1 Populismus – Zur Problematik des Begriffes

Was immer Populismus heißt – ob in Verbindung mit sozialpolitischen, radikalen »grass roots«-Bewegungen (etwa in Verbindung mit der Präsidentschaft Andrew Jacksons in den USA, 1829–1837, oder mit dem argentinischen Peronismus); ob in Verbindung mit den (neo-)nationalistischen Bewegungen in Europa unmittelbar vor und nach der Wende zum dritten Jahrtausend – Populismus bezieht sich auf das ›Volk‹. Die Quelle des Populismus ist ein Verständnis von Gesellschaft, nach dem Ausdifferenzierungen im Inneren ein geringer, Frontstellungen nach außen hingegen ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird: Das ›Volk‹ wird im Populismus tendenziell als eine homogene Einheit gesehen; und diese ist bedroht von außen, durch andere Völker, durch globale Verschwörungen. Und die Differenzen im Inneren werden als Kabalen in Richtung ›Verrat am Volk‹ tendenziell kriminalisiert.

Der im historischen und aktuellen Diskurs mit dem Begriff der Nation sich überlappende Begriff des Volkes kann, im Verständnis sozialhistorischer und sozialwissenschaftlicher Analysen, nicht unabhängig von der Realität historischen Wandels außer Streit gestellt und als quasi naturgesetzlich vorgegebener Begriff akzeptiert werden. Das, was ein ›Volk‹ ist, das ist – wie die ›Nation‹ – ein Produkt der Wahrnehmung; Ergebnis sich wandelnder Sichtweisen, die – bestimmt von sich wandelnden Interessen – ständigen Veränderungen unterworfen sind (vgl. Anderson 2006). Wie Nation ist auch Volk eine zentrale Begrifflichkeit der Moderne (vgl. Gellner 1991), formuliert im Zusammenhang bestimmter, historisch entwickelter Konflikte – etwa dem Gegensatz zwischen Monarchie und Demokratie, zwischen Alleinherrschaft und Allgemeinherrschaft. Und wie ›Nation‹ ist auch ›Volk‹ immer im Kontext sozialen Wandels zu sehen – auch eines ökonomischen Wandels, auch und gerade des Wandels, der gegenwärtig mit dem Begriff der Globalisierung umschrieben wird. ›Nation‹ und ›Volk‹ sind immer politisch konnotiert.

Wie die Berufung auf die ›Nation‹ steht auch die Berufung auf das ›Volk‹ für einen Anspruch, dem die Wirklichkeit immer nur mit Einschränkungen entspricht. Das ›Volk‹ ist nie fertig, es ist immer einer Veränderungsdynamik unterworfen. Wer ein Verständnis vom ›Volk‹ als einer fertigen Gegebenheit vertritt, wird der komplexen Realität nicht gerecht. Und dieser Abstand zwischen einem als fertig postulierten ›Volk‹ und der beobachtbaren Wirklichkeit verursacht Spannungen.

In diesen Spannungen liegt die Ursache für den Populismus. Dessen generelles Programm ist es, eine als unzureichend wahrgenommene politische Wirklichkeit dem Anspruch anzunähern, der einem wörtlichen Verständnis von ›Demokratie‹ entspricht: der Herrschaft des ›Volkes‹; ›Volk‹ – verstanden als Identitätsstiftung, die Vorrang vor anderen ebenfalls identitätsstiftenden Faktoren hat. ›Volk‹ – nach innen hin vorhandene Konflikte zudeckend, nach außen hin Konflikte betonend.

Doch es ist nicht nur die politische Wirklichkeit, die nicht so ist, dass sie populistischen Ansprüchen entspräche. Auch der postulierte Souverän, eben ›das Volk‹, ist nicht so wie gedacht: Was dieses ›Volk‹ ist, entspricht nie ganz dem, was dieses ›Volk‹ sein soll. Es ist vielschichtig, voll von widersprüchlichen Interessen, und vor allem wandelt sich dieses ›Volk‹ permanent. Das ›Volk‹ als Bezugspunkt der bürgerlichen Revolutionen vor und nach 1800 ist nirgendwo dasselbe, wie es im 21. Jahrhundert existiert.

Der Begriff Populismus umfasst viele verschiedene Inhalte in verschiedenen politischen Zusammenhängen. Von einer ›rousseauistischen‹ Begriffsbildung, die das einfache Leben auf dem Lande der dekadenten urbanen Gesellschaft gegenüberstellt, über die Verklärung der eidgenössischen Landsgemeinden und die russisch-völkische Bewegung der Narodniki fasst der Begriff verschiedene Erscheinungsformen zusammen, die freilich – jedenfalls in ihren Anfängen im 19. Jahrhundert – eines gemeinsam hatten: Die Frontstellung gegen die herrschende, noch von aristokratischen Eliten geprägte Ordnung und die Mythologisierung eines als naturgegeben fingierten Volkes. Im 20. Jahrhundert wurde auch in Nord- und Südamerika Populismus als Begriff verwendet, um die Protest- und Oppositionsbewegungen zu bezeichnen, die sich gegen eine vor allem von den USA repräsentierte Wirtschaftsordnung wandten (vgl. Breitling 1987).

Dieser Wandel der Begriffsinhalte war freilich unabhängig von einer gleichbleibenden Funktionalität des Begriffes Volk: Dieses wurde als geschlossen, natürlich vorgegeben, aber von der Machtlogik ökonomischen Fortschritts bedroht verstanden; jeweils immer in klarer Abgrenzung eines ›Wir‹ von den ›Anderen‹.

Den Wandel der Inhalte dessen, was ›Volk‹ ist oder sein soll, will der Populismus des 21. Jahrhunderts nicht wahrnehmen, will die gesamte Komplexität als unvermeidliche Folge eines historisierenden Zugangs ausklammern. Dass das US-amerikanische oder das russische oder auch das österreichische Volk um 1900 nicht das war, das es im 21. Jahrhundert ist – diese Einsicht stört den Populismus.

Vor allem will der Populismus der Gegenwart einen zukünftigen Wandel nach Möglichkeit unterbinden – in der Denunziation von Zuwanderung als nationale (völkische) Identität bedrohende ›Umvolkung‹. Populismus ist auch der Versuch, mit Berufung auf ein als konstant, als fertig fingiertes ›Volk‹ der Realität dieses eben nicht konstanten, nicht fertigen Volkes zu entfliehen. Populismus ist Flucht vor der Wirklichkeit. Indem sich der Populismus der real vorhandenen Wandelbarkeit von Volk und Nation entzieht, entzieht er sich der Wirklichkeit. Die statische Sicht des Populismus verstellt die Sicht auf das, was für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung schon lange eine Selbstverständlichkeit ist: Kein ›Volk‹ war gestern identisch mit einem ›Volk‹ von heute. Und jedes ›Volk‹ von morgen wird wiederum ein anderes, ein neues sein.

2 Volk ist nicht Volk

Am 19. November 1863 verkündete Abraham Lincoln in Gettysburg, Pennsylvania, das Programm, an dem sich – seither – unvermeidlich jeder Diskurs über Demokratie reibt; Worte, die auch im ›Lincoln Memorial‹ in Washington, D.C., in Marmor gemeißelt sind:

Government of the people, by the people, for the people (zit. nach White 2009, S. 607).

Lincoln hatte mit dieser Definition fortgeschrieben und konkretisiert, was am 4. Juli 1776 in Philadelphia als Grundnorm der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung formuliert und 1787 in der US-Verfassung weitergeführt worden war. Er hat einen Anspruch festgeschrieben, der auch eine elitäre Selbsterhöhung war, ein Anspruch einiger weniger Personen, die behaupteten, für ›das Volk‹ zu sprechen, ja, ›das Volk‹ zu sein: »We, the People of the United States«.

Diejenigen, die 1776 sich in dieser Phase der (ersten) amerikanischen Revolution anmaßten, als ›Volk‹ zu agieren, waren Angehörige einer sehr kleinen Minderheit der Menschen, die innerhalb der Grenzen der 13 britischen Kolonien Nordamerikas lebten. Die große Mehrheit wurde dem Volk erst gar nicht zugerechnet: Alle Frauen, alle Menschen indigener (nicht europäischer) Herkunft waren explizit ausgeschlossen; und implizit waren auch ›weiße‹ Männer, deren Steuerleistung (und damit ihr Vermögen) in den einzelnen zu Staaten gewordenen Kolonien als zu gering eingeschätzt waren, dem ›Volk‹ nicht zugerechnet: Sie besaßen ebenso wenig das Wahlrecht (und damit die Möglichkeit, den Willen des ›Volkes‹ zu artikulieren) wie alle Frauen, alle ›Indianer‹, alle ›Schwarzen‹.

Die Gründer der USA besaßen die Definitionsmacht über das ›Volk‹. Sie erfanden, sie konstruierten dieses Volk, diese Nation (vgl. Vidal 2003). Diese Gründer waren durch einige sie verbindende Merkmale bestimmt – sie waren ›WASPS‹, ›White Anglo-Saxon Protestants‹; und ein Großteil der Gründer – nicht nur, aber vor allem die aus dem Süden der neu gegründeten Nation – waren auch Eigentümer von Sklaven.

Dieses ›Volk‹, das aus einer kleinen Minderheit Privilegierter bestand, sah sich von Anfang an einer evolutionären, potenziell revolutionären Dynamik ausgesetzt, einer Dynamik, die den engen, exklusiven Begriff des 1776 und 1787 konstruierten Volkes durch einen weiteren, inklusiveren Begriff ersetzen wollten. Das neu erfundene ›Volk‹ war nicht stabil, sollte und konnte nicht stabil bleiben. Die Geschichte der USA und die Geschichte der Welt ist von einer permanenten Auseinandersetzung um die Ausweitung, um die Neudefinition des ›Volkes‹ bestimmt.

In den USA waren es zunächst die Ärmeren unter den ›weißen‹ Männern, die um politische Rechte kämpften – zunächst erfolglos, wie die Rebellion Daniel Shays in Massachusetts (vgl. Vidal 2003, S. 6–8, 144), und dann erfolgreich, in evolutionären Schritten, die mit der Präsidentschaft Andrew Jacksons verbunden waren. Die ›zweite amerikanische Revolution‹ – Hintergrund, Ablauf und Ergebnis des Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 – brachte einen gewaltsamen, riesigen Schritt in Richtung auf eine radikal inklusive Definition dessen, was ›Volk‹ im Amerika der USA bedeutete (vgl. Foner 1988; McPherson 1991).

Diese zweite Revolution, das blutigste Ereignis in der Geschichte der USA, brachte nicht nur das Ende der Sklaverei. Es bedeutete auch – nicht in einem Schritt, sondern in einer längeren Abfolge von politisch umkämpften Entscheidungen – das Ende des formalen, des rechtlichen Ausschlusses afro-amerikanischer und indigener AmerikanerInnen aus dem Volk: Sie erhielten das aktive und passive Wahlrecht und wurden so Teil der ›Citizenship‹.

Der dritte der wichtigen Schritte zur Erweiterung des rechtlich eingegrenzten, über politische Mitbestimmungsrechte definierten Volkes war die Ausweitung des Wahlrechtes auf Frauen. Dem 19. Amendment zur US-Verfassung, das 1920 in Kraft trat, waren Jahre der Debatte vorausgegangen. Der endgültige Durchbruch stand am Ende der Präsidentschaft Woodrow Wilsons (vgl. O’Toole 2018, S. 464). Wie und warum diese entscheidende Reform zustande kam, unterstreicht die wesentlichen Aspekte des langen Prozesses der ständigen Neudefinition des Volkes: Die gesellschaftliche Entwicklung, vor allem in Form neuer ökonomischer Rahmenbedingungen – beide überhöht durch einen sich wandelnden ethischen Bezugsrahmen, der sich in verstärkter moralisch artikulierender Druckausübung auf das politische System äußerte.

Die entscheidenden revolutionären Schritte, die eine Erweiterung, ja eine vielfache Multiplizierung des politisch definierten, politisch beteiligten ›Volkes‹ bedeuteten, wurden ergänzt durch eine ethnische und religiöse Heterogenisierung: Die Expansion der USA in den Westen machte Französisch (im Mississippi-Tal) und Spanisch sprechende (im Südwesten) AmerikanerInnen zum Teil des US-amerikanischen ›Volkes‹ und bedeutete auch eine neue, komplexere Vielfalt der ›Native Americans‹: Sioux and Navajos und andere ›Stämme‹, die sich durchwegs als eigene Völker und Nationen verstanden, unterstrichen eine exponential gewachsene ›völkische‹ Vielfalt.

Vor allem aber erzwang die Masseneinwanderung aus Europa (über den Atlantik) und aus Asien (über den Pazifik) ein ethnisches, insbesondere aber auch religiös-kulturelles neues Verständnis vom ›Volk‹. Die 1776 homogene protestantische, angelsächsische Elite konnte schließlich nicht mehr ihren ursprünglichen Anspruch erfolgreich umsetzen, das ›Volk‹ in seiner Gesamtheit zu repräsentieren: Irisch-amerikanische, italienisch-amerikanische, polnisch-amerikanische Subgesellschaften führten ebenso zum Ende der noch tief ins 20. Jahrhundert geltenden protestantischen Hegemonie wie auch jüdische Zuwanderung vor allem aus Mittel- und Osteuropa. Und überall in den städtischen Großräumen der USA entstanden ›Chinatowns‹, die ebenso das ausdrückten, was der ethno-nationalistische Populismus gerade auch in Europa als ›Völkergemisch‹ interpretierte – und heute (wiederum auch in Europa) als Beispiel für ›Umvolkung‹ sehen will.

Ein von einer ethnisch-religiös homogenen Elite gegründetes Amerika – die USA – entwickelte sich zu einem ethnisch-religiös vielfältigen Amerika. Das protestantisch-angelsächsisch geprägte Amerika wurde zu einem Amerika eines kulturellen, ethnisch-religiösen Kaleidoskops, in dem nicht-angelsächsische und nicht-protestantische Menschen aus Europa ebenso Teil des ›Volkes‹ wurden wie Menschen aus Asien und aus Lateinamerika; und schließlich wurden, nach einem langwierigen und schwierigen Prozess von der Aufhebung der Sklaverei 1863 bis zu den Bürgerrechtsgesetzen der 1960er Jahre, Menschen afrikanischer Herkunft als gleichberechtigter Teil des amerikanischen Volkes akzeptiert; und umgekehrt akzeptierten sie auch, Teil dieses Volkes zu sein. Der Integrationsmechanismus des ›Melting Pots‹ hatte letztlich Erfolg – mühsam und gegen teils heftigen Widerstand (Vgl. Sowell 1981, S. 183–226).

Hinter der Zuwanderung in die USA, die ja von einer Elite von Migranten gegründet wurde, stand eine globale ökonomische Dynamik. Die permanente Wandlung des ›Volkes‹ war und ist ein Produkt ökonomischer Globalisierung, die Opfer der explodierenden Armut in Irland etwa oder in China in die expansive Ökonomie der USA saugte. Die Logik der globalen Ökonomie hatte demographische und kulturelle Folgen, die jede Festschreibung eines bestimmten Ist-Zustandes des ›Volkes‹ ad absurdum führten. Es ist eine politisch nicht (oder kaum) gesteuerte sozioökonomische Dynamik, die dem ›Volk‹ jede Eindeutigkeit nimmt.

Sowohl bei der Überwindung der Sklaverei als auch bei der Durchsetzung des Frauenwahlrechtes lässt sich dieser Zusammenhang auch unabhängig von Migration beispielhaft beobachten: Eine Ökonomie, die immer mehr eine arbeitsteilige Spezialisierung verlangte und deshalb auf eine Verbreiterung des Zugangs zur Bildung hinauslief; eine Gesellschaft, in der arbeitsintensive Plantagenwirtschaft (und die damit verbundene Sklaverei) ständig an Stellenwert verlor und in der – auch im Zusammenhang mit Kriegen – Frauen in den Arbeitsmarkt gezogen wurden. Begleitet und überhöht wurde diese sozioökonomische Entwicklung von der eine wachsende Zahl von Menschen bewegenden Einsicht und der dieser entsprechenden politischen Argumentation, dass die zentralen Werte der (ersten) amerikanischen Revolution (›Alle Menschen sind frei und gleich geboren‹) die Beseitigung der Sklaverei und die Gleichberechtigung der Frauen zwingend nach sich ziehen müssten. Die Bewegung der Gegner der Sklaverei (der ›Abolitionists‹) und die der Suffragetten erzwangen so eine jeweils neue Konstruktion des ›Volkes‹.

Diese Entwicklung entsprach einem langfristig wirkenden Trend – das ›Volk‹ musste seine Exklusivität abbauen, seine Inklusivität ausweiten. Der Zugang zum ›Volk‹ musste erweitert werden. Die 1776 und 1787 noch politisch dominierenden Kriterien der Zugehörigkeit mussten, in radikalen Schüben, immer wieder geändert werden. Das ›Volk‹ von gestern war und ist nicht das von heute. Volk war und ist kein festzuschreibender, es ist ein dynamischer Begriff. Und diese Dynamik schreitet unvermeidlich immer weiter. Sie provoziert Widerstand (in Form von ›Nationalismus‹, ›Nativismus‹ oder ›Populismus‹), aber da diese Dynamik nicht politisch ›gemacht‹, nicht von irgendwelchen Zentren einer Verschwörung ›gewollt‹ ist, wird die Dynamik weitergehen. Und wenn die Demokratie sich dieser Dynamik verweigert, wird der Standard der Demokratie, wie er etwa im frühen 21. Jahrhundert in Europa fast zur Selbstverständlichkeit geworden war, gefährdet.

3 Die USA – pars pro toto

Diese Entwicklungen in den USA, vom späten 18. in das 20. Jahrhundert hinein, war keineswegs ein spezifisch amerikanischer Prozess. Die (erste) amerikanische Revolution fand ihre Parallele in der Französischen Revolution – ausgedrückt in der Formulierung universaler Menschenrechte; in generellen, naturrechtlich begründeten Normen, die von der Realität (zunächst) weit entfernt waren, die aber als Orientierungspunkt, als ›reale Utopie‹ einer gesellschaftspolitischen Entwicklung dienten. Die Sklaverei wurde im 19. Jahrhundert nahezu überall in Europa und in Amerika abgeschafft. Und das Frauenstimmrecht wurde in derselben historischen Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den meisten Staaten Europas und Amerikas durchgesetzt.

Das ›Volk‹, das in der Wahrnehmung und Begrifflichkeit des späten 18. Jahrhunderts vor allem als Antithese zum (gottgewollten) Fürsten konstruiert wurde, wurde im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend zu einer alle Bürgerinnen und Bürger einschließenden Begrifflichkeit, zum nationalstaatlichen Souverän, der schließlich niemanden ausschloss – weder aus Gründen der Religion noch der Herkunft; nicht aus Gründen der ›Rasse‹ und erst recht nicht aus Gründen des Geschlechts.

›Volk‹ war im Europa des 18., 19. und 20. Jahrhunderts zunächst und zuallererst die Antithese zur ›Krone‹. Nicht eine aristokratische Dynastie sollte politische Macht legitimieren, sondern das ›Volk‹. Das war der Anspruch der ›bürgerlichen‹ Revolutionen. Wer aber zu diesem die politische Herrschaft begründenden ›Volk‹ gehören sollte, das blieb und bleibt umstritten. Sind diejenigen Teil des ›Volkes‹, die ihre persönliche Genealogie – also die mythische Linie des ›Blutes‹ – als dazugehörig ausweist? Welche Kriterien erlauben es anderen, in die privilegierte Gemeinschaft eines Volkes aufgenommen zu werden? Können Menschen, die als Bürgerinnen und Bürger einer staatlichen Gemeinschaft geboren waren, aus dem ›Volk‹ wieder ausgeschlossen werden – wie das etwa 1935 von den Nürnberger ›Rassegesetzen‹ demonstriert wurde?

Das war in Europa im 19. und 20. Jahrhundert nicht so anders als in den USA – mit einem wesentlichen Unterschied: In den USA hatte sich, endgültig durch das Ergebnis des Bürgerkrieges von 1861 bis 1865, eine Staatlichkeit durchgesetzt, die a priori von ethnischer, religiöser und kultureller Vielfalt gekennzeichnet war – ›E Pluribus Unum‹. In Europa hatten gerade die ›bürgerlichen Revolutionen‹ eine Nationalstaatlichkeit begründet, die tendenziell ethnische Eindeutigkeit verlangte. Das Konzept des Nationalstaates baute auf der Fiktion von Homogenität auf, und die nationalen Einigungsbewegungen – etwa im 19. Jahrhundert die italienische oder auch die deutsche – bauten auf dem Grundsatz, dass zusammenwächst, was zusammengehört, auf. Doch das ›Zusammengehören‹ war die Fiktion einer Homogenität, die es weder in der kulturellen noch in der politischen Realität gab; eine Homogenität, die konstruiert werden musste.

Die Fiktion ethnischer Homogenität und die Realität gesellschaftlicher Vielfalt führten und führen unvermeidlich zu politischen Konflikten. Diese entzünden sich an den vor allem ökonomisch erklärbaren Wanderungsbewegungen, an der Migration. Die Industrialisierung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts bietet dafür viele Beispiele in Europa: Glasgow und Liverpool wurden innerhalb von ein, zwei Generationen von angelsächsisch-protestantischen Städten zu Städten eines explosiven Gegen- und Miteinanders, als die irisch-katholische Binnenmigration die rasant wachsenden Industriemetropolen in ethnische Schmelztiegel verwandelte. Die Integration dieser ethnisch-religiösen Subgesellschaften war immer auch mit einem politischen Kampf um kulturelle Hegemonie verbunden (vgl. Cannadine 2017, S. 252, 263).

Im multiethnischen Österreich der Habsburger bedeuteten Industrialisierung und Wirtschaftsaufschwung ein explosives Bevölkerungswachstum städtischer Zentren. In Wien sahen die Vertreter des historisch dominanten, deutschsprachigen Katholizismus ihre Hegemonie von Slawisch oder Italienisch sprechenden, aber auch jüdischen Zuwanderern bedroht. Dieser explosive Mix beeinflusste um 1900 das Entstehen eines ethno-nationalistischen Populismus, für den die Namen Karl Lueger und Georg Schönerer stehen; eine sich auf demokratische Ansprüche (›Wir sind das Volk!‹) berufende Abwehrhaltung gegen eine Zuwanderung, die innerhalb ein- und desselben Staates, nämlich in Österreich, stattfand. Diese Abwehrhaltung beeinflusste den jungen Adolf Hitler und dessen aggressive Ablehnung jedes ›Völkergemischs‹ – eine Ablehnung, die auf der fiktiven Annahme ethnisch-kultureller Eindeutigkeit baute (vgl. Hamann 1996).

Es ist die gefühlte Bedrohung durch als ›fremd‹ oder als ›anders‹ konstruierte Menschen, die aggressive Abwehrreaktionen provoziert. Es ist die Angst z. B. einer ethnisch-religiösen Mehrheit, durch Zuwanderung ihre politische Hegemonie einzubüßen. Es ist die (teilweise rational begründete, teilweise irrational ›gefühlte‹) Furcht vor dem Abstieg, die Bewegungen auslöst – wie die ›das Volk‹ für sich beanspruchenden Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, die in den Totalitarismus des NS-Staates mündeten. Es ist eben diese Furcht, die Hegemonie des ›Eigenen‹ zu verlieren, die einen fast durchwegs von ›weißen‹ Amerikanerinnen und Amerikanern bestimmten Affekt in Bewegung setzte, der den Wahlerfolg Donald Trumps 2016 erklärt. Und es ist eben diese Furcht, die Wahlerfolge der europäischen populistischen Parteien ermöglicht – in West‑, Ost‑, Nord- und Südeuropa.

Es ist die Sehnsucht nach einer fingierten, einer konstruierten Homogenität, die den Nährboden für die populistischen Strömungen auch des 21. Jahrhunderts bildet. Sowohl in seiner ›linken‹ wie auch seiner ›rechten‹ Ausprägung ist der Populismus geprägt von einer Vereinfachung eines gedachten ›Wir‹: ›Wir da unten‹ – gegen ›die da oben‹, gegen das Establishment, gegen die herrschende Klasse: Das ist die Grundformel eines ›linken‹ Populismus. ›Wir da drinnen‹ – gegen die ›da draußen‹, die in ›unsere‹ Heimat eindringen wollen oder schon eingedrungen sind, die ethnisch, ›rassisch‹, kulturell nicht zu ›uns‹ gehören: Das ist die Grundformel des ›rechten‹ Populismus.

Diese beiden Grundformeln werden freilich in den aktuellen populistischen Bewegungen und Parteien oft vermengt: Im Gefolge der ›Proletarisierung‹ der Wählerschaft der französischen FN und der österreichischen FPÖ schon um 2000 wurde deutlich, dass die potenziell aggressive Energie ›rechter‹ (nationalistischer) und ›linker‹ (quasi-klassenkämpferischer, anti-elitärer) Elemente verbunden werden kann. Die Vermengung der beiden Grundformeln begleitet und erklärt den Wahlerfolg von Parteien wie der italienischen Lega und der deutschen AfD und vermischt sich oft (wie etwa bei der ungarischen FIDESZ) mit zumindest latent antisemitischen Verschwörungstheorien. Der Populismus der Gegenwart ist ein Protest gegen die selektiv wahrgenommene Unterstützung von ›Massenzuwanderung‹ durch die ›eigenen‹ kulturellen Eliten (vgl. Wodak/KhosraviNik/Mral 2013).

Das ist ja auch jenseits des Atlantiks so anders nicht: Der Wahlerfolg Donald Trumps baute auf die Allianz eines ethno-nationalistischen (vor allem gegen Zuwanderung gerichteten) und eines kulturellen, anti-elitären Populismus. Und im US-amerikanischen wie auch im europäischen Populismus ist die Funktionalität eines Feindbildes erkennbar: ›Die Anderen‹, ›die Fremden‹ werden im Sinne der Konstruktion von Feindbildern von einer Zentrale gesteuert, die das Eigene (die eigene Nation, das eigene Volk, die eigene Kultur oder Religion) zu zerstören beabsichtigt.

Zu den Feindbildern des Populismus in Europa zählt immer auch die Europäische Union. Deren zentrale Funktion – die Zähmung des Nationalismus durch die Relativierung nationalstaatlicher Souveränität und die Aufhebung innereuropäischer Grenzen – richtet sich gegen die Phantasie von der Besonderheit, der Einmaligkeit des ›eigenen‹ Volkes; gegen die Vorstellung einer klaren Abgrenzbarkeit des eigenen von den anderen Völkern, den anderen Nationen. Die Europäische Union als ein Projekt der tendenziellen Aufhebung der strikten Unterscheidung zwischen den Völkern und Nationen wird (vgl. Cohn-Bendit/Verhofstadt 2012) – zu Recht – von den Völkischen jedweder Art als Bedrohung gesehen. Der europäische Populismus ist euroskeptisch und verbindet ›rechte‹ und ›linke‹ populistische Affekte (vgl. Pelinka 2015).

Der Anti-EU-Affekt des Populismus beruft sich nicht zufällig auf ›die Völker‹, die in Europa gegen das Europa einer Union zusammenstehen sollten; gegen ein Europa, das die Überwindung des ›Völkischen‹ sich zum Ziel setzt; die Überwindung der nationalistischen Energien, die Europa 1945 an den Rand des Abgrundes geführt hatten (vgl. Krastev 2017, S. 61–106). Die Europäische Union ist für die Populisten jedweder Prägung deshalb eine Bedrohung, weil der europäische Integrationsprozess die scheinbare Eindeutigkeit der Unterschiede zwischen Volk und Volk, Nation und Nation zunächst relativiert und schlussendlich aufzuheben verspricht.

Das ›Volk‹, wie es zu einem bestimmten historischen Moment wahrgenommen, kulturell definiert und politisch instrumentalisiert wird, ist immer Produkt einer ständigem historischen Wandel unterworfenen Ausdifferenzierung (vgl. Diamond 1999). Die verschiedenen Völker und ›Rassen‹ waren und sind das Ergebnis einer über viele Jahrzehntausende gehenden Entwicklung, die sich auch wiederum umkehrt – in Form einer globalen Homogenisierung von Kulturen und der Zerstörung des Aberglaubens an ›rassische‹, naturgegebene, biologische Differenzen. Die Vergangenheit war nicht durch eine vorgegebene ›natürliche‹ Unterscheidbarkeit von Völkern bestimmt; die Jahrzehntausende zurückliegende Vergangenheit der Menschheit war bestimmt von einer grundsätzlichen Nicht-Unterscheidbarkeit menschlicher Gemeinschaften – wie sie ja auch der realen Utopie universaler Menschenrechte entspricht (vgl. Cannadine 2013).

Eine sozialwissenschaftlich verstandene, historische Anthropologie kann jedenfalls nicht vom Populismus als Begründung verwendet werden: Völker entstehen, Völker werden integriert; die eine Kultur wird nicht über die andere ›siegen‹, Kulturen verbinden sich. Der Vorstellung des Populismus vom ahistorischen Status eines ›Volkes‹ ist unhaltbar. Was bei einer kritischen Sicht auf den Populismus aber als dessen Qualität zu beschreiben ist, das ist dessen Technik, selektive Wahrnehmung in politische Dynamik umzusetzen.

4 Liberale oder populistische Demokratie?

Die Demokratietheorien der Gegenwart gehen davon aus, dass Demokratie nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit ›des Volkes‹ ist. Demokratie wird vielmehr als die mehrfach gebändigte Herrschaft einer durch faire und freie Wahlen legitimierten Mehrheit gesehen (vgl. Sartori 1987). Demokratie ist Mehrheitsherrschaft innerhalb eindeutig definierter Grenzen, und immer auch auf Zeit.

Die Grenzen, die der Mehrheitsherrschaft gesetzt sind, verhindern eine Form von ›Tyrannei‹ – die der Mehrheit (vgl. Sartori 1987, S. 133–137). Demokratie ist, so die Demokratietheorie heute, die Antithese zu jeder Form der Tyrannei: zur Tyrannei eines Einzelnen, zur Tyrannei einer Minderheit, aber eben auch zu einer Tyrannei der Mehrheit. Demokratie ist ›Polyarchie‹, die Herrschaft der Vielen. Sie stellt eine politische Ordnung, die Opposition gegen die regierende Mehrheit nicht nur zulässt, sondern für unbedingt notwendig erachtet, dar (vgl. Dahl 1971). Herrschaft in der Demokratie ist immer Regierung auf Abruf; Opposition in der Demokratie ist immer Anspruch auf Regierung.

Die Mehrheit darf vieles, sie darf aber nicht alles: Sie kann nicht gesellschaftliche Gruppen (etwa mit Berufung auf ethnische oder religiöse Unterschiede) vom demokratischen Prozess ausschließen. Die Mehrheit darf auch nicht einzelnen Personen willkürlich das Recht auf politische Betätigung entziehen. Die Grenzen der Mehrheitsherrschaft sind die Garantie von Rechten der Minderheit(en) und der Individuen. Diese Rechte sind in Grundrechten festgeschrieben, wie sie den universellen Menschenrechten entsprechen. Die Grundrechte zu verteidigen, das ist die Aufgabe von Höchstgerichten – wie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Europäischen Gerichtshofes der EU, und der Verfassungsgerichte der Nationalstaaten (v.gl. Dahl 1998, S. 121). Für die Sensibilisierung gegenüber aktuellen und potenziellen Verstößen gegen diese die Mehrheitsherrschaft begrenzenden Grundrechte sind die Garantie von politischer Pluralität und Freiheit, von Kommunikation und Medien zentral.

Hier eben liegt die zumindest latent totalitäre Versuchbarkeit des Populismus: Mit Berufung auf ›das Volk‹ werden oft rhetorisch oder auch konkret Grundrechte von Minderheiten in Frage gestellt, werden einzelne Personen zur Bedrohung des Volkes erklärt und an den Pranger gestellt. Der Populismus neigt dazu, die Grenzen der Mehrheitsherrschaft aufzuheben – mit Berufung auf die Mehrheitsmeinung, mit Berufung auf ein Wahlergebnis, mit Berufung auf ›das Volk‹. Der Populismus versucht, neben denen, die sich auf die Mehrheit berufen, keine weiteren Institutionen, keine weiteren Organe anzuerkennen. Der Populismus neigt dazu, jede Macht- und Gewaltenteilung aufzuheben: Mit Berufung auf ›das Volk‹ werden die Rechte parlamentarischer Opposition ebenso in Frage gestellt wie die Autonomie ethnischer oder religiöser Minderheiten. Populismus ist in letzter Konsequenz ein Programm der unbedingten Konzentration in den Händen derer, die sich auf die Mehrheit berufen.

Das eben unterscheidet eine liberale von einer populistisch verstandenen Demokratie: Die liberale Demokratie setzt eine Vielzahl von Akteuren und Institutionen voraus, die in einem Gegenläufigkeit nicht nur zulassenden, sondern eine solche geradezu herausfordernden Prozess die komplexe Vielfalt ausdrücken, die in der Gesellschaft real vorhanden ist (vgl. Riker 1982). Populismus läuft letztlich auf eine Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Weiß und Schwarz hinaus. Die Grautöne, die ein Gesamtbild der Interessensvielfalt ergibt – die Interessen von Jungen und Alten, von Frauen und Männern, von Arm und Reich, von religiös Motivierten und ›säkular‹ geprägten Personen, von Angehörigen der einen oder der anderen ethnisch (sprachlich) definierten Gruppe, von urbanen und ländlichen Regionen – alles das wird bei einer populistischen Sichtweise einer Dichotomie des Entweder-oder unterstellt. Es ist die liberale Demokratie, die an die Stelle des Entweder-oder ein ›Mehr oder weniger‹ setzt und so die Tyrannei der Mehrheit verhindert.

Es ist die liberale Skepsis gegenüber einer politischen Dichotomie, die zu einer Skepsis gegenüber der direkten Demokratie führt. Diese – in Form von Volksabstimmungen – lässt letztlich keine Zwischentöne und keine Kompromisse zu. In einem Plebiszit gibt es klar definierte Sieger – und ebenso klar definierte Verlierer. Ein solches Demokratieverständnis – Dahl nennt sie »populist democracy« – ist, wegen ihres latent antipluralistischen Charakters, das Gegenteil von Dahls »polyarchal democracy« (vgl. Dahl 1956, S. 34–89). Dahls »Polyarchie« entspricht dem, was im demokratietheoretischen Diskurs der Gegenwart als ›liberale Demokratie‹ gilt: eine gezähmte, begrenzte Mehrheitsherrschaft, die auf der legitimen Vielfalt unterschiedlicher Interessen und Identitäten baut und die diese Unterschiede respektiert und garantiert (vgl. Dahl 1971).

Eine liberale Demokratie setzt ein grundsätzlich inklusives Verständnis von ›Volk‹ voraus: Der Zugang zum demokratischen Souverän, zur Mitgliedschaft in der Gemeinschaft des ›Volkes‹, ist grundsätzlich immer für Menschen offen, die – Ergebnis einer die Menschheit immer schon bestimmenden Migration – Mitglieder einer Gesellschaft (eines Staates, einer Region) werden wollen, der sie davor nicht angehört haben. Diese Offenheit liberaler Demokratie setzt aber natürlich voraus, dass ›Volk‹ nicht als eine quasi in der Natur vorgegebene Entität definiert wird, sondern als eine historisch gewachsene und auch veränderbare Gesellschaft aufgefasst wird.

Dem entspricht Robert Dahls Definition der ›Citizenship‹: Prinzipiell muss jeder Mensch, der einer territorial definierten Autorität (etwa der eines Staates) unterworfen ist, die Möglichkeit haben, an der politischen Gestaltung dieser Autorität mitzuwirken. Mit anderen Worten: Jede(r), der (die) eine bestimmte objektive Qualifikation (etwa die eines Mindestalters) erfüllt, muss das aktive und passive Wahlrecht besitzen. Menschen dürfen nicht auf Dauer von diesem Recht ausgeschlossen bleiben, wenn sie legal in einer Gesellschaft leben; auch dann nicht, wenn sie als ›Fremde‹, als ›Ausländer‹ eingestuft werden. Das bedeutet, dass die liberale Demokratie den Zugang zur Staatsbürgerschaft für alle legal in einem Staat Lebenden maximal offen zu gestalten hat (vgl. Dahl 1989).

Die Geschichte der Demokratie ist die Geschichte der Annäherung an das Konzept der liberalen Demokratie: an das Postulat der Gleichheit, verstanden als Diskriminierungsverbot, als Überwindung der Vorrechte von ›Rasse‹ und Klasse, von Geschlecht und Religion; an das Postulat der Freiheit, verstanden als Wettbewerb um Stimmen und die damit verbundene Voraussetzung der Freiheit der Meinungsäußerung; an das Postulat des Rechtsstaates, verstanden als Kontrolle einer immer nur als beschränkt verstandenen Mehrheitsherrschaft in Verbindung mit Machtbeschränkungen, im Interesse der Sicherung der Grundrechte von Minderheiten und Individuen.

Diese Erfolgsgeschichte ändert freilich nichts an den realen Differenzen des Raumes und den wahrgenommenen Unterschieden von Ethnizität, Religion und Geschlecht. Die Differenzen des Raumes lassen es (noch?) nicht zu, der Logik der ökonomischen Globalisierung folgend eine globale Demokratie aufzubauen. Die Erfolgsbilanz der liberalen Demokratie beschränkt sich auf Staaten – seien es Zentral- oder Bundesstaaten. Die Entwicklung eines demokratischen Systems jenseits von Staatlichkeit ist das noch zu schreibende Kapitel der Demokratiegeschichte.

Die wahrgenommenen Unterschiede von Ethnizität, Religion und Geschlecht sind die Gründe für immer wieder entstehende Protestbewegungen gegen die liberale Demokratie (vgl. Benhabib 1996). Diese wahrgenommenen Unterschiede sind die Ursachen für den Populismus der Gegenwart. Der Populismus nutzt vorhandene Unterschiede, artikuliert sie politisch – und er erfindet auch Unterschiede. Aber die Betonung sozialer Unterschiede kann sich, über das Faktum politischer Instrumentalisierung hinaus, auch auf Realität stützen – auf einen harten, auf rational nachvollziehbaren Interessen beruhenden Kern von Differenz. Erfunden sind Unterschiede, wenn in Europa heute Kopftücher muslimischer Frauen als Verstoß gegen kulturelle Normen einer Gesellschaft interpretiert werden, die Kopftücher christlicher Frauen seit Jahrhunderten akzeptiert hat und aktuell auch akzeptiert. Real aber sind die Abstiegsängste, die relativ ärmere gesellschaftliche Gruppen und Milieus zu einer entschlossenen Abwehrhaltung gegen noch ärmere Gruppen veranlassen.

Dieser ökonomisch erklärbare Populismus lässt sich in der gegen die afro-amerikanische Minderheit gerichteten Vorurteilsstruktur eines Alltagsrassismus beobachten. Theodor Adorno und andere haben dies schon vor Jahrzehnten empirisch beobachtet und analysiert: Es sind die sozial Schwächeren unter den ›Weißen‹ in den USA, die – aus nicht immer offen artikulierter Sorge um den Verlust des faktischen Startvorteils, ›weiß‹ zu sein – gegen eine real vorhandene, demokratisch legitime Aufstiegsmobilität nicht-weißer Minderheiten politisch mobilisierbar sind. Dies äußert sich in der nur selten ausgesprochenen Vorstellung, dass die »Gesetze der Demokratie die weißen […] Menschen begünstigen sollen« (Adorno 1973, S. 173).

Was in Adornos Studie sich auf die Ablehnung US-amerikanischer Ethnien bezieht – ›Schwarze‹ oder ›Juden‹ oder ›Hispanics‹ –, das bezieht sich in der vom Populismus des 21. Jahrhunderts in Europa genutzten Vorurteilsstruktur auf die Zuwanderung. Was sich in Bezug auf die Gleichberechtigung am US-Arbeitsmarkt beanspruchenden Afro-AmerikanerInnen bezieht, das bezieht sich auf die ›Ausländer‹ auf den national wahrgenommenen Arbeitsmärkten Europas: nicht auf kulturell und ökonomisch relativ Privilegierte aus den oberen Etagen von Wirtschaft oder Forschung, sondern auf den ›Polish Plumber‹ im Vereinigten Königreich und den rumänischen Bauarbeiter in Italien; und vor allem auch auf die Asylsuchenden aus dem Nahen Osten und Afrika in ganz Europa. Sie werden von den sozial Schwächeren derer, die sich als Teil des ›eigenen Volkes‹ sehen, als Bedrohung wahrgenommen. Und eben deshalb widersetzen sich diese von Abstiegsängsten bestimmten Gesellschaftssegmente einer Liberalisierung des Zuganges zur Staatsbürgerschaft.

Es ist der Zugang zu den mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechten, die einen (den?) wesentlichen Unterschied zwischen liberaler und populistischer Demokratie definieren (vgl. Bauböck 1994). Der populistisch geschürte, vom Populismus genutzte Widerstand gegen ein Öffnen dieses Zuganges hat – neben der bloß wahrgenommenen Differenz zwischen Kulturen und Ethnien – auch einen realen, auf ökonomischen Interessen beruhenden Grund. Eben deshalb wird die Neigung zum Populismus – auch jenseits der spezifisch als populistisch zu definierenden Parteien – weiterhin ein immanenter Teil der real existierenden Demokratie bleiben.

Dennoch kann die liberale Demokratie auf eine Erfolgsgeschichte verweisen – etwa auf den Abbau ethno-nationaler Feindbilder, zum Beispiel im Rahmen der deutsch-französischen Beziehungen. Das Feindbild Frankreich, das den dreimaligen Einfall deutscher Armeen in Frankreich innerhalb von sieben Jahrzehnten (1870, 1914, 1940) ideologisch überhöht hat, ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts verblasst; ebenso ist in Frankreich das Feindbild Deutschland, das den Friedensvertrag von Versailles 1919 wesentlich mitbestimmt hat, weitgehend verschwunden. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich macht deutlich, dass Feindbilder dekonstruiert und Unterschiede relativiert werden können.

Die vereinfachende Gut-Böse‑, Weiß-Schwarz-Sichtweise des Populismus kann gegenüber dieser Erfolgsgeschichte nur auf eine Katastrophengeschichte verweisen – vor allem auf die Erfahrungen zweier Weltkriege und des Holocaust; auf die Katastrophen, die aus der Konstruktion eines naturgegebenen ›Anderen‹ als Feind entstehen, gegen die ›Wir‹ uns zur Wehr setzen müssen. Das dem Populismus immanente völkische Denken ist ursächlicher Bestandteil der schrecklichen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die liberale Demokratie hat jedenfalls eine deutlich bessere Bilanz aufzuweisen als der konsequent zu Ende gedachte und auch real zu Ende geführte Populismus.