1 Einleitung

Bedanken möchte ich mich bei den Teilnehmer*innen des Marburger Workshops ›Argumentation – Narration – Persuasion‹ für die trotz (oder gerade wegen?!) der disziplinären Vielstimmigkeit sehr produktiven Diskussionen. Bei Bernadette Rieder und Brigitte Rath bedanke ich mich für die kritische Lektüre früherer Fassungen dieses Aufsatzes.

Erzählen und Argumentieren sind – gesprächslinguistisch perspektiviert – zwei zentrale, häufig vorkommende kommunikative Praktiken, die zur Bewältigung jeweils verschiedener Aufgaben im Gespräch eingesetzt werden. So erlaubt Erzählen die Vergegenwärtigung und Behandlung vergangener Ereignisse und Handlungen, während Argumentieren die Bearbeitung divergenter Geltungsansprüche ermöglicht. Dabei werden Argumentieren und Erzählen als prozessual und interaktiv bestimmte Praktiken aufgefasst, die sich in der Interaktion entfalten. Für viele Gesprächstypen des Alltags hat sich gezeigt, dass sowohl Erzählen als auch Argumentieren spezifisch kontextgebunden und in andere Praktiken (und ineinander) eingelassen sind. Darauf richtet der vorliegende Beitrag den Fokus und arbeitet die Verbindung von Narration und Argumentation in Konfliktgesprächen heraus. Es wird exemplarisch gezeigt, wie von den Interaktionspartnerinnen zuerst erzählt werden muss, um dann auf dieser Basis zu argumentieren und persuasiv handeln zu können, wie also das Erzählen das Argumentieren im Gesprächshandeln vorbereitet. Der kommunikative Kontext, an dem dieser Zusammenhang gezeigt und diskutiert werden soll, sind Eröffnungen von familialen Konfliktgesprächen. Darin nutzen die Mutter-Tochter-Paare die Situation, um gemeinsam erlebte, dem Gespräch vorgängige Konflikte erneut im Hier und Jetzt zu bearbeiten. Solche Gesprächssituationen sind keineswegs selten, es gibt vergleichbare Situationen in der Alltagskommunikation wie gemeinsame Konfliktklärung, gemeinsames Erinnern als Weißt-du-noch-Geschichte, aber auch in institutioneller Kommunikation finden sich dafür Beispiele wie eröffnende Züge in Paarberatung, Therapiegesprächen, Mediation oder Coaching. Die Gesprächsteilnehmerinnen stehen dabei vor den Handlungsaufgaben, den konfliktiven Vorfall mitsamt den Konfliktlinien insoweit erzählen zu müssen, dass er etabliert und der gemeinsamen argumentativen Neubearbeitung im Hier und Jetzt zugänglich gemacht ist. Erzählen als eine der Möglichkeiten, vergangene Geschehnisse sprachlich zu rekonstruieren, erlaubt dies. Die kurzen Erzählungen der Mutter-Tochter-Paare sind »Wirklichkeitserzählungen«, es sind »Erzählungen mit unmittelbarem Bezug auf die konkrete außersprachliche Realität« (Klein/Martínez 2009, S. 1). Der in den Wirklichkeitserzählungen erhobene Geltungsanspruch, reale Sachverhalte und Vorfälle darzustellen – ›so ist es bzw. so ist es gewesen‹ –, wird auch in den Erzählungen der Mutter-Tochter-Paare erhoben und das in je subjektiver, individueller Perspektivierung. Die wiederum sorgt dafür, dass sich die kurzen Erzählungen in den Konfliktgesprächen durch ein hohes Maß an Ko-Konstruiertheit auszeichnen.

In rhetoriktheoretischer Perspektive, die Persuasion, und damit die Ausrichtung der Argumentation auf die Überzeugung eines konkreten Gegenübers, als zentrales Kennzeichen rhetorischen Handelns auffasst (Aristoteles 2002, 1355b26), wird die Verbindung zwischen Narration und Argumentation zum einen in der Lehre von den partes orationis konzeptualisiert und beide werden als in bestimmter Weise voneinander abhängig angesehen: »Es gibt zwei Teile der Rede; denn es ist notwendig, den Gegenstand zu nennen, über den man spricht, und dies dann zu beweisen. […] Wer nämlich einen Beweis führt, beweist etwas, und wer etwas einführt, führt es um des Beweisens willen ein.« (Aristoteles 2002, 1414a30–37) Die Abhängigkeit des einen – erzählen, um argumentieren zu können – vom anderen – argumentieren können auf der Basis des zuvor Genannten – wird betont. Auch die Auswahl der zu erzählenden Aspekte ist relevant. In rhetorischen Handlungszusammenhängen geht es nicht darum, erschöpfend und vollständig zu erzählen. Erzählungen sind vielmehr zielorientiert zu präsentieren, d. h. einzelne Aspekte werden nach Maßgabe der Notwendigkeit, also dem übergeordneten rednerischen Ziel, sowie den Möglichkeiten ausgewählt, was auch die Reduktion der Geschichte auf ihren Kern bedeuten kann: »Ich leugne ja nicht, daß bei der Erzählung so, wie manches bestritten, manches hinzugesetzt, manches geändert, so auch manches verschwiegen werden muß. Aber verschweigen muß man, was zu verschweigen sich als nötig und als möglich erweist.« (Quintilian 1995, IV, 2,67) Danach wird in der narratio der Sachverhalt dargelegt; dabei wird gesagt, was passiert ist. Es werden zum einen vergangene Ereignisse dargestellt, um sie später für die argumentatio – also das Abwägen, Gründe darlegen, Widersprechen oder Rechtfertigen von Handlungen und Perspektiven, die in den in Rede stehenden Ereignissen vorfindlich sind – aufgreifen und nutzen zu können. Zum anderen werden Geschichten bzw. das Erzählen von Geschichten als argumentative Ressource diskutiert (z. B. »narrative argument« bei Tindale 2017; Hannken-Illjes 2006; Bex/Bench-Capon 2017) oder auch das narrativ-argumentative Potenzial bestimmter Topoi wie Analogie oder Beispiel (z. B. Kienpointner 1992, Walton et al. 2008). Der Ansatzpunkt ist, dass Geschichten durch ihre Erlebnisqualität und den damit verbundenen Geltungsanspruch der Faktizität einen spezifischen Beitrag zum rhetorischen Ziel der Evidenzherstellung leisten können; die Erlebnisperspektive ist zugleich eine Glaubwürdigkeitsressource (Deppermann/Lucius-Hoene 2006, S. 132).

Methodisch ist das Vorgehen in der Bearbeitung der dem Aufsatz zugrundeliegenden Daten grundsätzlich gesprächsanalytisch orientiert (Deppermann 2008). Das ermöglicht, sequenzanalytisch zu zeigen, wie die komplexen Handlungen Erzählen und Argumentieren in Bezug auf die Aufgaben im Gespräch miteinander verschränkt und sequenziell eingebettet sind; es erlaubt, den aufgabenbezogenen Zuschnitt der narrativen und argumentativen Sequenzen, der zugleich von den persuasiven Zielen sowie von der Interaktivität bestimmt wird, herauszuarbeiten. Interaktionsorganisatorischer Ausgangspunkt ist, dass in Alltagsgesprächen – anders als in narrationselizitierenden Formaten bzw. expliziten Aufforderungen zur Narration (»jetzt erzählen Sie mal…«) – Erzählungen nicht ohne weiteres präsentiert werden können. Das hat zur Folge, dass Gesprächsteilnehmerinnen systematisch geeignete Verfahren anwenden, um den (sequenziellen) Raum für die Erzählung zu etablieren, unabhängig davon, wie umfangreich die Erzählungen sind. Diese Verfahren sind teils eingebettet in andere Verfahren, beispielsweise haben bestimmte Argumentationstopoi narratives Potenzial.

Im vorliegenden Aufsatz wird im Abschnitt 2 der theoretische Rahmen aufgespannt, der, ausgewählt nach der Relevanz für die zu beantwortende Frage sowie für die Daten, Erzählen und Argumentieren im Gespräch in den Mittelpunkt stellt. Danach werden im Abschnitt 3 die zugrundeliegenden Daten, Konfliktgespräche, erläutert. Die Abschnitte 4 und 5 präsentieren die Analysen anhand von Transkriptausschnitten: erstens die interaktive Rekonstruktion eines episodischen konfliktiven Ereignisses und zweitens die interaktive Rekonstruktion eines wiederkehrenden konfliktiven Ereignisses. Im abschließenden Fazit (Abschnitt 6), das Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Beispielen diskutiert, werden die Ergebnisse herausgestellt: Erstens steht das Erzählen im Dienst des Argumentierens, es findet eine Hierarchisierung der Mittel und Verfahren statt, dabei wechseln sich beide Aktivitäten ab und sind ineinander eingebettet. Zweitens kann gezeigt werden, dass lokal – also interaktiv und sequenziell – bestimmt ist, wie viel und wie erzählt wird. Funktional leitet sich ab, dass von den Interagierenden genau so viel erzählt wird, wie es für das Argumentieren und die persuasiven Ziele notwendig ist. Formal zeichnen sich die Erzählungen durch spezifische Kürze, Knappheit und Fragmentiertheit aus, es handelt sich nicht um voll ausgebaute Alltagserzählungen.

2 Erzählen und Argumentieren in gesprächsanalytischer Perspektive

Innerhalb der Linguistik hat ErzählenFootnote 2 als Gegenstand einen festen Platz und so auch in der interaktionalen Erzählforschung (z. B. Quasthoff/Becker 2005; Spieß/Tophinke 2018). Auch wenn betont wird, dass Erzählen in der Interaktion mit anderen Verfahren eng verknüpft ist, stehen jedoch Erzählen und Argumentieren auch in der Gesprächsforschung meist getrennt voneinander im Forschungsfokus, als Grund dafür gilt die unterschiedliche Gattungszugehörigkeit. Die explizite Fokussierung der Verknüpfung zwischen beiden Praktiken findet sich nur gelegentlich und meist von einem rhetorisch-argumentationstheoretischen Interesse ausgehend (z.B Hannken-Illjes 2015; Olmos 2017); darüber hinaus stehen Fragen nach dem argumentativen Status von Erzählungen im Mittelpunkt (Deppermann/Lucius-Hoene 2006), Belegerzählungen (Quasthoff 1980) oder die Beispielargumentation als narrativ-argumentative Ressource (z. B. Spiegel 2006; Rettig 2014; Schwarze 2017).

Die gesprächslinguistische Perspektive auf Narration und Argumentation leitet sich grundsätzlich von den Merkmalen eines Gesprächs ab. Danach ist ein Gespräch ein mündlich-multimodales Ereignis, das sich durch die Merkmale Konstitutivität, Prozessualität/Sequenzialität, Interaktivität, Methodizität und Pragmatizität – d. h. Interagierende verfolgen gemeinsame und individuelle Ziele im Gespräch – auszeichnet (Deppermann 2008, S. 8). Zentrale Begriffe in dieser Perspektive sind Kontext, Interaktion und Funktion (Quasthoff/Becker 2005, S. 2). Dabei wird der Fokus stark auf die Verwobenheit des Erzählten mit dem interaktiven Kontext gelegt, auf die Funktionen des Erzählens sowie – aus dem Grundgedanken der Interaktivität erwachsend – die Ausdifferenzierung der einzelnen Beteiligungsweisen (participant roles) in Erzähler*in, Ko-Erzähler*in und Zuhörer*in, wobei diese Beteiligungsweisen als dynamisch und lokal ausgehandelt anzusehen sind.Footnote 3 Die Interaktivität des Erzählens zieht auf der Ebene des Adressatenzuschnitts (recipient design) bestimmte Gestaltungsweisen nach sich, wie beispielsweise Redewiedergaben und szenische Ausgestaltung (Schwitalla 2003), wie Erzählen sich überhaupt durch »Gestaltungsorientiertheit« (Gülich 2008, S. 409) auszeichnet. Dieser Gestaltungsaufwand wird in der Interaktion gratifiziert durch stimmliche Reaktionen wie Lachen, Stöhnen, verbale Kommentare oder mitreden (ebd.). Die Gestaltungsorientiertheit konstituiert sich auch körperlich-räumlich und ist daher grundlegend multimodal (König/Oloff 2018). Erzählen ist somit eine interaktive, ko-konstruierte Aktivität von Sprecher*in und Hörer*in, die nicht isoliert, sondern in einen lokalen Kontext eingebettet ist; die Narration emergiert aus der gemeinsamen Aktivität der Interagierenden (Gülich 2008; Quasthoff 2001; De Fina/Georgakopoulou 2012).

Das Gleiche gilt für Argumentieren im Gespräch, auch da spielen Kontext, Prozessualität und Interaktivität eine bedeutende Rolle. So gilt Argumentieren als interaktives Klärungsverfahren (Spranz-Fogasy 2006), das sich durch geltungskritische Bezugnahmen auf Thesen auszeichnet (Deppermann 2006); im Argumentationsprozess wird versucht, »mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen« (Klein 1980, S. 19). Weitere Kennzeichen des Argumentierens sind Implizitheit auf der sprachlichen Oberfläche und die daraus folgende Notwendigkeit der Inferenz (Kindt 1992), Konklusivität und die spezifische, interaktive Nutzung von Topoi (Schwarze 2010).

Das Merkmal der Prozessualität erfordert die Sequenzierung des Erzählens und Argumentierens im Gespräch. Dabei lassen sich jeweils Sequenzschemata (nach Gülich/Hausendorf 2000 mit Bezug auf Quasthoff 2001) als global dimensionierte »Diskurseinheiten« analytisch nachweisen. Zu den sequenziellen Merkmalen des Erzählens im Gespräch (ebd.) gehört, dass der Sprecherwechsel suspendiert und eine Erzählerrolle mit spezifischer Reichweite etabliert ist und zwar so lange, bis der Plot erzählt ist. Dann ist der Sprecherwechsel wieder offen. Das heißt, eine Handlungsaufgabe für den*die Erzähler*innen besteht darin, den interaktiven Raum für das Erzählen vorzubereiten. Auch Argumentieren im Gespräch zeichnet sich durch Interaktivität und Sequenzialität aus. Es lässt sich idealtypisch als fünfschrittiges Sequenzschema modellieren, d. h. als eine systematische Abfolge von Handlungsschritten mit Integration in das laufende Gespräch (Spranz-Fogasy 2006; Heller 2012; Schwarze 2010). Das Sequenzschema ist durch konditionelle Relevanzen sowie durch eingebettete materiale und formale Topoi als von der interaktiven Beteiligung bestimmte Ablaufschemata gekennzeichnet (Schwarze 2010).

Ein anderes Unterscheidungsmerkmal zwischen Erzählen und Argumentieren, das sich jedoch nicht auf gesprächskonstitutive Merkmale bezieht, ist der Zeitbezug. Die Zeitdifferenz ist konstitutiv für die Wahl der Praktik Erzählen. Während also für das Erzählen der Vergangenheitsbezug als Ereignisbezug konstitutiv ist – Erzählen ist die »verbale Rekonstruktion realer oder fiktiver Handlungen oder Ereignisse, die im Verhältnis zum Zeitpunkt des Erzählens zurückliegen oder […] als zurückliegend dargestellt werden« (Gülich/Hausendorf 2000, S. 373) –, gilt das nicht für das Argumentieren. Der Zeitbezug des Argumentierens ist von der divergenten Sachverhaltsdarstellung vorgegeben und kann folglich in alle Richtungen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – gedacht werden oder auch fehlen bzw. irrelevant sein.

Erzählen und Argumentieren im Gespräch sind lokal kontextgebunden; der übergeordnete Kontext als dynamischer Kontext formt durch seine spezifischen Merkmale auch das eingebettete Erzählen und Argumentieren in besonderer Weise. Die Daten des vorliegenden Aufsatzes gehören zum Bereich alltäglicher, familialer Kommunikation. So ergibt sich ein Kontrast zu professionell oder institutionell bestimmbaren Feldern, die teils explizite Verfahrensregeln bereithalten, an denen sich Interagierende in ihren kommunikativen Handlungen orientieren (und so auch beim Erzählen und Argumentieren). Das gilt beispielsweise für Erzählungen in medizinischer Kommunikation, z. B. Schmerzerzählungen im diagnostischen Prozess (Birkner 2013), die sich durch eine anforderungsspezifische Fragmentiertheit auszeichnen, oder im juristischen Feld, für das Hannken-Illjes (2012) betont, dass Argumentation als Verfahrensweise bereits eingeführt ist und nicht anlassbezogen ausgehandelt werden muss. In familialen Alltagsgesprächen kommt es in Bezug auf Konfliktivität nicht auf inhaltliche Übereinstimmung an, »[…] solange Einigkeit im Stil des (mehr oder weniger toleranten) Umgangs mit allen Arten von Nicht-Übereinstimmung besteht.« (Keppler 1994, S. 282)

Die kontextuelle Formung des Erzählens in den vorliegenden Daten der familialen Konfliktgespräche zeigt sich insbesondere in der Fragmentiertheit der Erzählungen. Das innerhalb der Positionierungsanalyse entwickelte Konzept der small stories (Bamberg/Georgakopoulou 2008; Günthner 2012; Georgakopoulou 2015) bietet den passenden Rahmen, denn in Alltagsgesprächen, vor allem in nicht-narrationselizitierenden Formaten, lassen sich selten voll ausgebaute Erzählungen finden (sog. big stories). Der Ansatz der small stories-Analyse schließt solche Erzählfragmente ein und inkludiert »a gamut of under-represented and ›a-typical‹ narrative activities, such as tellings of ongoing events, future or hypothetical events, shared (known) events, but also allusions to tellings, deferrals of tellings, and refusals to tell.« (Georgakopoulou 2015, S. 255) Ähnliches zeigt Kotthoff (2018) anhand von Daten aus Spracherwerbskontexten und institutionellen Kontexten und nennt es »nicht ausgebaute Erzählungen«. Fragmentarizität zeigt sich danach in Erzählungen nicht voll kompetenter Sprecher*innen, aber vor allem auch in solchen Erzählungen im institutionellen Feld, wenn die Erzählung im Dienst einer anderen, übergeordneten Absicht steht.

Für familiales mündliches Erzählen kommt das Merkmal des Wiedererzählens hinzu. Im familialen Erzählen werden, mit unterschiedlichen Funktionen, fremde Geschichten, aber vor allem selbst erlebte Geschichten wiedererzählt, es handelt sich um die »[...] wiederholte mündliche Rekonstruktion derselben selbsterlebten Episode durch dieselbe Sprecherin/denselben Sprecher« (Schumann et al. 2015, S. 19). Auf diese Weise werden die Wiedererzählungen zu shared stories (Georgakopoulou 2005, S. 224), d. h. zu solchen Geschichten, die von den Interagierenden wechselseitig gekannt werden, wie es auch auf die Erzählungen der Mutter-Tochter-Paare zutrifft, wenn auch jeweils in unterschiedlichem Ausmaß. Formal zeigt sich eine Bandbreite von voll ausgebaut über elliptisch bis hin zu lediglich verweisend (De Fina/Georgakopoulou 2012, S. 109). Wiedererzählungen zeichnen sich durch eine besondere »Vielstimmigkeit« des Erzählens aus (Günthner 2005, S. 280), da die Rekonstruktion des vergangenen Ereignisses und der interaktive Kontext, innerhalb dessen ein Ereignis rekonstruiert wird, stark miteinander verflochten sind. Dabei nehmen Sprecher*innen nicht nur Sequenzen als Zitate aus dem ursprünglichen Kontext und fügen sie in den neuen ein, vielmehr adaptieren sie das Gesagte an Funktion und kommunikative Ziele der neuen bzw. der aktuellen Interaktion (Günthner 2012). Wiedererzählen in familialer Kommunikation ist funktional dreifach bestimmbar: Zum ersten zur Förderung der Gruppenbeziehung, zum zweiten zur Bestätigung der Gruppenzugehörigkeit sowie drittens zum Ausstellen geteilter Werte (Norrick 1997, S. 203). Wie sich zeigen wird, dienen die narrativ-argumentativen Bearbeitungen konfliktiver Vorfälle zwischen Mutter und Tochter der ersten Funktion.

Ein weiteres wesentliches Konzept, das Erzählen und Argumentieren in spezifischer Weise zu verbinden ermöglicht, ist das der Erzählwürdigkeit, eines prototypischen Merkmals des Erzählens in der Alltagskommunikation (Martínez 2017b, S. 5). Der Ereignisbezug des Erzählens rekurriert auf die Kategorie der Erzählwürdigkeit (tellability, reportabilityFootnote 4) und hängt mit der Erzählankündigung (preface) zusammen, die dessen gesprächsstrukturellen Ausdruck darstellt. Erzählwürdigkeit wird vom »Planbruch« (Quasthoff 1980, S. 27) gesichert, der die minimale Ungewöhnlichkeit des erzählten Ereignisses meint. Erzählwürdigkeit ist jedoch keine objektive Eigenschaft eines Ereignisses – und daher nicht a priori festgelegt –, vielmehr liegt sie als Frage, was es wert oder auch relevant ist, erzählt zu werden, in der subjektiven Bedeutsamkeit dieses Ereignisses. Abgesichert wird Erzählwürdigkeit im Gespräch durch evaluative Handlungen (Gülich 2008, S. 408). Für den Zusammenhang von Erzählen und Argumentieren muss modifiziert gefragt werden: Was erachten die Interagierenden als nötig zu erzählen, um zu argumentieren? Das Kriterium der Erzählwürdigkeit korrespondiert daher mit dem für das Verfahren des Argumentierens konstitutiven Kriterium der Strittigkeit bzw. der Quaestio. Strittigkeit umfasst konträre, mindestens unterschiedliche Lesarten eines Sachverhalts. Interagierende stehen im Gespräch vor der Aufgabe, Strittigkeit dem Gegenüber anzuzeigen, indem sie die strittigen oder unklaren Aspekte durch nuancierte, lokal ausdifferenzierte Markierungen von Nicht-Übereinstimmung relevant setzen (Schwarze 2010, S. 137). Erzählwürdigkeit in Bezug auf konfliktive Ereignisse bedeutet, dass diese offen im Status der Bearbeitung sind und noch keine (tragfähige, akzeptable) Lösung gefunden worden ist. Erzählwürdigkeit und Strittigkeit sind Kategorien, die nicht nur beide Verfahren miteinander verschränken, sondern auch die Dynamik des Argumentierens und des Erzählens an sich. Denn für wiedererzählte Ereignisse stellt sich die Kategorie der Erzählwürdigkeit anders dar als für neue, hier wird vielmehr das Erzählen an sich zur Ressource: »Apparently the tellability of familiar stories hinges not on their content, but on the dynamics of the narrative event itself.« (Norrick 1997, S. 200)

3 Datenbasis

Die Datenbasis ist das Korpus Mütter-Töchter-Konfliktkommunikation (Korpuseigentümer: Institut für Deutsche Sprache Mannheim; zur genauen Darstellung des Korpus: Schwarze 2010). Das systematisch erhobene Korpus umfasst 140 audiographierte, elizitierte, auf konfliktive Themen als Gesprächsangebot eingegrenzte Gespräche zwischen Müttern und ihren jugendlichen Töchtern. Die Gespräche sind familialer Kommunikation zuzuordnen, das heißt, dass die Mutter-Tochter-Paare sich vertraut sind, Wissen, Geschichte(n) und Kommunikationsweisen teilen, miteinander leben und daher in ihrem Alltag selbstverständlich auch Konflikte miteinander haben.

Gemeinsames Merkmal der ausgewählten Beispiele ist, dass es sich um typische Gesprächsanfänge, also Situationseröffnungen, handelt. Konflikteröffnungen sind relevant, weil für das nachfolgende Gesprächshandeln das Wissen darüber, was der Streitfall ist, essenziell ist. In den Eröffnungen muss der Konflikt entfaltet werden, wobei die (dynamisch zu denkenden) Beteiligungsweisen als Opponentin oder Proponentin im Konflikt etabliert werden; erst danach ist der Konflikt zu prozessieren. Die interne Struktur eines Konfliktes wird begrenzt und gestaltet durch das rhetorische Verfahren des Argumentierens. Bevor jedoch argumentiert werden kann, müssen die konfliktiven Vorfälle der gemeinsamen Neubearbeitung im Hier und Jetzt zugänglich gemacht werden. Hierzu wird der Konflikt in relevanten Aspekten narrativ entfaltet, neu perspektiviert und strittig gesetzt, wobei die neue-alte Quaestio benannt wird.

Die spezifische Verschränkung von Argumentieren und Erzählen wird im Folgenden an zwei Beispielen dargestellt. Die Beispiele unterscheiden sich zunächst darin, ob der konfliktive Vorfall einmal auftrat und somit episodischer Natur ist oder ob es sich um wiederkehrende Vorfälle handelt. Analyseleitende Fragen sind die nach der Art der Gestaltung der Erzählungen bzw. der Erzählfragmente, nach deren Verwobenheit mit argumentativen Elementen und gesprächslokalem Einsatz sowie die Frage nach ihren Funktionen im Hinblick auf die Bearbeitung des Konflikts.

4 Interaktive Rekonstruktion eines episodischen konfliktären Ereignisses

Der TranskriptausschnittFootnote 5 im Folgenden zeigt den Anfang eines Gesprächs, das von der Mutter initiiert wird, die dadurch einen in der näheren Vergangenheit erlebten konkreten Konfliktfall aktualisiert. Darin ging es um den Besuch einer Konfirmation durch die Tochter, die diesen dem Besuch des Geburtstags der Mutter vorzog. Nach einer kurzen metapragmatischen Äußerung über das Verhalten der Tochter im Allgemeinen beginnt die Mutter ohne weitere Ankündigung zu erzählen.

figure 1

Die Mutter als Erzählerin entfaltet in Zeile 3 – 4 knapp die wesentlichen Größen der Erzählung: Ereignisbezug, Zeit, handelnde Personen, Handlung. Rekurriert wird per dEs auf ein Ereignis, das in der Zeit (war am:) verankert wird. Die temporale Orientierung wechselt dann zu einer ereignisbezogenen Orientierung mit mei:m geBURTStag. Die Personen und ihre Handlungen werden situiert: Sie selbst, die Tochter und eine im sozialen Verhältnis an dieser Stelle sowie im Gesprächsverlauf nicht explizierte Angela haben etwas gSAGT (Z. 4). Diese knappe EntfaltungFootnote 6 als story preface leitet die nachfolgende szenisch-episodische Rekonstruktion ein.

Nach einer Pause findet sich in Zeile 5 durch die Mutter eine durch die vorangegangene narrative Eröffnung angekündigte erste Redewiedergabe (i.S. einer Bezugnahme auf eine sprachliche Handlung, vgl. Butterworth 2015) dessen, was die beiden (Tochter, Angela) gesagt haben. Darin kommt eine weitere beteiligte Person vor: Nico. Auch in Bezug auf Nico wird nicht expliziert, in welchem (evtl. verwandtschaftlichen) Verhältnis er zu allen anderen steht. Allerdings müssen die beiden Gesprächsteilnehmerinnen diese Verhältnisse im Erzählen füreinander auch nicht explizieren, sie stellen geteiltes Wissen dar.Footnote 7 Beides – es gemeinsam so gesagt zu haben sowie die Singularität von Nicos Konfirmation – wird von der Tochter in ihrer ersten Äußerung ratifiziert (Z. 6). So leistet sie einen Beitrag zur Ko-Konstruktion der Erzählung, sie bestätigt etwas, was im faktischen Sinne nicht zu bestätigen nötig wäre. Prosodisch zeichnet sich die Äußerung durch Merkmale ›abwartenden Sprechens‹ aus: Es ist leise gesprochen, klangvoll und wenig gespannt, die Melodiebewegung am Äußerungsende indiziert FraglichkeitFootnote 8. Anschließend (Z. 7) setzt die Mutter die Redewiedergabe fort, jetzt geht es darum, was die Tochter und Angela, die ja keine aktuelle Interaktionspartnerin ist, sie betreffend gesagt haben – beides gehört zur erzählten Welt. Die Mutter als die Erzählerin im Hier und Jetzt setzt sich als damals angesprochene Person in den Fokus und vollzieht somit die Verbindung des Ereignisses der Vergangenheit mit der Bearbeitung in der Gegenwart.

Diese Äußerung der Mutter wird zur Auslösehandlung für die Tochter, die nachfolgend in einem Oppositionsformat (Z. 8, 10) Dissens markiert in der Aufnahme des alten Konflikts. Hier zeigt sich die erste Verschränkung von Argumentieren und Erzählen: Die Dissensmarkierung in Zeile 8 durch die Tochter ist der erste Schritt einer Argumentationssequenz. Dieses lokal angeschlossene, integrierte Oppositionsformat als initiale ja-aber-Äußerung (Steensig/Asmuß 2005; Schwarze 2010; Staffeldt 2018) enthält einen retrospektiven, die direkte Vorgängeräußerung zunächst ratifizierenden Schritt und einen prospektiven Schritt, der die zentrale Aussage der Bezugsäußerung in ihr Gegenteil verkehrt. Dadurch wird der Dissens betont und die Gegensätze werden aufgezeigt. Formulatorisch-sequenziell wird zunächst Kohäsion hergestellt und dann diskurssemantisch die Richtung geändert: Die Tochter behauptet, dass die Mutter am Abend ohnehin in die KneipeFootnote 9 gegangen wäre. Damit greift sie etwas auf, was in der direkten Vorgängeräußerung nur implizit enthalten war und etabliert zugleich einen neuen thematischen Fokus, markiert also Nicht-Übereinstimmung. Diese Äußerung ist lokal nur vor dem Hintergrund der Aktualisierung des alten Konflikts verständlich, denn offensichtlich handelt es sich zwar um eine typische, häufig vorkommende, jedoch in diesem konkreten Fall fiktive Handlungsfolge, die der Tochter zur Stützung ihrer Position dient. Klassifizierbar ist das als ein fiktives pragmatisches ArgumentFootnote 10, das mit negativen Handlungsfolgen operiert (Kienpointner 2011). Dessen Akzeptanz bemisst sich zum einen an den Modifikationen der realen Welt, die hier als minimale – da der Tempuswechsel auch die Typizität der Handlung indiziert – Modifikationen gewertet werden können, zum anderen an der Sequenzialität und Interaktivität: Eingebettet in die Erzählung handelt es sich funktional um eine im vergangenen Konflikt vorgebrachte Rechtfertigung damaliger Handlungen. Die Rechtfertigung – es wäre nicht so schlimm, dem Geburtstag ferngeblieben zu sein, weil die Mutter abends sowieso nicht auf der eigenen Feier, sondern im Lokal gewesen wäre – wird jedoch aktuell und lokal etabliert, indem sie auf die Redewiedergabe reagiert. Mit dieser Äußerung (Z. 8, 10) setzt sich die Tochter selbst in den Fokus und unterbricht die narrative Rekonstruktion durch die Mutter.

Das Oppositionsformat der Tochter wird von der Mutter als dispräferierte Äußerung behandelt, sie markiert daraufhin ihren eigenen Dissens maximal explizitFootnote 11 in Zeile 11–12: [nE:; ] nE:; sowieSO nit das da wÄr ich gar net GANge; (‑) und bestreitet das Zutreffen der fiktiven Handlung. So steigt sie in den neu-alten Konflikt mit einer dreifachen, klimaktisch gestalteten Dissensmarkierung und Zurückweisung ein (Z. 11–13). Der Konflikt wird also nicht in der Rückschau besprochen, sondern ist mit großer Emotionalität – Zeichen dafür sind die Wiederholungen, der explizite Dissensmarker nein, die höhere Sprechlautstärke sowie die größere Artikulationsspannung – aktualisiert und etabliert. Die narrative Rekonstruktion eröffnet die Möglichkeit der argumentativen Neubearbeitung. In Zeile 14 setzt die Mutter erzählend fort, eröffnet durch ein prospektives weil, das eine Doppelfunktion als Weiterweisungssignal sowie als Verweis auf den argumentativen Status des Nachfolgenden hat. Die Mutter konkretisiert detaillierend den Vorfall (Z. 14–19) und beendet mit einer emotionalen Bewertung (Z. 20). Diese abschließende evaluative Äußerung stellt wiederum den Bezug zur Vergangenheit her, sie ist der Plot der Geschichte und zugleich der Ausgangspunkt der Quaestio im Konflikt, die mit »War die Mutter nun sauer, ja oder nein?« reformuliert werden kann. Die starke prosodische Markierung und die sequenzielle Abschlussfunktion verankern diesen Zug in der Gegenwart und damit in der aktuellen Bearbeitung. Funktional wird die Geschichte zur Verteidigung gegen den erhobenen Vorwurf, sauer gewesen zu sein, erzählt, um also zu bekräftigen bzw. erneut zu rechtfertigen, nicht sauer gewesen zu sein. Das gelingt aber nicht, wie der Fortgang des Gesprächs im Transkriptausschnitt 2 zeigt:

figure 2

Die Tochter schließt wieder im Oppositionsformat eine erneute Dissensmarkierung (Z. 21) an, die auf die alte Strittigkeit Bezug nimmt. Sie ist formal so gestaltet, als hätte die Mutter die affektive Zuschreibung sauer sein ratifiziert, was sie lokal jedoch nicht getan hat (Z. 20). Die Tochter gibt den Grund dafür an, aus ihrer Perspektive weisen evidenzbasierte Gründe (›schön tun vor der Angela‹ als Zeichen für ›sauer sein auf die Tochter‹) darauf hin, dass die Mutter eben doch verärgert war, sie bekräftigt also den Vorwurf. Dabei vollzieht sie einen Fokuswechsel von Angela weg auf sich selbst als der aktuellen Partnerin im gegenwärtigen Konflikt, verankert den Konflikt in der Gegenwart und führt ihn argumentierend fort. Die Tochter nutzt die von der Mutter angebotenen Elemente der Erzählung, um sie argumentativ zu bearbeiten, es zeigt sich eine enge Verschränkung von Narration und Argumentation. Das Erzählen der Mutter, den Geltungsanspruch, ›so ist es gewesen‹ erhebend sowie die divergierende Perspektive der Tochter auf das, was gewesen ist, legen die Grundlage für das Argumentieren.

5 Interaktive Rekonstruktion eines iterativen konfliktären Ereignisses

Bei diesem Beispiel handelt es sich um die narrativ-argumentative Rekonstruktion eines wiederkehrenden Ereignisses: Die Tochter und eine dem Namen nach männliche Person aus dem Haushalt (WinfriedFootnote 12) haben häufig Auseinandersetzungen miteinander, die die Mutter – sie bringt auch das Thema ein – in besonderer Weise strapazieren. Wiederum sind es reale Ereignisse im familialen Leben der Interaktionspartnerinnen. Im Transkriptausschnitt 3 finden sich zwei miteinander verschränkte Erzählungen, die Mutter erzählt in den Zeilen 2–11 ihre Geschichte, die Tochter in Zeile 10–20.

figure 3

Die Mutter beginnt, ihre Sprecherrolle ratifizierend, mit einem eröffnenden Gliederungssignal (ja=alSO:) und kündigt ihre Erzählung mittels eines story preface an (Z. 2–3), sie stellt zugleich durch die Einschätzung, etwas, woran die Tochter beteiligt ist, als Missempfindung anzusehen, Erzählwürdigkeit her. Sie setzt sich selbst in den Fokus, benennt Emotionen (nerven, ärgern) und verweist auf das, was regelmäßig wiederkehrend diese Emotionen in ihr hervorruft. Narrativ entfaltet sie nachfolgend die Ursache dieser Missempfindungen, dabei nutzt sie Verfahren der Erlebensthematisierung (Fiehler 1990, S. 98). Die Mutter verweist auf wiederkehrende Vorfälle, die danach in einer Belegerzählung verdichtet werden. Emotionen sind »routinisierte und automatisierte Mechanismen der Stellungnahme« (Fiehler 1990, S. 51), wobei geteilte Bewertungen Gemeinschaft stiften (ebd., 38). Im Konflikt gilt jedoch die Orientierung am Dissens als Manifestation von divergierenden Bewertungshandlungen, die wiederum als Quaestio den Ausgangspunkt für das Argumentieren bilden.

In Zeile 4 werden die Personen, die Tochter und Winfried, sowie deren gemeinsame Handlungen benannt: dass IHR euch immer gEgenseitig (‑) [°hh ] KABbeln müsst und mEssen müsst (Z. 4, 7). Diese kontextuell typische extreme case formulation (Pomerantz 1986) legt nahe, die beiden täten das willentlich zu jeder Zeit – was sicher kontrafaktisch ist. So ist diese Formulierung als Hyperbel eher Ausdruck der Bewertung dieses Verhaltens durch die Mutter. In Zeile 8–9 bewertet sie diese Vorfälle, indem sie eine subjektive Einschätzung als (angedeutete) Schlussfolgerung vorbringt (Ich es manchmal das geFÜHL hab er nImmt dich auf die SCHIPP?=), die sie aber nicht zu Ende führen kann, da die Tochter ihr in Zeile 10 das Rederecht nimmt. Die Tochter ratifiziert das Gesagte und beginnt selbst zu erzählen (ab Z. 12), setzt sich selbst in den Fokus und kündigt an, Gründe für ihre Emotionen (das das was mich so fUrchtbar AUFregt; (‑)) zu geben. Damit ist der Erzählrahmen gesetzt.

Die Tochter (ab Z. 14) verortet ihre Geschichte (in der Schule), stellt Personenbezug (alle möglichen Leute) her und kennzeichnet deren Handlungen als negativ für sie selbst (nerven mich). Die Tochter leistet nun einen hin zu Winfried konkretisierenden Schritt und führt die Geschichte der Mutter weiter. In einer Darlegungshandlung, syntaktisch und prosodisch in eine konditionale Wenn-dann-Konstruktion (Z. 16–18) eingebettet, wird ein Zusammenhang zwischen beiden Teilen im Sinne einer Grund-Folge-Relation hergestellt, wobei der erste Teil, die Wenn-Komponente, die Bedingungen angibt, unter denen der zweite Teil, die Dann-Komponente, für die Interaktionspartnerin relevant ist. Im ersten Teil der Wenn-dann-Konstruktion nennt sie die Bedingung und im zweiten Teil (Z. 17–18), präsentiert als logische Schlussfolgerung, wird die Mutter mit einer Handlungsempfehlung (ruhig bleiben, nicht ernst nehmen) zitiert. Abschließend stellt die Tochter in Zeile 19, 20 im Sinne einer eigenen Erzählzielen untergeordneten Konklusion den ›Rat‹ der Mutter evaluativ als unbrauchbar dar, da dieser zur Folge habe, dass sie ausraste, was für sie selbst eine nicht-wünschenswerte Folge ist. Die Tochter übernimmt mit ihrer Erzählung die Erzählung der Mutter, funktional ist sie eine Gegengeschichte (Hannken-Illjes 2006)Footnote 13, die zugleich als Ganzes ein Gegenargument darstellt. Damit ist die Funktion erzählungsextern bestimmt (Deppermann/Lucius-Hoene 2006), die Gegengeschichte greift weit zurück und fungiert als narrative Erklärung für die in Zeile 4–7 geäußerte Bewertung ihres Verhaltens durch die Mutter.

Es folgt, eingeleitet durch eine knappe Dissensmarkierung per aber (Z. 21), eine Darlegungshandlung der Mutter, die mittels des Topos aus der AnalogieFootnote 14 (Schwarze 2010), einer vergleichenden Einzelfallargumentation mit dem Ziel, in einen Sachverhalt einsichtig zu machen, gestaltet ist. Indem sie sich selbst wieder in den thematischen Fokus setzt, sind diese Äußerungen zugleich die Verbindung zwischen erzählter Welt und Erzählwelt: Sie fungieren als Aktualisierung von Handlungen in der Vergangenheit und zugleich als Ankündigung innerhalb der Erzählung für das folgende Argument. In Zeile 21, 22 legt die Mutter die Voraussetzung dar, um in Zeile 24, 26 zwei Folgen als Reaktionsmöglichkeiten anzuführen, die sie selbst im Konfliktfall (›geuztFootnote 15 werden durch Winfried‹) anwendet. Die Tochter weist jede der beiden angebotenen Reaktionsmöglichkeiten (Z. 25, 27), nicht jedoch die Analogie an sich, als für sie unzutreffend zurück:

figure 4

Die Akzeptabilität des Analogieschlusses wird von der passenden Vergleichsrelation bestimmt. Hier trifft sie jedoch nicht zu, denn Mutter und Tochter sind in diesem lokalen Kontext nicht analog setzbar, weil die Rolle des Lebensgefährten oder Stiefvaters jeweils andere Verhaltensmöglichkeiten offeriert. Die Schlussfolgerung, die die Mutter anbietet (›so wie ich mich verhalte, wenn W. mich uzt, so sollte sich die Tochter verhalten‹ weil das sinnvolles Verhalten ist), verweist auf ein normatives Argument.Footnote 16 Das interaktive Potential, das die gemeinsame Etablierung eines Topos ermöglicht, wird von beiden Interagierenden zugunsten jeweils eigener Zwecke genutzt, wobei die lokale Funktion das Aufzeigen von Widerspruch ist.

Argumentationsbezogen hat sich an den Positionen bis hierher wenig verändert, das ließe sich mit der unscharfen Quaestio-Formulierung, die eine Konsequenz des aufgegriffenen wiederkehrenden Ereignisses ist, erklären. Die Erzählerin, als diejenige, die das Thema eingebracht hat, steht hier vor der Aufgabe, die Iterativität zu veranschaulichen und zu konkretisieren. Das vollzieht die Mutter auf unterschiedliche Art. In den Zeilen 32–37 entfaltet die Mutter narrativ eine Belegerzählung, die als Ganze die vorangestellte Konklusion (weil das ist kost dich ja auch n haufe enerGIE <<p> nicht nur DICH sondern mich AUch ne>) rechtfertigt. Deren Funktion ist die der Veranschaulichung und Erfahrbarmachung des Sachverhalts, aber auch die Herstellung persönlicher Betroffenheit durch den Alltagsbezug in der Rückbindung an gemeinsame Lebenswelt, zudem ist ein Ebenenwechsel typisch: »Ein allgemeiner, abstrakter, komplexer oder wiederkehrender Sachverhalt wird durch einen spezifischeren, konkreteren, einfacheren, singulären oder näher an der direkten Wahrnehmung liegenden Sachverhalt formuliert, wiedergegeben oder repräsentiert.« (Ehmer 2013, S. 9) Sie beendet (Z. 36, 37) die verdichtende Belegerzählung mit einer humorvollen Beschreibung ihrer konkreten, fiktiven Handlungswünsche, um den Konflikt zwischen Winfried und der Tochter aufzulösen (ich müsst jetzt zwischen rEIn oder entweder jEden so [am ohr nehmen und EInmal] so DOING). Die Narration erlaubt es hier, die anfangs benannten Missempfindungen auszugleichen, was durch die Argumentation nicht möglich wäre. In Zeile 39Footnote 17–41 beendet die Mutter die gesamte narrativ-argumentative Sequenz durch die teils wortgleiche, selbstkohärent anschließende Reformulierung ihrer Position vom Anfang.

6 Diskussion und Fazit

Die Gegenüberstellung der Beispiele zeigt, dass Erzählen einige grundlegende Funktionen für das Argumentieren erfüllt, auch wenn es, abhängig von der Eigenschaft des Bezugsereignisses – singulär oder iterativ –, ganz unterschiedlich ausgestaltet sein kann.

Das erste Beispiel zeichnet sich durch Kleinschrittigkeit bei der präzisen Rekonstruktion des Vorfalls und seiner argumentativen Bearbeitung aus, es ist dadurch konkret, anschaulich und stärker narrativ ausgestaltet. Zeichen dafür sind die verschiedenen Formen der Redewiedergabe, die szenische Gestaltung und prosodische Gestaltung. Es ist implizit, inferenzreich und weist viele Merkmale des Sprechens unter Vertrauten auf, was sich auch daran zeigt, dass der bearbeitete Vorfall in der Außenperspektive der Analysandin nicht hinreichend rekonstruierbar ist. Der Zeitbezug ist in diesem Beispiel auf die Vergangenheit gerichtet, genauer auf die Klärung der Vergangenheit (d. h.: Was war wann, warum und wer hat was gewusst?) und damit auch, wer damals und so auch heute im Konflikt Recht hat. Über die konkrete Interaktion hinaus kann es (vielleicht) der besseren Beziehung zwischen Mutter und Tochter in Gegenwart und Zukunft dienen. Argumentationsbezogen wird ein fiktives Argument genutzt, wobei mit fiktiven und negativ bewerteten Handlungsfolgen Geltung für die eigene Position beansprucht wird. Der Gesprächsanfang ist durch starke Agonalität gekennzeichnet, die Beteiligungsweisen der Proponentin und Opponentin sind deutlich (und bleiben auch über das gesamte Gespräch so bestehen).

Das zweite Beispiel ist hingegen weniger konkret und weniger narrativ ausgestaltet, es finden sich kaum Redewiedergaben, keine animierten Stimmen sowie keine szenische Gestaltung. Zugleich ist es allgemeiner, was der Bearbeitung wiederholter Vorfälle geschuldet sein könnte, die ja auch in größerer Zahl vorkommen. Dadurch hat es den Charakter einer Verallgemeinerung und ist als Ganzes als Induktionsschluss anzusehen. Das indiziert die Verwendung des Analogieschlusses mit Vorbildcharakter. Danach offeriert die Mutter ihr eigenes Handeln als vorbildhaft in Bezug auf die konfliktiven Vorfälle. Die bearbeiteten konfliktiven Vorfälle sind aus der Außenperspektive der Analysandin hinreichend rekonstruierbar. Der Zeitbezug in diesem Gesprächsausschnitt greift zwar auf Ereignisse in der Vergangenheit zurück, sie werden jedoch von der Gegenwart aus und für die Zukunft besprochen, um zukünftiges Handeln im eigenen Sinn positiv zu beeinflussen (d. h.: Was zu welchem Zeitpunkt passierte, ist unstrittig, strittig sind die Handlungsgründe sowie Handlungsempfehlungen für die Zukunft). Das Ereignis ist, anders als im ersten Beispiel, für die Beteiligten noch offen, nicht abgeschlossen, es ist noch in Bearbeitung – das schnelle Argumentieren und seine Erzählwürdigkeit sprechen dafür. Der Gesprächsanfang ist weniger stark agonal, die Beteiligungsweisen der Proponentin und Opponentin sind zwar zunächst klar, dynamisieren sich aber.

Für beide Gesprächsausschnitte gilt, dass die Erzählerrolle nicht bei einer der beiden Interaktantinnen liegt, vielmehr wird das Erzählen konsequent ko-konstruiert. Beide Ausschnitte enthalten Merkmale der Erzählung wie Vergangenheits- und Vorfallsbezug, subjektives Erleben und chronologische Ordnung. Es werden jedoch kaum Linearität und Chronologizität in der Narration hergestellt, vielmehr wird vom Ausgang her perspektiviert. Dabei werden die Bewertungen vorangestellt, sie sind keine abschließenden Evaluationen. Das entspricht der Quaestio. Für beide gilt, dass die Erzählwürdigkeit durch die Strittigkeit des Falls bestimmt wird, nicht durch seinen Neuigkeitswert, den er als gemeinsamer Konflikt ohnehin nicht hat. Dabei geht es nicht um die historische Wahrheit der Geschichten, denn typisch für zitierte Äußerungen sind ihre De- und Rekontextualisierung sowie Modifikation und ihr Einsatz entsprechend den aktuellen kommunikativen Zielen (Günthner 2005). Die Interagierenden arbeiten daher mit Bruchstücken, indem sie genau so viel narrativ aktualisieren, wie für die argumentative Bearbeitung notwendig ist, die sie auch sofort vollziehen. Das heißt, Mutter und Tochter besprechen den Konflikt nicht nachträglich, sondern prozessieren ihn im Hier und Jetzt. In beiden Gesprächsausschnitten wird nicht die Evidenz des alten Konflikts als argumentative Ressource verwendet – denn dass beide dabei waren, ist vorausgesetzt –, sondern seine Beurteilung. Auch wenn sich Argumentieren und Erzählen in den Gesprächen, wie an den Beispielen gezeigt, immer wieder auf ähnliche Art und Weise sehr eng und immer in prospektiver Richtung verschränken, ist folgender Differenzierung zuzustimmen:

»Ein wesentlicher Unterschied zwischen Erzählen und Argumentieren besteht gerade darin, dass von ersterem nicht mehr die Rede sein kann, wenn bestimmte Strukturmerkmale fehlen. Argumentieren hingegen ist prinzipiell nicht auf das Vorliegen irgendwelcher spezifischen Strukturmerkmale angewiesen. Im Besonderen zeigt sich, dass zwischen Erzählen und Argumentieren keine Gleichrangigkeit besteht: Erzählungen sind eine strukturelle Form, mit der Argumentationen realisiert werden können – das Umgekehrte gilt nicht.« (Deppermann/Lucius-Hoene 2006, S. 142)

Erzählen erfolgt also zweckgebunden für das und innerhalb des Argumentieren(s). Dabei erfüllt es mehrere Funktionen, prominent sind Anschaulichkeitsherstellung, Wissensgenerierung und Überzeugung. Durch die Nutzung der Erfahrungsbasiertheit wird mehr Anschaulichkeit, Sinnlichkeit, persönliche Perspektive und Konkretheit beim Argumentieren hergestellt, zudem ist die Erlebensperspektive eine Glaubwürdigkeitsressource. Durch die Neu-(Re)konstruktion von strittigen Ereignissen in der Vergangenheit in einem begründungserfordernden interaktiven Prozess wird für die Gesprächspartnerinnen Wissen generiert. Sie erfahren die jeweilige Perspektive der anderen auf das Ereignis, klären das Ereignis und ihre subjektiven Beteiligungen, legen Handlungsgründe offen. Es ist neues Wissen durch die Neuperspektivierung der alten Quaestio. Auf diese Weise erfolgt die Konstitution von gemeinsamem Erfahrungswissen, dadurch wird es möglich, Konflikte zu bearbeiten und (vorläufig) zu beenden. Darin liegt auch die Überzeugungskraft des Erzählens: Die Bearbeitung vergangener Vorfälle wird dazu genutzt, etwas neu und auch für die Zukunft tragbar zu klären. Erzählen und Argumentieren zeigen sich hier nicht als gegensätzliche Modi des Überzeugens, es lässt sich in Bezug auf die Überzeugungskraft kein Gegensatz eröffnen zwischen ›guter Geschichte‹ und ›besserem Argument‹. Vielmehr dient die Geschichte der Argumentation, die Narration erfährt auf diese Weise eine Rhetorisierung. Das zeigt sich auch darin, dass in der Verschränkung von Erzählen und Argumentieren – anders als in voll ausgebauten mündlichen Erzählungen, in denen die Erzählrolle so lange etabliert bleibt, bis die Geschichte erzählt ist – mit dem Plot spezifisch umgegangen wird: Er wird weggelassen, von der Gegenseite unterdrückt (durch Sprecherwechsel oder Gegengeschichte) und verändert, um den eigenen argumentativen Zielen untergeordnet zu werden.

Erzählen im Gespräch ist vielfältig und produktiv und die spezifische Verschränkung von Erzählen mit Argumentieren sollte als kontextuell und anforderungsbezogene Gestaltungsweise dem »narrativen Kontinuum« (Quasthoff/Becker 2005) hinzugefügt werden.