1 Sinn als menschliches Grundbedürfnis

Man muss wissen, dass der Höllengrund, jene Wohn- und Wirkungsstätte des dämonischen und teuflischen Gesindels, die manche Poeten als einen neunstufigen tiefen Trichter geschildert haben, in Wahrheit kein Ort ist, an dem Heulen und Zähneklappern herrschen, auch keine Eiswüste, kein feuriger Pfuhl und kein Folterkeller, in dem die Schattengeister der Verstorbenen gepfählt, aufs Rad geflochten oder mit glühenden Zangen gezwackt werden. In der Tat lassen sich solch körperliche Martern für das unkörperlichste aller Dinge, eben den Geist, schlechterdings gar nicht denken und sind, wo sie in der Dichtung begegnen, allzumal nur Bilder für Kümmernisse, von denen der Leib nichts weiß. Der Geist ist nichts anderes als einer unter den menschlichen Sinnen, deren keineswegs, wie fälschlich oft gesagt wird, nur fünf sind. Freilich ist er nicht Sinn für Farbe und Form, wie das Auge, oder für Klang und Geräusch, wie das Ohr – er nimmt vielmehr allenthalben Zusammenhänge wahr von Warum und Wozu, Wieso und Wodurch und kann daher mit Recht das deutende Vermögen, der Sinn für Sinn oder auch Sinn-Sinn genannt werden. Alles leidet er, sofern nur ein Grund oder Zweck davon sich ausgrübeln lässt; nichts hingegen verdrießt, ängstet und quält ihn mehr, als wovon er die Notwendigkeit nicht erkennen kann.

Der Höllengrund, als eine Einrichtung, die Geister zu peinigen, ist daher, wenn er gedacht werden soll, als ein Ort zu denken, an dem das vollkommen Sinnlose in jeder nur erdenkbaren Form getrieben wird: am ehesten vergleichbar einer Behörde, welche mit grenzenlosem Aufwand und auf mannigfachste Art sich selbst verwaltet und nicht nur die Beachtung von Regeln regelt, deren niemand jemals bedurfte, sondern auch diese Regelregeln wieder unter Regeln stellt, und so fort ins Unendliche, und damit aber nicht genug alle Regeln beständig noch ändert und die Einhaltung derselben in den unterschiedlichsten Fassungen der Überwachung verschiedener Zuständigkeiten überantwortet und auch das Mitreden der durchaus nicht zuständigen Stellen duldet, auf welche Weise dann, da eine Hand nicht weiß und gar nicht wissen soll, was die andere tut, ein gräuliches Wirrwarr entsteht und kein Unterfangen, obgleich ja doch sein Erfolg als solcher bereits nutzlos wäre, je auch nur überhaupt zu einem Abschluss gebracht werden kann. Zum Beispiel muss ein armer Sünder völlig sinnfreie Abfolgen von Buchstaben, Ziffern und Zeichen auswendig lernen, sechshundertsechsundsechzig mal sechshundertsechsundsechzig; und hätte er eben einen Sechter davon sich eingeprägt mit saurem Schweiß, so erhielte er Ordre, eine gleiche Anzahl ganz anderer zu memorieren. In Wahrheit aber fängt er gar nicht erst damit an, weil er nämlich vorher einen Antrag auf Einleitung eines zu Sankt Nimmerlein terminierten Genehmigungsverfahrens stellen muss, hier jedoch bereits an der Ausfüllung des völlig unverständlichen Antragsformulars scheitert.

Das Substantiv Sinn geht zurück auf eine indoeuropäische Wurzel *sent- mit der Bedeutung ›eine Richtung nehmen, gehen‹ (Pfeifer 1989, S. 1636). Sinn bedeutet ursprünglich ›Weg, Reise‹; das zugehörige Verb sinnen stand für ›einen Weg, eine Fährte verfolgen‹, übertragen dann für ›ein Ziel, einen Gedanken verfolgen‹. Etwas im Sinn haben hieß ursprünglich nur ›etwas beabsichtigen‹, später konnte es dann auch ›an etwas denken‹ bedeuten. So kommt auch Sinn zu der Vielzahl von Bedeutungen, die es heute hat, unter anderem ›Wahrnehmungsfähigkeit, Gespür, Vermögen einen Weg, eine Spur zu verfolgen‹ (beispielsweise in einen Sinn für etwas haben) und ›Bedeutung, (tieferer) Bedeutungsgehalt‹ (in Wortsinn, auch in tieferer Sinn oder sinnvoll).

Das Verb senden, ein Kausativum zu sinnen, bedeutete ursprünglich ›reisen machen, auf die Reise schicken‹. Es kommt semantisch mit dem weitgehend synonymen Verb schicken überein, das seinerseits zu dem heute ausgestorbenen schehen (althochdeutsch skehan ›umherstreifen, eilen‹) gebildet ist. Schicken ist das kausative Verb zu schehen: es bringt zum Ausdruck, dass dasjenige, was schehen bedeutete, verursacht wird: ›jemanden oder etwas eilen/rennen/laufen machen‹. Von dieser ursprünglichen Bedeutung leitet sich dann die heutige Bedeutung ›etwas auf den Weg bringen‹ ab.

Das Verbum simplex schehen gibt es heute nicht mehr, wohl aber die kollative Präfixbildung geschehen (›zusammenlaufen, begegnen, sich ereignen, stattfinden‹), von dem Geschichte (›die oder eine Gesamtheit von Geschehnissen; Beschäftigung mit ihr‹) abgeleitet ist. Mit (ge)schehen nicht verwandt sind die mit scheiden (›trennen‹, u. a. im Sinne von ›Abschied nehmen‹, aber auch von ›differenzierend verstehen, deuten, auslegen‹) zusammenhängenden Wörter schichten und Schicht, bei denen die Lautfolge cht eine regionale Variante zu ft darstellt; wer dies weiß, erkennt auch die Verwandtschaft von schichten und englisch shift. Wer somit die Geschichte (›das Geschehene‹) als ein Geschichte (›in zeitlicher Abfolge aufeinander Liegendes von Ereignissen oder deren Spuren‹) interpretiert, macht zunächst lediglich ein Wortspiel – jedoch eines mit tieferem Sinn, oder auch höherem, nämlich potenziertem Sinn, nämlich mit dem Sinn von ›Sinn‹. Die Frage nach Sinn, sei es in einem Ereignis, einem Artefakt oder einem sprachlichen Zeugnis, ist eine Frage nach dem Weg, auf dem es zustande gekommen ist. Sinnwissenschaft ist implizit immer historisch – was nicht bedeuten muss, dass sie sich mit lange Zurückliegendem befasst: historisch ist bereits die Frage nach dem individuell-konkreten So-Sein und seinem Warum. Das historische Einzelphänomen kann dabei in verschiedenen, möglicherweise ganz unterschiedlichen Zeiten angehörenden, einander schichtweise überlagernden Sinnzusammenhängen gesehen werden, die es, archäologisch oder exegetisch, zu scheiden gilt.

2 Sprachwissenschaft als Sinnwissenschaft

2.1 Disziplinäre Einordnung

Als methodische Beschäftigung mit Sinn, vorrangig von sprachlichen Äußerungen, gilt seit der Antike die Hermeneutik: die Verstehenslehre, spezifischer die Übersetzungs- und Auslegungskunst. Der Begriff ›Hermeutik‹ war in der Antike weit gefasst. In Platons Politikos (260d) wird die ἑρμηνευτικη [τεχνη] (hermeneutikē technē), die ›deutende Kunst‹, in einem Atemzug mit der κελευστικη, μαντικη und κηρυκικη [τεχνη] (keleustikē, mantikē und kērykikē technē), d. h. der ›Befehlshaber‑‹, ›Wahrsager-‹ und ›Heroldskunst‹ genannt; die aristotelische Schrift Perí hermēneías (lat. De interpretatione) ist hingegen eine aussagenlogische Untersuchung.

Die etymologische Herleitung des Wortes Hermeneutik vom Namen des Götterboten Hermes, dem die Erfindung der Sprache und der Schrift beigelegt wurde, ist umstritten. Wenn man die Möglichkeit gleichwohl suggeriert und sich dadurch in Verdacht bringt, zu etwas unsauberen Methoden, zur »Etymogelei« (Bär 2015, S. 8) zu neigen, so passt dies einerseits bestens dazu, dass Hermes unter anderem auch der Gott der Händler und der Diebe, der altgriechische Trickster-Gott ist (ebd., S. 1 f. u. 5), andererseits aber auch zum Wesen der Hermeneutik selbst (ebd., S. 6 ff.). Denn sie hat es eben mit der Deutung von Zeichen zu tun, und hier gibt es nirgendwo ›Wahrheit‹ – auch nicht in der Intention des/der Sprechenden oder Geschriebenhabenden, die immer nur plausibel zu erraten, niemals letztgültig zu beweisen ist (Bär 2016, S. 283–287).

Die Tatsache, dass die Hermeneutik nicht ›die Wahrheit‹ ergründen, sondern nur divergente Perspektiven, bestenfalls potentielle Wahrheiten erschließen kann, begründet den Generalverdacht des Unexakten. Wer als Sprachwissenschaftlerin oder Sprachwissenschaftler das Vergnügen hat, an einer Universität mit dominanten Bildungs- oder Sozialwissenschaften zu arbeiten, kennt deren Unterscheidung zwischen ›hermeneutischer‹ und ›empirischer‹ Forschung; da sie, mit einem abschätzigen Unterton bei ›hermeneutisch‹, offenbar in die Wissenschaftspolitik und von dorther in Forschungsreferate und akademische Gremien Einzug gehalten hat, kennen linguistische Kolleginnen und Kollegen sie vermutlich auch an anderen Universitäten. Die Unterscheidung muss hier nicht erläutert werden, da sie für die vorliegenden Überlegungen irrelevant ist – vielmehr nur negativ relevant: Ein sprachwissenschaftliches Verständnis von Hermeneutik impliziert keine Abgrenzung von der Empirie, sondern beide greifen nach dieser Auffassung ineinander und sind ohne einander nicht zu denken. Die hermeneutisch zu behandelnden (d. h. zu deutenden) sprachlichen Äußerungen – ganz gleich, ob es dabei um die Interpretation konkreter ›Inhalte‹ oder allgemein-funktionaler Strukturen geht – sind gerade das empirische Material der linguistischen Untersuchung.

Relevant ist eine andere Unterscheidung: die zwischen linguistischer Hermeneutik und hermeneutischer Linguistik (Biere 2006, S. 499 f.; 2007, S. 12 f.; vgl. Biere 2008). Eine hermeneutische (auf das Verstehen von Verstehen hin konzipierte) Linguistik erscheint demnach als Voraussetzung für eine linguistische (mit sprachwissenschaftlichen Modellen und Methoden arbeitende) Hermeneutik, denn mit einer nicht auf hermeneutische Arbeit ausgelegten Linguistik kann man nicht erfolgreich hermeneutisch arbeiten. Forschungsgeschichtlich ist das Verhältnis jedoch umgekehrt. Die Linguistik, die sich in den 1960er Jahren von ihren philologischen Wurzeln immer mehr distanziert hatte, besann sich erst zwei Jahrzehnte später wieder darauf, eine »Linguistik des Sinns« (Coseriu 2007, S. 69) sein, also nicht nur sprachliche Strukturen untersuchen, sondern auch etwas zu hermeneutischen Fragestellungen beitragen zu können und zu wollen. Der Ausdruck linguistische Hermeneutik findet sich nach meinem derzeitigen Kenntnisstand erstmals bei Fritz (1982, S. 1). Die Bemühungen in dieser Richtung, die seit den späten 1980er Jahren bei verschiedenen Autorinnen und Autoren erkennbar werden und wiederum zwei Jahrzehnte später in dem Sammelband Linguistische Hermeneutik (Hermanns/Holly 2007) eine wirkmächtige Bündelung erfahren, zielen tatsächlich zunächst lediglich auf die »Einrichtung eines in der Linguistik bislang fehlenden Teilfaches« (Hermanns 2003, S. 125). Eine ernsthaft hermeneutische Ausrichtung der gesamten Linguistik von der allgemeinen Zeichentheorie über die Grammatik bis hin zur Semantik und Pragmatik ist dann das Projekt von Bär (2015; explizit: S. 2); naturgemäß bleibt es angesichts eines derartigen Anliegens im ersten Anlauf beim Versuch.

Will man als Indiz werten, dass kürzlich die Frage aufgeworfen wurde, ob sich die Germanistik in einem »posthermeneutischen Zeitalter« befinde (Bleumer u. a. 2020a, S. 559), so gibt es in Sachen ›hermeneutische Linguistik‹ ebenso wie auch ›linguistische Hermeneutik‹ in der Tat noch viel zu tun. Ich selbst sehe heute manches präziser und manches nach weiterer Forschung und vertiefterem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen auch dezidiert anders als in der Arbeit von 2015, muss aber gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb einräumen: Wir befinden uns nach wie vor erst im Stadium von Prolegomena zu einer möglichen Linguistik, die als Sinnwissenschaft wird auftreten können.

Knappe forschungshistorische Überblicke finden sich beispielsweise bei Bär (2016, S. 281 f.) und Bleumer u. a. (2020b, v. a. S. 571–574). Zumindest zu einzelnen Subdisziplinen wie der Text- und Diskurslinguistik liegen methodologische Synopsen und Modellbildungen vor. Zu denken ist unter anderem an die Ansätze TexSem (z. B. Gardt 2002; ders. 2007 b; ders. 2012; ders. 2013), Pragma-semiotische Textarbeit (z. B. Felder 2012), Dimean (›Diskurslinguistische Mehrebenenanalyse‹: z. B. Warnke/Spitzmüller 2008; Spitzmüller/Warnke 2011; Warnke 2013) sowie Hiswikon (›Historisch-semantische Wissenskonstitution‹: Bär 2020a). Wo es darum geht, der geschichtlichen Geschichte (s. o.) differenzierend gerecht zu werden, d. h. wo mehrere Schichten früherer Interpretationen, Um- und Neuinterpretationen zu unterscheiden sind, könnte die Transkriptionstheorie Ludwig Jägers ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung stellen (vgl. z. B. Jäger 2012; ders. 2013). – Einen Brückenschlag zwischen literaturwissenschaftlich-hermeneutischer Methodenreflexion, speziell bei Peter Szondi, und korpusbasierter linguistischer Hermeneutik unternimmt Attig (2015). Nur am Rande erwähnt sei, dass es bei der Interpretation sprachlicher Zeugnisse nicht lediglich um »Sprache pur« gehen muss (Holly 2009, S. 289), sondern dass die Verflechtung mit anderen Zeichenmodalitäten Berücksichtigung finden kann (vgl. hierzu beispielsweise Klug/Stöckl 2016 sowie Klug 2021a; dies. 2021b).

Eine hermeneutische Linguistik ist durchaus nicht als eine vollständig neue Sprachwissenschaft zu denken, die alles anders macht als jede bisherige Linguistik. Sie stellt nur insofern einen Neuansatz dar, als sie die Beschreibung von Verstehen ins Zentrum rückt und von dort her alle ihre Modelle und Methoden konzipiert. Das heißt, es geht nicht einfach um bloßes Verstehen sprachlicher Äußerungen, sprachstruktureller oder kommunikativer Phänomene, sondern um Interpretation: eine theoretisch und methodologisch fundierte, systematische Erarbeitung von Verstehen. Hermeneutische Sprachwissenschaft fragt also nicht lediglich ›Was bedeutet dieses Wort/dieser Satz/dieser Text?‹ oder ›Wie kommt es historisch zu diesem Laut/diesem Wort/dieser grammatischen Struktur?‹, sondern sie fragt vorab nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Dazu gehört immer die Berücksichtigung der pragmatischen Dimension. Sprechen ist Handeln: individuelle oder kollektive Behauptung (Setzung ebenso wie Verteidigung) von Sachverhalten, Implikation, Gewichtung, Verschweigen, Selbstkundgabe, Aufforderung, Sozialisierung, Diskriminierung usw. Die Frage nach Laut- oder Bedeutungswandel, grammatischen oder textuellen Strukturen ist linguistisch, aber noch nicht hermeneutisch; alltäglich-laienhaftes Sprachverstehen hingegen ist ansatzweise hermeneutisch, aber noch nicht linguistisch.

2.2 Transzendentalhermeneutik

Die hermeneutisch-linguistische Sinnfrage impliziert immer auch – und immer zuerst – die Frage: Welchen Sinn hat eine sprachliche Äußerung für mich als interpretierende Person? Oder, noch konsequenter hermeneutisch formuliert: Welchen Sinn gebe ich einer sprachlichen Äußerung – welchen will ich ihr geben – welchen neige ich (unreflektiert) ihr zu geben – welchen sollte ich ihr nicht geben, wenn ich sie interpretativ nicht ›verbiegen‹ will usw. Denn man hat es im hermeneutischen Akt niemals mit bloßen (vor- und damit außerhermeneutischen) Daten zu tun; sie sind vielmehr immer zugleich Ergebnis einer Deutung. ›Gegebenes‹ im Wortsinn von Datum sind objektsprachliche Äußerungen, indem sie eine Existenz unabhängig von der interpretierenden Person haben (vgl. Umberto Ecos Konzept der »Textintention« als »dritte Möglichkeit zwischen der Absicht des Autors [...] und der Absicht des Interpreten«: Eco 1994, S. 31; vgl. auch Bär 2019, S. 246 f.). Sie werden aber schon durch die Auswahl interpretativ bearbeitet, »wobei immer sowohl zufällige Aspekte, wie die Überlieferungslage, und bewusste Entscheidungen, z. B. die Akzeptanz der Überlieferungslage oder die Konzentration auf bestimmte Arten von Quellen, ineinanderspielen« (Bär 2019, S. 247), und vollends dann »durch Analyse und Einschätzung von Befunden« (ebd.) zu Fakten im Wortsinn: »factum, ›das Gemachte‹, das in seinem So-Sein begründbar Statuierte« (ebd.).

Jede ›Übersetzung‹ von objektsprachlicher Äußerung in metasprachliche Aussage (terminologische Unterscheidung nach Bär 2020a, S. 210), und sei sie lediglich wortgleiche Wiederholung, ist bereits Deutung, und als interpretierende Person habe ich prinzipiell keinen anderen Status als jede andere sprachhandelnde (sprechende und/oder verstehende) Person: Meine Interpretation ist abhängig von meinen Interessen und (wertneutral gemeint) Ideologien, von der Wahl meines Gegenstandes und meiner Untersuchungsmethoden, sie behauptet Sachverhalte, impliziert, gewichtet, verschweigt, zeigt meine Haltung und Einstellung, fordert auf, fraternisiert, diskriminiert ... Im Idealfall ist sich jede Interpretation all dieser Aspekte bewusst und bemerkt dann beispielsweise, wo sie wie zu gewichten, verschweigen oder diskriminieren neigt – so dass sie ihre eigene Perspektivität korrigieren oder zumindest eingestehen kann.

Die Formulierung »im Idealfall« deutet an, dass dieses Bewusstsein in der Praxis nicht immer zu erkennen ist. Weist man auf die Notwendigkeit theorie- und methodenkritischer Reflexion hin, hört man bisweilen mit wegwerfender Geste: Das Grundsätzliche sei ja selbstverständlich und bedürfe keiner weiteren Erwähnung. Häufig begegnet man im selben Zusammenhang dem Anspruch, lediglich historische Realitäten, kommunikative Rahmenbedingungen oder (Hinter‑)Absichten von Autorinnen und Autoren zu rekonstruieren. Sofern er davon ausgeht, dass es jenseits der objektsprachlichen Äußerung, gleichsam hinter ihr oder um sie herum – vor allem aber ihr vorgängig – sachliche und soziokulturelle Strukturen, mit anderen Worten: eine Wirklichkeit gibt, die als Richtgröße für die Interpretation der sprachlichen Äußerung herangezogen werden kann (vgl. Bär 2019, S. 246), ist ein solcher Anspruch hermeneutisch nicht vollkommen konsequent. Zwar stellt er einen Fortschritt gegenüber jedem unreflektierten Subjektivismus der Interpretation dar, indem er von demjenigen abzusehen versucht, was man als interpretierende Person »aufgrund seiner Intuitionen oder theoretischen Ausrichtung« von sprachlichen Äußerungen versteht, und stattdessen zu verstehen versucht, wie die im Gespräch oder im historischen Diskurs Agierenden »selbst einander verstehen und an welchen Regeln oder Prinzipien sie sich dabei orientieren« (Deppermann 2000, S. 98 f.). Er kann auch für sich reklamieren, Konstruktivismus zu sein, indem er annimmt, dass (und untersuchen will, wie) vermeintlich bloße Sachverhalte (kulturelle Identität, Gender, Klimawandel, Kinderarmut, Überalterung der Gesellschaft, Bildungsnotstand ...) nicht anders als komplexe Sinngefüge (Rechtssysteme, Metaphysiken, wissenschaftliche Paradigmen ...) und soziale Beziehungen (Rollenmuster, Status- und Machtverhältnisse ...), sprachlich konstituiert werden. Für ›rekontruktionslogische‹ oder ›objektivhermeneutische‹ Ansätze (im Anschluss an Ulrich Oevermann: vgl. Habscheid 2000, S. 127) gibt es ihrer eigenen Logik nach aber letztlich doch immer zweierlei Realität: einerseits die in sprachlichen Äußerungen konstituierte, andererseits die den sprachlichen Äußerungen zugrunde liegende. Auch wenn anerkannt wird, dass beide einander bedingen, so dass nicht lediglich ein Einfluss der außersprachlichen Realität auf das Reden über dieselbe, sondern insbesondere auch Rückwirkungen des Über-Realität-Redens oder Realität-Erredens auf die Realität selbst angenommen werden, bleiben doch beide, Realität und Reden, vom Interpreten unabhängige, eben ›objektive‹ historische Größen.

Konsequent hermeneutisch ist demgegenüber ein »metakonstruktivistischer« (Bär 2019, S. 246) oder transzendentalhermeneutischer Ansatz, der den eigenen Anteil an der Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes mitreflektiert und plausibilisiert. Man hat es im streng hermeneutischen Sinne eben nie mit Sprecherinnen und Sprechern oder deren Äußerungen als solchen zu tun (im Fall historischer Untersuchungsinteressen ausschließlich mit letzteren), sondern immer nur mit einer bestimmten Sicht auf dieselben, und es gilt, diese Perspektivität methodologisch im Blick zu behalten, um bei der Re-Konstruktion sinnhafter Ordnungen der Welt durch historische oder auch rezente Kommunikationsbeteiligte das Ergebnis dieser Re-Konstruktion – eine bestimmte Menge von Fakten im zuvor angedeuteten wörtlichen Verständnis – nicht unbedacht mit ›der‹ (unhinterfragbaren) Realität gleichzusetzen. Eine ›objektive Wahrheit‹ des Gegenstandes gibt es nicht; das Wie und Was der Auswahl und das Wie der Interpretation sind zu begründen. Die Grenzen zwischen Rekonstruktivismus und Metakonstruktivismus sind in der Praxis allerdings fließend; nur in idealtypischer Ausprägung erscheinen sie als einander entgegengesetzt. Nicht allein ausführliche theoretische und methodologische Reflexionen wie beispielsweise bei Römer (2017, S. 4–152) sind als metakonstruktivistisch anzusehen, sondern tendenziell bereits Interpretationen, die sich als kommunikativ regresspflichtig begreifen und nicht mit einem erhöhten Wahrheitsanspruch gegenüber anderen Interpretationen vorgetragen werden. Dabei kann immer nur das Interpretandum (im engsten Sinne: der Wortlaut des Textes, in weiterem Sinne: die Wortlaute in einem begründbaren Textkorpus: vgl. Bär 2020a, S. 218–221) die Richtgröße sein: »Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verläßliches als ein Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können« (Eco 1994, S. 97).

3 Zeichentheorie

Die Beschreibung von Verstehen in den Mittelpunkt des linguistischen Interesses zu rücken und dabei die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen zu berücksichtigen, hat Auswirkungen unter anderem auf den allgemeinen zeichentheoretischen Ansatz (der sich wiederum unmittelbar auf die Theorie und Konzeption der Grammatik und der Semantik auswirkt).

Wie zuvor angedeutet, beansprucht eine hermeneutische Linguistik keinen Zugang zu ›Gegebenheiten‹ einer außersprachlichen Realität, sondern nur zu Realitäten, insofern über sie gesprochen wird. Das heißt auch: Das mit einem objektsprachlichen Ausdruck (einem Wortelement, einem Wort, einer Wortgruppe oder einem noch komplexeren sprachlichen Zeichen) Gemeinte kann nicht als außersprachlich-realer Gegenstand gefasst werden. Ebenfalls nicht in Betracht kommen mentale Größen, also beispielsweise ›Vorstellungen‹, ›Begriffe‹, ›Bilder‹, ›Ideen‹ o. Ä., insofern sie im Bewusstsein objektsprachlicher Sprecher oder Sprecherinnen lokalisiert werden: Auch sie wären für eine linguistische Beschreibung nicht greifbar (allenfalls qua Interpretation sprachlicher Zeugnisse, also sekundär). Ein hermeneutisch-linguistisches Bedeutungsmodell ist also weder realistisch noch mentalistisch, sondern vielmehr lingualistisch im Sinne von Keller (1995): Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens wird verstanden als die »Gesamtheit aller derjenigen anderen sprachlichen Zeichen, auf die es nach bestimmten Regeln, also im Rahmen eines systematischen Gefüges verweist« (Bär 2015, S. 12). Eine lingualistische Semantik erklärt demnach die Sprache nicht »aus zwei Prinzipien – dem sprachlichen Ausdruck und dem Außersprachlich-Realen oder -Mentalen als Referenzobjekt«, sondern »aus lediglich einem Prinzip [...]: aus der Relation sprachlicher Zeichen zu einander« (ebd., S. VII), mit anderen Worten: Ausdruck und Bedeutung sind von prinzipiell gleicher Qualität; man muss nach der Bedeutung nicht in der Welt, nicht in den Köpfen historischer Sprecher/innen, vor allem nicht im eigenen Kopf, sondern allein im Text bzw. im Korpus suchen. Was ein X ›ist‹ bzw. was objektsprachliche Sprecher/innen von einem X wissen, glauben, was sie in Bezug darauf empfinden, welche Ansprüche oder Normvorstellungen sie damit verbinden usw., erfährt man, wenn man den Gebrauch des Ausdrucks X in den Quellen untersucht: die Ausdrücke, mit denen es regelhaft (will sagen: nach Regeln beschreibbar) kookkuriert. Für diese Ausdrücke gilt jeweils wiederum dasselbe, so dass die hermeneutische Linguistik niemals ›einen Fuß auf den Boden der Realität bekommt‹, sondern sich immer nur in einem dichten Geflecht miteinander in (je unterschiedlicher) Relation stehender sprachlicher Zeichen bewegt (vgl. Bär 2015, S. 51).

Das lingualistische Zeichenmodell hat zur Folge, dass eines der traditionellen Unterscheidungskriterien zwischen Grammatik und Semantik wegfällt: die Ansicht, dass sich Grammatik mit den funktionalen Beziehungen sprachlicher Zeichen untereinander befasse, Semantik hingegen mit den Beziehungen zwischen sprachlichen Zeichen und außersprachlichen Gegenständen oder Sachverhalten. In der Tat lässt sich aus hermeneutisch-linguistischer Sicht der Unterschied zwischen Grammatik und Semantik nicht mehr qualitativ, sondern nur noch graduell bestimmen. Die Grammatik beschreibt dann Sprachgebrauchsregeln, die für große Mengen verschiedener Zeichen gelten und dementsprechend abstrakt sind (beispielsweise das morphosyntaktische Verhalten von Verben, Substantiven oder Adjektiven), die Semantik hingegen solche Regeln, die für kleinere bis sehr kleine Mengen verschiedener Zeichen, nicht selten sogar nur für ein einziges gelten und dementsprechend konkret bzw. individuell sind (beispielsweise die Kookkurenzdistribution von Wörtern, die ›Gebäude, das Menschen zum Wohnen dient‹ oder ›Möbel, das Menschen zum Sitzen dient‹ bedeuten). – Ebenso lässt sich ein offener Übergang zur Pragmatik bestimmen. Denn wenn grammatische Werte ebenso wie Bedeutungen sprachlicher Zeichen nichts anderes sind als Regeln ihrer kotextuellen Verwendung, dann gehören auch Aspekte jenseits eines klar umreißbaren Denotats – Konnotationen, Implikationen usw. – mit zur Grammatikosemantik.

Idealtypisch geht eine hermeneutische Linguistik von einem Kontinuum Grammatik-Semantik-Pragmatik aus (wobei je nach Forschungsinteresse der Schwerpunkt an unterschiedlichen Stellen des Kontinuums gesetzt werden kann und in der Regel auch wird). Das Kontinuum ist dabei nicht allein als lineares, sondern zudem als peripherales zu verstehen: Die Pragmatik umgibt das Kontinuum Grammatik-Semantik, so dass fließende Übergänge sowohl zwischen diesen beiden Bereichen als auch zwischen Grammatik und Pragmatik und zwischen Semantik und Pragmatik in den Blick zu nehmen sind (Abb. 1). Der Gedanke findet sich u. a. in bestimmten Ausprägungen der Konstruktionsgrammatik, die »Form-Bedeutungspaare« untersucht, wobei »Form und Bedeutung in einem weiteren Sinn verstanden werden« und letztere »nicht nur semantische Aspekte, sondern auch pragmatische Gebrauchsbedingungen einschließt« (Ziem/Lasch 2013, S. 10).

Abb. 1
figure 1

Kontinuum Grammatik – Semantik – Pragmatik

Speziell die Öffnung der Semantik hin zur Pragmatik hat die Forschung beschäftigt, was zu erklären ist durch das Interesse an größer dimensionierten sprachlichen Zeichen, also oberhalb der Wortebene: an Satz‑, Text- und Diskurssemantik. In diese Richtung gehen Forderungen wie die von Ortner/Sitta (2003, S. 15) nach einer »Maximalsemasiologie« oder das von Gardt (2002, S. 129) entwickelte Konzept einer »flächig« zu denkenden Bedeutung (vgl. auch Gardt 2013, S. 45), anders ausgedrückt: dass »Texte semantisch emergente Einheiten sind, also Einheiten, deren Bedeutung komplexer ist als die ›Summe‹ der Bedeutungen ihrer Konstituenten« (Gardt 2012, S. 62). Gefordert und eingelöst wird die Berücksichtigung der Pragmatik beispielsweise von Hermanns (1995), Spieß (2011), Lobenstein-Reichmann (2008), Müller (2015a), Roth (2015) und Jacob (2017). Eine systematisch von der Pragmatik des Beziehungshandelns her gedachte Semantik entwirft Anja Lobenstein-Reichmann (exemplarisch: Lobenstein-Reichmann 2013; dies. 2019).

Einbezüge der Semantik in die Grammatik – oder umgekehrt – finden sich z. B. bei Müller (2013; ders. 2015b; ders. 2018), Bär (2015, v.a. S. 15–17 u. S. 41 f.), Ágel (2017), Höllein (2019), Ágel/Höllein (2021) oder Zhu/Zhao/Szurawitzki (2016, S. 277–321). Auch die Pragmatik wird in die Grammatik integriert; sprachliches Handeln erscheint als grammatisch beschreibbar, ebenso wie umgekehrt grammatische Strukturen als pragmatisch dimensioniert. Nimmt man beispielsweise den ersten Band der IDS-Grammatik zur Hand, so finden sich darin umfangreiche Kapitel zu Themenkomplexen wie »Sprache und Illokution« (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 98–159), »Interjektionen und Responsive« (ebd., S. 360–408), »Organisation des Sprecherwechsels« (S. 467–506) oder »Sprecher-Hörer-Relation, personale Bezugnahme und Beziehungskonstitution« (ebd., S. 911–952).

4 Hermeneutische Grammatik: Perspektiven

Zu einer im engeren Sinne – nicht nur durch allgemeine zeichentheoretische Fundierung, sondern durch explizite Ausrichtung auf Textinterpretation – hermeneutischen Grammatik wurden in jüngerer Zeit zwei einander in gewisser Weise entgegengesetzte Zugänge entwickelt.

Einen sehr weitreichenden Einbezug der Semantik und auch der Pragmatik in die Grammatik stellt erstens Vilmos Ágels Grammatische Textanalyse dar (Ágel 2017). Sein genuin grammatischer, insbesondere ausgehend von der Valenztheorie entwickelter Ansatz eignet sich speziell für die Beschreibung literarischer Texte, in denen nach Coseriu (2007, S. 147) »alle Zeichenrelationen und die entsprechenden Evokationen« in »voller Aktualisierung« erscheinen, in denen also gewissermaßen »Sprache [...] am sprachlichsten ist« (Reichmann 1996, S. 15). Ágel stellt die Literaturinterpretation mit grammatischen Mitteln auf eine völlig neue Grundlage (vgl. auch Ágel 2021).

Demgegenüber ist zweitens das Grammatikmodell von Bär (2015) von der lexikalischen Semantik her entworfen.

Aus den unterschiedlichen Traditionen, aus denen sich die Entwürfe herleiten, erklären sich ihre Unterschiede im Grundsätzlichen wie im Detail. Was eine künftige hermeneutische Grammatiktheorie projektieren könnte, wäre, die auffallenden Konvergenzen zu sichten und in einem zweiten Schritt vielleicht den Versuch zu unternehmen, beide miteinander zu verbinden. Ich stehe nicht an einzuräumen, dass mein Modell unter Einbezug von Ágel (2017) in etlichen Punkten anders ausgesehen hätte. Anhand eines einzelnen Aspekts will ich das Modifikationspotential im Folgenden lediglich andeuten.

4.1 Nichtsätze – Nichtzeichen

Ágel (2017, S. 59–246) geht von Textgliedern als den größten funktionalen Einheiten von Texten aus. Arten von Textgliedern sind unter anderem Sätze (ebd., S. 115–166) und »Nichtsätze« (ebd., S. 167–191). Kurz gesagt: »Nichtsätze haben eine grammatische Struktur [...], enthalten jedoch kein Hauptprädikat« (ebd., S. 14) und verhalten sich ihrer textuellen Funktion nach analog zu Sätzen. Ebenso wie Sätze können sie beispielsweise auch lexifiziert sein (ebd., S. 160–166 u. S. 186–191), d. h. Festigkeit in unterschiedlichen Graden aufweisen: Dass ich nicht lache! (ebd., S. 160) ist ein Satz, der sich nicht zu einer anderen Flexionsform des Verbs bilden lässt (*Dass du nicht lachst!, *Dass ich nicht lachen werde! usw.); analog können Nichtsätze unveränderlich sein: Immer mit der Ruhe! (ebd., S. 187), nicht beispielsweise *Immer mit Ruhe! oder *Durchgängig/ganz/permanent mit der Ruhe! usw. – Festzuhalten ist, dass Nichtsatz nicht einfach ›kein Satz‹ bedeutet (sonst wäre alles, was kein Satz ist, beispielsweise jedes Morphem oder Lexem, ein Nichtsatz), sondern ›sprachliches Zeichen, das strukturell kein Satz ist, aber sich funktional verhält wie ein Satz‹.

Was daraus, abgesehen von aller deskriptiven Stärke im Einzelnen, als prinzipielle Anregung zu ziehen ist: Es können funktionale grammatische Einheiten angenommen werden, die nicht in hergebrachte Kategorien fallen, sondern diese sinnvoll ergänzen. Wenn man den Gedanken verallgemeinert, so lassen sich, analog zu sprachlichen Zeichen überhaupt, sprachliche Nichtzeichen annehmen: ›Phänomene, die nicht als sprachliche Zeichen gesehen werden können, aber sich grammatisch (und/oder semantisch) funktional wie solche verhalten‹. In der Tat findet sich der Terminus Nichtzeichen beispielsweise bei Ágel/Höllein (2021, S. 134) – erneut in Bezug auf syntaktische Einheiten, nämlich Satzbaupläne; aber da der Terminus einmal vorhanden ist, kann er durchaus auch auf morphologische und lexikalische Einheiten ausgedehnt werden. Die Kategorie ›sprachliches Nichtzeichen‹ könnte das Potential haben, einer hermeneutischen Grammatik ganz neue Dimensionen der Leistungsfähigkeit zu erschließen, was hier lediglich knapp angerissen sei.

4.2 Nichtzeichen: einige Beispiele

Im Vorfeld der Kommunalwahl in Frankfurt a. M. konnte man im März 2021 ein Wahlkampfplakat eines Kandidaten der Grünen mit folgendem Text finden: »Rassismus kann man kleinreden oder groß entgegentreten!« (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Wahlkampfplakat, Frankfurt a. M., März 2021 (Foto: J. A. Bär)

Um das Spezifische der Konstruktion zu durchdringen, bedarf es einer zeichentheoretischen Prämisse: Ein sprachliches Zeichen (das hier nicht als Individuum, also hinsichtlich seines semantischen Wertes, sondern nur als Vertreter einer Kategorie, d. h. grammatisch interessiert) kann als Einheit der Parole ebenso wie als Einheit der Langue betrachtet werden. Ersteres bedeutet, dass es durch seinen konkreten Kotext bestimmt ist. Solche Einheiten können als Gliedarten bezeichnet werden; ob ein Zeichen beispielsweise als Subjekt oder als Objekt zu klassifizieren ist, hängt ab von der konkreten Konstruktion, in der es steht. – Letzteres bedeutet, dass für die Bestimmung der konkrete Kotext nicht ausschlaggebend ist bzw. dass die Bestimmungsregel aus einer Abstraktion von der Gesamtheit aller Kotexte gebildet wird, in denen ein Zeichen begegnen kann. Solche Einheiten können Zeichenarten genannt werden; ein bestimmtes Zeichen wie Rassismus oder groß ist beispielsweise immer (kotextunabhängig) ein Substantiv oder ein Adjektiv.

Sprachliche Zeichen haben nun immer beides: eine Parole- und eine Langue-Dimension. Beispielsweise erscheint in dem Satz »Warum schaust du so ernst?« das Wort ernst gleichermaßen als Vertreter einer Gliedart, nämlich als Adverbial, wie als Vertreter einer Zeichenart, nämlich als Adjektiv. In die Langue-Dimension fallen auch Zeichenform-Arten wie ›Nominativ Singular‹ oder ›3. Person Plural Indikativ Präsens Aktiv‹. Sie alle haben die Eigenschaft der Disjunktivität, das heißt, ein sprachliches Zeichen ist beispielsweise entweder ein Adjektiv oder ein Substantiv, aber niemals beides auf einmal. In Fällen der Ausdrucksgleichheit pflegt man daher bei unterschiedlicher Zeichenartzugehörigkeit Homonymie anzusetzen. Das funktioniert auch bei Zeichenformen: das Haus (Nominativ) und das Haus (Akkusativ) sind homonyme Formen, die sich gegenseitig ausschließen; die Substantivgruppe kann nicht im Nominativ und im Akkusativ zugleich stehen.

Betrachtet man bei dem adversativen Gefüge Rassismus kann man kleinreden oder groß entgegentreten die beiden Bestandteile jeweils genauer, so wird deutlich: Bei Rassismus kleinreden steht Rassismus im Akkusativ, bei Rassismus groß entgegentreten im Dativ. Da die eine Kasusform, wie gesagt, die andere ausschließt, kann man sie nicht miteinander verschränken (wohingegen kojunktive Fügungen problemlos möglich sind, wenn dieselbe Kasusform vorliegt: die IdeeAkk kleinreden oder groß rausbringen).

Worum es hier geht, ist natürlich nicht, einen Sprachgebrauch als ›richtig‹ oder ›falsch‹ zu beschreiben. Vielmehr geht es um die Interpretation realer, empirisch vorliegender sprachlicher Äußerungen – eben eine hermeneutische Grammatik. Normgrammatische Regelwidrigkeit kann mit dem kommunikativen Erfolg eines Sprechakts nicht nur einhergehen, sondern diesen sogar begründen. Nicht von ungefähr sind gezielte Regelverstöße als so genannte Lizenzen seit der Antike fester Bestandteil der Rhetorik und Stilistik. Auch mit einem grammatisch ›falschen‹ Slogan (und vielleicht gerade mit einem solchen) kann man durchaus Wahlen gewinnen, wie die Grünen im März in Frankfurt gezeigt haben.

Das Phänomen, das in dem Satz Rassismus kann man kleinreden oder groß entgegentreten begegnet, bringt schulgrammatische Modelle an ihre Grenzen. Denn genau genommen ist es ja nicht so, dass das Substantiv Rassismus hier im Akkusativ und im Dativ zugleich vorliegt, sondern je nach Perspektive im Akkusativ (nämlich wenn man von kleinreden her darauf schaut) oder im Dativ (wenn man groß entgegentreten zum Ausgangpunkt der Betrachtung wählt). Das Phänomen erinnert an den Wahrnehmungswechsel bei den sogenannten Kippfiguren, bei denen zwei oder sogar mehr verschiedene Optiken möglich sind. Bei einer zweidimensionalen Abbildung eines Würfels beispielsweise kann man sich entscheiden, wo man die Vorderseite sehen will: entweder zugleich mit der Oberseite oder zugleich mit der Unterseite (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Kippfigur

Zwischen beiden Perspektiven kann man, wie gesagt, hin- und herspringen. Immer aber nimmt man nur eine von beiden ein, niemals beide zugleich. Vorne kann nicht gleichzeitig hinten sein – höchstens durch optische Täuschung, wie im Penrose-Dreieck (Abb. 4) oder in Graphiken M. C. Eschers –, und eine Akkusativform kann nicht gleichzeitig eine Dativform sein.

Abb. 4
figure 4

Penrose-Dreieck

Die konstituentenstrukturgraphische Darstellung (Abb. 5) zeigt es noch einmal deutlicher. Die Information zum Kasus wird, ebenso wie übrigens auch die zur Zeichenart, dem Grammativ (Bär 2015, S. 373) zugeschrieben. Dieses ist ein sprachliches Zeichen, das als disjunktives Formenparadigma erscheint. Bei Substantiven umfasst es normalerweise genau acht einander ausschließende Formen: vier Kasus im Singular, vier im Plural, der bei Rassismus als -en erscheint (das Deutsche Referenzkorpus des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache bot bei einer Recherche am 1.8.2021 für den Plural Rassismen immerhin 537 Belege, den frühesten aus dem Jahr 1960).

Abb. 5
figure 5

Konstituentenstruktur von Rassismus. (Drvd Derivand, DrvnG Derivationsgefüge, Drvtr Derivator, Fltd Flektand, Fltr Flektor, FlxnG Flexionsgefüge, Grv Grammativ, Itrfx Intrafix, Sb Substantiv, Sffx Suffix. Termini und Siglen nach Bär [2015])

Funktional erscheint das Grammativ als Bestandteil eines Flexionsgefüges. Es erfüllt die Gliedfunktion des Flektors (das könnte bei Verben beispielsweise auch ein Hilfsverb tun), während das Intrafix (Bär 2015, S. 393 f.), d. h. der ›Stamm‹ des Suffixes, in der Gliedfunktion des Flektanden erscheint. Im Fall des kippfiguralen Kasus in Rassismus kleinreden oder groß entgegentreten hingegen liegt eine Einheit vor, die zwar auf den ersten Blick so aussieht wie ein Grammativ, sich aber durchaus nicht so verhält. Ich neige daher dazu, dieses zeichenartige Phänomen als Grammativoid zu bezeichnen: kein sprachliches Zeichen, sondern ein Quasizeichen, ein Nichtzeichen im oben angedeuteten Sinn.

Eine grammatische Kategorie ›sprachliches Nichtzeichen‹ würde die klassifizierende und strukturanalytische Beschreibung einer Vielzahl vermeintlich regelwidriger, in Wahrheit aber alltäglicher sprachlicher Phänomene erlauben, von denen ich nur einige wenige andeuten möchte.

Betrachtet man den einfachen Beispielsatz Ich nehme die Seife, so hat man mit nehme die Seife ein Supprädikationsgefüge (Bär 2015, S. 225–233) vorliegen. Supprädikationsgefüge sind, vereinfacht gesagt, Gefüge, die neben einem Verb oder einer Verbgruppe mindestens ein Objekt oder Adverbial aufweisen. Das Verb ist normalerweise ein Vollverb, das heißt, es weist eine individuelle Semantik auf, die nur im Ausnahmefall der vollständigen Synonymie auch noch einem anderen Verb eigen ist. Selbst bei ich ergreife die Seife hätte man, je nachdem wie differenziert man es betrachtet, nicht exakt denselben semantischen Wert – jedenfalls nicht denselben Stilwert.

Demgegenüber liegt in dem auf den ersten Blick völlig analog strukturierten Beispielsatz Ich nehme ein Bad bei nehme ein Bad eine andere Gefügeart vor: ein Adverbationsgefüge (Bär 2015, S. 238–246). Im Unterschied zu Ich nehme die Seife kann man die im Akkusativ stehende Einheit nicht erfragen: Ein Bad nehmen heißt ja nichts anderes als baden, so dass man es mit einer Konstruktion zu tun hat, die Peter von Polenz (1963) Funktionsverbgefüge genannt hat. Funktionsverben sind grammatikalisierte, also ent-semantisierte Verben; sie haben ihre spezifische Bedeutung mehr oder weniger weitgehend verloren und dienen nur noch als grammatische Kerne von Gefügen mit Substantivgruppen oder Partikelgruppen, die ihrerseits die Trägerinstanzen der semantischen Information abgeben. Ein Gedicht zum Vortrag bringen ist gleichbedeutend mit es vortragen (man kann nicht sinnvoll fragen wohin bringe ich das Gedicht?).

Mir geht es hier lediglich darum, dass Funktionsverben semantikogrammatisch nicht dasselbe sind wie Vollverben, dass sie mithin unterschiedlichen Sub-Wortarten – aber auch das sind Zeichenarten – angehören, und dass somit das Vollverb nehmen und das Funktionsverb nehmen streng betrachtet als verschiedene, homonyme Wörter anzusehen sind.

Will man nun beide Konstruktionen kojunktiv fügen, indem man ein und dasselbe Verb auf beide Akkusative bezieht (Ich nehme die Seife und ein Bad), so müsste dies eigentlich unmöglich sein, da in der Konsequenz der zeichentheoretischen Prämisse ›zwei Zeichen verschiedener Zeichenart können synchron nicht dasselbe Zeichen sein‹ ein Vollverb und ein Funktionsverb nicht identisch gesetzt werden können. Es ist aber problemlos möglich – die antike Rhetorik nennt eine derartige Konstruktion ein Zeugma –, und auch grammatiktheoretisch muss es kein Problem sein. Wenn man sprachliche Nichtzeichen auf Morphem-Ebene schon akzeptiert hat, dann kann man dies auch auf Lexem-Ebene tun und mithin bei einem solchen zeugmatischen Gefüge von einem Nichtverb oder Verboid sprechen. Man würde damit ein Phänomen meinen, das genau wie ein Verb aussieht, gebildet ist und sich gliedfunktional genau wie ein Verb verhält und doch nicht als Verb bezeichnet werden kann, ohne gegen zeichentheoretische Grundannahmen zu verstoßen.

Ein weiterer Kandidat für sprachliche Nichtzeichen, und zwar ebenfalls für Verboide, könnte dasjenige sein, was ich in einem jüngeren Beitrag als »virtuelle Wörter« bezeichnet habe (Bär 2020b); das Konzept ›sprachliches Nichtzeichen‹ war mir seinerzeit noch nicht bekannt. Das Phänomen, um das es geht, findet sich in Alltagskonstruktionen wie Mach die Augen zu und erst wieder auf, wenn ich es dir sage. Die Frage, die beispielsweise eine Person stellen könnte, die ein digitales Korpus zu annotieren hat, lautet: Wie viele Verben stehen hier (unter Langue-Aspekt, als Types) im Hauptsatz? – Antwort: Zweifellos zwei, und zwar sogenannte Partikelverben oder, wie sie in der DaF-Didaktik heißen, trennbare Verben, nämlich erstens zumachen und zweitens aufmachen. Ein einziges Verb zu- und aufmachen, analog zu hin- und hergehen, das in Wörterbüchern wie dem zehnbändigen Duden (1999, S. 1824) einen eigenen Eintrag hat, wird man hier nicht annehmen, weil es um zwei getrennte, zeitlich klar separierte Handlungen geht. Nun steht allerdings bei Mach die Augen zu und [...] wieder auf unter Parole-Aspekt, als Token, lediglich ein Verb da, nämlich machen, das man beim Ansatz des Partikelverbs zumachen sozusagen verbraucht; und da man in einer Konstruktion wie der vorliegenden nirgendwo sinnvoll eine Ellipse des zweiten, für den Ansatz von aufmachen benötigten Verbs machen annehmen kann, muss man entweder annehmen, dass zwei verschiedene Partikelverben in der Parole ein und dasselbe Simplex als Kern haben können (was die gesamte Wortbildungstheorie durcheinanderwirft) – oder man kann, wie bei Bär (2020b), das zweite machen als eine ausdrucksseitig nullwertige, rein virtuelle Einheit, sozusagen als dunkle Materie der Grammatik ansehen – oder aber man setzt statt eines Verbum simplex ein Verboid an, das man dann seinerseits als Basis der beiden anzunehmenden Partikelverbbildungen akzeptiert.

Nichtsätze oder satzwertige Wortgruppen, wie sie bereits in der älteren Dudengrammatik heißen, kommen ebenfalls als funktionale sprachliche Nichtzeichen in Betracht. Ein Nichtsatz kann beispielsweise als Objekt eines Verbum dicendi erscheinen: »›He, Franzi‹, rief er ihr nach« (Altenberg 1904, S. 64). Und gerade die Verben des Sprechens führen noch auf einen weiteren Fall: In der Inquit-Formel, die einen im Objekt-Slot erscheinenden Sprechakt anzeigt, können selbstverständlich auch ganze Texte stehen – ebenfalls ein völlig normaler Fall, zum Beispiel bei Binnenerzählungen in der Literatur, wie hier in Theodor Storms Schimmelreiter:

»›Erzählt, erzählt nur, Schulmeister‹, riefen ein paar der Jüngeren aus der Gesellschaft. [...]

›Nun also!‹ sagte er. ›In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, oder vielmehr, um genauer zu bestimmen, vor und nach derselben, gab es hier einen Deichgrafen, der von Deich- und Sielsachen mehr verstand, als Bauern und Hofbesitzer sonst zu verstehen pflegen; aber es reichte doch wohl kaum, denn was die studierten Fachleute darüber niedergeschrieben, davon hatte er wenig gelesen; sein Wissen hatte er sich, wenn auch von Kindesbeinen an, nur selber ausgesonnen.‹« (Storm 1888, S. 256)

Texte sind zwar Mengen sprachlicher Zeichen, selbst aber keine sprachlichen Zeichen, da sie keine Langue-Dimension aufweisen, sondern nur Phänomene der Parole sind: Es gibt zwar Textsorten, aber keine Textformen (als Paradigmata, so wie es Wortformen gibt). Ändert man nur ein Wort oder selbst nur ein einziges Komma an einem Text, hat man streng genommen schon einen anderen Text. Offenkundig ist dies in poetischen Texten: »Ein Gedicht ist kein Wortbestand, der noch immer vollzählig bleibt, wenn unter 68 Wörtern eines durch ein anderes ersetzt wurde. Durch das eine können alle zusammen erst erschaffen, schon erloschen sein.« (Kraus 1929, S. 362). Es gilt aber ebenso für nicht-poetische Texte. Auch die verschiedenen Exemplare, in denen ein Text vorliegen kann, begründen keine Langue-Dimension, da es sich dabei nicht um Textinstanzen, sondern nur um Textträgerinstanzen handelt.

4.3 Quantengrammatik

Die wenigen, willkürlich ausgewählten Beispiele genügen, um deutlich werden zu lassen, worum es gehen könnte: um einen grammatischen Modellentwurf, bei dem sprachliche Nichtzeichen auf allen hierarchischen Ebenen als integrative Bestandteile erscheinen. Eine hermeneutische Grammatik könnte dies sein, weil die zu beschreibenden Phänomene, Zeichen ebenso wie dann auch Nichtzeichen, als Mengen von Gebrauchswerten im Wittgenstein’schen Sinne zu verstehen wären: als Interpretabilien. Sie ›haben‹ als solche nicht einen grammatisch-semantisch-pragmatischen Wert, sondern es wird ihnen qua usueller und/oder ko(n)textueller Deutung einer zugeschrieben – sie werden gedeutet und dadurch ›bedeutet‹. Die (be)deutende Instanz kann die sprechende/schreibende Person, die adressierte oder rezipierende, alltagsverstehende Person oder aber die interpretierende Person sein; wenn eine dieser Instanzen mit der anderen oder auch nur mit sich selbst ein-verstanden ist, d. h., wenn es keinen Grund gibt, sich über eine Äußerung zu wundern (vgl. Bär 2016, S. 286 f.), so liegt bereits der Glücksfall des gelingenden Verstehens vor. Ob man einander oder sich selbst tatsächlich versteht, ist nämlich nicht überprüfbar, da sich das Verstehen von Äußerungen ausschließlich in neuen Äußerungen dokumentieren kann, die ihrerseits verstanden werden müssen ...

Sprechen/Schreiben heißt »sinnlich Wahrnehmbares zu tun bzw. hervorzubringen in der Absicht, einen anderen damit zu interpretierenden Schlüssen zu verleiten«; (Be‑)Deutung ist ein »intelligentes Ratespiel« (Keller 1995, S. 12). Trifft ein Verständnis grosso modo auf die Akzeptanz einer größeren bis großen Gruppe, so kann es als usuell gelten.

Interpretabilien können, wie gezeigt, auch Sematoide sein: Entitäten, die wie sprachliche Zeichen aussehen und sich gliedfunktional wie solche verhalten, in mancher Hinsicht jedoch nicht als solche erscheinen. Sie sind, wenn man will, sprachliche Zeichen und keine sprachlichen Zeichen zugleich: so wie es in der Physik Phänomene gibt, die einmal als Teilchen und ein andermal als Wellen erscheinen können. Teilchen können zu einem und demselben Zeitpunkt nur an einem Ort sein, nicht an mehreren; Wellen breiten sich aus, verstärken oder schwächen einander und können gleichzeitig mit unterschiedlicher Intensität an verschiedenen Stellen wirken. Teilchen- und Wellesein schließt sich gegenseitig aus; derartige Phänomene können daher von der klassischen Physik nicht angemessen beschrieben werden. Gleichwohl handelt es sich bei ihnen um messbare Größen (Quanten), die zudem nicht beliebig sind, sondern nur bestimmte Werte haben können.

In Analogie zur Quantenphysik ließe sich bei einem Modell, das sprachliche Zeichen und sprachliche Nichtzeichen gleichermaßen berücksichtigt, cum grano salis von einer ›Quantengrammatik‹ sprechen. Mit einer Grammatik dieser Art könnte man vermeintlich irreguläre, tatsächlich aber völlig usuelle Sprachgebräuche als regelhaft beschreiben – durchaus auch solche der gesprochenen Sprache, die sich, wie Welke (2019, S. 2) betont, häufig »nicht aus Regeln ableiten lassen, die sich in Grammatiken finden«. Sie könnte sich prinzipiell für die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche – für morphologische, syntaktische, textuelle und diskursive Strukturen ebenso wie für prosodische Muster, für literaturlinguistische Forschung nicht weniger als für solche zur Kommunikation in den neuen Medien – und also gewissermaßen als hermeneutisch-linguistisches Universalmodell eignen.

Es versteht sich von selbst, dass eine Verbindung zweier oder auch mehrerer Theoriegebäude von grundsätzlicher Verschiedenheit, die über einen eklektischen Synkretismus hinausgehen will, kein triviales Unterfangen ist. Wenn man auf die beiden Theoriebildungsprinzipien ›Konsistenz‹ und ›Parsimonität‹ Wert legt, mit anderen Worten, wenn man den Anspruch erhebt, innere Widersprüche und unnötigen kategorialen Aufwand möglichst zu vermeiden, so muss man damit rechnen, dass beim Umbau kein Stein auf dem anderen bleibt. Einer Grammatiktheorie, die auf der Annahme sprachlicher Zeichen beruht, die Annahme sprachlicher Nichtzeichen hinzuzufügen – vielmehr: sprachliche Zeichen im herkömmlichen Sinne nur noch als eine Subkategorie grammatischer Phänom anzusehen, freilich wohl, zumindest aus einer traditionell-schriftsprachorientierten Sicht, nach wie vor als Prototyp derselben –, bedeutet, jeden nachgeordneten Paragraphen, sei es bezüglich der Arten von Zeichen, sei es bezüglich ihrer konkreten funktionalen Beziehungen, zu revidieren. Ob der mögliche Erkenntniszuwachs den Aufwand rechtfertigen würde, muss an dieser Stelle offen bleiben.