»Voraussetzung für wissenschaftliches Erkennen ist sowohl die Fähigkeit, eine alte Erkenntnis als Irrtum abzulegen, als auch über das zu staunen, was sich an dessen Stelle abzeichnet.« (Rheinberger 2021, S. 232 f.)

1 Verstehen

Verstehen ist eine Grundkategorie und tägliche Aufgabe menschlichen Daseins. Menschen zeichnen sich durch geteilte Intentionalität und gemeinsames Handeln aus; auf dieser ersten Grundlage von Wechselseitigkeit und Kooperation entwickeln bzw. erwerben sie gemeinsame Symbolsysteme (insbesondere Sprachen), die ihrerseits komplexeres Handeln erlauben (z. B. Tomasello 2011). Unverständnis und – schlimmer, wenn nicht entdeckt – Missverständnis hemmen menschliche und gesellschaftliche Entwicklung. Das erfährt jede und jeder alltäglich, sei es im scheinbar banalen Alltag, in Krisen aller Art, sei es bei Filterblasen oder ideologischer Verkrustung. Viel menschliches und gesellschaftliches Leid, viele Traumata und Kriege entstehen unter anderem auch durch gegenseitiges Unverständnis, durch Missverständnisse und durch Mangel an Bemühen um gegenseitiges Verstehen. Das gilt umso mehr, je komplexere, differenziertere und vielfältigere Lebenswelten ihren Bewohnern Ambiguitätstoleranz abverlangen (vgl. z. B. Bauer 2018).

Denn menschliche Kommunikation zielt stets auf Einverständnis oder Widerspruch. Dafür muss geklärt werden, ob man einander verstanden oder missverstanden hat. Schleiermacher (1977, S. 92 = § 15 f.) unterscheidet zwischen einer laxeren und einer strengeren Praxis in der Kunst der Auslegung von Schrift und Wort. Ersterer geht es um Vermeidung von Missverstand im Wesentlichen bei unbedeutenden Angelegenheiten. Letztere »geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden

Dafür braucht man Geduld. Doch die heutige Lebensweise in fortgeschrittenen Gesellschaften ist eher schnell, unruhig, ungeduldig, kleinteilig, fragmentarisch, hektisch. In der öffentlichen Kommunikation geht es oft mehr um eine »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck 1998) als um Verständnis. Verstehen ist ja auch riskant. Erstens kann man nie wissen, ob man etwas wirklich voll verstanden hat. Und zweitens ist nicht klar, welches Risiko man eingeht, wenn man um Verständnis buhlt: Gesichtsverlust, Angst, Einsamkeit?Footnote 1

2 Hermeneutik

Irgendetwas versteht man im Alltag immer, und zwar beiläufig und ohne besondere Anstrengung. Doch man kann Verstehen auch kunstfertig betreiben. Das nennt man Hermeneutik.Footnote 2 Einfache Formen solcher Kunstfertigkeit findet man auch im Alltag, wenn Menschen merken, dass sie einander missverstehen und sich um gegenseitiges Verständnis bemühen.Footnote 3 Professionellere Formen haben sich vor allem zwecks Verständnis ihrerseits kunstfertiger Texte etabliert, also vor allem in der Literaturwissenschaft. Weil die zu verstehenden Texte bereits vorliegen und der Rezipient nur im Nachhinein den von ihnen eröffneten Bahnen mehr oder weniger passiv folgen kann, schließt diese Konstellation wechselseitiges Verständnis von vornherein aus.

Diese Art von nachträglichem Verstehen ist dann zum Modell einer philosophischen Hermeneutik geworden, der Verstehen als »die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins« gilt (Gadamer 1972, S. 245): »Verstehen ist der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber« (ebd., S. 246). In solch überhöhter Verfeinerung wird auch das wilde, spontane Denken des Individuums eliminiert, so dass Verstehen nicht mehr ist als »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« (ebd., S. 275) – nach hinten fügsam, nach vorne geschlossen –, kaum aber »eine Handlung der Subjektivität« (ebd., S. 274), geschweige denn des einzelnen Subjekts. Vielmehr erscheint Sprache als das eigentliche Subjekt: »Wohl aber ist es die Sprache, die wirklich das Ganze unseres Weltverhaltens aufschließt« (ebd., S. 425). »In ihr wird sichtbar, was über das Bewußtsein jedes einzelnen hinaus wirklich ist« (ebd., S. 425). Und folglich: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« (ebd., S. 450). Denn »die eigentliche Wirklichkeit der Sprache«, so Gadamer (1986, S. 72), liegt darin, dass sie »ein vorgängiges Umfaßtsein alles Seienden durch sein mögliches Zursprachekommen« ist. Interaktion, Auseinandersetzung, Aneinander-Abarbeiten zwischen einzelnen Individuen oder Gruppen spielen keine nennenswerte Rolle, denn es geht um unterstellte fortwährende Gemeinsamkeit: »Es ist die Sprache, die diese Gemeinsamkeit der Weltorientierung ständig aufbaut und trägt. Miteinandersprechen ist nicht primär Sich-miteinander-Auseinandersetzen« (Gadamer 1986, S. 188).Footnote 4

Die wirkliche Welt diesseits philosophischer Schreibtischmonologe sieht allerdings etwas anders aus. Sprache beruht auf Interaktion, Interessen, Austausch, symbolischer Macht (vgl. z. B. Bourdieu 2005). »Einen abstrakten Gesprächspartner, sozusagen den Menschen an sich, kann es nicht geben; wir könnten mit ihm keine gemeinsame Sprache finden, weder im buchstäblichen, noch im übertragenen Sinne.« (Vološinov 1975, S. 145) Letztlich kommt sogar die Produktion von Sprache nicht ohne sehr konkrete hermeneutische Prozeduren aus.Footnote 5 Dort aber, wo es um (mündliche oder schriftliche) Dialoge geht, verzwirbeln sich Produktion und Rezeption: Am Gesagten wird gemeinsam und differentiell weitergearbeitet. Verstehen ist dann Arbeit an einem nach vorne offenen Überlieferungsgeschehen.

Etwas anders sieht es im Bereich empirisch orientierter Kulturwissenschaften aus. Hier gilt Verstehen als eine eigenständige oder ergänzende Methode zur Auswertung empirischer Daten (vgl. z. B. Bourdieu 2010, Greshoff u. a. [Hg.] 2008). Ihr Wert hängt wie bei allen wissenschaftlichen Methoden von der reflektierten Sorgfalt ihres Einsatzes ab. Feyerabend (1984, S. 137) warnt davor, dass bei solch wissenschaftlichem Verstehen nicht selten »die Ideen kluger Individuen oder privilegierter Gruppen zu einem Maßstab für das Leben aller erhoben« wurden.

Jedenfalls, so meine These, kann die Kunst der Hermeneutik allein keine Wissenschaft begründen. Und dennoch gibt es keine Wissenschaft ohne hermeneutische Anteile.

3 Wissenschaft

Kann man Erkenntnis ohne Sprache gewinnen? Nein, kann man nicht.Footnote 6 Folglich hat jede Wissenschaft eine hermeneutische Grundlage. Sprach- und Geisteswissenschaften sind ohnehin »Verständigungswissenschaften« (Apel 1973, S. 112). Doch auch Naturwissenschaften sind hermeneutisch grundiert. Zwar treten Naturwissenschaftler nicht in ein Gespräch mit ihrem Gegenstand. Doch sie analysieren ihn nicht sprachlos als stumme Individuen. Vielmehr stellen sie nur als miteinander kommunizierende Gemeinschaft ihre Fragen. Wenn Kant (1956, S. 23 = B XIII) schreibt, dass Naturforschung »die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten« so wie ein Richter, »der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt«, so ist das nicht einfach eine blumige Metapher, sondern erinnert daran, wie sehr Forschung an Sprache gebunden ist. Forschende beraten über Methoden und Zwischenergebnisse, formulieren Beobachtungen (z. B. in ProtokollenFootnote 7) und tauschen sich über Resultate, Theorien und Schlussfolgerungen aus. Nichts davon geht ohne Sprache und Verständigung.

Schon vorab muss die natürliche Welt überhaupt erst so zugerichtet werden, dass sie für Menschen ›lesbar‹ wird (vgl. Blumenberg 1981). Rheinberger (2021, S. 192) legt dar, wie moderne Experimentalsysteme »als techno-epistemische Umgebungen [...] die Dinge von wissenschaftlichem Interesse in Phänomene zu transformieren erlauben, die sich materialiter untersuchen lassen.« In derartigen »Forschungsmaschinen« (ebd.) verkörpert und realisiert sich eine Erzählstruktur (ebd., S. 194), die ›Vorfragen‹ und ›Rückfragen‹ erlaubt (ebd., S. 196). Beim Experimentieren wird neues Wissen im Wechselspiel von Kohärenz und Differenz produziert; dabei sind »Wissen und Erzählen« (ebd., S. 190, 219) aufeinander angewiesen. Denn Forschung »strebt danach, in die Reichweite des Begrifflichen zu bringen, was in der lebensweltlichen Erfahrung noch nicht konzeptualisiert worden ist oder nicht konzeptualisiert werden kann, weil es ihr entgeht« (ebd., S. 204). Auf diese Weise wird auch die natürliche Welt nur über einen Prozess der Semiose und letzten Endes über Sprache für Menschen lesbar und kommunikabel.Footnote 8

4 Linguistik

Sprachwissenschaft kann helfen, diese und überhaupt alle Verstehensprozesse besser zu verstehen. Hermeneutik ist eine Kunst (ars), Linguistik eine Wissenschaft (scientia). Hermeneutik zielt eher auf Subjektivität, Linguistik eher auf Objektivität.

Hermeneutik denkt oft entweder vom einzelnen verstehenden Subjekt aus (dann mit wenig objektivierbaren Ergebnissen) oder hypostasiert Sprache als das eigentliche Subjekt, dem sich die Individuen zu unterwerfen haben. Interaktion als das Lebenselixier von Sprache und jeglicher Verständigung spielt in beiden Varianten keine nennenswerte Rolle.

Oft allerdings auch nicht in der Sprachwissenschaft. Ludwig Jäger (1993) skizziert – bewusst vergröbernd – zwei Arten von Sprachwissenschaft. Sie unterscheiden sich danach, ob sie die intentional-kommunikative Funktion von Sprache berücksichtigen. Strukturorientierte Theorien (in der Linie von K. F. Becker über Schleicher bis zu Chomsky) blenden sie aus; funktionsorientierte Theorien (in der Linie von Humboldt und Steinthal über den authentischen Saussure bis zu Mead und Searle) hingegen halten sie für eine ihrer konstitutiven Eigenschaften (ebd., S. 78). Erstere unterstellen, »daß das Generierungszentrum des sprachlichen Systems nicht in sprachlichen Leistungen sozialer Individuen liegt« (ebd., S. 80); letztere hingegen gehen genau davon aus.

Daraus folgt, dass diese Art strukturorientierter Theorien hermeneutikfreie Zonen etablierenFootnote 9, während funktionsorientierte Theorien sprachliche Verständigung nicht sinnvoll ohne hermeneutische Leistungen denken können.Footnote 10 Positiv formuliert: Sprachwissenschaft, die sprachliche Formen aus ihren Funktionen für menschliche, also intentional-kommunikative Interaktion zu erklären sucht, könnte dem wissenschaftlichen Mangel hermeneutischer Ansätze abhelfen. Dabei sollte den hermeneutischen Leistungen der Sprachbenutzerinnen und -benutzer besondere sprachwissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Seit wenigen Jahrzehnten geschieht das nach und nach auch immer mehr – angefangen mit der pragmatischen Wende der Sprachwissenschaft seit den 1970er Jahren über die Entdeckung des authentischen Saussure bis hin zum Ausbau der Text- zur Diskurslinguistik, Etablierung der Diskursanalyse, funktionalen Pragmatik, Gesprächs- und Interaktionslinguistik und teilweise der Semiotik, Medienlinguistik und Multimodalitätsforschung.

5 Problemorientierung & Methodenpluralismus

Fritz Hermanns schlug 2003 vor, »Linguistische Hermeneutik« als ein in der Linguistik bislang fehlendes Teilfach einzurichten. Aus heutiger Sicht erscheint das erstens dem herkömmlichen Disziplindenken verhaftet, anstatt fruchtbarer von belangvollen Problemen auszugehen, und zweitens als zu zaghaft. Denn Sprache ohne Verstehen ist sinnlos. Verstehen spielt bei allen sprachlichen Prozessen eine wesentliche Rolle. Das heißt aber keineswegs, dass Hermeneutik oder auch nur hermeneutische Interessen Sprachwissenschaft kapern sollten. Es geht nicht darum, neue Denkzwänge zu etablieren.Footnote 11 Denn Paul Feyerabend hat sehr wohl Recht, wenn er zu bedenken gibt: »Theorien werden aufgegeben und durch modische Analysen verdrängt, lange bevor sie Gelegenheit haben, alle ihre Qualitäten zu zeigen.« (Feyerabend 1983, S. 58 f.)

Aber es ist sehr sinnvoll und erweist sich auch als fruchtbar, hermeneutische Aspekte in jedweder sprachwissenschaftlichen Forschung zu bedenken. Der wegweisende Sammelband von Hermanns/Holly (2007) legt gute Spuren. Allerdings muss Verstehen nicht immer im Mittelpunkt sprachwissenschaftlicher Forschung stehen. Vom Ziel der jeweiligen Untersuchung hängt ab, wie weit hermeneutische Fragen berücksichtigt werden müssen. Ich plädiere also für Methodenpluralismus: »Ein Wissenschaftler, der den empirischen Gehalt seiner Ideen möglichst groß machen und sie möglichst klar verstehen möchte, muß daher andere Ideen einführen; das heißt, er muß eine pluralistische Methodologie verwenden.« (Feyerabend 1983, S. 34)

Auf diese Weise werden sich der Sprachwissenschaft auch neue und überraschende Perspektiven eröffnen. So bemerkt zum Beispiel Haß (2007, S. 258): »Der Umgang mit elektronischen Textkorpora ist ein hermeneutisches Verfahren«. Das dürfte gleichermaßen für jeden Umgang mit sprachlichen Daten gelten: Sowohl bei der ursprünglichen Fragestellung als auch bei der Sammlung und Auswahl der Daten, bei der Konstruktion des Korpus samt Metadaten sowie bei der statistischen und qualitativen Auswertung und abschließenden Interpretation sind stets hermeneutische Prozesse mit im Spiel. Neue digitale Methoden (z. B. in der Korpuslinguistik, bei der Erstellung von Wörterbüchern oder bei der Transkription und Annotation gesprochener, geschriebener und multimodaler Daten) ändern daran nichts, auch wenn die faszinierenden technischen Möglichkeiten leicht die Illusion vermitteln mögen, als nähmen vorfabrizierte maschinelle Algorithmen den Forschenden auch die schwierige Aufgabe ihrer Urteilskraft ab.Footnote 12 Verstehen selbst ist nicht programmierbar.

In menschlicher Lebenswelt, sei es in Alltag, Beruf, medialer Umgebung, Kultur und/oder Wissenschaft, gilt es ständig, Missverstehen zu erkennen und möglichst wechselseitige Verständigung (nicht unbedingt Einverständnis) zu erreichen. Sprachwissenschaft kann und soll – unter anderem – erkunden, unter welchen Bedingungen und wie sich (Bemühen um) Verstehen vollzieht. Das kann theoretisch durchdacht und durch Beobachtung eintretender Fälle, aber auch in gut arrangierten Experimenten erforscht werden. Aus den Ergebnissen könnten auch Hinweise zur Verfeinerung der alltäglich ausgeübten Kunst des Verstehens gewonnen werden. So würde die fröhliche Sprachwissenschaft der eher behäbigen Hermeneutik auf die Sprünge helfen.

Konkrete Themen einer verstehensorientierten Linguistik können beispielsweise sein:

  • strittige Alltagskommunikation (z. B. unter Paaren),

  • Verkaufsgespräche (z. B. Bankberatung),

  • Kommunikation zwischen Laien und Experten, insbesondere Übersetzung von Fachsprache in Alltagssprache und umgekehrt (z. B. in der Arzt-Patient-Kommunikation),

  • fachterminologische Begriffsklärung auch unter Experten (z. B. Ingenieuren),

  • Prozeduren der Verständigung: Wiederholen (z. B. bei medizinischen Operationen), Paraphrasieren (z. B. bei störrischem Gesprächspartner), Übersetzen (z. B. bei fremdsprachigen Arbeitskräften), Interpretieren (z. B. in der Rechtsprechung),

  • vorschnelles, fragiles oder falsches Verstehen (z. B. in Social Media),

  • Zustimmen oder Widersprechen auf falsch verstandener Grundlage (z. B. in politischen Debatten),

  • Aneinandervorbeireden (z. B. in Talkshows),

  • Frage-Antwort-Nachfrage-Ketten,

  • Klärung von Un- und Missverständnissen (z. B. durch Nachfragen),

  • Stolperfallen der Verständigung (z. B. Fremdwörter, Malapropismen, Metaphern, Redewendungen, Phraseologismen),

  • Erfolg und Misserfolg von Ironie, Humor und Witz,

  • effiziente Syntax (z. B. einfacher vs. komplexer Satzbau),

  • einfache bzw. leichte Sprache,

  • Einübung schulischer Textsorten (z. B. Protokoll, Inhaltsangabe, Nacherzählung, Interpretation),

  • Begriffsbildung in der kindlichen Sprachentwicklung sowie in der Geschichte der Wissenschaften,

  • Metaphernwanderungen durch Zeiten, Räume und Diskurse,

  • fraglos unverständiges Einverständnis in Filterblasen.

In allen solchen Fällen unterscheidet sich eine interaktions- und verstehensorientierte Linguistik von der herkömmlichen rezeptionsorientierten Hermeneutik dadurch, dass sie Sprecherinnen und Sprecher als aktive Subjekte in Konkurrenz und Austausch ernst nimmt. Hermeneutik und Sprachwissenschaft sind zwei ungleiche Schwestern mit noch nicht ausgeschöpftem gemeinsamen Potential.