1 Einleitung

»Orwell lässt grüßen« – diese Formel scheint rund siebzig Jahre nach dem Tod des Autors von einiger Aktualität.Footnote 1 Versteckt darin ist die finstere fiktionale Welt, die George Orwell (der bekannter- wie bemerkenswerterweise eigentlich Eric Arthur Blair hieß) hinterlassen hat, insbesondere in seinem opus magnum, dem Roman 1984 aus dem Jahr 1949 (Orwell 2002, 1987b). Der Einfluss dieses Werkes wird von vielen Autoren sehr hoch eingeschätzt: »Arguably, Nineteen Eighty-Four by George Orwell (1903–1950) is the most influential 20th-century dystopia« (Voigts 2015, S. 47). Allerdings wirft es auch einen Schatten auf den Autor, dessen andere Arbeiten – vielleicht mit Ausnahme des »Märchens« Animal Farm (Orwell 1982, 1987a) – zweifellos hinter diesem zurückstehen. Diese Verschattung betrifft auch den Namen selbst, und so verwundert es nicht, wenn der britische Literaturwissenschaftler Adam Stock feststellt: »Since the publication of Nineteen Eighty-Four Orwell’s name has become synonymous with the dystopian genre, particularly in the media.« (Stock 2019, S. 149). Das Eingangszitat stellt nun eine solche metonymische Verwendung des Namens Orwell dar: Nicht der Autor »grüßt« hier, sondern die Fiktionen (und Visionen), die er insbesondere in 1984 verewigt hat; sie sind fest verbunden mit dem Namen ihres Urhebers. John Rodden (1989, S. 37) zog hier bereits vor mehr als drei Jahrzehnten eine interessante Parallele: »[Orwell] has become the Dr. Frankenstein of the twentieth century. And as has happened with the good doctor, one wonders if we will one day forget the man George Orwell and associate his name exclusively with his brilliant, horrible creation.«

Taucht nun der Name Orwell in Debatten und Diskursen auf, so schwingen diese fiktionalen Phantasien konnotativ mit. Und Orwell wird verwendet; die fiktionale Welt, die er erschaffen hat, dient in bestimmten Debatten regelmäßig als Referenzpunkt, man denke etwa an Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Videoüberwachung mit Gesichtserkennung auf öffentlichen Plätzen, den NSA-Abhörskandal oder auch an einschlägige damit verbundene Eigennamen wie Edward Snowden und Chelsea Manning. Es ist nun nicht völlig ungewöhnlich, dass fiktionale Narrative Eingang in Diskurse finden (vgl. Stock 2019). Welche Folgen dies allerdings haben kann, illustriert Fusco: »[…] many critics and politicians have occasionally evoked the man’s [Orwells] name and his text inaccurately – or in a way that misrepresents what Orwell had written – in attempt to manipulate the thinking of their audience.« (Fusco 2008, S. 1, vgl. auch Hitchens 2007, S. 202). Orwell verwenden, um die Zuhörer zu manipulieren – beinahe könnte man denken, dass dies selbst eine Beschreibung der Welt ist, die Orwell in 1984 kreiert hat.

Besonders delikat erscheint diese spezielle Verquickung von Orwellscher Fiktion und Realität, wenn sie die Sphäre des Politischen betrifft. Dem möchte dieser Beitrag nachspüren. Es wird darum gehen, die Verwendung des Namens Orwell in den Plenardebatten des Bundestags zu untersuchen. Zeitlich passt dies bemerkenswert gut: Orwells Roman 1984 erschien wie erwähnt 1949 und damit »pünktlich« zur Gründung der Bundesrepublik (in deutscher Übersetzung von Kurt Wagenseil 1950). Somit lässt sich beides chronologisch gut zusammenbringen. Fraglich ist aber, wie die Fiktionalität des Romans und die Realität der Politik zusammengebracht werden können. Dem Verhältnis dieser Sphären zueinander widmet sich der folgende Abschnitt 2.

Angekommen im politischen Diskurs stellen sich verschiedene Fragen: Welche Akteure rufen Orwell an? In welchen thematischen Umgebungen? Welche kommunikativen Strategien werden dabei verfolgt? Um erste Antworten darauf zu erhalten, wird ein Korpus bemüht, dessen Zusammenstellung und Auswertung in Abschnitt 3 erläutert wird. Die Ergebnisdarstellung erfolgt in zwei Schritten: Zunächst werden einige quantitative Befunde vorgestellt (Abschnitt 4), anschließend auch qualitative, gegliedert nach (namen-)grammatischen (Abschnitt 5) und pragmatisch-kommunikativen Aspekten (Abschnitt 6). Der Beitrag mündet in einem Fazit und Ausblick und schließt mit einigen kurzen Bemerkungen zum thematischen Rahmen dieses Heftes.

2 Politische Diskurse, Eigennamen und fiktionale Texte

Grundlegend für die folgende Untersuchung ist die Annahme, dass Literatur und Gesellschaft, in diesem Fall der spezifische Gesellschaftsbereich Politik, in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen (vgl. dazu überblickshaft Dörner/Vogt 2013, Kap. 7). Folgt man zunächst einer naheliegenden (aber beinahe fahrlässig vereinfachenden, vgl. z.B. Searle 1982, Eagleton 2012, S. 1–2) Dichotomie fiktional vs. nicht fiktional,Footnote 2 so könnte man meinen, dass ein fiktionales literarisches Werk in einer anderen Sphäre beheimatet ist als nicht-fiktionaler politischer Diskurs.Footnote 3 Das greift jedoch zu kurz und verkennt, dass es vielfältige Verflechtungen zwischen den beiden Sphären geben kann und gibt: So braucht ein fiktionales Werk »nicht vollständig aus fiktionalem Diskurs zu bestehen und wird es in der Regel auch nicht« (Searle 1982, S. 96). Beispielsweise können Romane Themen und Argumente eines realen Diskurses aufgreifen und verarbeiten (vgl. dazu den Beitrag von Spieß in diesem Heft). Auf der anderen Seite können fiktionale Texte auf den realen (politischen) Diskurs einwirken: »Tradierte und kanonisierte Texte fungieren als Vehikel für politische Sinnangebote, der Schriftsteller selbst wird zur Symbolfigur, mit der sich politische Ansprüche und Zukunftshoffnungen verbinden.« (Dörner/Vogt 2013, S. 229). Nicht immer sind es indes Zukunftshoffnungen, die mit solchen Texten verbunden werden, es können stattdessen auch Zukunftsängste sein, wofür George Orwell ein prototypisches Beispiel darstellt. Insbesondere sein opus magnum, der Roman Nineteen Eighty-Four (Orwell 2002, 1987b), hat den Autor zu einer solchen hochgradig konnotativ aufgeladenen Symbolfigur werden lassen.

Der Name Orwell weist dadurch durchaus Züge eines Kollektivsymbols auf.Footnote 4 Diese gehören

zum kommunikativen und kulturellen Gemeinbesitz einer Gesellschaft […]: Sie tauchen immer wieder in den unterschiedlichsten Texten und den verbalen Äußerungen der verschiedensten Sprecher auf. Diese Symbole verraten also etwas über den grundsätzlichen Weltbezug einer Gesellschaft – denn dieser Weltbezug, so haben im Gefolge von Ernst Cassirer schon zahlreiche Philosophen und Kulturwissenschaftler festgestellt, ist in entscheidendem Maße durch kollektiv geteilte Bildräume vermittelt. (Folien zur Kollektivsymbolik o. J.)

Literarische Texte und die in ihnen codierten fiktionalen Welten stellen dabei in besonderem Maße solche kollektiv geteilten Bildräume dar, die auch in der realen Welt als Referenzpunkte dienen können: »Fiktionale Welten sind, besonders wenn sie vielen Mitgliedern bekannt sind, allerdings auch Bestandteil der Standardwelt, auf die man sich als erfundene Realitäten beziehen kann.« (Adamzik 2016, S. 119). Zugleich konstituieren sie einen Bestandteil des »gesellschaftlichen ›Imaginären‹, in dem die Menschen ihre Wünsche und Ängste ausdrücken und ihre eigene Situation reflektieren« (Dörner/Vogt 2013, S. 226), können also auch wichtige Funktionen im realen Diskurs übernehmen.

Nach Jürgen Link (1988b, S. 293) gelten literarische Texte als Textsorten, in denen die interdiskursive Funktion dominiert.Footnote 5 Die entscheidende Voraussetzung »zum Verständnis der Funktion des Interdiskurses, der Kollektivsymbolik und später der Literatur« (Link 1988b, S. 288) stellt die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die »Praktikenteilung« dar (Link 1988b, S. 288). Die zunehmende Spezialisierung (und damit Entkoppelung) von Diskursen führt dazu, dass eine gegenläufige Tendenz zur »Reintegration« wirkt und Spezialdiskurse durch selektive interdiskursive Elemente und Kollektivsymbole auch für nicht Eingeweihte zugänglich werden: »Kulturspezifische synchrone Systeme von Kollektivsymbolen […] entstehen aus der gesellschaftlich notwendigen reintegrativen Gegentendenz gegen die im Zuge der Arbeitsteilung wachsende Diskursspezialisierung.« (Link 1988b, S. 297, vgl. auch Link 2008, S. 122). So ergibt sich eine kommunikative Teilhabe an solchen Spezialdiskursen, allerdings ist der interdiskursive Bereich »gegenüber den verschiedenen Spezialdiskursen hochgradig selektiv« und beinhaltet »Klischees, Stereotypen, Vorstellungsarten« (Link 1988b, S. 289), aber auch »Exempel, symbolische Modelle, systematische und narrative Schemata« (Link 2008, S. 122). Der selektive Charakter interdiskursiver Elemente führt unweigerlich dazu, dass mit der Auswahl auch eine evaluative Perspektive eingenommen wird: »Es dürfte unmittelbar einleuchten, daß alle Kollektivsymbole stets schon elementar-ideologische Wertungen implizieren« (Link 1988a, S. 48, Herv. im Original). Die Herausbildung des synchronen Systems der Kollektivsymbole ist indes von verschiedenen Mechanismen geprägt, von denen Link (1988b, S. 291) pragmatische und historische als die entscheidenden auffasst. Das geht einher mit der Rolle von »diskursiven Ereignissen«: Link stellt heraus, dass die symbolische und konnotative Kraft von Kollektivsymbolen »von realen Entwicklungen abhängig« ist, den sogenannten »diskursiven Ereignissen«: »[S]olche diskursive Ereignisse stärken bzw. schwächen die eine oder andere diskursive Position« (Link 1988a, S. 48).

Im Gegensatz zum engeren Begriff der Metapher umfasst der des Kollektivsymbols auch »metonymische Bilder« (Link 2008, S. 125) und damit im engeren Sinne auch die Verwendung eines Autornamens für sein (literarisches) Werk. Durch die metonymische Übertragung der Inhalte des literarischen Werks auf die Person (oder auch Figur) des Autors wird dessen Name mit zusätzlichen Bedeutungselementen konnotativ aufgeladen. Der Eigenname fungiert dann nicht mehr allein zur Herstellung von Personenreferenz, sondern wird »offensichtlich auch im alltäglichen öffentlichen Sprechen und Schreiben zur Erzeugung spezifischer Effekte verwendet.« (Wengeler 2010, S. 80). Als ein kommunikativer Effekt kann die Referenz auf einen kanonischen Autor wie Orwell der eigenen politischen Position beispielsweise mehr Gewicht verleihen: »Die kanonisierten Schriftsteller können, wenn man es symbolpolitisch geschickt anstellt, eine erhebliche Quelle für symbolisches Kapital darstellen.« (Dörner/Vogt 2013, S. 229–230). Von welchen Akteuren und in welchen Kontexten diese Quelle in den Plenardebatten des Bundestags angezapft wird, soll die folgende Analyse zeigen.

3 Korpus und Methodik

Als Korpus dienen die offiziellen Plenarprotokolle des deutschen Bundestags, die über die Homepage des BundestagsFootnote 6 im XML- und PDF-Format zur Verfügung gestellt werden. Bis zur 18. Wahlperiode (im Folgenden kurz WP) wurden diese Daten bereits zu einem annotierten Korpus zusammengestellt, das über die Homepage von Jan Oliver RüdigerFootnote 7 herunterladbar ist. Das Korpus umfasst alle Plenarprotokolle von 1949 bis 2017 und setzt sich aus 4106 Dokumenten mit 18,8 Millionen Sätzen bzw. 298,60 Millionen Tokens zusammen.

Die erste Recherche im Korpus wurde mit dem Tool CorpusExplorer (Rüdiger 2018) durchgeführt. Dazu wurden die Daten der WP nacheinander in das Tool geladen und mithilfe der KWIC-Suche nach Vorkommen des Namens Orwell und verwandter Formen durchsucht. Dank der automatischen Vervollständigung in der Suchleiste werden bereits bei der Eingabe der Zeichenkette <orwell> alle im Korpus vorhandenen relevanten Einheiten wie Flexionsformen (Orwells), Derivate (Orwellsch, orwellhaft) und Komposita (Orwellsprech, Orwell-Jahr), aber auch potentielle Fehlbelege (Terrorwelle) angezeigt, sodass eine gezielte Suche möglich war. Auf diesem Weg konnten 101 Treffer ermittelt werden.

Vor dem Einstieg in die Analyse sollten nun – der Vollständigkeit und Aktualität halber – auch die Protokolle der aktuell laufenden 19. WP (2017–2021) berücksichtigt werden, die wie erwähnt noch nicht Teil des Korpus sind. Zu diesem Zweck wurde die Suchfunktion auf der Homepage des BundestagsFootnote 8 verwendet. Auch bei dieser Suchmaske findet man bei der Eingabe der Zeichenkette <orwell> alle Einheiten, die Orwell enthalten. Um die einzelnen Belege im Kontext zu sehen, muss man allerdings das jeweilige Protokoll als PDF herunterladen. Für die aktuell laufende WP konnten bis zur letzten Sitzung vor der parlamentarischen Sommerpause am 03.07.2020 zusätzlich 35 Treffer ermittelt werden.

Bei dieser zweiten Suche fiel allerdings mit Blick auf die anderen WP auf, dass es verschiedentlich erkennbare Unterschiede zwischen den Ergebnissen aus beiden Suchanfragen gab und zahlreiche Belege nur auf eine Weise gefunden werden konnten. So wurden in den WP 1‑18 insgesamt 77 Belege von beiden Tools gefunden, 23 nur mit CorpusExplorer und 51 nur über die Direktsuche auf der Homepage des Bundestags. Ein Grund für diese Diskrepanz scheint die nicht ideale Aufbereitung der Textdateien zu sein, sodass beispielsweise bei Zeilenumbrüchen das Keyword nicht zuverlässig erkannt werden kann.

Um die Ergebnisse (weiter) zu validieren und ggfs. noch weitere Belege zu finden, wurde daher zumindest für die WP 1–18 eine dritte Suchstrategie verfolgt. Mittels der tabellarischen Frequenzanalyse des CorpusExplorer wurden nun Wörter gesucht, die die Zeichenfolge <orw> enthalten. Auf diese Weise konnten die 51 zusätzlichen Belege aus der zweiten Suchanfrage auch durch das Korpus bestätigt werden. Darüber hinaus konnten aber noch 35 weitere Belege ermittelt werden, die über die Suchfunktion des Bundestags nicht auffindbar sind. Es ist daher nicht auszuschließen, dass trotz dreier unterschiedlicher Suchmethoden nicht alle Vorkommen des Namens Orwell in den Plenarprotokollen gefunden wurden; eine vollständig händische Durchsicht aller Plenarprotokolle ist allerdings aufgrund des Umfangs wohl kaum noch möglich, in jedem Fall nicht für diesen Beitrag. Letztlich konnten so 198 Belege in die Analyse eingehen.

4 Quantitative Befunde

Zunächst einige quantitative Befunde. Wie bereits erwähnt, ergeben sich aus der dreifachen Recherche insgesamt 198 Belege für die Verwendung von OrwellFootnote 9 aus 168 Plenarsitzungen. Einen Überblick nach Parteien und Wahlperioden gibt Tabelle 1.

Tab. 1 Verteilung der Orwell-Referenzen nach Wahlperioden und Parteiena

Bemerkenswert ist, dass es mit Ausnahme der vierten in jeder WP mindestens einen Beleg gibt. Allerdings schwankt die Zahl der Belege teilweise recht deutlich und reicht von einzelnen Nennungen (WP 1, 3, 5, 6) bis zu über 30 (WP 10, 19). Gerade letztere sind besonders interessant: Während die Häufung der Treffer in WP 10 dadurch erklärbar wird, dass diese das »Orwell-Jahr« 1984 umfasst,Footnote 10 ist es umso bemerkenswerter, dass die aktuelle WP 19, in der zum Zeitpunkt dieser Analyse noch ein gutes Jahr Legislatur wartet, schon jetzt die meisten Belege aufweist. Einen erkennbaren Einfluss darauf hat der Einzug der AfD ins Parlament, denn mehr als die Hälfte der Belege in WP 19 stammen von Abgeordneten dieser Partei.

Eine interessante Parallele zeigt sich dabei zwischen Grünen und AfD: Die jeweils ersten WP dieser Parteien weisen die höchsten Werte für Orwell-Referenzen auf: Die Grünen in WP 10 mit 16, die AfD in WP 19 mit Stand jetzt 19 Erwähnungen. Diese stellen die einzigen zweistelligen Ergebnisse aller Parteien und WP dar. Man könnte hier annehmen, dass es sich um eine Form der ersten, deutlichen Positionierung handelt, eine Art »Abrechnung« mit den etablierten Parteien, aber auch eine Form der Provokation. Dass dies bei der PDS/Linken nicht der Fall ist, ließe sich zum Teil aus der Thematik heraus erklären: Als Teil des Parteiensystems der DDR entstammt sie einem sozialistischen System. Orwells 1984 wird jedoch auch als Kritik an einem solchen System gelesen, weshalb eine Referenz unpassend wirken oder gegen die Partei gewendet werden könnte (vgl. (19)). Allerdings sei erwähnt, dass die Linke in ihrer ersten Wahlperiode nur deshalb im einstelligen Bereich bleibt, weil der Abgeordnete Gert Winkelmeier am 13.02.2006 aus der Fraktion austritt, sonst hätte die Linke in WP 16 immerhin 10 Nennungen verzeichnen können.

Mit Blick auf die Parteien zeigt Tab. 1, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien von Orwell Gebrauch machen, dies also nicht pauschal einem bestimmten Lager zugeordnet werden kann. Fusco (2008) analysiert den bemerkenswerten Befund, dass Orwell von Parteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums als Referenz herangezogen wird. Die breite Verteilung lässt sich auch auf die Sprecher übertragen. In 167 Fällen nennt ein Sprecher nur einmal Orwell, 21 Abgeordnete nennen Orwell zwei Mal. Mehrfachnennungen gibt es nur bei insgesamt zehn Abgeordneten, davon hat Dr. WernitzFootnote 11 (SPD) fünf Belege, Dr. Hirsch (FDP), Gert Winkelmeier (fraktionslos), Jürgen Braun (AfD) und Manfred Such (Grüne) jeweils vier, Frank-Walter Steinmeier (SPD), Hubertus Heil (SPD), Rudolf Scharping (SPD), Stephan Mayer (CDU/CSU) und Wolfgang Wieland (Grüne) jeweils drei. Das zeigt, dass die Verwendung insgesamt recht breit gestreut ist und nicht nur von individuellen oder parteispezifischen Argumentationsstrategien abhängt.

Rund 90 Prozent der Nennungen (179) fallen in Reden (elf davon in zu Protokoll gegebenen Reden), daneben gibt es Treffer in 13 Zwischenrufen, in jeweils zwei Antworten und Zusatzfragen in Fragestunden sowie in zwei Kurzinterventionen. Das ist bemerkenswert, weil die häufige Verwendung in (vorbereiteten) Reden ein klarer Hinweis auf die geplante und strategisch kalkulierte Verwendung von Orwell ist.Footnote 12

Mit Blick auf die Regierungskonstellationen lässt sich feststellen, dass mit 138 mehr als zwei Drittel der Nennungen von Orwell auf Oppositionsparteien zurückgehen. Dabei ist allerdings bemerkenswert, dass in WP 8 (1976-1980, Sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt) alle zehn Belege und in WP 14 (1998-2002, Rot-Grün unter Gerhard Schröder) sechs von elf Belegen von den Regierungsparteien stammen.

Sehr häufig gibt es in einer Plenardebatte nur eine Erwähnung von Orwell. In nur 20 Sitzungen gibt es mehrere, wobei die 85. Sitzung der 10. WP und die 143. Sitzung der 19. WP mit jeweils fünf Nennungen deutlich hervortreten. Drei Nennungen gibt es in vier Sitzung, in 14 Sitzungen jeweils zwei.

Generell lässt sich trotz aller Schwankungen eine steigende Tendenz der Nennungen von Orwell im Bundestag erkennen (vgl. Abb. 1). Diese setzt zwar schon vor WP 10, die das Orwell-Jahr 1984 umfasst, ein, tritt danach aber umso deutlicher hervor. Ein Grund für die Schwankungen könnten die jeweils beherrschenden Themen der Legislaturperioden sein. So zeigt sich etwa (wenig überraschend), dass beim Thema Datenschutz und damit verbundenen Debatten sehr häufig Referenzen auf Orwell gezogen werden. Hierzu wären allerdings genauere Analysen der Debattenthemen notwendig, die im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden können.

Abb. 1
figure 1

Orwell-Nennungen in den Wahlperioden

Zentrales Referenzwerk ist bei fast allen Orwell-Nennungen der Roman 1984 (Orwell 1987b, 2002). Nur in zehn Fällen wird auf Animal Farm (Orwell 1987a, 1982) Bezug genommen. Andere Texte, etwa Orwells Essays oder andere – durchaus politische – Schriften spielen jedoch keine Rolle. Damit verfestigt sich das Bild, dass Orwell zumeist in Verbindung mit Dystopien gebraucht wird. Zwei Mal wird auf Orwell als reale historische Person referiert, einmal wird Orwell als Urheber des Satzes »Die Zeit vergeht nicht schneller, wir laufen nur eiliger an ihr vorbei.« genannt. Letzteres kann allerdings nicht bestätigt werden, da keine entsprechende Textstelle bei Orwell gefunden wurde.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass es nur sehr wenige direkte Zitate (abgesehen von einzelnen Begriffen wie Newspeak/Neusprech, Big Brother, Gedankenpolizei, Wahrheitsministerium, Friedensministerium) aus Orwells Werken gibt. Solche lassen sich nur in 14 Fällen ausmachen. Hier sind in erster Linie die besonders prägnanten und typischen Sentenzen aus Animal Farm und 1984 zu nennen:

  • »Big Brother is watching you.« (Orwell 2002, S. 17–18)

  • »Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.« (Orwell 2002, S. 20)

  • »Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft.« (Orwell 2002, S. 55)

  • »Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher.« (Orwell 1982, S. 126)

  • »Freiheit ist das Recht, den anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.« (Orwell 1982, S. 148)

Teilweise lassen sich auch Abwandlungen im Wortlaut feststellen (»Big Jens [Spahn; M.A.] is watching you«, »Alle Parteien sind gleich, nur einige sind gleicher«). Nur in einer Debatte zitiert die Abgeordnete Annette Kramme (SPD, WP 16/163, 29.05.2008) eine längere Passage aus 1984 zur Gedankenpolizei (Orwell 2002, S. 18–19).

Dennoch machen solche wörtlichen Passagen nur einen kleinen Teil aller Orwell-Referenzen aus. Dies zeigt, dass der Namen Orwell wie eingangs skizziert in metonymischer Weise für das Werk des Autors und als Synonym für dystopische Zuschreibungen verwendet und zugleich die Kenntnis des Werkes im Parlament weitgehend vorausgesetzt wird.

5 (Namen‑)Grammatische Aspekte

An dieser Stelle sollen die Belegstellen aus grammatischer Sicht näher analysiert werden. Auffällig ist dabei, dass es nur wenige Eigennamenkomposita gibt: Neben den NN-Komposita Orwell-Jahr (7 tokens), Orwell-Station (2),Footnote 13Orwell-Sprech und Orwell-Film findet sich noch das freudianisch gebildete Über-Orwell sowie mit Orwell-ähnlich ein Kompositum aus Eigenname und Adjektiv. Eingeschoben sei hier noch der Hinweis auf formelhafte Wendungen, am prägnantesten sind dabei die Formeln Orwell lässt grüßen (8 Belege) und à la Orwell (4 Belege). Auf diese eher peripheren Fälle möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, sondern mich auf die häufigen Fälle der einfachen Eigennamenverwendung und der deonymischen Adjektivbildungen konzentrieren.

In 120 Belegen finden sich einfache Nennungen des Namens Orwell bzw. George Orwell oder entsprechender Flexionsformen.Footnote 14 Überwiegend wird dabei auf Orwell als Autor der Werke 1984 und Animal Farm, deutlich seltener als Urheber anderer Zitate und als historische Persönlichkeit referiert.

Als Derivate tauchen Orwellsch (in verschiedenen Schreibweisen und Flexionsformen, s.u.) in 64 Belegen und ein vereinzeltes orwellhaft auf. Derivate treten generell erst ab WP 8 auf. Aus orthographiegeschichtlicher Perspektive ist die Schreibung der Belege interessant:

(1) (a) Orwellsch 32 tokens 1979–1998Footnote 15

(1) (b) orwellsch 6 tokens 2000–2006

(1) (c) Orwell’sch 26 tokens seit 2007Footnote 16

Die festzustellende Varianz deckt sich mit den Änderungen orthographischer Regeln, allerdings mit leichtem Verzug: Die Kleinschreibung deonymischer Adjektive ist seit 1996 erlaubt (Nübling 2014, S. 102), die Schreibung mit Derivationsapostroph (oder Morphemgrenzenapostroph) wird allerdings ebenso seit 1996 geduldet (Kempf 2019, S. 120), tritt aber erst ab 2007 auf. Großschreibung bei Apostrophverwendung gilt nach der neuen Rechtschreibung als regelkonform (Eisenberg 2017, S. 91, 93).

Aus semantischer Sicht sind die Derivate interessant, da für das Wortbildungsmuster Eigenname+-(i)sch gilt, dass es »in erster Linie syntaktische Funktion [hat], die Eigennamen adjektivisch-attributiv verfügbar« (Fleischer/Barz 2012, S. 317) zu machen, der semantische Kern also erhalten bleibt und nicht durch zusätzliche derivative Bedeutungsanteile beeinflusst wird. In Orwell scheint also die notwendige Information bereits hinreichend genau (oder auch hinreichend vage) codiert zu sein.

Orwellsch tritt nur als attributives Adjektiv pränominal auf. Einen Überblick über die Bezugssubstantive gibt (2).

(2) 1984, Abhörstaat, Ausmaße (2), Begriffsdefinition, Begriffsverwirrung, Bilder, Diktion, Dimensionen, Drohungen, Fantasien (2), Gefühl, Großer Bruder, Informationspolitik, Jahr 1984, Konstruktionen, Logik, Lügenwort, Neusprech (7), Neusprechwerk, Newspeach [sic!], Prägung, Realitäten, Schreckensvision (2), Sinne (2), Sprachschatz, Sprachschöpfung, Sprachschule, Sprachumdrehung, Sprachverdrehung (6), Sprachverwirrung (2), Sprech, Überwachungsfantasien, Überwachungsstaat (5), Vision (7), Wahrheitsfilter, Zustände, Zwiesprachlichkeit

Diese Übersicht offenbart, dass Orwellsch als Adjektiv in zweierlei Hinsicht verwendet wird: Zum einen werden bestimmte Begriffe aus dem Orwell-Universum durch den attributiven Zusatz im Sinne eines Zugehörigkeitsadjektivs noch einmal klar in dieser Sphäre verortet (Orwellscher Neusprech, Orwellscher Großer Bruder). Zum anderen wird Orwellsch aber auch als charakterisierendes Adjektiv verwendet. Dies tritt auf bei Substantiven, die einen klaren Bezug zum dystopischen Werk Orwells aufweisen (Schreckensvision, Überwachungsfantasien), wird aber besonders deutlich bei weitgehend neutralen Begriffen (Bilder, Visionen, Prägung), die dadurch eine besondere dystopische Färbung erhalten.

6 Pragmatisch-kommunikative Aspekte

In diesem Abschnitt soll es in erster Linie um die Referenzen auf Orwells 1984 gehen. Diese finden sich mit großem Abstand am häufigsten im Korpus und stellen 185 der 198 Belege.Footnote 17 Die nachfolgende Analyse fokussiert pragmatische und kommunikative Aspekte und verfährt in drei Schritten: Zunächst werden auf der Basis des Konzepts der Kollektivsymbolik die Voraussetzungen für eine strategische Verwendung des Namens Orwell in Plenardebatten erörtert. Ausgehend davon werden zentrale kommunikative Strategien aufgezeigt, die Warnung, der Vorwurf und die (präventive) Zurückweisung. Abschließend folgt ein kurzer Blick auf zwei zentrale Themenbereiche, in denen Orwell als Referenz fungiert, Datenschutz und Überwachung sowie Sprachgebrauch.

6.1 Orwell als kultureller Gemeinbesitz

Kollektivsymbole gehören wie oben bereits erläutert »zum kommunikativen und kulturellen Gemeinbesitz einer Gesellschaft« (Folien zur Kollektivsymbolik o. J.) und stellen damit einen wichtigen Orientierungsrahmen für die Mitglieder einer solchen dar. Ohne diese Eigenschaft als kollektiver Besitz würde die Referenz auf Orwell kaum funktionieren: Nur weil der Name und das dahinterstehende Werk (wenigstens rudimentär) bekannt sind, lässt er sich mit so großer Kontinuität effektiv im Diskurs verwenden. Namen (und deren Ableitungen) im politischen Diskurs sind mitunter kurzlebig und nur im konkreten Zusammenhang zu verstehen:

Im Fall der Deonomastika im öffentlichen Sprachgebrauch handelt es sich oft um das aktuelle Kurz-Zeit- bzw. das Tages(zeitungs)-Wissen. Ein ›alltagskulturelles‹ Wissen, ein Wissen über aktuelle politische oder kulturelle Sachverhaltszusammenhänge ist also ›gefragt‹. Für ältere Wortbildungen dieser Art wie auch schon für die Rezeption nicht lang zurückliegender ist aber vor allem historisches Wissen zentral. (Wengeler 2010, S. 87)

Als Beispiele nennt Wengeler an gleicher Stelle Deonomastika wie fringsen, Genscherismus und unterwehnert, deren Decodierbarkeit durch den Verlust konkreter Zusammenhänge nicht mehr ohne weiteres gegeben ist. Im Gegensatz dazu ist Orwell seit der ersten WP in den Plenardebatten vertreten, und das wie oben gesehen mit steigender Häufigkeit insbesondere seit den 1980er Jahren.Footnote 18 Das zeigt, wie tief Orwell und sein Werk im kulturellen Gedächtnis verankert sind. Die Werkkenntnis wird bei den meisten Belegen implizit vorausgesetzt: Die Sprecher*innen gehen davon aus bzw. setzen voraus, dass (zumindest hinreichend) klar ist, was mit Orwellschen Visionen oder dem Orwellschen Überwachungsstaat gemeint ist.

Teilweise wird die Kenntnis des Orwellschen Werks aber auch explizit zum Thema. Es zeigen sich in diesem Zusammenhang beispielsweise Belege, die die Lektüre des Werks einfordern (und damit (in-)direkt ein Wissensdefizit monieren) (3) oder die Kenntnis etwa als rhetorische Frage ansprechen (4):

(3) »Herr Innenminister Schäuble, als Abgeordnete aus Heidelberg, die mit den Verhältnissen in Baden-Württemberg recht gut vertraut ist, frage ich Sie, ob Sie das Buch von George Orwell ›1984‹ gelesen haben. Wenn nicht, dann lesen Sie es! Wenn Sie es schon gelesen haben, dann lesen Sie es noch einmal!« (Kurzintervention von Dr. Angelika Köster (Grüne), WP 14/28, 19.03.1999, während der Rede von Dr. Thomas Schäuble (CDU/CSU))

(4) [Nach dem Zitat einer längeren Passage zur Gedankenpolizei aus 1984 (Orwell 2002, S. 18–19)] »Ich glaube, es ist nicht schwierig zu erraten, woraus ich zitiert habe. Es ist natürlich das Buch ›1984‹ von George Orwell.« (Annette Kramme (SPD), WP 16/163, 29.05.2008)

Orwell und sein Werk (zumindest 1984) werden damit als relevante Elemente des kulturellen Gedächtnisses und als kommunikative Ressourcen im Diskurs inszeniert. Eine gewisse Vertrautheit mit dem Werk wird also von den Sprechern prinzipiell vorausgesetzt (wobei hier auch eine eher vage Kenntnis durchaus ausreichend ist; die mitcodierten konnotativen Elemente sind hier besonders entscheidend).Footnote 19

6.2 Kommunikative Strategien mit Orwell

Das symbolische Kapital, das in der Verwendung des Namens Orwell steckt, wird in den Plenardebatten auf verschiedene Weise genutzt. Der hochgradig strategische Gebrauch von Orwell wurde bereits durch den quantitativen Befund nahegelegt, der zeigt, dass rund 90 Prozent der Nennungen in Reden (und damit weitgehend geplant, vgl. aber Fn. 12) auftreten. Mit der Verwendung des Namens Orwell wird dabei eine »diskursive Position« zum Ausdruck gebracht, also »die (positiv oder negativ) wertende Verwendung eines Kollektivsymbols bzw. genauer einer Serie solcher Symbole.« (Link 1988b, S. 290, Herv. im Original). Grob geclustert lassen sich hier drei zentrale kommunikative Strategien erkennen: Warnung, Vorwurf und (präventive) Zurückweisung.Footnote 20

6.2.1 Vorwurf und Warnung

Wenig überraschend wird Orwell sehr häufig in Verbindung mit kritischen Handlungen benutzt. Die Dystopie 1984 wird dabei als Negativfolie, als abschreckendes Beispiel verwendet. (Anstehende) politische Entscheidungen, Gesetzesvorschläge oder Debattenbeiträge werden hier in Relation zur literarischen Dystopie gesetzt, einerseits verbunden mit Vorwurfshandlungen (5), andererseits als Warnung (6). Dabei fungiert Orwell als »absolutes Negativsymbol« (Link 1988a, S. 49), das kaum je positiv verwendbar ist.Footnote 21

(5) »Dem Fass den Boden aus schlägt allerdings der zweite Teil Ihres Gesetzentwurfs, in dem Sie offenbar Orwell’schen Fantasien völlig nachgeben. Nach der ersten Lesung dachten wir – lassen Sie mich dies deutlich sagen –, es könne nicht schlimmer kommen: der fast voraussetzungslose Abruf der Pass- und Personalausweisbilder einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers im automatisierten Verfahren durch die Polizeien und nun auch die bundesdeutschen Nachrichtendienste.« (Dr. Konstantin von Notz (Grüne), WP 18/234, 18.05.2017)

(6) »Die beängstigende Brisanz, die sich hinter dem Begriff ›Telematik‹ verbirgt, die Gefahr, daß wir uns außerhalb der parlamentarischen Kontrolle und Einflußnahme den ›großen Bruder‹ nach Orwells Vision ›1984‹ sozusagen durch die Hintertür über Projekte wie z. B. das DVDIS ins Haus holen, das ist es, verehrte Kolleginnen und Kollegen, worauf wir Obacht geben müssen, dem wir größte Aufmerksamkeit widmen müssen.« (Dr.-Ing. Laermann (FDP), WP 8/132, 25.01.1979)

Der Bezug zu Orwell kann dabei aus drei verschiedenen Perspektiven erfolgen:


[a] Auf dem Weg zu Orwell

(7) »Datenschutz, insbesondere im medizinischen Bereich, ist kein modischer Schnickschnack, sondern, wie auch anläßlich des 83. Deutschen Ärztetages in Berlin deutlich geworden ist, eine unabweisbare Notwendigkeit, wenn wir verhindern wollen, daß Orwellsche Visionen schon vor dem prognostizierten Zeitpunkt 1984 Realität werden.« (Gattermann (FDP), WP 8/220, 12.06.1980)

[b] Wie bei Orwell

(8) »Ohne daß die deutschen Autofahrer es bisher bemerkt haben, gibt es einen neuen Verkehr: Den geheimen Verkehr von personenbezogenen Daten zwischen dem Kraftfahrt-Bundesamt sowie der Polizei und anderen datenwütigen Behörden. Orwellsche Visionen werden dank Auto und Computer alltägliche Wirklichkeit. Der gläserne Autofahrer auf Deutschlands Straßen.« (Mann (Grüne), WP 10/201, 27.02.1986)

[c] Schlimmer als bei Orwell

(9) »Das Problem ist, dass der Mensch eben nicht im Mittelpunkt stehen kann, solange diese Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts fünf Monopolisten aus dem Silicon Valley überlassen wird, die längst einen globalen Überwachungskapitalismus aufgebaut haben, bei dem sogar George Orwells schlimmste Befürchtungen in den Schatten gestellt werden.« (Sahra Wagenknecht (Linke), WP 19/64, 21.11.2018)

Interessant wäre es, die im realen Diskurs mit Orwell in Verbindung gebrachten Themen mit dem literarischen Werk in Beziehung zu setzen: Inwiefern ist der Bezug zu Orwell jeweils »passend«, inwiefern lassen sich fiktionaler und realer Diskurs in Deckung bringen? Dies hätte allerdings eine tiefere Analyse der Verwendungskontexte und des Romans zur Voraussetzung, die in diesem Beitrag nicht geleistet werden kann. An dieser Stelle nur so viel: Stellvertretend für viele Literaturwissenschaftler*innen seit der rezeptionsästhetischen Wende in den 1970er Jahren hat Terry Eagleton (2012, S. 13) festgestellt, dass »alle literarischen Werke, sei es auch unbewusst, von den Gesellschaften, die sie lesen, ›neu geschrieben‹« werden. Die oben skizzierten verschiedenen Bezugsrichtungen zeigen schon eine gewisse Tendenz, dass die Inanspruchnahme von Orwell durchaus unterschiedlich ausfällt. Sich wandelnde gesellschaftliche Umstände können beispielsweise dazu führen, dass sich hier Verschiebungen ergeben. Diese Möglichkeit der »angepassten« Interpretation lässt sich aber auch als Argument für die Kontinuität der Orwell-Referenzen ansehen (auch wenn es bei Orwell erst rund 70 Jahre sind):

Die Tatsache, dass wir literarische Werke immer bis zu einem gewissen Grad im Lichte unserer eigenen Interessen interpretieren – tatsächlich sind wir in einem Sinn von »in unserem eigenen Interesse« gar nicht in der Lage, etwas anderes zu tun – könnte einer der Gründe sein, weshalb bestimmte literarische Werke ihren Wert über Jahrhunderte hinweg behalten haben. (Eagleton 2012, S. 12)

6.2.2 (Präventive) Zurückweisung

Durch die Referenz auf ein fiktionales Werk (auch über den metonymischen »Umweg« des Autornamens) innerhalb des politischen Diskurses wächst die Gefahr, dass ein Beitrag als übertrieben aufgefasst wird: »[…] like the invocation of the horrors of the crimes of Nazism, drawing an analogy between a particular form of fictional world making and political reality risks being read as mere hyperbole« (Stock 2019, S. 150). Eine metasprachliche Thematisierung des Orwell-Vorwurfs tritt erst ab der 9. WP und in der Folge nur vereinzelt auf. Gehäuft treten solche Beiträge allerdings in der 16. und 19. WP auf, wobei sich hier ein Muster der (präventiven) Zurückweisung etabliert:

(10) »Zur Videoüberwachung. Hier ist ja mit Orwell argumentiert worden. Das sind abgegriffene, dümmliche Argumente; die brauchen wir doch hier nicht vorzubringen. Keiner von uns will den orwellschen Staat haben.« (Norbert Geis (CDU/CSU), WP 14/182, 05.07.2001)

(11) »Das Bild eines Überwachungsstaates oder eines Staates à la George Orwell zu malen, in dem jeder überwacht wird, in dem jeder ausgespäht wird, ist vollkommen überzogen und unangebracht; es wird der tatsächlichen Bedrohungssituation auch nicht gerecht.« (Stephan Mayer (CDU/CSU), WP 16/170, 20.06.2008)

(12) »Hier sind zum Schluss ganz heftige Kanonen aufgefahren worden. ›Instrumente der Diktatur‹, ›Überwachungsstaat‹, ›Orwell‹, ›Verhältnisse wie in China‹, wo die Leute wirklich den ganzen Tag abgescannt werden, wo Benimmpunkte vergeben werden, wenn man über eine rote Ampel läuft – all das ist Schwachsinn und hat mit dem, was wir heute diskutieren, rein gar nichts zu tun, um das mal deutlich zu sagen.« (Dr. Matthias Middelberg (CDU/CSU), WP 19/143, 30.01.2020)Footnote 22

Insgesamt erweist sich das Muster (präventive) Zurückweisung als zentraler Typus der Fraktion CDU/CSU, die nur in den frühen Wahlperioden Orwell auch für Vorwurfshandlungen verwendet. Vereinzelt tauchen solche Zurückweisungen aber auch bei anderen Parteien auf.

Ein besonderer Fall liegt bei der präventiven Abwehr eines Orwell-Vorwurfs vor:

(13) »Es ist unbestreitbar, dass wir da eine Aufstockung brauchen, um die Bundeswehr in einer sinnvollen und – das ist keine orwellsche Sprachverdrehung – friedensfördernden Weise einzusetzen.« (Winfried Nachtwei (Grüne), WP 14/107, 07.06.2000)

6.3 Thematische Bezüge

Grob gerastert lassen sich insbesondere zwei zentrale Themenfelder ausmachen: Datenschutz und Überwachung sowie Sprachgebrauch. Beide Bereiche bilden auch im Roman elementare Themen: Während Überwachung klar mit 1984 verbunden ist, ist es im Bereich der Sprache primär das Konzept des Newspeak/Neusprech, das in den Belegen relevant wird. Mit 103 Belegen entfällt leicht mehr als die Hälfte der Belege auf solche aus dem Themenkomplex Datenschutz und Überwachung, 62 betreffen den Themenbereich Sprachgebrauch.Footnote 23

6.3.1 Datenschutz und Überwachung

»When the adjective ›Orwellian‹ is used, the most common meaning is that of an all-seeing state that has totally effaced personal privacy.« (Gleason/Nussbaum 2005, S. 7). Diese prototypische Lesart lässt sich auch für die Verwendung des deonymischen Adjektivs Orwellsch in den Plenardebatten festhalten.

(14) »Video-Überwachung öffentlicher Straßen und Plätze, ereignis- und verdachtsunabhängige Kontrollen, die wahllose Verhängung von Platzverweisen bei Demonstrationen, Unterbindungsgewahrsam, Schnellprozesse usw. Mehr und mehr hält eine orwellsche Logik in die innenpolitische Diskussion Einzug, nach der nicht mehr der Staat begründen muss, warum er welche Eingriffe in die Bürgerrechte vornimmt, sondern der Bürger, warum er das nicht will; das ist natürlich immer von dem unterschwelligen Vorwurf begleitet, er habe wohl etwas zu verbergen.« (Carsten Hübner (PDS), WP14/127, 26.10.2000)

(15) »Wer garantiert, dass keine Weitergabe an Dritte erfolgt? Skandale in dieser Art gab es in der Vergangenheit doch zu Genüge. Nicht zuletzt deshalb muss jedwede Speicherung von Gesundheitsdaten für alle Versicherten freiwillig bleiben. Es darf keine Gesundheitsdatenspeicherung durch die Hintertür geben, wie sie in den letzten Spahn’schen Gesetzen leider üblich war. Ich erinnere hierbei an das Implantationsregister (Karin Maag [CDU/CSU]: Das heißt ›Implantatregister‹!) oder das Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung. Gesundheitsminister Spahn agiert getreu George Orwells ›1984‹: Big Jens is watching you.« (Uwe Witt (AfD), WP 19/124, 07.11.2019)

Die zunehmende Aktualität Orwells im politischen Diskurs lässt sich unter anderem mit dem technischen Fortschritt korrelieren, wodurch die Möglichkeiten der technischen Überwachung ausgebaut und Fragen des Datenschutzes relevanter werden.

(16) »Experten befürchten, daß die unkontrollierte Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung, angewandt auf personenbezogene Daten, zwangsläufig zu einer totalen Datenüberwachung durch den Staat und die private Wirtschaft führen muß – Aussichten, die die Vision George Orwells von 1984 erreichen, wenn nicht sogar übertreffen würden.« (Gerster (CDU/CSU), WP 7/67, 29.11.1973)

(17) »Die räumliche Reichweite der Identifizierung ist unbegrenzt. Über die fortschreitende Vernetzung der Datenbanken trägt gerade Deutschland entscheidend zum Aufbau einer weltweiten Struktur allgegenwärtiger Identifizierung bei. George Orwell hatte wohl einfach nicht genug Phantasie, um sich diese schöne neue Ordnungswelt so vorzustellen.« (Gisela Piltz (FDP), WP 16/79, 01.02.2007)

6.3.2 Sprache

Die Sprache spielt in 1984 eine besondere Rolle (vgl. etwa Voigts 2015, S. 51-52). Das in Ozeanien gesprochene Newspeak ist ein wichtiges Instrument der Partei zur Kontrolle und Manipulation der Menschen.Footnote 24 Daher verwundert es nicht, dass sich viele der Orwell-Referenzen explizit auf den Sprachgebrauch beziehen. Orwell selbst hat in seinem Essay Politics and the English Language von 1946 schon auf die Probleme einer unklaren Sprache in der Politik hingewiesen (Orwell 1976).

Durch das Konzept des Newspeak ist eine thematische Entkoppelung vom schriftstellerischen Werk möglich: Verhüllende, verdrehende Sprache kann jederzeit und in jedem Kontext angeprangert werden. Dabei zeigt sich, dass bei sprachgebrauchsbezogenen Vorwurfshandlungen die Themen Datenschutz und Überwachung keine Rolle spielen, hier wird allein das Orwellsche Konzept des Newspeak relevant gesetzt.

Insgesamt lassen sich 62 Belege finden, in denen es um den Sprachgebrauch geht. Sie verteilen sich auf zwölf WP, wobei WP 10 (9 Belege), WP 17 (14) und WP 19 (10) hervorstechen. Kommunikationsstrategisch handelt es sich hier beinahe ausschließlich um Vorwurfshandlungen, die einen unangemessenen, verhüllenden, verfälschenden Sprachgebrauch anprangern:

(18) »Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, FDP, SPD und besonders Herr Dregger, Sie reden vom und fordern das umweltfreundliche Auto. Es handelt sich hierbei um einen widersprüchlichen, ja, schizophrenen Begriff, der der Orwellschen Sprachverdrehung entstammen könnte.« (Drabiniok (Grüne), WP 10/82, 13.09.1984)

(19) »Mich erinnert das tatsächlich an das Neusprech aus Orwells Roman 1984. (Zuruf von der CDU/CSU: Da kennen Sie sich ja aus!) Zivil und militärisch sind nun einmal Gegensätze. Wenn dem widersprochen wird, zeigt das doch nur, welche Umwertung der Werte hier vorgenommen werden soll.« (Kathrin Vogler (Linke), WP 18/218, 16.02.2017)

Auch Formen der (präventiven) Zurückweisung (vgl. (13)) und der metasprachlichen Thematisierung (20) lassen sich hier erkennen:

(20) »›New speak‹ ist mittlerweile eine gängige Floskel. Wenn Sie einem Gesetz einen Titel geben, kann man sicher sein, Sie wollen das Gegenteil dessen erreichen, was der Titel signalisiert.« (Rudolf Scharping (SPD), WP 12/176, 23.09.1993)

7 Fazit und Ausblick

Der Name Orwell dient im politischen Diskurs als Symbol für die dystopischen Visionen, die der Autor insbesondere in seinem Roman 1984 verarbeitet hat. Dabei weist der Name durch metonymische Übertragungen Züge eines Kollektivsymbols auf; erst durch die (unterstellte) Kenntnis des Werks lässt sich der strategische Gebrauch im Diskurs plausibilisieren. In nahezu allen Wahlperioden des Bundestags lassen sich Referenzen auf Autor und Werk nachweisen, quer über das politische Spektrum. Dabei kristallisieren sich kommunikative Strategien der Warnung, des Vorwurfs und der Zurückweisung heraus, in denen eine Referenz auf Orwell erfolgt. Thematisch umkreisen diese Referenzen zum einen die Themen Datenschutz und Überwachung, zum anderen den Sprachgebrauch und knüpfen damit an zentrale Themen des Romans an.

Dieser erste Überblick über die Verwendung von Orwell in Plenarprotokollen versteht sich primär als eine grobe Erschließung des Feldes, hinterlässt daher auch viele lose Fäden und bietet Stoff für tiefergehende Analysen. So ist etwa Jürgen Link (1988b, S. 290) beizupflichten, »daß kein Symbol und keine Metapher ausreichend analysiert wird, wenn sie bloß isoliert in ihrem jeweiligen Kontext, sei es auch der Kontext aller Werke eines Autors, analysiert wird.« Potentielle weiterführende Fragestellungen neben einer Betrachtung im System der Kollektivsymbolik wären etwa: Geht es in den Referenzen um den »echten« Orwell, lassen sich also die Kontexte, in denen Orwell als Referenz angegeben wird, mit dem authentischen Orwell und seinem Werk abgleichen, oder wird vielmehr ein konstruierter »Orwell«, der sozusagen als flexibles Konstrukt in jeden Diskurs einpassbar ist, verwendet? Inwiefern sind also potentielle Vergleiche zwischen den von Orwell ersonnenen und realen Institutionen passend?Footnote 25 Auch das zum Ende von Abschnitt 5 nur knapp angerissene Verhältnis des prinzipiell identifizierenden Eigennamens mit seiner charakterisierenden Verwendung verdiente eine genauere Betrachtung.

Weiterführend wäre es etwa denkbar, neben dem Namen auch die Verwendung anderer Begriffe aus dem Orwell-Universum in neueren Diskursen abzufragen, etwa solche wie Neusprech/Newspeak,Footnote 26Big Brother, Doublethink/Doppeldenk etc. Viele dieser Begriffe sind Teil der Alltagssprache geworden (Voigts 2015, S. 47), und ihre Rolle in der Alltagssprache zu beschreiben stellt ein interessantes Feld für die Zusammenarbeit von Sprach- und Literaturwissenschaft dar. Bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft auch gemeinsam bestellt wird.

8 Nachwort

In seiner Einschätzung des gegenwärtigen Verhältnisses von Sprach- und Literaturwissenschaft attestiert Knobloch (2018, S. 127): »Ein germanistischer Sprachwissenschaftler versteht sich als Sprachwissenschaftler und tauscht sich weit eher mit romanistischen, anglistischen, allgemeinen Linguisten aus als mit den Kollegen aus der Literatur. Das gilt umgekehrt ebenso.« Dieser Beitrag hat nun versucht, gleich zwei Grenzen – zwischen Disziplinen und Einzelphilologien – zu überschreiten, indem ein germanistischer Linguist (noch dazu ein Grammatiker) mit Literatursoziologie und anglistischer Literaturwissenschaft kollaboriert. Die Anreicherung der mit korpuslinguistischen Methoden ermittelten Daten durch literatur- und kulturwissenschaftliche bzw. soziologische Erkenntnisse kann die Interpretation der Daten gut stützen. Auch die Relevanz fiktionaler Texte (bzw. ihrer archetypischen Symbolik) in (politischen) Diskursen, die vonseiten der Literaturtheorie beschrieben wird, kann hier als hilfreiches Moment eingebracht werden.

Man mag den Verdacht hegen, dass im vorliegenden Beitrag die Literaturwissenschaft so nur als Hilfswissenschaft anzusehen ist; ein Einwand, der nicht leicht entkräftet werden kann. Letztlich bleibt, dass die Wahlverwandtschaften von Sprach- und Literaturwissenschaften im wahrsten Sinne des Wortes eine Wahl darstellen: Man kann die jeweils andere Seite rezipieren und versuchen, Ansätze beider Disziplinen in bestimmten Themenfeldern zusammenzubringen. Eine (erzwungene) Einheit des Faches ist das nicht, aber die Möglichkeiten »reziproker Nutzbarkeiten« (Linke/Müller Nielaba 2013) konnte dieser Beitrag illustrieren. Stock (2019, S. 5) bringt es schließlich gut auf den Punkt:

Each discipline has its own separate demands on conceptual apparatus and even writing style. Dialogue between disciplines of the type attempted here can produce new and surprising results, but confronting and negotiating the challenges of moving between disciplinary perspectives can be fraught with difficulty at times too.