (ebenda, S. 59) – die Welt der Lebewesen wird als Aufgabe des Menschen dargestellt, sich gleichsam zu jedem Sein und Seienden niederzubeugen. (Vgl. die voranstehende Passage in diesem Kapitel, die die Fiktion thematisiert.) Dies kann als Tokarczuks Credo bezeichnet werden.

Auch bei der Charakterisierung der liebevollen Zuneigung wird die Welt der Anderen in ihrer Existenz thematisiert: Die liebevolle Zuneigung erscheint überall, »wo wir unseren Blick eingehend und behutsam auf ein anders Sein richten, auf etwas, das nicht ›Ich‹ ist.« (ebenda, S. 59)

Eine solche Haltung, d. h. die Betrachtung eines anderen Seins, »geht weit über empathisches Mitfühlen hinaus.« (ebenda). Die Autorin macht in einigen Passagen deutlich, dass ihr Sensibilität gegenüber den Dingen viel bedeutet, auch die Personifizierung der Sachen spielt im Text eine wichtige Rolle, wie bei der Anknüpfung an ein Märchen von Andersen, in dem sich die Teekanne beklagt, »sie sei von den Menschen grausam behandelt worden« (S. 40), Dinge erzählten Geschichten, Teller unterhielten sich miteinander (S. 40 f.) Eine spirituelle Verbindung mit der Welt (mit Pflanzen, Tieren, Dingen), der sich die Autorin in ihrer Kindheit bewusst war, führte sie somit zu ihrer späteren Lebenshaltung.

Es ist kein Zufall, dass Tokarczuk nach Metaphern greift, deren neue Rolle in der modernen Forschung entdeckt und in der kognitiven Linguistik besonders hervorgehoben wird. Sie setzen uns »in grundsätzlicher Weise Erkenntnis-Brillen auf«Footnote 36. Metaphern dienen der Autorin beispielsweise dazu, die liebevolle Zuneigung bildhaft darzustellen und dem Prozess des Geschichtenerzählens lebendige Plastizität zu verleihen.Footnote 37 Wie bereits betont, gelangen die Metapher des Webens und einige isotope Bezeichnungen zur Anwendung: »Die Welt ist ein Stoff, an dem wir täglich weben – auf großen Webstühlen verarbeiten wir Fäden (…).« (Tokarczuk 2020c, S. 15), was nicht zufällig mit der Bezeichnung ›Text‹ verbunden wird, in dem wohl nicht selten eine Geschichte vermittelt wird, der ursprünglich, nämlich etymologisch, eben Gewebe bedeuteteFootnote 38. Die Wahl einer solchen bildhaften Metapher ist also keinesfalls zufällig oder beliebig.

Die liebvolle Zuneigung verursacht auch, dass ein einfaches Ding magisch wird, was die folgende Personifizierung deutlich macht: »Liebevolle Zuneigung bringt die Teekanne zum Sprechen.« (S. 59) Die kindliche Sensibilität als natürlicher Zug des Kindes und sein Glaube daran, dass nicht nur Tiere und Pflanzen Lebewesen und spirituell verbunden sind, sondern auch die Landschaft mit all ihren Bestandteilen, ja sogar Dinge sind durch ihre eigene Existenz gekennzeichnet. (vgl. Kapitel 4) Diese kindliche Betrachtung ist für Tokarczuk ein Zustand, eine Weise des Seins, nach der sie sich sehnt. Die zeitgenössische Welt, die wir fragmentarisch und in Bruchstücken sehen, soll, wie es im folgenden Text steht, mit Hilfe der liebevollen Zuneigung als Ganzheit erzählt werden oder noch grundsätzlicher: überhaupt erzählbar werden.

Dank der liebevollen Zuneigung werden auch Bande, Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zwischen Menschen entdeckt: »Sie zeigt die Welt als lebend und lebendig, als ineinander verbunden, voneinander abhängend, zusammenwirkend.« (S. 60)

Den Bedrohungen in der gegenwärtigen Welt, der Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten stellt Tokarczuk die liebevolle Zuneigung gegenüber, wodurch ein Kontrast konstituiert wird.

6 Das Konzept czuły narrator (›der liebevolle Erzähler‹) – scheinbare Widersprüche?

Wir haben uns u. a. auf die für das Textganze konstitutiven Analogien eingelassen (der liebevolle Erzähler als Seele, als eine Instanz mit einer äußerst positiven Wertung), die sich bei dem liebevollen Erzähler bemerkbar machen. Im Anschluss sollen dagegen scheinbare Widersprüche offengelegt werden, die mit dieser Schlüsselinstanz zusammenhängen. Es ist dabei auf die ›Beschaffenheit‹ des liebevollen Erzählers als Konzept, auf seine Rolle in der Literatur sowie auf seine Beziehung zur Welt einzugehen.

Dem/der Leser*in kann, wie bereits angemerkt, eine pragmatische Offenheit beim Deuten der Schlüsselinstanz nicht abgesprochen werden. Der Bezug auf den Ich-Erzähler und die Thematisierung der uns umgebenden Welt mit ihren Problemen und Bedrohungen stellt jedoch einen Rahmen dar, der die Interpretation im gewissen Sinne steuert. Als wichtig für die Gesamtinterpretation ist jedoch die Verschränkung der fundamentalen Größen (Erzähler, Erzählung, literarisches Werk und die Welt), wobei von besonderem Interesse die Schnittstellen zwischen diesen Größen sind.

Die Schlüsselinstanz – der liebevolle Erzähler als neues literarisches Konzept, jedoch nicht als eine Kategorie der Erzähltheorie –, wird als eine mysteriöse Gestalt konzipiert und inszeniert, die »die Perspektive sämtlicher Figuren mit einnimmt und zugleich den Horizont jeder einzelnen überschreitet, der mehr und weiter sucht, der die Zeit außer Acht lassen kann. O ja, ein solcher Erzähler ist möglich.« (S. 52)

Damit wird der liebevolle Erzähler, anders gesagt, der Erzähler in der vierten Person ein NovumFootnote 39, in dem Sinne, dass ihn Tokarczuk zum ersten Mal prägt und charakterisiert. Auch in der Narrationstheorie gelangt ein solcher Terminus nicht zur Verwendung. Als entscheidend erweist sich hierbei die Überzeugung Tokarczuks, der zufolge es eine geistige Kraft gibt, die die Sachlage in einem Bereich beeinflussen oder sogar verändern kann (vgl. die Szene mit der Mutter). Im Kontext der früheren Ausführungen der Nobelpreisträgerin sorgt folglich die Konstatierung »Und Vorstellbarkeit ist schließlich die erste Stufe des Seins.« (Schlusssatz im Kapitel 6, S. 58) ebenso wenig für Zweifel, die geistige Kraft bewahrt auch hier ihre Gültigkeit. Die Vorstellungskraft ist es eben, die den Ausgangspunkt zur Veränderung alles Bestehenden darstellt, und noch mehr: Der liebevolle Erzähler und die geistige Kraft, die ihm eignet bzw. die ihn hervorbringt, ist nicht nur in der Literatur angesiedelt, dieser Erzähler wird auch mit der realen Welt in Verbindung gesetzt. Dieser Erzähler ist derjenige, der als Urheber eines galaktischen Wandels gelten könnte. Fraglos ist es der Akt der schriftstellerischen Inspiration, die den liebevollen, d. h. empathischen, gefühlsbetonten und aufmerksamen Erzähler hervorbringt. Seine Wirksamkeit besteht in seinen Attributen, die ihn als äußerst positiv kennzeichnen. Im Hinblick auf die uns umgebende Welt, die so viele existentielle Mängel und Nöte hat und Besorgnis erregt, kann jedoch diese Wirksamkeit auch zugleich in Frage gestellt werden. Dieser Gedanke wird zwar nicht explizit formuliert, aber die identifizierten Probleme der Welt stehen im deutlichen Widerspruch zu den Eigenschaften und Handlungsweisen des wunderbaren Erzählers, mit seiner Milde und Sensibilität, so dass zwei verschiedene Sphären, die der Welt und die der Literatur, aufeinander prallen. Tokarczuks Stellung zur literarischen Fiktion, die sie als eine Art Wahrheit im Hinblick auf die Kategorie ›Literatur‹ bezeichnet, wird mit einer negativen Einschätzung des Verhältnisses von Fiktion und Welt korreliert und mit der in dieser Welt-der-Nöte verbreiteten Lüge konfrontiert. Die beiden Sphären (die Welt der Literatur und die der uns umgebenden Welt) werden zueinander in Beziehung gesetzt, wobei hier die Grund-Folge-Beziehung markiert wird:

»Seit die Lüge zu einer – wenngleich immer noch reichlich primitiven – Massenvernichtungswaffe geworden ist, hat sich das Vertrauen der Leser in die Fiktion verflüchtigt. Immer häufiger stellt man mir die Frage, und Ungläubigkeit schwingt darin mit: »Ist es denn wahr, was Sie da geschrieben haben?« Und jedes Mal habe ich das Gefühl, das Ende der Literatur sei nahe – klingt doch diese in der Wahrnehmung der Leser harmlose Frage für schriftstellerische Ohren wahrhaft apokalyptisch. Was soll ich darauf antworten? Wie lässt sich der ontologische Status eines Hans Castorp, einer Anna Karenina oder eines Pu der Bär erklären?« (S. 30 f.)

Von Bedeutung erscheint hier die Frage, wie Tokarczuk den Zustand der Welt als Folge des vielfach desaströsen Handelns des Menschen mit der Literatur und deren Aufgaben in Verbindung setzt. Fest steht, dass der Schriftstellerin die Probleme der heutigen Welt sehr wichtig sind, darunter besonders die der Umwelt. Die Überzeugung, dass Natur und Mensch eine unzertrennliche Einheit bilden und dass der Mensch (wie auch andere Lebewesen und ebenso Dinge) ein immanenter Teil der Natur sind, findet man in vielen Werken der Autorin. In dem hier im Mittelpunkt stehenden Text manifestiert sich diese Sorge deutlich in folgenden Worten: »Uns alle – Menschen, Pflanzen, Tiere, Dinge – umschließt ein und derselbe, von physikalischen Gesetzen regierte Raum. Dieser gemeinsame Raum besitzt seine eigene Gestalt, innerhalb derer die physikalischen Gesetze eine unzählige Menge aufeinander bezogener Formen herausbilden.« (S. 50)

Der liebvolle Erzähler – unzertrennlich verbunden mit der Literatur und Fiktion ebenso wie mit der Welt da draußen – wird als eine komplexe, mehrdimensionale Größe postuliert, was seine Deutung zwar nicht erleichtert, jedoch seine Zuständigkeiten ordnet.

Wer ist nun eigentlich der liebevolle Erzähler? Er bleibt im Laufe der dargestellten Ausführungen im gewissen Sinne mysteriös, ja, er scheint diese mysteriöse Unschärfe behalten zu müssen, obwohl er im Kontext des Gesamtvortrags doch bestimmte Konturen annimmt.

Da, wo sich Tokarczuk zum Zustand der Welt äußert, erscheint sie nicht als reine Kritikerin der existierenden Lage; sie versucht auch ein Heilmittel zu finden, und als Schriftstellerin ist dieses für sie der liebevolle Erzähler. Es besteht kein Zweifel darüber, dass sie die beiden Welten, die der Wirklichkeit und die der Literatur, mit dem liebevollen Erzähler in Beziehung setzt. Wie ist also die Haltung der Nobelpreisträgerin zu deuten, wenn sie Fragen der Fiktion, das Plädoyer für eine ganzheitliche Betrachtung der Welt, den Mangel an einem holistischen Denken im Hinblick auf die Relation Mensch – Natur und schließlich die systematische Vernichtung der Welt thematisiert?

Die negativen Erscheinungen in der heutigen Welt werden eindeutig auf das zerstörerische Handeln des Menschen zurückgeführt: »Häufig vergessen wir, dass sieFootnote 40 kein Fatum, kein Schicksalsschlag ist, sondern das Ergebnis ganz konkreter Schritte und wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, weltanschaulicher (auch religiöser) Entscheidungen.« (S. 61)

Die Darstellung der ZivilisationsproblemeFootnote 41 wird mit den Konzepten der Literatur in Beziehung gesetzt, insbesondere mit der Erzählinstanz, was auf den ersten Blick als unverständlich erscheinen kann. Aber bei dem postulierten liebevollen Erzähler ist eben das Geschichteweben sein Attribut, d. h. die Art und Weise über die Welt so zu erzählen, dass sie als holistisch verstanden wird. Tokarczuk sieht eine sehr enge Beziehung zwischen der Literatur und der Welt in Verbindung mit ihrer eigenen Aufgabe als Schriftstellerin:

»Gier, mangelnde Achtung vor der Natur, Egoismus, Phantasielosigkeit, ein nicht enden wollender Wettstreit haben die Natur zu einem Ding gemacht, zu einem Objekt, das man in Stücke schneiden, benutzen und zerstören kann.

Und deswegen glaube ich fest daran, dass ich so erzählen muss, als wäre die Welt eine lebendige, vor unseren Augen immerfort im Werden begriffene Einheit – und wir ein kleiner und zugleich mächtiger Teil dieser Welt.« (S. 62)

Tokarczuk macht deutlich, dass diejenigen Erscheinungen und Einstellungen, die sich heute im Allgemeinen keines großen Interesses erfreuen, d. h. die Fiktion, Anknüpfungen an den Mythos, eine holistische Auffassung von der Welt, vor allem aber die liebvolle Zuneigung gegenüber allem Seienden nicht nur für die Literatur von Bedeutung sind, sondern dass sie die Macht besitzen, als geistige GrößenFootnote 42 und Orientierungshilfen ihre Wirksamkeit in der Welt zu zeigen. Wie das Realität werden kann, mag Tokarczuks letzter, bereits oben angeführter Satz aus der Perspektive ihrer Aufgabe als Schriftstellerin beantworten: Die zersplitterte Welt, so die Schriftstellerin, sei so darzustellen, als ob sie eine Einheit bilden würde.Footnote 43

Wichtig ist hier die Konjunktion deswegen, die als Verknüpfungsmittel mit dem voranstehenden Satz fungiert und eine Grund-Folge-Beziehung markiert. Die Kohärenz mit dem Satz davor besteht darin, eine Relation zwischen der zerstörerischen Tätigkeit des Menschen und der Reaktion der Schriftstellerin darauf zu stiften. Dem Erzähler und dem Erzählen wird dadurch die wirksame Kraft bestätigt, die Welt im positiven Sinne beeinflussen zu können. Das Erzählen ist jedoch ein Prozess der Kreation, der als Aufgabe eines Schriftstellers/einer Schriftstellerin gilt. Wie kann jedoch die Beziehung zwischen der, wie Tokarczuk (2020c) an anderer Stelle schreibt, im Sterben liegenden Welt und dem liebevollen Erzähler gedeutet werden? Zwei Passagen mögen eine Antwort aufzeigen, in denen nicht zufällig der Ausdruck im Sterben liegen in Bezug auf die Kondition der Welt und das Verb vergehenFootnote 44 in Bezug auf das Nicht-Erzählte zur Verwendung gelangen:

»Die Welt liegt im SterbenFootnote 45, doch nicht einmal das bemerken wir. Wir bemerken nicht, dass sie allmählich zu einem Sammelsurium von Dingen und Ereignissen wird, zu einem leblosen Raum, in dem wir einsam und verloren herumstolpern, hin- und hergeworfen von Entscheidungen, die nicht wir selbst treffen, Sklaven eines unverständlichen Fatums, verfolgt von dem Gefühl, Spielball der Geschichte oder des Zufalls zu sein.« (S. 43)

»Wie wir über die Welt denken und – vermutlich noch wichtiger – wie wir von ihr erzählen, hat daher eine ungeheure Bedeutung. Was geschieht, aber nicht erzählt wird, hört auf zu sein und vergeht. […] Wer an der Geschichte webt, hat die Macht.« (S. 15) (S. 62)

Das Erzählen kann somit das noch-nicht-Existierende erschaffen, so wie das bereits mehrmals thematisierte Gefühl des Vermissens von etwas-noch-nicht-Existierendem das, was also noch nicht existiert ins Leben rufen, es erwecken, ja verlebendigen oder auch bewahren kann. Mit einer solchen Deutung ist der scheinbare Widerspruch zwischen der Kondition der heutigen Welt und dem liebevollen Erzähler als Repräsentanten der Literatur teilweise aufgehoben. Könnten seine Sensibilität, sein Einfühlungsvermögen und seine holistisch geprägte Vorstellungskraft ein wirksames Mittel gegen die sterbende Welt sein, nicht nur im materiellen, sondern auch im geistigen Sinne? Oder zugespitzt ausgedrückt: Sind sie vielleicht das einzige Remedium überhaupt?

Die Worte der Nobelpreisträgerin können so gedeutet werden: Der liebevolle Erzähler soll über die Welt so erzählen, dass er imstande ist, den/die Leser*in zu bewegen, den Problemen der Welt gegenüber nicht gleichgültig zu bleiben, seine liebevolle Zuneigung in sich zu aktivieren und weiterzuentwickeln. Die Rolle des/der Leser*in sollte somit in der bewussten Wahrnehmung der negativen Erscheinungen der Welt bestehen, was eine aktive, kritische Haltung auslösen sollte, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und gegen sie anzukämpfen.

Schließlich ist noch auf den von Tokarczuk präsentierten holistischen Gedanken aufmerksam zu machen, der beim Erzählen als Prozess eine fundamentale Rolle spielt.

»Und daraus folgt, dass es offen und ehrlich zu erzählen gilt, so, dass die Geschichten im Geist des Lesers einen Sinn für die Ganzheit anregen, dass sie die Gabe in ihm wecken, Bruchstücke zu einem Muster zu vereinen und in kleinsten Ereignissen die Konstellationen des Ganzen zu erkennen. Geschichten gilt es zu spinnen, in denen deutlich wird, dass alle und alles in einer gemeinsamen Vorstellung eingeschlossen sind, die wir mit jeder Drehung unseres Planeten in unserem Geist erzeugen.« (S. 54)

Damit wird eine geistige Bindung zwischen den Menschen postuliert und eine Art der Gemeinschaft, aber auch, wie die Autorin fortsetzt, die Gleichwertigkeit der Rolle von Autor*innen und Leser*innen in ihrem in der Welt-Sein betont. Denn das Erzählen wird bei Tokarczuk breit verstanden und beschränkt sich nicht nur auf den Schaffensprozess.Footnote 46

Dem Konzept des liebevollen Erzählens steht ein entsprechender Gedanke von Jerzy Trzebiński (2002) nahe, der schreibt, dass die Narration die Art und Weise ist, die Welt zu verstehen und dass man mit ihrer Hilfe die Welt konstruieren kann. Olga Tokarczuks Erzähler vereint in sich Eigenschaften des Erzähler-Schriftstellers und des Erzähler-Menschen, der eine Geschichte über die gegenwärtige Welt spinnt, über die Bedrohungen, die uns alle betreffen, und der Antworten auf Fragen sucht, wie man die Wirklichkeit erfassen soll (schreibend, erzählend, sprechend, kommentierend, eine Geschichte/Geschichten konstruierend), um »eine solch gewaltige konstellative Form der Welt zu stemmen […]« (Tokarczuk 2020c, S. 45).

7 Schlussbemerkungen

Bei der Interpretation des Konzepts des liebevollen Erzählers ist resümierend zu bemerken, dass diese Figur auf mehreren Bezugsebenen angesiedelt ist. Auf einer ersten Ebene handelt es sich um eine innovative Kategorie, die von Tokarczuk postuliert wird. Er ist ein Erzähler in der vierten Person, der dem Ich-Erzähler gegenübergestellt und mit neuen Eigenschaften ausgestattet wird.

Tokarczuk bestimmt den liebevollen Erzähler als jemanden, der »die Perspektiven sämtlicher Figuren mit einnimmt und zugleich den Horizont jeder einzelnen überschreitet, der mehr und weiter sieht, der die Zeit außer Acht lassen kann.« (S. 52) In diesem Sinne zeigt er auch Ähnlichkeiten zum auktorialen Erzähler, jedoch besitzt er noch andere Eigenschaften, von denen in der Analyse die Rede war: Er verbindet verschiedene Gesichtspunkte, Empfindungen und Perspektiven zu einem kohärenten Ganzen.

Auf einer zweiten Ebene drückt die Schriftstellerin ihre Überzeugung aus, dass ein solcher Erzähler auch als ›Weltfigur‹ möglich ist. Er wird damit als Konzept postuliert, aber auch zugleich in dem hier analysierten Text im praktischen Sinne als ›Methode‹ umgesetzt, indem die Autorin implizit die liebvolle Zuneigung im Prozess des Konstruierens ihres Textes verdeutlicht. Diese zweite Ebene ist im Bereich der schriftstellerischen Arbeit angesiedelt. Während aber das Konzept ganzheitlich ausgerichtet ist, können in dem Text der Vorlesung nur einige Aspekte durch ausgewählte Schritte und Strategien präsentiert werden. Die liebevolle Zuneigung als Eigenschaft des neuen Erzählers kann in diesem Sinne als eine ›Theorie‹ des Geschichtewebens betrachtet werden. Die Autorin gebraucht zwar grundlegende Termini der Erzähltheorie, verwendet aber eine bildhafte Sprache, um die Vorstellungskraft des/der Adressat*in anzuregen. Er kann die Welt dadurch ansprechen, dass er ein Bedürfnis hat, eine Geschichte immer aufs Neue zu erzählen, und zwar in verschiedenen Schattierungen und Varianten. Tokarczuk wird als Schriftstellerin selbst zur ›Weberin‹ einer Geschichte (vgl. die Metapher des Webens). Die Schriftstellerin plädiert für eine »neue Universal – Erzählung […], für eine ganzheitliche, allumfassende, in der Natur verwurzelte Narration, die die unterschiedlichsten Kontexte mit einbezieht und dennoch verständlich bleibt.« (S. 51)

Diese Narration betrachtet die Nobelpreisträgerin als einen Prozess, und sie stellt die Frage nach der Art und Weise seiner Verwirklichung: »Wie soll man schreiben, wie eine Geschichte konstruieren, die in der Lage wäre, eine solch gewaltige konstellative Form der Welt zu stemmen?« (S. 45) Diese Aufgabe erscheint als besonders wichtig, weil sie als eine Art ›Heilmittel‹ gegenüber den Problemen der Welt betrachtet werden kann – womit die dritte Ebene betreten wäre, die auf der Achse der liebevolle Erzähler (mit seinem Geschichtenerzählen) – Leser – Welt angesiedelt ist.

In Tokarczuks Text handelt es ich um ein literarisches Konzept des zärtlichen Erzählers, das u. a. dazu dient, zwischen der Literatur, dem Leser und der Welt eine Brücke zu schlagen, aber auch noch um etwas mehr zu erreichen. Fokussiert wird auf die Lage der Welt, die durch das destruktive Handeln der Menschen bedroht ist. Die Vorlesung ist somit nicht nur als eine Diagnose der Gegenwart zu verstehen, sondern als explizites Plädoyer, umzudenken und auch beim Handeln die Welt als eine Ganzheit von Lebewesen und Dingen zu begreifen. Dass sich dies auf der Achse der Literatur – Leser – Welt abspielt, darf im Falle einer Schriftstellerin nicht verwundern. Das Erzählen (das Geschichteweben) könnte hier als ein Postulat der Erziehung des Menschen zum Umdenken und Umwerten verstanden werden. Es suggeriert einen notwendigen Prozess, der bald starten und systematisch entwickelt werden solle, weil die Welt es so dringend brauche. Genau so lässt sich der an der Universität Łódź gehaltene und später publizierte Vortrag Tokarczuks »Psychologia narratora« (›Psychologie des Erzählers‹) verstehen, der eine durchdachte Konzeption des Erzählers bietet und den sie mit folgenden Worten schließt: »Der Mensch, meine Damen und Herren, meine Lieben, hat Seele, Körper und Erzähler.« (2020e, S. 179).Footnote 47

Der liebevolle Erzähler kann somit als ein komplexes Konzept verstanden werden, das uneindeutig bleibt: trotz vieler Eigenschaften, die ihm zugeschrieben wurden; das, um es noch anders auszudrücken, als offene Form anzusprechen ist. Dieser Erzähler ist, wie deutlich werden sollte, nicht mit den Modellen der Erzähltheorie und den Typologien des Erzählers zu erfassen, er ist, was sich aus den Ausführungen Tokarczuks ergibt, eine Leistung und Kreation der Schriftstellerin. Er ist einerseits eng mit ihrer Intuition, Vorstellungskraft und ihrem Talent als Schriftstellerin verbunden, andererseits erwächst er aus ihrer subjektiven Betrachtung des Schaffensprozesses und ist zugleich eine Instanz, wenn nicht Autorität, deren durch Gefühl geprägte Haltung den Menschen im positiven Sinne beeinflussen könnte.