Zusammenfassung
Der Beitrag erläutert anhand von Beispielen die Konturen einer literarischen Hermeneutik, deren zentrales Ziel in der ästhetischen Wertschätzung des literarischen Textes besteht: Nicht das Verstehen der Bedeutung des Textes steht hier also im Vordergrund, sondern die Würdigung von dessen literarischen Errungenschaften (S. H. Olsen). Ergänzt wird die beispielgestützte Erläuterung durch die Angabe von Gründen, die für ein entsprechendes Interpretationsprogramm sprechen; zudem deuten wir an, dass die literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis einer so verstandenen Hermeneutik zumindest nahezustehen scheint.
Abstract
We argue by way of examples that a literary hermeneutics centrally deals with literary appreciation: interpreting a literary work is not an act of understanding the meaning of the text but rather amounts to appreciating its literary qualities (S. H. Olsen). We provide examples for literary qualities, and we also give some reasons that speak for a literary hermeneutics as literary appreciation; moreover, we suggest that appreciation is what interpreters in fact aim for when interpreting literary works.
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Im Streit um den Sinn oder die Konturen einer literarischen Hermeneutik – wenn von einem solchen Streit heutzutage die Rede sein kann – verdient eine Position Beachtung, deren zentrales Anliegen auf den ersten Blick paradox anmuten mag: Es handelt sich um die Position, dass die Interpretation literarischer Texte als ästhetische Wertschätzung (engl. appreciation) verstanden werden sollte. Die wichtigsten Advokaten dieses Programms sind Stein Haugom Olsen und Peter Lamarque.Footnote 1 Der Anschein des Paradoxen entsteht, weil hier eine Lehre des literarischen Verstehens in Rede steht, die fordert, literarische Texte nicht primär als sprachliche Äußerungen aufzufassen, deren Bedeutungen zu verstehen sind, sondern vielmehr als Kunstwerke, deren kunstwerkspezifische Leistungen es zu würdigen gilt.
Kann das denn sein: Eine literarische Hermeneutik, die sich nicht als Lehre des Verstehens auffasst?
In diesem Beitrag versuchen wir, die sich in dieser Frage ausdrückende Skepsis zu mindern, indem wir (1) anhand von Beispielen erläutern, was es mit der ästhetischen Wertschätzung auf sich hat, und (2) Gründe beibringen, die für ein entsprechendes hermeneutisches Programm – eine Hermeneutik, die sich nicht als Lehre des Verstehens, sondern vielmehr der ästhetischen Wertschätzung versteht – sprechen. Idealerweise erscheint die literarische Hermeneutik, gekleidet ins Gewand ästhetischer Wertschätzung und im Lichte unserer Beispiele, als alte Bekannte oder genauer: als theoretische Fundierung einer institutionell etablierten interpretativen Praxis.
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Eine Lehre der ästhetischen Wertschätzung besagt, kurz gesagt, dass Interpretinnen und Interpreten ästhetisch bedeutsame Eigenschaften ihres Gegenstands herauszustellen haben. Hier ist eine Reihe von Beispielen für ästhetisch bedeutsame Aspekte literarischer Texte: modernistische Romane werden dafür (ästhetisch) geschätzt, dass ihre Erzählstruktur die ›Zerrissenheit‹ des modernen Subjekts spiegelt; psychologische Romane werden für die psychologische Komplexität und den Realismus ihrer Figurenkonzeptionen geschätzt; Thriller werden für ihr Spannungspotenzial geschätzt; der philosophische Roman wird dafür geschätzt, bestimmte philosophische Thesen ins Werk zu setzen.
Dies ist eine offene Beispielliste, die illustrieren soll, was wir mit ästhetischen (oder ästhetisch bedeutsamen) Werkeigenschaften meinen.Footnote 2 Offenkundig gereichen die beispielhaft genannten Eigenschaften nicht jedem fiktionalen Werk unterschiedslos zum (ästhetischen) Vorteil (vgl. Lamarque 2009, S. 20–23). Es gibt aber Genres, wo sie dies typischerweise tun, d. h. die Genrezuordnung kann uns so etwas wie einen Hinweis darauf geben, mit ästhetischen Werten welchen Typs wir es bei einem Einzelwerk zu tun haben;Footnote 3 und natürlich gibt es Einzelwerke, die über ästhetische Vorzüge verfügen, die sich als Instanzen eines entsprechenden Typs ästhetischer Vorzüge verstehen lassen.Footnote 4Nota bene: Nichts läge uns ferner, als für jedes fiktionale Werk bestimmte ästhetische Eigenschaften und einen bestimmten ästhetischen Wert zu postulieren (oder auch nur einen ästhetischen Wert eines bestimmten Typs). Herauszufinden, über welche ästhetisch bedeutsamen Eigenschaften ein Werk verfügt, ist ja vielmehr Verdienst der (Einzeltext‑)Interpretation (dazu unten mehr). Wir meinen aber, dass literarische Texte vernünftigerweise mit der Erwartung gelesen werden können, dass sie über irgendeinen ästhetischen Wert verfügen, dem man sich in der Interpretation zu nähern versuchen kann – auch dazu gleich mehr.Footnote 5
Zurück zu den Beispielen: Die conditio humana in der Moderne zu spiegeln, über eine psychologisch komplexe und realistische Figurenkonzeption zu verfügen, spannend zu sein oder philosophische Thesen zu exemplifizierenFootnote 6 sind komplexe (höherstufige) Werkeigenschaften, die in anderen Werkeigenschaften fundiert sind: In den vielen einzelnen Handlungen und im Charakter eines fiktiven Wesens manifestiert sich z, die Figurenkonzeption. Analoges gilt für die anderen genannten (ästhetisch bedeutsamen) Eigenschaften: Sie beruhen (auch) auf dem, was in der Fiktion des jeweiligen Werkes der Fall ist. Denn spannend ist ein Text aufgrund spezifischer Fragen, die fiktive Ereignisse hinsichtlich zukünftiger Ereignisse aufwerfen (vgl. z. B. Carroll 1996, S. 75); und der philosophische Roman wird seine philosophischen Thesen als Abstraktionen über die Handlung (i. e., fiktive Ereignisse) ›enthalten‹. Genauer: Erschließt man ihre Rolle in der Fundierung ästhetischer Eigenschaften, so werden die in Rede stehenden fiktionalen Gehalte in funktionale transfiktionale Erklärungen eingebettet. Koch nennt das, im Anschluss an die u. a. formalistische Tradition, »Motivierung«:
»Die Motivierung von Elementen eines fiktionalen Werks (d. h. von Aspekten des fiktionalen Gehalts […]) besteht in denjenigen Faktoren, die zu einer funktionalen trans[…]fiktionalen Erklärung dieser Elemente herangezogen werden können (d. h. die wenigstens eine (potenziell) von diesem Element ausgehende Wirkung benennen).« (Koch 2015, S. 162)Footnote 7
Wiederum an einem Beispiel: Dass sich Meursault in Camus’ L’Etranger mit einem Zuhälter abgibt (ein Aspekt des fiktionalen Gehalts), wird erklärt, indem darauf verwiesen wird, dass der Protagonist auf diese Weise (bzw. dank u. a. dieses Aspektes) die Gleichgültigkeit des existenzialistischen Menschen gegenüber hergebrachten moralischen Konventionen exemplifiziert (eine ästhetisch bedeutsame Eigenschaft des Werkes). ›Transfiktional‹ ist dies, weil zur Erklärung des fiktionalen Gehalts auf einen fiktionsexternen Sachverhalt verwiesen wird (hier etwa darauf, dass wir – die Leser – ein philosophisches Theorem durch Meursaults Gebaren anschaulich vorgeführt bekommen und mithin in bestimmter Weise verständlich machen können).Footnote 8
Nachstehend geben wir vier weitere Beispiele dafür, dass ein fiktionaler Gehalt so charakterisiert wird, dass seine (ästhetische) Wertzuträglichkeit deutlich wird.Footnote 9
Im vielleicht einfachsten Fall wird ein im Text des Werkes expliziter Aspekt des fiktionalen Gehalts im Zuge der Interpretation betont bzw. hervorgehoben.Footnote 10 Wer zum Beispiel der Auffassung ist, dass in Max Frischs Homo Faber die Szene am griechischen Meer, in der Elisabeth vor Walter zurückweicht und stürzt, in nuce die tragische Figuren- und Plotkonzeption des Romans exemplifiziert, wird hervorheben, dass Walter in der Absicht zu helfen aus dem Wasser eilt. Das steht so explizit/ziemlich deutlich im Text.Footnote 11 Aber es verdient hervorgehoben zu werden, weil es ein wichtiges Moment der Figuren- und Plotkonzeption darstellt: Der tragische Held handelt aus guten Absichten, die dann freilich (unverhofft) fatale Auswirkungen haben. Dass Walter aus guten Absichten handelt, ist insofern ästhetisch bedeutsam; es fundiert eine bestimmte (tragische) Figuren- und Plotkonzeption; eine Lektüre, in der die guten Absichten des Akteurs hervorgehoben werden, erklärt die transfiktionale Funktion dieses fiktiven Sachverhalts; der fiktive Sachverhalt wird damit als wertzuträglich transparent.
Ein zweites Beispiel: Im Zuge der Interpretation werden oftmals fiktionale Gehalte, deren textuelle Basis eher schmal ist, unter einer ›dichten‹ Beschreibung identifiziert, die sich in ihrer spezifischen Ausgestaltung Wertschätzungsgesichtspunkten verdankt. Rüdiger Steinlein kontrastiert in seiner Untersuchung zu E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann« die zeitgenössische Pädagogik mit ausgewählten literarischen Werken dieser Zeit. Eine seiner Hauptthesen lautet dabei:
»Während nun die Pädagogik ihre Entwürfe und Vorstellungen von diesem kindlichen Innenleben an bestimmten Sollwerten ausrichtet […], entstehen in der Allgemeinliteratur Texte, die das Kind als imaginierendes Wesen entdecken, das kindliche Innen- und Phantasieleben zum Sujet machen.« (Steinlein 2009, S. 113)
Im Sandmann entwickelt sich nach Steinlein das Innen- und Phantasieleben Nathanaels »in dem Maße, wie er darauf ausgeht, das Geheimnis des […] Vaters zu entdecken.« (Steinlein 2009, S. 130) Dieses »Geheimnis des Vaters« ist Steinlein zufolge in der »Ambivalenz« des Vaters angelegt:
»Der Vater Nathanaels weist […] jene Ambivalenz auf, die dann im Sohn sich so verhängnisvoll auswirken wird: der Vater, der tagsüber einem ›ordentlichen‹ und geregelten bürgerlichen Beruf nachgeht, der vermutlich nicht allzu spannend sein dürfte, hat auch eine Nachtseite, die mit Phantasie, mit Lust (am Fabulieren) assoziiert werden kann; er erzählt abends gerne bei seiner Pfeife und einem Glas Bier – das ist die familienverträgliche Seite dieser Grenzüberschreitung in Richtung Lust etc.« (Steinlein 2009, S. 129)
Die Charakterisierung der Entwicklung von Nathanaels ›Phantasieleben‹ und die Charakterisierung des Vaters als in besagter Weise ursächlich dafür fundiert in Steinleins Interpretation die thematische Aussage der Erzählung, die nämlich »eine empfindliche Störung pädagogischer Allmachtsträume« ins Werk setze (Steinlein 2009, S. 128). Der fiktionale Gehalt, dessen textuelle Basis verhältnismäßig schmal ist, wird hier interpretierend ausgestaltet. Unter der (dichten) Beschreibung des in Rede stehenden Aspekts des fiktionalen Gehalts lässt sich diesem eine transfiktionale Funktion zuweisen, nämlich ein Beitrag zur von Steinlein favorisierten thematischen Interpretation der Erzählung.
Manchmal müssen Interpretinnen und Interpreten fiktionale Gehalte allererst erschließen, weil sie durch die textuelle Basis unterbestimmt sind. Unser drittes Beispiel ist dieser Art. Leser von Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche rätseln darüber, ob Friedrich der Mörder Aarons ist. In einer vorzüglichen Interpretation hat Villö Dorothea Huszai dargelegt, dass die Novelle unter der Annahme, dass Friedrich der Mörder ist, lediglich locker (um nicht zu sagen: nachlässig) komponiert ist (nachzulesen in Huszai 1997, S. 481 f.); unter der Annahme, dass Friedrich nicht der Mörder ist, erscheint der Text dagegen als kompositorisch geschlossen (wie es sich für eine Novelle gehört). Eine Orientierung an Wertschätzungsgesichtspunkten gibt der letztgenannten Interpretation den Vorzug.
Ein viertes Beispiel: An Wertschätzungsgesichtspunkten kann man sich auch bei der Entscheidung zwischen komplexeren Interpretationshypothesen orientieren, die nicht nur die Ausgestaltung einzelner fiktiver Szenen betreffen, sondern die Ausgestaltung der gesamten fiktiven Erzählung. In Doderers Die Strudlhofstiege gibt es eine im Detail rätselhaft angelegte Erzählsituation: Bald scheint es so, als entwerfe der Roman die Fiktion, der Erzähler sei mit dem Personal seiner Erzählung persönlich bekannt und mithin Teil der erzählten Welt; bald scheint das Personal der erzählten Geschichte von ihm erfunden zu sein. Was aber ist, dem Roman zufolge, in der Fiktion bezüglich der Erzählsituation der Fall? Die Orientierung an Wertschätzungsgesichtspunkten besagt hier, dass eine Interpretation zu bevorzugen ist, die dem Autor Doderer zum einen keine kompositorischen Nachlässigkeiten oder Fehler unterstellt, und die zum anderen möglichst viele (und signifikante) Textbefunde als Teil einer (einheitlichen) ästhetischen Strategie ausweist (vgl. Klauk/Köppe 2018).
Eine Gemeinsamkeit der drei letztgenannten Beispiele liegt darin, dass sich die Orientierung an Wertschätzungsgesichtspunkten als ein Kriterium für die Wahl zwischen alternativen Charakterisierungen fiktionaler Gehalte verstehen lässt.Footnote 12 Wenn ich die Wahl zwischen zwei solchen Alternativen habe, dann sollte ich (unter sonst gleichen Umständen, d. h., wenn nicht sonstige Gründe überwiegen)Footnote 13 diejenige wählen, unter der sich der in Rede stehende Gehalt in eine transfiktionale ästhetisch-funktionale Erklärung einbetten lässt und das Werk einen bestimmten ästhetischen Wert realisiert.Footnote 14
Zwischen einer einschlägigen transfiktionalen funktionalen Erklärung (fundierter ästhetisch relevanter Eigenschaften in fundierenden fiktionalen Gehalten) und einer eigentlichen ästhetischen Wertschätzung mag man freilich noch einen Unterschied sehen. Eine solche liegt dann vor, wenn man z. B. nicht allein realisiert, dass ein Werk dank bestimmter fiktionaler Gehalte geeignet ist, Spannung hervorzurufen, sondern wenn man die Lektüre als spannungsvoll erfährt. Der eigentliche, gewissermaßen vollgültige Akt der Wertschätzung besteht darin, dass man sich den entsprechenden Vorstellungsaufforderungen unterwirft (und nicht lediglich registriert, dass man aufgefordert ist, sich dies und das vorzustellen);Footnote 15 dass man den Wertungsstandard vertritt, relativ zu dem ein Werkelement als ästhetisch bedeutsam erscheint (dass man also nicht lediglich zur Kenntnis nimmt, dass z. B. Spannung für den Thriller ästhetisch bedeutsam ist, sondern dies anerkennt); und vielleicht auch, dass man ästhetisches Vergnügen empfindet.Footnote 16
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Welche Gründe mag es geben, das Herausstellen kunstwerkspezifischer Leistungen als Ziel einer literarischen Hermeneutik auszuweisen? Ganz allgemein gesprochen kommt als ein solcher Grund natürlich infrage, dass sich das fragliche Ziel in sonstige Ziele fügt, die man hat: Es steht diesen dann nicht entgegen oder befördert sie sogar. Das allgemeinste Ziel, das wir an dieser Stelle postulieren, besteht darin, dass man auch im Umgang mit fiktionaler Literatur seine Zeit nicht vergeuden möchte. Das Lesen fiktionaler Literatur ist ein zeitaufwändiges Geschäft; je komplexer der Text, desto höher wird der Aufwand an zusätzlichen Ressourcen, die man investieren muss (Bereitschaft zum Nachdenken, Frustrationstoleranz, etc.). Dieser Aufwand an Zeit und Ressourcen muss sich irgendwie lohnen. Und wir meinen: Er kann sich lohnen dank der ästhetischen Erfahrungen, die man (sucht und) macht. Ästhetische Erfahrungen sind Einstellungen, in denen ästhetische Eigenschaften realisiert werden (s. unsere Beispiele oben: Man empfindet einen Thriller als spannend, man realisiert, dass und wie ein philosophischer Roman eine bestimmte philosophische These exemplifiziert, man durchschaut die Komplexität einer Figurenkonzeption). Kunstwerke (ganz allgemein) sind paradigmatische Objekte ästhetischer Erfahrung in diesem Sinne. Die Orientierung an Wertschätzungsgesichtspunkten läuft daher auf ein Interesse am Gegenstand hinaus, das dessen Stärken ernst nimmt. (Man vergleiche: Mit einem Hammer kann man alles Mögliche tun; aber seine Stärken spielt er am besten da aus, wo es darum geht, einen Nagel in die Wand zu schlagen.) Dem literaturwissenschaftlichen Interpreten freilich ist es nicht lediglich um seine eigenen (ästhetischen) Erfahrungen zu tun; er möchte vielmehr in intersubjektiv nachvollziehbarer Weise aufzeigen, dass ein bestimmtes Werk über bestimmte ästhetische Eigenschaften verfügt und wie es dies tut. In einer Formulierung von Alan H. Goldman: »Critics guide experience by drawing attention to properties that underlie aesthetic qualities, or to those qualities themselves, in order to enhance appreciation of the works«. (Goldman 2006, S. 333; vgl. Carroll 2009, S. 44 f. u. ö.)
Die hier nur skizzierte Rechtfertigung eines (mithin rationalen) Interesses an ästhetischen Eigenschaften kann vielleicht vertieft werden, indem man ihre Tradition untersucht oder indem man ihre aktuelle kulturelle Verankerung empirisch prüft. Das können wir hier nicht leisten. Wir möchten vielmehr einerseits zu bedenken geben, dass man, wenn man ein bestimmtes Verhalten als rational ausweist, damit nicht bestreiten muss, dass ein anderes Verhalten nicht ebenfalls rational sein mag. Konkret mag es Umstände geben, in denen man eben andere Ziele verfolgt und entsprechend ein anderes Verhalten zielführend sein mag. (Zum Beispiel gibt es Kontexte, in denen Literatur nicht als Quelle ästhetischer Erfahrungen interessiert, sondern als Quelle von Einsichten über historische oder sonstige Sachverhalte.) Andererseits scheint uns die Orientierung an Wertschätzungsgesichtspunkten bei Interpretation nicht zuletzt durch eine gewisse Alternativlosigkeit zu überzeugen. Denn nach welchen Gesichtspunkten soll man literarische Texte denn sonst charakterisieren? Anscheinend nahe liegende Alternativen sind, bei genauerem Hinsehen, gar keine. Wer etwa meint, man könne sich lesend doch allein am Plot orientieren, der übersieht, dass die Instanziierung eines (kohärenten oder inkohärenten) Plots eine wichtige ästhetische Eigenschaft fiktionaler Erzählliteratur ist. Wer meint, man könne oder solle sich lesend allein dafür interessieren, was der Autor des Werkes hat zu verstehen geben wollen, der übersieht, dass Wertschätzungsgesichtspunkte eine verlässliche Route zu den Absichten von Autoren sind.Footnote 17 Auch symptomatische Interpretationen – solche, die ein Werk als Anzeichen z. B. für einen bestimmten kulturellen Sachverhalt interpretieren – orientieren sich bei der Interpretation an Wertschätzungsgesichtspunkten, insofern eine entsprechende Symptomatik just ist, was einen Text (ggf. unter anderem) ästhetisch auszeichnet – dies etwa, weil die symptomatische Interpretation zeigt, in welcher Weise sich auf den ersten Blick disparate Aspekte des Textes schlüssig aufeinander beziehen (und erklären) lassen. (Unsere obige Analyse der Sandmann-Interpretation Steinleins brachte dies exemplarisch an den Tag.) Und wer meint, die literaturwissenschaftliche Interpretation habe es nicht mit Wertschätzung, sondern vielmehr mit Bedeutungszuschreibungen zu tun,Footnote 18 hat so lange kein Alternativbild zum hier skizzierten entworfen, wie nicht expliziert worden ist, was denn die Rede von den ›Bedeutungen‹ eines literarischen Werkes anderes besagen als der Aufweis ästhetisch relevanter Eigenschaften, von denen wir hier exemplarisch einige benannt haben (vgl. dazu Olsen 1987, S. 51, 53–72 u. ö., sowie detailliert Pieper 2019). – All dies, so beeilen wir uns einzuräumen, zeigt natürlich nicht, dass eine literarische Hermeneutik nicht als Lehre des Verstehens (der Bedeutungen eines Textes) verstanden werden kann. Das wollten wir hier aber auch gar nicht nachweisen. Wie einleitend angekündigt, ging es uns hier nicht um ein kritisches, sondern vielmehr um ein konstruktives Projekt: die Unterstützung der These, dass eine Hermeneutik als Lehre ästhetischer Wertschätzung möglich (und, mehr noch, vielleicht bereits institutionell etabliert) ist.
Schließlich scheint uns Peter Lamarques Auffassung bedenkenswert zu sein, dass ein Interesse an ästhetischer Wertschätzung zu erklären helfe, weshalb fiktionale Literatur von einer Gesellschaft oder Kultur (geschätzt) und tradiert wird: »The pursuit of artistic value in itself is the pursuit of some common value that helps to explain, for any culture, what makes an artistic heritage worth preserving.« (Lamarque 2009a, S. 233) Auch diese Erklärungslast muss die Alternative schultern.Footnote 19
Notes
In der Philosophie gibt es eine lange Tradition von Versuchen zu klären, in welcher Weise sich ästhetische von nicht ästhetischen Eigenschaften (oder Begriffen oder Urteilen) unterscheiden. Für die neuere Diskussion grundlegend und maßstabsetzend sind die Arbeiten von Frank Sibley, s. Sibley 1959; 1965; 1974. Diskutiert wurden viele Kandidaten für Besonderheiten ästhetischer Urteile, u. a.: Es handele sich um Urteile, die ästhetisches Vergnügen fundieren; deren Zuschreibung ästhetische Sensibilität oder Geschmack erfordert; die interesselos sind; die über eine besondere logische Form oder begriffliche Struktur, besondere Wahrheitsbedingungen oder eine besondere Begründungsbedürftigkeit oder Form der Begründbarkeit verfügen; die auf besonderen Formen der Wahrnehmung beruhen; die eine besondere Form der institutionellen Verankerungen haben. Vgl. für eine neuere Diskussion Zangwill 2003.
Warum ist das so? Genres sind über Erwartungen strukturiert. Lamarque und Olsen sind der Auffassung ›Literatur‹ sei eine Art Super-Genre, insofern sie davon ausgehen, dass es bestimmte Erwartungen hinsichtlich ästhetisch bedeutsamer Eigenschaften aller Exemplare dieses ›Genres‹ gibt (vgl. Lamarque/Olsen 1994, Teil III). Für Lamarque und Olsen ist ›Literatur‹ ein dezidiert evaluativer Begriff: Ein Text ist Literatur (in diesem emphatischen Sinne), wenn er eine entsprechende Zugangsweise rechtfertigt (bzw. dieser gerecht wird); andernfalls handele es sich um genre fiction, d. h. einen Text ohne künstlerischen Wert oder ästhetischen (›literarischen‹) Anspruch. – Wir sind gegenüber Lamarque und Olsen der Auffassung, dass der Bereich ästhetisch bedeutsamer Eigenschaften weiter ist, als die Autoren annehmen (so dass er z. B. auch die Eigenschaft des Spannungspotenzials umfasst, die Lamarque und Olsen eher als ein Kennzeichen von genre fiction auffassen würden). Der Bereich fiktionaler Literatur, die über ästhetisch bedeutsame Eigenschaften verfügt, deckt sich unserer Auffassung nach nicht mit dem Bereich des ›humanistisch‹ inspirierten literarischen Kanons, den Lamarque und Olsen bei ihrer Bestimmung des Literaturbegriffs vor Augen haben.
In der (offenen) Liste oben haben wir nur Typen ästhetischer Vorzüge genannt. Die ästhetische Wertschätzung eines Werkes involviert aber natürlich nicht die Attribution eines Typs, sondern die einer konkreten Instanz ästhetischen Werts. In diesem Sinne wird Camus’ L’Etranger nicht dafür geschätzt, eine philosophische Weltanschauung zu exemplifizieren, sondern vielmehr dafür, eine spezifische Weltanschauung (nämlich diejenige Meursaults) zu exemplifizieren und unter dieser Interpretation als kompositorisch geschlossen zu erscheinen. Die relevante ästhetische Eigenschaft ist mithin im Wortsinne werkspezifisch: Die Charakterisierung der relevanten ästhetischen Eigenschaft enthält einen Verweis auf das Einzelwerk (nämlich auf Meursault und seine Weltanschauung).
Vgl. Lamarque 2009, S. 283: »To read a novel as literature […] is to bring to the novel an expectation that it will yield rewards for this kind of attention«. Zur Abgrenzung von Lamarque vgl. Anm. 3 oben.
Streng genommen werden, folgt man der Goodman’schen Konzeption von Exemplifikation, nicht Thesen (oder thematische Gehalte) exemplifiziert, sondern »label« bzw. Prädikate. Für eine Anwendung der Theorie auf die Exemplifikation komplexerer (propositionaler) Gehalte vgl. Sirridge 1980.
Koch versteht ›ästhetisch‹ in einem engeren Sinn als wir (vgl. Koch 2015, S. 179).
Und von ›Erklärung‹ wird hier gesprochen, weil auf eine den fiktionalen Gehalt betreffende Warum-Frage geantwortet wird (›Warum gibt sich Meursault mit einem Zuhälter ab?‹). Vgl. grundlegend auch Currie 2007.
Unsere Beispiele wählen wir erneut aus dem Bereich der sogenannten inhaltsangebenden Interpretation fiktionaler Erzählliteratur: Hier charakterisieren Interpretinnen und Interpreten, was in der fiktiven Welt eines Werkes (bzw. auf der Handlungsebene) der Fall ist – wir nennen das die Bestimmung ›fiktionaler Gehalte‹. Es handelt sich dabei um einen basalen Interpretationsschritt, der (unter unterschiedlichen Bezeichnungen) Bestandteil der verschiedensten Interpretationsprogramme ist; vgl. z. B. Ingarden 1993, der von der »Konkretisation« (von »Unbestimmtheitsstellen«) spricht. Vgl. zu den unterschiedlichen Bezeichnungen die in Klauk/Klenner/Köppe 2020 (s. Anm. 1) genannte Literatur.
Vgl. Frisch 1977, S. 157 (»wo ich ihr nur helfen will«, heißt es in Walters Bericht).
Die interpretative Entscheidung, die den Kern unseres ersten Beispiels ausmacht (etwa: ›Soll ich im Rahmen meiner Interpretation die guten Absichten Walters betonen?‹), lässt sich wohl nur mit Mühe als eine Wahl zwischen konkurrierenden Annahmen über fiktionale Gehalte rekonstruieren. Vielmehr geht es hier darum, dass ein fiktionaler Gehalt betont bzw. als für eine Interpretation wichtig ausgezeichnet wird.
Damit sei angedeutet, dass Wertschätzungsgesichtspunkte mit anderen Kriterien konkurrieren können. Z. B. kann eine Interpretation unter Wertschätzungsgesichtspunkten zu bevorzugen sein, zugleich jedoch die Werkidentität verletzen.
Deutlich sollte ferner geworden sein, dass transfiktionale funktionale Erklärungen (die die fundierende Rolle fiktionaler Gehalte in Bezug auf ästhetisch relevante Eigenschaften aufzeigen) keine »purely evaluative judgments« sind, die Sibley auch »verdicts« nennt (Sibley 1965, S. 136; vgl. auch Olsen 1983). Transfiktionale funktionale Erklärungen haben vielmehr einen handfesten deskriptiven Gehalt.
Vgl. Walton 1990, S. 213: »Appreciation of representational works of art is primarily a matter of participation.« Die Teilnahme (participation) an einem ›Vorstellungsspiel‹ zeichnet sich für Walton durch eine »first-person manner« aus (ebd.), d. h., man nimmt nicht lediglich an, dass man sich etwas vorstellen soll, sondern stellt sich vor, unterschiedlichste Erfahrungen zu machen.
Vgl. Waltons Bestimmung von appreciation als »one takes pleasure or delight in judging [the work] to be good« (Walton 1993, S. 504).
D. h., man darf zunächst einmal unterstellen, dass Autoren ein ästhetisch gelungenes Werk schreiben wollen; vgl. Stock 2017, S. 100.
Zur Bedeutungsermittlung als (allgemeinstes) Ziel der Interpretation vgl. Albrecht et al. 2015, S. 1.
Die Arbeit an diesem Beitrag wurde gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 313805504.
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Klauk, T., Klenner, N. & Köppe, T. Literarische – Hermeneutik – Verstehen. Z Literaturwiss Linguistik 51, 797–806 (2021). https://doi.org/10.1007/s41244-021-00221-3
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