1 Einführung

Mit der Erzählsequenz »Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Erlebnis beginnen« fängt die Rede des Bundestagsabgeordneten Mattias Bartke (SPD) in der Bundestagsdebatte vom 11.4.2019 im Parlament des deutschen Bundestages an.

Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht das bislang kaum beachtete Verhältnis von Argumentation und Narration in den parlamentarischen Debattenreden um Präimplantationsdiagnostik und vorgeburtliche genetische Bluttests. Die Debattenrede im Parlament ist Teil des komplexen Handlungsspiels Parlamentsdebatte (vgl. hierzu Burkhardt 2005, 2017), die nach bestimmten RegelnFootnote 2 und unter bestimmten institutionellen Vorgaben stattfindet (vgl. dazu Klein 2003; Burkhardt 2005, 2017; Kramer 2011; Holly 2019). Charakteristisch für die Debattenrede ist deren Mehrfachadressiertheit, die als triadische Kommunikationssituation beschrieben werden kann (vgl. hier Kühn 1995; vgl. Carranza 2015, S. 60–61)Footnote 3. Zum einen wird der politische Gegner adressiert, zum anderen die eigene politische Gruppe, die Medienakteure und darüber hinaus auch das disperse und heterogene Publikum jenseits des Parlaments. Im Groben lässt sich darin auch die antike Dreiteilung (der deliberativen Rede) von Proponent/Opponent – Kontrahent und dem Dritten als Entscheider in der Redekonstellation wiederfinden (vgl. Klein 2019a, S. 330, 2019b, S. 7–8), wenn Medienakteure und disperses Publikum als die dritte Gruppe, nämlich die der Entscheider, betrachtet werden. Die Redekonstellation ist heute aber um einiges komplexer als in der Antike. Sie resultiert u.a. auch aus dem anderen Öffentlichkeitsrahmen und den geänderten medialen Gegebenheiten und Bedingungen (vgl. Klein 2019a, S. 330; vgl. Kramer 2011, S. 103 ff.).

Bereits der Interaktionsrahmen Parlamentsdebatte mit der Textsorte bzw. Redegattung parlamentarische Rede gibt einen Hinweis darauf, dass Parlamentsreden argumentativ strukturiert sind, da der Zweck der Textsorte bzw. Redegattung darin besteht, das Publikum vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, das politische Handeln der Redner*innen zu legitimieren, das der Kontrahenten dagegen zu delegitimieren bzw. durch konzessives Argumentieren zu widerlegen (vgl. Klein 2019a, 2000). Sie gehört damit zur meinungsbetonten und argumentativ strukturierten Textsorte wie auch Kommentar und Leserbrief (vgl. Schröter in diesem Band). Während die Streitfragen von Debattenreden zumeist im Vorfeld (u.a. in Ausschüssen) fraktionsintern entschieden werdenFootnote 4 und die Parlamentsdebatte lediglich dazu dient, Öffentlichkeit herzustellen, um Entscheidungen zu legitimieren – es geht also nicht um eine tatsächliche diskursive Auseinandersetzung mit den anderen ParteienFootnote 5 – stellt sich der Rahmen bei den hier zugrunde liegenden Debattenreden aus dem Deutschen Bundestag im Jahre 2011 und 2019 anders dar, insofern bei den Entscheidungsdebatten zur Präimplantationsdiagnostik der Fraktionszwang aufgehoben wurde und bei der Orientierungsdebatte zum vorgeburtlichen genetischen Bluttest keine Entscheidung am Ende stand, sondern partei- und fraktionsübergreifend über die Aufnahme vorgeburtlicher genetischer Bluttests in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen diskutiert wurde. Wolfgang Schäuble, der Präsident des Deutschen Bundestages, leitete die Orientierungsdebatte mit folgenden, die Besonderheit der Debatte markierenden Worten ein:

Wir wollen unter diesem Tagesordnungspunkt im Rahmen einer Orientierungsdebatte das Thema »vorgeburtliche genetische Bluttests« erörtern. Heute soll das Für und Wider der Aufnahme der Tests in den Regelleistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen offen über Fraktionsgrenzen hinweg diskutiert werden. (BD 19095)

Bei den Debatten zur Präimplantationsdiagnostik (=PID) stand nicht fest, welche*r politische Akteur*in welchem Gesetzesentwurf seine/ihre Stimme geben wird. Im Hinblick auf die Regelungen zur PID ging es in den Debatten tatsächlich um das Für und Wider und um die Überzeugung für einen von mehreren Gesetzesentwürfen über die Fraktionen hinweg (vgl. hierzu Deutscher Bundestag 2020). Und auch bei der Debatte um vorgeburtliche genetische Bluttests stand das Für und Wider im Vordergrund, um ein Stimmungsbild zu erheben. Die Meinungen verteilten sich quer über die parteipolitischen Fraktionen und das Ziel bestand im Einholen von Meinungen, jedoch mit einem ergebnisoffenen Ausgang.Footnote 6 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Rahmenbedingungen der dem Beitrag zugrunde liegenden Debattenreden aufgrund des nicht vorhandenen Fraktionszwangs besondere waren.

Ein größeres Korpus parlamentarischer Debattenreden zum Themenbereich Bioethik wurde bislang noch nicht im Hinblick auf die Verknüpfung von narrativen und argumentativen Strukturen untersuchtFootnote 7. Aus diesem Grund widmet sich der vorliegende Beitrag der Untersuchung von drei parlamentarischen Bundestagsdebatten mit insgesamt 157 Debattenreden, die sich mit bioethischen Themen befassen und insgesamt ca. 120.000 Token umfassen. 42 Debattenreden beziehen sich auf den vorgeburtlichen genetischen Bluttest und 105 Debattenreden diskutieren die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Im Anschluss an Girnth/Burggraf (2019a, 2019b) stellt dabei die Annahme, dass narrative Elemente spezifische Funktionen in der dominant argumentativ gestalteten Textsorte haben und im Dienst der jeweiligen Argumentation stehen, den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung dar. Im Folgenden wird zunächst der Gegenstandsbereich der Präimplantationsdiagnostik und der vorgeburtlichen Bluttests umrissen (Abschnitt 2), Abschnitt 3 widmet sich dem hier zugrunde liegenden Verständnis von Argumentation und Narration, um dann in Abschnitt 4 die Ergebnisse im Hinblick auf die Rolle der Narrationen im Zusammenhang der Argumentation zu präsentieren. Abschnitt 5 beschließt den Beitrag mit einem Fazit.

2 Zum Gegenstand der Debattenreden: Präimplantationsdiagnostik und vorgeburtliche genetische Bluttests

Über pränatale diagnostische Verfahren sowie über das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik wird seit vielen Jahren im deutschen Bundestag verhandelt. Wie bisherige Analysen von Debattenreden zur Problematik der Präimplantationsdiagnostik (vgl. hierzu Domasch 2005, 2007; Spieß 2012, 2021) herausgestellt haben, geht es dabei um grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz, u.a. darum, wann menschliches Leben beginnt, wer darüber entscheidet, welches Leben lebenswert ist oder nicht, oder welche Folgen ein positiver Test für den getesteten Embryo hat. Diese Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten und die Antworten gründen in unterschiedlichen weltanschaulichen Kontexten, was sich sprachlich manifestiert. U.a. zeigen sich die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Debatte um die PID in verschiedenen Argumentationsmustern, die letztlich auf zwei philosophische Grundtypen des Argumentierens, dem konsequenzialistischen und dem deontologischen Grundtyp des Argumentierens, zurückzuführen sind und die für zwei Perspektiven auf den strittigen Sachverhalt stehen (vgl. dazu Spieß i. Dr., für den Stammzelldiskurs vgl. Spieß 2011, Kap. 4.4.5).

Pränatale Diagnostik umfasst ganz verschiedene Techniken und Verfahren und bezieht sich auf vorgeburtliche Untersuchungen des Embryos und Fötus im Mutterleib, die Präimplantationsdiagnostik dagegen umfasst Untersuchungen an extrakorporal erzeugten Embryonen vor ihrer Implantation in die Gebärmutter. Pränatale Diagnostik reicht vom bloßen Abtasten des Mutterleibs, über Blutuntersuchungen zur Nährstoffversorgung, Ultraschall, Untersuchung des Fruchtwassers bis hin zu vorgeburtlichen, genetischen Bluttests. Die Verfahren lassen sich in invasive und nicht-invasive Methoden differenzieren. Invasive Methoden stellen diejenigen Untersuchungen dar, die einen Eingriff in den Körper, beispielsweise in die Plazenta oder Fruchtblase der Mutter, vornehmen, nicht-invasive Untersuchungen greifen nicht in die Plazenta und Fruchtblase ein. Die Abnahme von Blut gilt als nicht-invasiv, dementsprechend gehört der vorgeburtliche genetische Bluttest zu den nicht-invasiven Methoden. Ebenso zu den nicht-invasiven Untersuchungsmethoden gehören Ultraschalluntersuchungen sowie das Ersttrimesterscreening (einer Kombination aus Bluttest und Ultraschalluntersuchung der Nackenfalte).

Bei allen pränatalen Untersuchungen geht es zunächst recht allgemein um das Ziel, Informationen über das noch ungeborene Kind zu erlangen. So werden bei der Fruchtwasseruntersuchung und dem Ersttrimesterscreening die Entdeckung genetischer Abweichungen fokussiert. Die Informationen sind je nach Verfahren unterschiedlich, zum einen zielen einige Verfahren auf die Diagnose von Krankheiten oder Abweichungen, bei anderen Verfahren steht die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für bestimmte genetische Auffälligkeiten im Fokus, so auch beim vorgeburtlichen genetischen Bluttest (=NIPT/NIPD)Footnote 8. Mit ihm können Wahrscheinlichkeiten für die Trisomie 13, 18 oder 21 berechnet werden. Er wird in Deutschland seit dem Sommer 2012 als individuelle Gesundheitsleistung (iGel) angeboten, in Hongkong und den USA wurde er 2011 in die klinische Praxis aufgenommenFootnote 9. Der nicht-invasive, vorgeburtliche genetische Bluttest wurde mit seiner Einführung in die klinische Praxis auch Gegenstand öffentlich-politischer Auseinandersetzungen, deren zentraler Konflikt sich um die Frage entspannte, »welches Wissen werdende Eltern über das entstehende Kind erlangen können (sollten) und welche Folgen dieses Wissen haben kann« (Deutscher Bundestag 2019, S. 9). Die Debatte um den vorgeburtlichen genetischen Bluttest gehört damit als Teildiskurs zum großen Bereich bioethischer Diskurse um Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik.

Eine Sonderstellung innerhalb der vorgeburtlichen Untersuchungen nimmt die Präimplantationsdiagnostik ein, da hier in vitro, also in der Petrischale erzeugte Embryonen auf bestimmte genetische Auffälligkeiten hin getestet und erst bei Nichtvorhandensein der Merkmale in die Gebärmutter implantiert werden. Die Präimplantationsdiagnostik zielt auf die Untersuchung einer Aneuploidie, einer Aberration des Chromosomensatzes, in die beispielsweise auch die Trisomie 21 fällt. Somit fokussiert die PID auch Abweichungen von der Norm, die bei einer pränatalen Diagnostik untersucht werden können. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der Embryo bei der PID in vitro erzeugt wird. Dieses Verfahren ist in Deutschland seit 2011 in begrenztem Umfang für die Diagnostik schwerer Erbkrankheiten bei einer gravierenden erblichen Vorbelastung der Eltern zulässig. Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass das künftige Kind an bestimmten, sehr leidvollen und schweren Erbkrankheiten erkrankt oder während der Schwangerschaft im Mutterleib stirbt.

Im Hinblick auf die PID war der Bundestag gezwungen, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, nachdem im Juli 2010 der Bundesgerichtshof das Urteil von 2009, PID zuzulassen, bekräftigt hatte.Footnote 10 Dem voraus ging eine Klage eines Berliner Frauenarztes, der in seiner Praxis PID in mehreren Fällen durchgeführt und sich dann selbst angezeigt hatte, denn die PID war genau genommen durch das Embryonenschutzgesetz von 1991 verboten. Die Anzeige des Arztes zielte darauf, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die PID auch in Deutschland erlaubt. In diesem Zusammenhang kam der Bundestag im April und Juli 2011 zu zwei Sitzungen zusammen, in denen über mehrere Gesetzesanträge zur Regelung der PID verhandelt und schließlich abgestimmt wurde.

Vor dem Hintergrund, dass der vorgeburtliche genetische Bluttest seit 2012 in der Praxis als individuelle Gesundheitsleistung zugelassen ist, wurde am 11.04.2019 im Parlament darüber debattiert, ob dieser Test in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden soll oder nicht. Intendiertes Ziel war somit nicht eigentlich eine Grundsatzdebatte über die Zulässigkeit eines solchen Tests, sondern über den gerechten Zugang zu diesem Test für alle Frauen. Die Debatte erwies sich aber schnell ebenso als Grundsatzdebatte über die Beurteilung nichtgeborenen Lebens.

Im Hinblick auf die Ziele der PID und der diagnostischen, pränatalen genetischen Blutuntersuchung entspannten sich in den einzelnen Reden der drei Debatten grundlegende Fragen nach den Folgen der Untersuchungen, die von den Diskursakteuren auch sehr unterschiedlich beantwortet wurden. Die Standpunkte sind z. T. nicht miteinander vereinbar, sie verweisen auf einen ethischen Konflikt, der Fragen nach dem Umgang mit ungeborenem Leben ebenso umfasst wie Fragen, welche Folgen das Wissen um das ungeborene Leben haben darf/kann und soll.

3 Zum Verhältnis von Argumentation und Narration in der politischen Rede

Wie bereits erwähnt wurde, sind DebattenredenFootnote 11 wesentlich durch ihre argumentative Struktur gekennzeichnet und geprägt durch institutionelle Vorgaben. Mittels Argumentationen soll vom Standpunkt des jeweiligen Akteurs überzeugt werden. Im Kontext der Persuasionsfunktion spielt aber seit der Antike die Narration als Teil der klassischen politischen Rede eine entscheidende Rolle, sodass davon auszugehen ist, dass Narration und Argumentation nicht immer klar voneinander unterschieden werden können, sie zumindest aber ein sehr enges Verhältnis eingehen. Auch in den vorliegenden Debattenreden zeigt sich, dass narrative und argumentative Elemente miteinander verknüpft sind.

Aus pragmalinguistischer Perspektive stellen Argumentationen komplexe sprachliche Handlungen dar. Allgemein ist mit Hannken-Illjes (2018, S. 20) unter einer Argumentation »die Bearbeitung einer Streitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen« zu verstehen. Klein (1980, S. 19) konturiert Argumentieren so, dass »mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes […] überführ[t]« werden soll. Toulmin (2003) geht von mindestens drei konstitutiven Elementen bei Argumentationen aus: Es gibt eine strittige These (Konklusion), die auf Basis von Argumenten (Daten) mithilfe einer Schlussregel in eine unstrittige These überführt werden soll. Somit bestehen Argumentationen mindestens aus drei Elementen, wobei im Diskurs nicht immer alle Elemente explizit vorkommen müssen und auch selten alle zusammen vorkommen. Zusätzlich zu den drei Elementen der Grundstruktur kann es noch Stützungen der Schlussregel und Einschränkungen bzw. Ausnahmebedingungen geben, die Teil der Argumentation sind (vgl. Toulmin 2003, S. 95). Das Auftauchen von Argumentationen und Argumenten im Diskurs erfolgt häufig musterhaft. Kienpointner (1993) hat eine Typologie formaler argumentativer Muster der Alltagskommunikation vorgelegt, deren Plausibilität sich aus den Verwendungsregeln sprachlicher Einheiten ergibt. Da die Muster aber für thematische Diskurse zu formal und wenig aussagekräftig sind, insofern ihnen die inhaltliche Diskursdimension fehlt, hat Wengeler (2003) mit dem Begriff des Argumentationstopos einen Ansatz entwickelt, der die inhaltliche Dimension und die abstrakte Musterhaftigkeit von Argumentationen kombiniert. Er versteht diskursive Argumentationsmuster/-topoi als Muster mittlerer Abstraktionsebene, die abstrakt genug sind, um eine Anzahl verschiedener konkreter sprachlicher Realisierungen darunter zu subsumieren; sie sind aber dennoch inhaltlich so spezifisch, dass sie Auskunft über die inhaltlich-funktionale Struktur von Diskursen geben. Im Kontext der sprachlichen Ausgestaltung argumentativer Muster können diese innerhalb von komplexen Argumentationen und argumentativen Auseinandersetzungen narrativ ausgestaltet werden (vgl. Girnth/Burggraf 2019b), dies gilt insbesondere bei Analogietopoi oder Beispieltopoi, die in argumentativen Texten gern als Argumentationsstützung eingesetzt werden.

Dass neben dem Strukturelement der Argumentation auch narrative Elemente eine Rolle spielen, wird bereits in der Antike durch Aristoteles oder Quintilian im Kontext der Beschreibung der Elemente einer Rede thematisiert (vgl. Aristoteles 2002, Rhet. III; vgl. Quintilianus 2011). Es geht bei der Rede immer auch darum, die Rezipient*innen einer Rede für sich einzunehmen und sowohl kognitiv wie affektiv anzusprechen, um so letztlich von der eigenen Position zu überzeugen. Die affektive Ansprache wird dabei der Narratio zugeschrieben.

In politolinguistischen Untersuchungen nach 1945 spielte der Zusammenhang zwischen Narration und Argumentation lange Zeit eine eher geringere, nachgeordnete bis gar keine Rolle. Erst in jüngerer Zeit widmet sich die linguistische (und im Besonderen die politolinguistische) Forschung dem Verhältnis von Argumentation und Narration (vgl. hier Hannken-Illjes 2018; Hannken-Illjes/Till/Bleumer 2019; Girnth/Burggraf 2019a, 2019b; Klein 2019b; vgl. hierzu auch die Einleitung in das Themenheft)Footnote 12. In diesem Verhältnis nimmt die Narratio innerhalb von Reden eine persuasive oder eine die Persuasion der Rede stützende Funktion ein.

So konstatieren Girnth/Burggraf (2019b, S. 567) im Hinblick auf die Rolle, die Aristoteles der Narratio im Kontext einer Rede zuschreibt: »Die narratio erfüllt dann stellvertretend die Funktion, den Sachverhalt angemessen kurz (brevis), gedanklich klar (aperta) und für die Zuhörer glaubwürdig (probalis) darzustellen«, wenn Wahrscheinlichkeitsschlüsse nicht zur Verfügung stehen. Dementsprechend nehmen Narrationen argumentative Funktionen ein, insofern sie an die Stelle des Wahrscheinlichkeitsschlusses treten, um die »These rhetorisch bekräftigen [zu] können«, so Girnth/Burggraf (2019b, S. 567). »Im argumentativen Gesamtgefüge der politischen Rede kommt der narratio eine Schlüsselposition zu, da sie dazu dient, politische Handlungen zu legitimieren und Argumentationstopoi erzählerisch auszugestalten.« (Girnth/Burggraf 2019b, S. 567–568). Welche Rolle Narrationen/Erzählungen in der heutigen politischen Rede im Zusammenhang mit der Argumentation einnehmen, kann nur nachvollzogen werden, wenn der zugrunde liegende Narrationsbegriff erläutert wird.

Vielfach wurde konstatiert und durch Studien bestätigt, dass Erzählen Teil unserer kommunikativen Alltagspraxis ist (vgl. hierzu Tophinke/Spieß 2018, S. 193 f.; vgl. Gülich/Hausendorf 2000, S. 369). Erzählen gehört seit jeher zu den Kulturtechniken, die unser Menschsein charakterisieren (vgl. Koschorke 2013) und erfüllt zahlreiche FunktionenFootnote 13. »Zu den anthropologischen Bestimmungen, die den Menschen als vernunftbegabtes und sprechendes Wesen auszeichnen, hat sich im späten 20. Jahrhundert der Begriff des homo narrans gesellt«, stellt Albrecht Koschorke (2013, S. 9) fest. Weiter konstatiert Koschorke, dass »[d]as Erzählen […] demnach Sinn in die Welt [trägt], […] ihren Lauf mit Absichten und Zielen [versieht], […] sie mit anthropomorphen Akteuren [bevölkert], […] sie überhaupt erst in eine intelligible Form [bringt] und […] sie so den Menschen an[verwandelt], die sich in ihr nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch einrichten müssen.« (Koschorke 2013, S. 11) Das sind nur einige, recht allgemeine Funktionen des Erzählens, die Koschorke idealisiert andeutet. Erzählen ist demnach eine Alltagspraxis, die nicht nur bestimmten Kommunikationsbereichen und Handlungsfeldern vorbehalten ist, sondern überall auftaucht. Dem Bereich der politischen Kommunikation und seinen verschiedenen Kommunikationsformen wird dabei seitens der Linguistik im Hinblick auf die Relevanz des Erzählens erst in jüngster Zeit Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. hierzu Girnth/Burggraf 2019a, 2019b). Was aber genau macht das Erzählen aus?

Narratio als ein in der Antike konzipierter wesentlicher Teil der politischen Rede bedeutet das Erzählen des Sachverhalts vor der eigentlichen Beweisführung. Quintilian ist der Auffassung, dass die Narratio eine »nützliche Darstellung eines tatsächlichen oder scheinbar tatsächlichen Vorgangs« (Quintilian IV. 2.31) ist und Aristoteles sieht in der Narratio ein Überzeugungsmittel, das seine Beweiskraft aus der Induktion (aus dem Beispiel) schöpft, indem »frühere Ereignisse erzähl[t] [werden]« oder indem etwas erdichtet wird. »Letztere [das Erdichten, CS] ist entweder ein Gleichnis oder aber Fabeln«, so Aristoteles (Arist. 1393b2). Narration hat in der klassischen Rhetorik der Antike damit die Funktion, die Beweisführung in der Argumentatio zu unterstützen bzw. vorzubereiten, wie Knape konstatiert:

Textuell eingebettet wird sie in der klassisch-rhetorischen Redeteillehre nach dem Exordium als zweites Redesegment vor der Argumentatio. Ihre Funktion besteht darin, erzählerisch die Ausgangsereignisse, d.h. jenes Geschehen zu vergegenwärtigen, auf das sich die folgende, logisch-syllogistisch strukturierte, beweisende Argumentation bezieht. (Knape 2014; digitale Ausgabe)

Insofern lässt sich hier im Anschluss an die Feststellung der antiken Rhetorik, dass die Narratio die Argumentatio vorbereitet, die Frage stellen, ob in allen Fällen der politischen Rede narrative Elemente bloß eingesetzt werden, um die Argumentation durch eine erzählerische Präsentation der Ausgangslage vorzubereiten. Und ebenso lässt sich fragen, inwiefern argumentative und narrative Elemente exakt zu trennen sind oder ob es sich nicht vielmehr so verhält, dass die Narration in die Argumentation integriert ist, beides also enger miteinander verknüpft sein kann und man eher von narrativen Argumenten, von Narrationen als Argumenten oder vielleicht davon sprechen sollte, dass durch die Narration überhaupt erst argumentiert wird (vgl. Olmos 2013; vgl. auch Carranza 2015; vgl. Govier 2005). Lucius-Hoene/Deppermann (2002) konstatieren für das autobiographische Erzählen eine enge Verknüpfung von Argumentieren und Erzählen, was m. E. nicht nur auf autobiographisches Erzählen zutrifft, sondern auch andere Text- und Redegattungen betrifft.

Es scheint zunächst sinnvoll zu eruieren, was genau Narration im Kontext der linguistischen Forschung bedeutet. Betrachtet man die zahlreichen Begriffsdefinitionen von Narration und/bzw. Erzählung, lassen sich bestimmte Gemeinsamkeiten der Begriffsbestimmungen herausarbeiten, die zu einer allgemeinen Definition von Narration führen und die die antiken Ansätze mit aufgreifen, diese aber modifizieren und konkretisieren.

Eine solche allgemeine Definition soll dem Beitrag zugrunde gelegt werden. Demzufolge sind Narrationen dadurch gekennzeichnet, dass von singulären Ereignissen/Geschehnissen/Erfahrungen (Singularität) in ihrer zeitlichen Abfolge (Temporalität) erzählt wird, wobei die dargestellten Ereignisse nicht nur zeitlich geordnet sind, sondern auch räumlich, zeitlich und kausal aufeinander bezogen werden (Kontiguität).Footnote 14 Die Minimaldefinition von Martinez »Erzählen ist Geschehensdarstellung + x« fasst die Definition nochmals zusammen (vgl. Martínez 2017a, 2–3).Footnote 15 Diese Minimaldefinition erfasst auch Formen von Minimal- und Mikroerzählungen, die in unserer Alltagskommunikation vorkommen und ohne die Alltagskommunikation nicht denkbar wäre (vgl. Spieß/Tophinke 2018; vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008).

Verschiedene Strukturelemente von Erzählungen, die mehr oder weniger stark in Alltagserzählungen vorkommen, wurden von Labov/Waletzky (1967) beschrieben. Auf die Theoretisierung dieser Erzählstrukturen durch Labov/Waletzky (1967) nehmen linguistische Arbeiten in modifizierter Weise heute noch Bezug, und sie sind auch für die Beschreibung narrativer Elemente in politischer Kommunikation relevant. So konstituieren sich Narrationen/Erzählungen aus den Elementen orientation, complication, evaluation, resolution und coda (Labov/Waletzky 1967, S. 32 ff.)Footnote 16. Diese Elemente begründen letztlich eine narrative Struktur von Texten. Allerdings ist es häufig so, dass Narrationen /Erzählungen in politischen Textsorten oder in Alltagstexten nicht komplett ausgestaltete Erzählungen von Geschehnissen sind, also nicht immer alle Strukturelemente vollständig und in der von Labov/Waletzky vorgeschlagenen Reihenfolge auftauchen oder überhaupt vorhanden sind; nicht immer sind Raum, Zeit sowie Beteiligte kausal aufeinander bezogen. Narrative Elemente haben im Diskurs innerhalb der kommunikativen Praktiken jeweils bestimmte Funktionen inne. Ganz allgemein können zwei zentrale Funktionen von narrativen Elementen in politischen Reden bestimmt werden, wenn sie Teil der Argumentation sind und Prämissen bzw. Daten darstellen:

  1. a)

    die Legitimationsfunktion

  2. b)

    die PersuasionsfunktionFootnote 17

Girnth/Burggraf sprechen davon, dass die Funktionen des Legitimierens und der Persuasion beispielsweise über die erzählerische Ausgestaltung von Argumentationsmustern erreicht werden (vgl. Girnth/Burggraf 2019b, S. 568).

So liegt etwa ein Effekt der narratio darin, den Wahrheitsgehalt des Geschehenen hervorzuheben, insbesondere dann, wenn der Redner selbst aktiver oder passiver Teil des Geschehens war. Der narratio kommt dann eine besondere Funktion innerhalb des Daten- und Validationstopos zu, da sie ein effektives Mittel der Schilderung der Situationsdaten einschließlich ihrer Bewertung darstellt. Bewertungshandlungen erweisen sich nicht zuletzt auch als geeignetes Mittel, um die für die politische Kommunikation typische Dichotomie von Eigen- und Fremdgruppe emotional aufzuladen. (Girnth/Burggraf 2019b, S. 568)

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung legen aber nahe, die Perspektive von Girnth/Burggraf zu erweitern und nicht nur von einer erzählerischen Ausgestaltung von Argumentationstopoi (im Sinne Kleins) zu sprechen. Vielmehr besetzen die Erzählsequenzen innerhalb der Argumentation z. B. die Stelle des Arguments. Mittels narrativer Elemente werden damit auch Einstellungen gegenüber Sachverhalten, Verhaltensweisen, Handlungen fundiert und somit legitimiert. Die Legitimierung von Einstellungen, Verhaltensweisen und Handlungen dient dazu, von den eigenen Positionen zu überzeugen. Erzählende Elemente werden nach Klein (2019b, S. 182) angeführt, um Sachverhalte zu belegen, indem sie als Beispiel oder Analogie für allgemeinere Schlüsse und Begründungen herangezogen werden. Als Beispielerzählung gestalten sie somit den Beispieltopos erzählerisch aus. »Was erzählt wird, soll als Beispiel für Allgemeineres, z. B. für positive Entwicklungen oder für einen Missstand, gelten.« (Klein 2019b, S. 182).

Dabei müssen die Erzählungen nicht unbedingt sehr ausgebaut sein, vielmehr haben Untersuchungen zum Erzählen als Alltagspraxis dargelegt, dass die Erzählsequenzen minimal sein können (vgl. Kotthoff 2018; vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008), dass sie aber durch Musterhaftigkeit gekennzeichnet sind und bestimmte grammatische Formen bevorzugt werden (vgl. Bubenhofer 2018; Ziem/Lasch 2018).

4 Empirische Befunde

4.1 Korpusbeschreibung und methodisches Vorgehen

Die Debattenreden des vorliegenden Korpus enthalten zahlreiche Stellen, in denen erzählt wird. Wie oben bereits angedeutet, zeigte sich bei der Bestimmung des zentralen ThemasFootnote 18 der Reden zu den vorgeburtlichen Bluttests und zur Präimplantationsdiagnostik, dass zentrale Fragen der Debattenreden prinzipielle ethische Fragen sind, z. B. Fragen nach dem Stellenwert vorgeburtlichen und/oder beeinträchtigten Lebens, Fragen nach den Folgen des Tests bzw. der Diagnostik, die Frage, wer darüber entscheidet, was eine schwere Belastung ist, welcher Embryo ein Recht auf Leben hat, wann überhaupt menschliches Leben beginnt. Bei den Debatten zum Bluttest tritt somit das intendierte Thema der Debatte (ob der Bluttest in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden soll) häufig in den Hintergrund und erscheint als sekundäres Thema. Die primäre Frage wurde somit sekundär verhandelt und als tatsächlich primär erwiesen sich die grundsätzlicheren Fragen. Darüber hinaus verhandeln einige Redner*innen aber auch die Frage nach einem gerechten Zugang zum Bluttest, der nur dann gegeben ist, wenn der Test Leistung der GKV wird.

Die 157 Debattenreden teilen sich auf drei Debatten auf (vgl. Tab. 1), wobei die Debatten mit der Nummer 17105 und 17120 die PID verhandeln und die Debatte mit der Nummer 19095 die vorgeburtlichen genetischen Bluttests. Neben den gehaltenen Reden gibt es auch zu Protokoll gegebene Debatten (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Übersicht Anzahl der Debattenreden pro Debatte

Die hier zugrunde liegenden parlamentarischen Debattenreden zu den Bluttests sind auf drei Minuten Redezeit konzipiert, die Reden zur PID auf fünf Minuten. Diese knappe Redezeit stellt für die Akteur*innen eine Herausforderung dar, insofern in sehr kurzer Zeit die eigene Perspektive auf den Sachverhalt vorgetragen und Vertreter*innen anderer Positionen von der je eigenen Sichtweise überzeugt bzw. das eigene Handeln/die eigene Perspektive legitimiert werden sollen.

Bei allen 157 Debattenreden (die entweder tatsächlich vorgetragen oder schriftlich zu Protokoll gegeben wurden) wurden die Stellen markiert, die eine narrative Struktur enthalten, wobei die oben herausgestellte Arbeitsdefinition von Erzählen zugrunde gelegt wurde. Das Spektrum narrativer Strukturen reicht dabei von fragmentarischen Mikro- bzw. Minimalerzählungen mit nur wenigen ErzählelementenFootnote 19 bis hin zu komplexer ausgebauten Erzählstrukturen. Ziehen wir aber die Definition von Martinez »Geschehensdarstellung + x« als Arbeitsdefinition heran, so fallen die hier ausgewählten Erzählsequenzen allesamt in den Bereich der Narration.Footnote 20

Im Anschluss an die Bestimmung der Erzählsequenzen wurde analysiert, ob die Erzählung im Kontext einer Argumentation auftaucht. War das der Fall, wurde die strittige These herausgearbeitet und die Funktion der Erzählung, die diese im Rahmen der Argumentation einnimmt, bestimmt. Insgesamt wurden 62 Textbelege, die narrative Elemente enthalten, isoliert. Es zeigte sich, dass sämtliche Erzählsequenzen im Kontext von Argumentationen realisiert wurden und Narration und Argumentation in den untersuchten Reden folglich eng miteinander verbunden sind. In den meisten Fällen wurde mit der narrativen Struktur/mit dem Erzählfragment oder mit der Erzählsequenz ein Argument etabliert, das dazu dient, die strittige These in eine unstrittige zu überführen.

Innerhalb der insgesamt 157 Reden gibt es 62 Einheiten, die eine klar erkennbare, deutliche narrative Struktur aufweisenFootnote 21 und die zugleich im Hinblick auf die Argumentation der jeweiligen Rede relevant sind. Tab. 2 gibt einen Überblick über die Anzahl der narrativen Einheiten pro DebatteFootnote 22. Demnach werden in der Debatte vom 11.4.2011 (17105) in 38 % der Reden Erzählsequenzen realisiert, am 7.7.2011 (17120) sind es 38,35 % und in der Debatte um vorgeburtliche genetische Bluttests (19095) vom 11.4.2019 enthalten 40,47 % der Reden Erzählsequenzen, die in Verbindung mit der argumentativen Struktur der jeweiligen Rede zu sehen sind.

Tab. 2 Argumentationsrelevante Erzählsequenzen

In den narrativen Sequenzen der untersuchten Debattenreden konnten verschiedene Funktionen dieser narrativen Sequenzen festgestellt werden:

  1. a)

    Narrationen werden als Argumente für strittige Thesen eingesetzt

  2. b)

    Narrationen sind Teil der These bzw. stellen die These dar

  3. c)

    Narrationen dienen der Kontextualisierung und der situativen Rahmung der Argumentation

  4. d)

    die Schlussregel wird durch die Erzählung etabliert

  5. e)

    Bezug auf Erzählungen

Insgesamt sieht die Verteilung der Erzählsequenzen hinsichtlich ihrer Funktionalität innerhalb der Argumentationsstruktur folgendermaßen aus: Von den insgesamt 62 hier untersuchten Erzählsequenzen stellen 45 Erzählsequenzen Daten/Prämissen für die vorgebrachte These dar. Acht Erzählsequenzen stellen Thesen/Konklusionen dar, die narrativ vorgebracht werden. Sechs Erzählsequenzen sind Kontextualisierungen bzw. situative Rahmungen, die die Darstellung der These/Konklusion vorbereiten oder rahmen. Zwei Belege sind Verweise auf Erzählungen. Eine Erzählsequenz etabliert eine Schlussregel, die durch die Erzählung explizit wird. Im Folgenden werden diese fünf Typen näher erläutert.

4.2 Erzählungen als Argumente

In den Belegen 1–3 steht die narrative Episode im Dienst einer These/Konklusion. Die Funktion der Narration besteht darin, als Argument für die strittige These herangezogen zu werden, um die These abzusichern, wie in Beleg 1 ersichtlich wird.

  1. (1)

    Ein Letztes: Auf den Tag genau ein Jahr nachdem meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte, kam mein Bruder zur Welt, der fünf Stunden gelebt hat. Ich habe ihn nie gesehen. Ich erinnere mich an die Besuche – über Jahrzehnte hinweg – am Grab, und ich weiß, dass dieser Bruder eine wesentliche Rolle in unserer Familie, bei meinem Lernen über den Zusammenhalt von Menschen und bei meinem Lernen über die Verhältnisse der Begrenztheit menschlichen Glücks gespielt hat. Wir sind nicht die Herrn über Leben und Tod. Ich will nicht, dass wir Menschen, weil sie eine Schädigung aufweisen, die dafür sorgt, dass sie nach fünf Stunden tot sind, den Weg vor die Tür unserer Gattung weisen. (Rudolf Henke, 17120, CDU/CSU).

Die in der Rede im Kontext der Erzählsequenz vorgebrachte Argumentation lässt sich wie in Tab. 3 dargestellt rekonstruieren.

Tab. 3 Rekonstruktion der Argumentation

Die in der Rede vorgebrachte Erzählung liefert Argumente für die vom Redner vorgebrachte These, die Erzählung präsentiert zwei Argumente/Daten, die als Gründe fungieren, um die strittige These abzusichern. Insbesondere das Argument/Datum, dass der Bruder auch nach seinem Tod eine zentrale Rolle in der Familie spielt, wird durch die Erzählung ausgestaltet. Durch den in der Erzählung etablierten sehr persönlichen, emotionalen Bezug zum Geschehenen wird zudem die Authentizität und Glaubwürdigkeit des Redners unterstrichen. Das Argument (der Bruder spielt auch nach seinem Tod eine wichtige Rolle in der Familie) basiert die Schlussregel, insofern dadurch der Wert des Zusammenhalts und die Erfahrung von Kontingenz hervorgehoben wird. Ob die These der Argumentation noch zur Erzählung gehört und in der Coda/dem Resümee etabliert wird oder ob sie außerhalb der Erzählung liegt, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Die These wird aber in einem weiteren Satz, der außerhalb der Erzählsequenz liegt, konkretisiert, indem der Redner sagt, dass er nicht möchte, »dass wir Menschen, weil sie eine Schädigung aufweisen, die dafür sorgt, dass sie nach fünf Stunden tot sind, den Weg vor die Tür unserer Gattung weisen«. Beleg 1 macht somit deutlich, dass Narration und Argumentation sehr eng verknüpft sind, die Narration stellt dabei den Bezug auf biographische Erfahrungen dar, die erlebt worden sind, und bettet das Thema lebensweltlich ein.

  1. (2)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Erlebnis beginnen, das ich vor einigen Wochen hatte. Es war auf einer Autobahnraststätte. In einer Ecke dieser Raststätte spielten Eltern mit ihrem Kind und haben viel gelacht und hatten Spaß. Das Kind war vielleicht drei Jahre alt und hatte Downsyndrom. Es trug ein T‑Shirt, auf dem stand: »Wie schön, dass es mich gibt!« (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Dieser Satz traf mich direkt ins Herz, auch weil es so zu diesem lebensbejahenden Kind passte. Und ich finde, er trifft das Problem: Wollen wir wirklich die Umstände erleichtern, dass es künftig solche Kinder nicht mehr gibt? (Matthias Bartke, 19095, SPD)

Beleg 2 stellt eine komplexe Verknüpfung von Argumentation und Narration dar. Hier entfaltet die Erzählsequenz ein Argument für die Hauptthese des Textes, die im Ausschnitt zunächst als Frage formuliert und an späterer Stelle der Rede expliziert wird, wenn der Redner sagt:

Es darf niemals Aufgabe des Staates sein, aktiv dazu beizutragen, dass Leben verhindert wird. Daher bin ich der Auffassung: Die Einführung von kostenlosen Trisomie-21-Tests ist eine falsche Wertentscheidung, eine Wertentscheidung gegen das Leben von Kindern mit Behinderung. (Matthias Bartke, 19095, SPD)

Innerhalb der Erzählung wird ein Argument implizit durch die Aussage »Wie schön, dass es mich gibt« dargeboten. Die Implizitheit besteht darin, dass aus der Aussage geschlossen werden kann, dass es nicht selbstverständlich ist, dass es dieses Kind mit Beeinträchtigung gibt. Das Argument wird demzufolge durch eine konversationelle Implikatur etabliert und lautet: Die Aufnahme der Bluttests in den Leistungskatalog der GKV erleichtert die Entscheidung gegen ein Kind mit Downsyndrom.

Die Hauptthese der Rede ist im Textausschnitt als Frage formuliert. Die Argumentation der Rede lässt sich wie in Tab. 4 dargestellt rekonstruieren.

Tab. 4 Rekonstruktion der Argumentation

Die Erzählung trägt zur Gesamtargumentation der Rede bei. Implizit stellt die Erzählung einen Bezug zu einer weiteren These her, indem nämlich die expressive T‑Shirtaufschrift »Wie schön, dass es mich gibt!« thematisiert wird. Aufgrund dieser Aussage wird die Selbstverständlichkeit der Existenz des an der Autobahnraststätte spielenden, jungen Menschen infrage gestellt und mit der im Resümee der Erzählung entfalteten These Leben mit Behinderung darf durch den Staat nicht verhindert werden gekoppelt.

Die Argumentation der Erzählung fungiert innerhalb der Rede als Argument für die These der Rede.

Deutlich wird hier insbesondere die Vernetzung nicht nur von Narration und Argumentation, sondern auch der Elemente der komplexen Argumentation untereinander, einzelne Elemente können im Geflecht der Argumentationen These und Argument zugleich sein (vgl. hierzu auch Klein 1995; der die Vernetzung von komplexen Argumentationen für den Diskurs um das Asylrecht herausgearbeitet hat). Mit Beleg 2 liegt zudem eine Erzählsequenz vor, die die von Labov/Waletzky (1967) bestimmten Erzählelemente allesamt realisiert hat (Tab. 5).

Tab. 5 Erzählelemente

Während die Elemente Orientierung, Komplikation und Evaluation in der erzählten Welt verbleiben, weisen Resolution und Coda über die erzählte Geschichte hinaus in die Debatte, insofern hier in Form einer rhetorischen Frage die strittige These formuliert wird. Diese Erzählsequenz wird vom Sprecher eingeführt, um seine Position gegen die Ausweitung des Bluttests zu legitimieren und von seiner Sichtweise zu überzeugen. Die persuasive Funktion wird neben der argumentativen Struktur in der Erzählung zudem durch Emotionsbenennungen und Emotionsthematisierungen gestützt.

Ein weiteres Beispiel für die Etablierung von Argumenten durch die Erzählung liegt in Beleg 3 vor.

  1. (3)

    Vor einigen Wochen erhielt ich eine Mail, die ich gern im Auszug zitieren möchte: Meine Frau und ich haben bereits ein gesundes Kind, aber leider haben wir beide einen Gendefekt. Die letzten zwei Schwangerschaftseinleitungen mussten getätigt werden, da unser Kind nicht lebensfähig war (großer Wasserkopf und leider gar kein Gehirn). Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaft es ist, eine Schwangerschaftseinleitung oder Fehlgeburt zu haben… Wir hätten kein Problem, wenn wir ein behindertes Kind hätten, aber bei unserer Erbkrankheit gibt es für das Überleben nur eine geringe Chance. Liebe Kollegen, ich lese Ihnen das deshalb vor, weil es deutlich macht, für wen diejenigen, die für eine begrenzte Zulassung der PID sind, eintreten: für Menschen, die sehr oft am Rande der Verzweiflung stehen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, die Hoffnung in eine Zulassung der PID setzen und die sehr wohl – oft auch aus tiefer christlicher Überzeugung – verantwortungsbewusst mit dieser ethischen Frage umgehen. (Ulrike Flach, 17105, FDP).

Die Argumentation lässt sich wie in Tab. 6 dargestellt rekonstruieren. Das hier aus der Erzählung abstrahierte Argument Erbkrankheiten verursachen Leid wird im vorliegenden Beleg durch die Erzählung narrativ etabliert und ausgestaltet, indem persönliche Leiderfahrungen preisgegeben werden, die zudem durch Emotionsdarstellungen (Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaft es ist, eine Schwangerschaftseinleitung oder Fehlgeburt zu haben) begleitet werden.

Tab. 6 Rekonstruktion der Argumentation

4.3 Entfaltung der Narration als Argumentation

Belege 4 und 5 sind Beispiele für die Funktion von Erzählungen als komplette Argumentationen. Erzählungen werden hier nicht nur angeführt, um Argumente für strittige Thesen zu etablieren, sondern auch um Thesen zu formulieren und auszugestalten.

  1. (4)

    Wir diskutieren heute ein sehr sensibles Thema, das von enormer gesellschaftspolitischer Relevanz ist. Ein guter Freund aus meinem Wahlkreis, der mir mit seiner Frau und seinen Kindern in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen ist, hat mir vor einigen Jahren bei einem gemeinsamen Besuch berichtet, dass sie Nachwuchs bekommen werden. Bei diesem Gespräch – das natürlich von voller Freude und Zuversicht geprägt war – teilte er mir auch mit, dass es vielleicht sein könnte, dass das noch ungeborene Kind ein Handicap hat. Wir unterhielten uns den ganzen Abend über die Situation und diskutierten auch, wie sinnvoll es wäre, wenn man der Ursache und der Situation genauer auf den Grund gehen würde. Bei diesem Gespräch sagte mein Freund einen beeindruckenden Satz: »Was mache ich, wenn ich die Diagnose bekomme, dass mein Kind behindert ist und wir – meine Frau und ich – uns aber generell schon entschlossen haben, dieses Kind zu bekommen. Hat ein solcher Test überhaupt einen Mehrwert für mich?« (Erich Irlstorfer, 19095, CDU/CSU)

Die These ist innerhalb der Erzählung als rhetorische Frage formuliert. Die gesamte Argumentation lässt sich wie in Tab. 7 dargestellt rekonstruieren.

Tab. 7 Rekonstruktion der Argumentation

Implizit enthält die Argumentation einen weiteren Standpunkt, der aus der rekonstruierten Argumentation folgt, nämlich, dass der Bluttest dann auch nicht angewendet werden muss.

Auch mit Beleg 5 liegt innerhalb der Erzählung die Argumentation vor:

  1. (5)

    Sehr skeptisch stehen Klaus und Andrea Schmitt einer möglichen Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, PID, gegenüber. »Wir befürchten eine Auslese mit dem gefährlichen Ziel, den Traum vom rundum gesunden Menschen ohne Defizite zu verwirklichen«, betonen die Eheleute. Sie schildern Erfahrungen mit Pränataldiagnostik, die sie 1991 bei einer Fruchtwasseruntersuchung in einer mittelhessischen Klinik gemacht haben. »Nach dem Erkennen der Trisomie 21 bei unserem ungeborenen Kind war es für den Mediziner eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns gegen das Fortsetzen der Schwangerschaft entscheiden würden«, erinnern sich die beiden. Beim Argumentieren sei es dem Arzt nur darum gegangen, dass sie die familiären Belastungen durch ein behindertes Kind nicht unterschätzten; ermutigende Worte für ein solches Leben habe der Mediziner nicht gesagt. Die Schmitts empfanden dies als einseitig und befremdlich, zumal die Physiotherapeutin und der Sozialpädagoge bereits damals Etliches über das Downsyndrom wussten. »Die Tatsache, dass schon ein Klinikbett für die Abtreibung reserviert war, fanden wir schockierend und gruselig«, unterstreichen Klaus und Andrea Schmitt. (Michael Brand, 17120, CDU/CSU, Hervor. CS).

Die strittige These, PID befördert die Auslese von Menschen mit Beeinträchtigung/Defizit (im Beleg hervorgehoben), wird in der Erzählung gleich zu Beginn etabliert. Innerhalb der Erzählung werden dann Argumente für diese These genannt. Die gesamte Argumentation findet innerhalb der Narration statt, sodass die Position des Redners durch die Meinung der Protagonisten der Erzählung dargebracht wird. Sie lässt sich wie in Tab. 8 dargestellt rekonstruieren.

Tab. 8 Rekonstruktion der Argumentation

Der politische Redner argumentiert durch das Anführen der Argumentation mit den Stimmen der Erzählinstanzen der dargebotenen Erzählung, also mit den Standpunkten der Protagonisten der Erzählsequenz. Man kann auch sagen, dass sich die argumentative Kraft innerhalb des argumentum ad exemplum entfaltet. Die Erzählung enthält neben der argumentativen Struktur auch die Darstellung von Emotionen (Die Tatsache, dass schon ein Klinikbett für die Abtreibung reserviert war, fanden wir schockierend und gruselig), die die These untermauert, insofern sie die gegnerische Position/Einstellung zum Sachverhalt durch die Benennung der eigenen negativen Emotionen dieser Einstellung gegenüber dadurch negativ bewertet. Auch die These wird innerhalb der Erzählung durch die Bekundung von Emotionen etabliert, wenn gesagt wird Wir befürchten eine Auslese mit dem gefährlichen Ziel, den Traum vom rundum gesunden Menschen ohne Defizite zu verwirklichen. Das mit der PID verbundene Ziel wird von den Erzählinstanzen der Erzählung als gefährlich attribuiert und damit deutlich negativ bewertet.

4.4 Erzählungen zwecks Kontextualisierung der Argumentation

Einige der untersuchten Erzählsequenzen stellen keine Elemente von Argumentationen dar, dennoch spielen sie im Kontext der Argumentation eine Rolle, weil sie die in der Rede entfaltete Argumentation kontextualisieren und situieren.

  1. (6)

    Das Thema Präimplantationsdiagnostik begleitet mich seit Beginn meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete. Meine allererste Rede habe ich im Oktober 2000 genau zu diesem Thema gehalten, allerdings zu nachtschlafender Zeit und vor relativ leerem Haus. Seitdem hat sich einiges in der Medizin, aber noch mehr in der Rechtsprechung getan. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom Juli letzten Jahres ist in Deutschland in Sachen PID alles erlaubt. (Carola Reimann, 17105, SPD).

  2. (7)

    Jeder hier hat sicher Kontakt mit behinderten Mitmenschen, mehr oder weniger. Ich selbst habe diesen Kontakt regelmäßig. Haben Sie sich schon mal hingestellt und ihnen gesagt, dass sie eventuell in einer nicht allzu fernen Zukunft zu einer kleiner werdenden Minderheit zählen werden, weil es immer Menschen geben wird, deren Leben vor der Geburt beendet wird, weil ihre Nachteile unerwünscht sind? (Michael Brand, 17105, CDU/CSU).

In beiden Belegen spielt die Temporalität eine wichtige Rolle, die durch sprachliche Elemente wie seit Beginn, allererste Rede, seitdem, nach (Beleg 6) und regelmäßig (Beleg 7) zum Ausdruck gebracht wird. Während in Beleg 6 die Rednerin durch die Erzählsequenz ihre Rede rahmt und sich durch die Rahmung als Rednerin mit Erfahrung im bioethischen und biomedizinischen Bereich positioniert, indem sie auf eine bereits vor vielen Jahren gehaltene Rede zum Thema PID verweist, fungiert die minimale Erzählsequenz (Ich selbst habe diesen Kontakt regelmäßig) des Redners in Beleg 7 als Rahmung für eine imaginierte Zuspitzung des KonfliktsFootnote 23 um die Zulassung der PID. Durch die der MinimalerzählungFootnote 24 folgende rhetorische Frage wird der Konflikt insofern zugespitzt, als die Frage nach der Zulässigkeit von PID auf die Ebene der zwischenmenschlichen Beziehung gehoben und dadurch emotionalisiert wird. Der Redner bettet den Konflikt lebensweltlich ein und positioniert sich als jemand, der in Beziehung zu Menschen mit Behinderung steht, er sieht in der PID ein grundsätzliches Problem der Bewertung von ungeborenem Leben als entweder erwünscht oder unerwünscht gegeben. Und das sollte es seiner Meinung nach nicht geben.

4.5 Erzählung entfaltet die Schlussregel

Die folgende Erzählsequenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Schlussregel sozusagen durch die Erzählung etabliert wird.

  1. (8)

    Ich widerstehe auch der Versuchung, darauf in gleicher Weise zu antworten. Stattdessen will ich Ihnen zu Beginn von einem Menschen erzählen, von Frau Regina Streilein, Mutter von vier Kindern. Als Frau Streilein elf Jahre alt war, starb ihr Bruder. Er wurde neun Jahre alt. Er litt an einer schrecklichen Erbkrankheit, einer genetisch bedingten Stoffwechselkrankheit, die unaufhaltsam und qualvoll das Nervensystem im Gehirn zerstört. Frau Streilein trägt in ihren Genen die Anlage zu dieser Krankheit; bei Frauen bricht sie allerdings nicht aus. Frau Streilein wollte nicht, dass ihre eigenen Kinder so qualvoll sterben wie ihr Bruder. Deshalb hat sie sich für eine extrakorporale Befruchtung und eine PID entschieden und ist zu diesem Zweck nach Belgien gefahren. Heute ist sie Mutter von vier Kindern, und sie ist froh, dass in Belgien für solche Fälle die legale Möglichkeit einer PID besteht. (Jerzy Montag, 17105, Bündnis 90/Die Grünen).

In der in Beleg 8 präsentierten Erzählsequenz ist die strittige These der Rede Jerzy Montags PID muss in Deutschland erlaubt werden nicht in der Erzählung enthalten, aber die Schlussregel und die Argumente sowie die implizite These PID ist sinnvoll. Die Argumentation der Narration lässt sich wie in Tab. 9 dargestellt rekonstruieren.

Tab. 9 Rekonstruktion der Argumentation

Die Schlussregel konkretisiert sich in folgendem Satz der Erzählung »Frau Streilein wollte nicht, dass ihre eigenen Kinder so qualvoll sterben wie ihr Bruder. Deshalb hat sie sich für eine extrakorporale Befruchtung und eine PID entschieden […].« Die Schlussregel der Argumentation der Debattenrede, die auf der Erzählung basiert und in der Erzählung konkretisiert wird, könnte somit auf folgende allgemeinere Form zurückgeführt werden: Weil PID verhilft, Leid zu vermeiden, muss die PID auch in Deutschland zugelassen werden. In der Gesamtargumentation der Rede von Jerzy Montag nimmt die Erzählung die Position des Arguments ein, das die These PID muss in Deutschland erlaubt werden begründet. Innerhalb der Erzählung wird die Schlussregel jedoch entfaltet. Ein Großteil der Erzählung dient zudem der Begründung einer umstrittenen Handlung, indem die Handlungsmotivation erzählerisch ausgestaltet wird.

Es lässt sich also festhalten, dass die die Schlussregel etablierende Erzählung, die auch die weiteren Teilelemente einer Argumentation enthält, mit ihrer Kernaussage (PID hilft Leid zu vermeiden) als Argument innerhalb der Rede zur Begründung der Zulassung der PID dient. Wir haben hier somit eine doppelte argumentative Struktur vorliegen. Die Argumentation innerhalb der Erzählung ist vernetzt mit der Argumentation der politischen Rede. Das Argumentieren ist somit rückgebunden an erzählte lebensgeschichtliche Zusammenhänge, die zudem die Glaubwürdigkeit des Redners stützen und die Entscheidung des Redners hinsichtlich des strittigen Sachverhalts lebensweltlich begründen.

4.6 Verweis auf Erzählungen als Argument

Es gibt auch Belege, in denen auf Erzählungen verwiesen wird. In Beleg 9 fungiert dabei der Verweis auf die Minimalerzählung als Argument gegen die Aufnahme des Bluttests in den Leistungskatalog der GKV.

  1. (9)

    Ich bekomme oft Schreiben von Eltern behinderter Kinder. Sie berichten mir von sehr viel Glück. Sie berichten mir aber auch von ihrem aufreibenden Alltag. Sie berichten vom ewigen Tauziehen mit der Krankenversicherung, dem Rehaträger, vom Zuständigkeitswirrwarr zwischen Jugendamt und Sozialamt und davon, dass die Grundschule ihr Kind nicht aufnimmt, obwohl es so gerne mit den Kindern aus dem Kindergarten in die Grundschule gehen würde und das ja auch selbstverständlich könnte. (Kathrin Vogler, 19095, Die Linke).

  2. (10)

    Aldous Huxley beschrieb in den 30er-Jahren in seinem Roman »Brave New World« bereits die pränatale biologische Einwirkung auf die Menschen: Fantasie eines Autors, unerreichbare Fiktion. Wir wussten und fürchteten, dass der Fortschritt uns irgendwann in die Lage versetzen würde, den humangenetischen Code noch vor der Geburt zu lesen, zu analysieren und zu verändern. (Claudia Schmidtke, 19095, CDU/CSU).

Auf Erzählungen Betroffener wird in Beleg 9 verwiesen, um die These der Rednerin zu untermauern. Der Verweis auf die Erzählung nimmt damit die Rolle eines Arguments ein. In Beleg 10 wird durch den Verweis auf die Erzählung in Form eines Zitats aus dem Text eine Gefahr benannt, die im Diskurs als Argument gegen die Zulassung pränataler diagnostischer Methoden vorgebracht wird. In der vorliegenden Rede jedoch wird dieses Argument zurückgewiesen, indem darauf verwiesen wird, dass es in der Realität anders aussieht, wie Beleg 11 deutlich macht:

  1. (11)

    Da ist zunächst die Tatsache, dass die Untersuchungen, über die wir heute sprechen, bereits angewendet werden. Kein Gesetz einer globalisierten, digitalisierten Welt kann sie wieder vom Markt nehmen. Da ist zum Zweiten die Erkenntnis, dass die bereits seit Jahrzehnten solidarisch finanzierten Alternativen wie die Amniozentese mit Risiken für das Leben des ungeborenen Kindes einhergehen. […] Dieses Risiko wollten wir, die Politik, senken. Das BMBF förderte erfolgreich die Entwicklung der Bluttests, über die wir heute sprechen. Wir sehen, dass unsere neuen Fähigkeiten der pränatalen Diagnostik und die fiktive Brave New World eben nicht zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn wir heute andere Grenzen bei dieser nicht-invasiven Diagnose ziehen als bei riskanter Diagnostik, so wäre das weder rational noch ethisch und medizinisch erst recht nicht zu erklären. (Claudia Schmidtke, 19095, CDU/CSU).

Der Verweis auf die Erzählung dient zunächst der Zurückweisung des Arguments und letztlich dadurch der Hervorhebung des in der Rede vertretenen Standpunkts, die Bluttests in den Leistungskatalog der GKV zu übernehmen.

5 Fazit

Es konnte für das zugrunde liegende Korpus von 157 Parlamentsreden gezeigt werden, dass die Erzählsequenzen sehr eng mit der Argumentation der jeweiligen Rede verknüpft sind. Im Datenmaterial ließen sich fünf Typen der Verknüpfung von Argumentation und Narration herausarbeiten. So kann die Erzählsequenz ein Argument für die These der Rede liefernFootnote 25, sie kann aber auch eine Schlussregel etablieren, sie kann dazu dienen, die These zu etablieren, oder aber dazu, die gesamte Argumentation zu präsentieren. Ein weiterer Typus operiert mit dem Verweis auf Erzählungen, in diesen – im Korpus seltenen – Fällen hat der Verweis auf eine Erzählung die Funktion, die Verbindung zur Argumentation herzustellen. Der Verweis auf die Erzählung stellt in den hier untersuchten Fällen einen Verweis auf ein Argument dar, das dann für den eigenen Standpunkt genutzt wird oder aber entkräftet wird.

Grundsätzlich ist zu bemerken, dass durch die Erzählungen Positionierungen zum strittigen Sachverhalt vorgenommen und der Sachverhalt dadurch zugleich bewertet wird. Weil mit der Positionierung und der Bewertung des Sachverhalts zugleich primär oder sekundär adressierte Diskursakteur*innen betroffen sind, insofern eine Ausrichtung an anderen Diskursakteur*innen durch die Positionierung und Bewertung stattfindet, kann hier auch von Stancetaking-Aktivitäten gesprochen werdenFootnote 26. Der Sachverhalt wird durch die Erzählung somit kommunikativ bearbeitet, wobei sich die Positionierungs- und Bewertungshandlungen auf unterschiedlichen Ebenen abspielen: zum einen auf der Ebene der erzählten Geschichte, zum anderen auf der Ebene der parlamentarischen Redner*innen als erzählende Akteur*innen, die sich mit der Erzählung untereinander und am Publikum ausrichten, und schließlich auf der Ebene des Diskurses, insofern die parlamentarischen Redner*innen als erzählende Akteur*innen in bioethischen Diskursen agieren (vgl. Spitzmüller/Flubacher/Bendl 2017, S. 6)Footnote 27. Stancetaking-Aktivitäten stehen in den untersuchten parlamentarischen Debattenreden im Dienst der Argumentation und schließlich im Dienst der Persuasion.

In den Erzählungen, die im Kontext der Argumentation vorgebracht werden, kommen Stimmen der erzählten Welt zur Geltung, die neben die Stimmen der Diskursakteur*innen in der Debatte gestellt werden, sodass sich die Stimmen von Erzählung und Parlamentsrede in Form von Positionen überlagern. Mit Bachtin kann man hier auch vom Überlagern der Stimmen bzw. von der Polyphonie der Stimmen sprechen (vgl. hierzu Bachtin 1979)Footnote 28. Worin besteht aber die Funktion von Erzählungen über die Etablierung des Arguments, der Schlussregel, der These etc. hinaus?

In den Debatten geht es um recht abstrakte Diskussionen um den Status ungeborenen Lebens, um den Stellenwert beeinträchtigter Menschen in der Gesellschaft und um die Rahmenbedingungen, die der Staat setzt. Wenn in den einzelnen Reden erzählt wird, so werden Erfahrungen der jeweiligen Redner*innen als individuelle Erfahrungen zur Geltung gebracht und zwar im Hinblick auf die abstrakten Fragen, die diskutiert werden und Gegenstand von gesellschaftlichen Diskursen sind. Mit den Erzählungen positionieren sich die jeweiligen Redner*innen zum Sachverhalt durch sehr konkrete Erlebnisse, Erfahrungen etc. Die Erzählungen und die in ihnen enthaltenen Positionierungen und Bewertungen zu und von Sachverhalten stellen sozusagen Brücken zur Bewertung des in der Debatte (und damit des im Diskurs) vorgebrachten Allgemeinen dar, insofern das Konkrete zum Ausgangspunkt genommen und auf das Allgemeine bezogen wird. Narrativen Sequenzen kommt über die Funktion als Element innerhalb einer Argumentation hinaus die Funktion der Vermittlung zwischen konkretem Einzelnem und abstrakterem Allgemeinen zu (vgl. hierzu auch den Beitrag von Schröter in diesem Band).

6 Quellen

Sämtliche Protokolle des Deutschen Bundestages sind erhältlich unter: https://www.bundestag.de/protokolle