1 Einleitung

Seit den späten 1950er-Jahren sah sich die bundesdeutsche Gesellschaft mit zahlreichen Veränderungen konfrontiert. „Gesellschaft“ wurde sowohl eine wichtige Grundlage für die Benennung dieser diffusen Umbrüche als auch zum Kernelement gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Mit der verstärkten Thematisierung von Gesellschaft seit etwa Mitte der 1960er-Jahre wurde auch deren Gestaltbarkeit entdeckt. Gesellschaft kam nicht nur in Bewegung (u. a. durch soziale Bewegungen und kulturelle Aufbrüche), auch soziale Ordnungen wurde dynamisch und konflikthaft gedacht (Nolte 2000; Leendertz und Meteling 2016). Dieses Setting prägte auch die Entstehung kritischer Strömungen in Geschichtswissenschaft (hier: Sozialgeschichte) und Soziologie (hier: Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle). Akteur*innen aus beiden Forschungsfeldern engagierten sich oft für politische Aufklärung und soziale Mitgestaltung (zeitgenössisch Ludz 1973). Zudem verband sie nicht nur ein enger Bezug auf Gesellschaft und auf ihre strukturellen Ordnungsformen, sondern auch auf Wandel (Albrecht 1977, S. 179). Ein Denken in der Kategorie einer Historischen Sozialwissenschaft wurde möglich, wenn auch nicht für die Mehrzahl der Historiker*innen. Geschichtswissenschaft und weit stärker die Soziologie avancierten zeitweise zu gesellschaftlichen Leitwissenschaften und pflegten einen intensiven Austausch mit Kolleg*innen in den USA. In beiden Forschungsfeldern dominierte anfangs eine Perspektive von oben, auf Strukturen (Institutionen, Organisationen, Bürokratie, gesellschaftliche Gruppen) sowie – in der Soziologie sozialer Probleme deutlicher ausgeprägt – auf Staatlichkeit. Der Blick auf menschliche Akteur*innen, auf ihre Handlungs- und Wahrnehmungsmuster trat dahinter zurück.

Trotz der Ähnlichkeiten zwischen beiden Forschungsfeldern fand das Konzept soziale Probleme in der Geschichtswissenschaft keine explizite Resonanz. Allenfalls wurden Themen aus diesem Bereich von der Labor History, von der Alltagsgeschichte sowie von der historischen Kriminalitätsforschung aufgegriffen. Jedoch bestand bei der Erforschung von Kriminalität, (Jugend‑)Delinquenz und Polizei ein reger Austausch zwischen beiden Disziplinen, der zwar seit den 2000er-Jahren nachließ, aber bis heute sichtbar ist.Footnote 1 Auch standen beide Forschungsfelder seit etwa Ende der 1970er-Jahre fachintern in der Kritik. Die strukturlastigen und akteursfernen Top-Down-Perspektiven sozialgeschichtlicher Ansätze sahen sich zunächst von der Alltags- und der Mikrogeschichte und im Verlauf der 1980er-Jahre von kulturell orientierten Perspektiven herausgefordert, oft unter dem Label cultural turn gebündelt (Bachmann-Medick 2014). Seit den 2000er-Jahren kamen innovative Impulse von wissensgeschichtlichen, vor allem aber von global- und kolonialhistorischen Studien. Der für die entstehende Soziologie sozialer Probleme kennzeichnende Blick auf Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozesse fehlte in sozialgeschichtlichen Arbeiten. Sie wurden dort erst später durch den Einfluss kulturgeschichtlicher Ansätze einbezogen, bestimmten aber nicht die grundlegenden sozialhistorischen Argumentationslinien.

Die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle musste sich zunächst positionieren zwischen Anwendungsbezug und akademischer Orientierung sowie zwischen konstruktivistischen und objektivistischen Perspektiven. Für die Sozialgeschichte sind diese Merkmale inklusive der blinden Flecken weitgehend untersucht (Eibach 2006; Maeder et al. 2012). Für die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle fehlen solche historisierenden Studien, obwohl sich die Soziologie in jüngster Zeit intensiv mit ihrer Geschichte auseinandersetzt (Moebius und Ploder 2017/2018; Neun 2018); allerdings kommen hier vorrangig Soziolog*innen zu Wort.

Dieser Aufsatz kann weder die Geschichte einer Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle noch deren wechselseitige Verflechtung mit geschichtswissenschaftlichen Forschungen aufarbeiten. Grundsätzlich geht es hier darum, die Geschichte des Forschungsfelds soziale Probleme und soziale Kontrolle und damit auch der Zeitschrift Soziale Probleme in eine längerfristige Perspektive zu stellen. Diese geschichtswissenschaftliche Perspektivierung orientiert sich an der Sozialgeschichte als verwandtem (in diesem Fall geschichtswissenschaftlichem) Forschungsfeld.

Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags: Erstens wird untersucht, wie im Forschungsfeld relevante Ordnungsbegriffe (Gesellschaft, Staat, Struktur) reflektiert und aus welcher Perspektive sie analysiert wurden (in groben Kategorien: von oben, institutionenorientiert, von unten). Zweitens wird gefragt, wie die Positionierung zum cultural turn (besonders zum Kulturbegriff) verlief. Orientiert an diesen beiden Fragen sowie an den gesellschaftlichen, politischen und wissen(schaft)sgeschichtlichen Rahmenbedingungen möchte ich die Geschichte des Forschungsfelds soziale Probleme und soziale Kontrolle in der Bundesrepublik in vier überlappende Phasen einteilen (eine dreiphasige Einteilung bei Groenemeyer 2001). Die Etablierungsphase erstreckte sich von etwa Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er-Jahre. Es folgte die Verwissenschaftlichung bis etwa Mitte/Ende der 1980er-Jahre. Die dritte Phase, die empirische Konsolidierung und die methodisch-konzeptionelle Stagnation, ging gegen Ende der 1990er-Jahre allmählich in eine Krisenphase über.

Diese vier Phasen bestimmen auch die Gliederung des Artikels. Nach dieser Einleitung wird im zweiten Teil die Geschichte des Forschungsfelds soziale Probleme zwischen den 1960er und 1980er-Jahren (also die erste und zweite Phase der Geschichte des Forschungsfelds) skizziert und dabei auf Transfers aus den USA als wichtigem Impulsgeber eingegangen. Der dritte Teil bietet zunächst die Analyse der beiden folgenden historischen Phasen des Forschungsfelds (Unterkapitel 3.1. und 3.2), bei der die 1990 gegründete Zeitschrift Soziale Probleme im Mittelpunkt steht. Das dritte Unterkapitel (3.3) resümiert dann eine in der Zeitschrift ausgetragene Kontroverse zum Themenfeld Gewalt. Dieses Beispiel verdeutlicht Erkenntnisgrenzen von Forschungen, die durch strukturelle Einflussgrößen soziale Phänomene (hier: Gewalt) erklären wollen. Zugleich werden unterschiedliche Blickwinkel auf Staatlichkeit herausgearbeitet. Am Ende stehen eine Zusammenfassung sowie ein Ausblick darauf, wie das Forschungsfeld soziale Probleme durch praxistheoretische Ansätze neue Impulse erhalten könnte.

2 Etablierung und Verwissenschaftlichung (Mitte 1960er – Ende 1980er-Jahre)

Die soziale Frage und ihre mögliche Lösung bildeten den Ausgangspunkt für die Thematisierung sozialer Verwerfungen nach der Französischen Revolution. Die soziale Frage bündelte Ängste vor unkontrollierbaren kollektiven Aktivitäten eines entstehenden Proletariats und damit verbundenen (eventuell revolutionären) Umsturzversuchen. Die Entstehung der Fachdisziplin Soziologie in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts war maßgeblich davon geprägt, soziale Verwerfungen zu erkennen und Gegenmaßnahmen aufzuzeigen. Seit den 1940/50er Jahren erhielt dann die Erforschung vielfältiger sozialer Probleme maßgebliche Impulse aus den USA. Die Zeitschrift Social Problems (erste Ausgabe von Juni 1953) wurde von der im September 1951 in Chicago gegründeten „Society for the Study of Social Problems“ ins Leben gerufen. Damit sollte die „Opposition zur etablierten Soziologie“ verdeutlicht, weniger „ein spezifisches wissenschaftliches Konzept“ etabliert werden (Best 2006, S. 21 f.).

Die Etablierungsphase des Forschungsfelds soziale Probleme und soziale Kontrolle in der bundesdeutschen Soziologie (bis ca. Mitte der 1970er-Jahre) wurde nicht nur durch den eingangs geschilderten Bedeutungsgewinn des Begriffs „Gesellschaft“ erleichtert, sondern auch von sozialen Bewegungen vorangetrieben, die soziale und kulturelle Veränderungen förderten und ausdrückten. Auch intellektuelle Transfers aus USA gaben wichtige Impulse. Das Grundlagenwerk „Contemporary Social Problems“ (1961), ediert von Robert K. Merton (Columbia University) und Robert A. Nisbet (University of California, Riverside), gehörte zu diesen Impulsgebern. Der Band erlebte bis 1976 vier Auflagen. Das Referenzwerk vermittelt einen ersten Eindruck über die Konturen dieses Forschungsfeldes in der US-Gesellschaft. Die Erstausgabe (1961) bündelte in zwei Rubriken insgesamt 14 soziale Probleme. Die Rubrik Deviant Behavior umfasste sechs Themenfelder: Crime (D.R. Cressey), Juvenile Delinquency (A.K. Cohen und J.F. Short), Mental Disorders (J.A. Clausen), Drug Addiction (J.A. Clausen), Suicide (J.P. Gibbs) und Prostitution (K. Davis). Die Kategorie Social Disorganization bestand aus acht Einträgen: The World’s Population Crisis (K. Davis), Race and Ethnic Relations (A.M. Rose), Family Disorganization (W.J. Goode), Social Problems and Disorganization in the World of Work (R.S. Weiss und D. Riesman), The Military Establishment: Organization and Disorganization (M. Janowitz), Community Disorganization (J.S. Coleman), Traffic, Transportation and Problems of the Metropolis (S. Greer) und Disaster (C.F. Fritz). In der Ausgabe von (1976) waren 15 Themenfelder vertreten. Es gab keine Einträge mehr zu Militär und zu Katastrophen. Die Beiträge Crime and Juvenile Delinquency (A.K. Cohen und J. F. Short) sowie Community Disorganization and Urban Problems (J.S. Coleman) bündelten nun jeweils zwei Themen aus dem frühen Band. Als neue Themenfelder kamen hinzu Alcoholism and Problem Drinking (R. Straus), Equality and Inequality (S.M. Lipset), Age and Aging (M.W. Riley und J. Wrang), Poverty and Proletariat (D. Matza und H. Miller) sowie Collective Violence (A. Etzioni).

Ein Blick in wichtige bundesdeutsche Publikationen aus den 1970/80er Jahren verdeutlicht eine ähnliche Ausrichtung der Erforschung sozialer Probleme, verweist aber auch auf Besonderheiten. Die Bände von Bellebaum (9,10,a, b), Brusten und Hohmeier (15,16,a, b), Albrecht und Brusten (1982), Stallberg und Springer (1983) sowie Bellebaum (1984) thematisierten ähnlich wie ihre US-Kollegen vor allem die als eher dunkel und bedrohlich etikettierten Seiten von Gesellschaft: Armut (inkl. Obdachlosig- und Nichtsesshaftigkeit), Drogen (inkl. Alkohol), Kriminalität, Krankheit/Behinderung, Alter(n) sowie vereinzelt auch Arbeit, Freizeit und Umwelt. Es bestanden jedoch auch klare Unterschiede gegenüber der US-Forschung.Footnote 2 Eine Bilanz der zwischen 1967 und 1977 publizierten Studien über soziale Probleme zeigt diese Differenz. In der Bundesrepublik besaß die frühe Forschung eine stark kriminologische Ausrichtung. Infolgedessen dominierte die Untersuchung staatlicher Sanktionsinstanzen (Albrecht und Brusten 1982, S. Xf.; Karstedt-Henke 1982, S. 285). Wie die damaligen Studien zur Polizei zeigen, wurden in dieser Frühphase aber auch die konkreten Konstruktionsaktivitäten staatlicher Akteur*innen durch Mikrostudien genauer in den Blick genommen (Feest 1971; Feest und Blankenburg 1972). Historisierende Arbeiten (siehe als Ausnahme Reinke 1981) fehlten ebenso wie Studien zu subjektiven Aspekten wie Bewältigungspraktiken und Lebensentwürfe Betroffener.

Die Etablierungsphase des Forschungsfelds kam an ihr Ende mit der im Umfeld des Bielefelder Soziologentags von 1976 erfolgten Gründung einer Sektion für „Soziale Probleme und soziale Kontrolle“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). In dieser Phase wurde ausgelotet, wie und unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Sachverhalte zu sozialen Problemen gemacht wurden. Jedoch, so Axel Groenemeyer rückblickend, was „soziale Probleme eigentlich genau sind, war bei Gründung der Sektion … .ziemlich unklar“ (Groenemeyer 2001, S. 10). Der im vorhergehenden Absatz angedeutete enge Bezug auf staatliche Aktivitäten zeigt sich auch in der Benennung der DGS-Sektion, in der soziale Probleme und soziale Kontrolle gekoppelt sind.Footnote 3 Der Staat sollte zwar dazu beitragen, soziale Probleme durch Reformen zu lösen, wurde jedoch zugleich skeptisch beäugt. Diese Ambivalenz, getragen von einer Hoffnung auf und Furcht vor dem (zu) starken Staat (wie auch immer der definiert wurde) speiste sich einerseits aus westeuropäischen sozialstaatlichen Traditionen und andererseits aus der Erinnerung an die NS-Verbrechen und an den Holocaust. Im letzten Drittel der 1970er-Jahre wurde die skeptische Komponente der Einstellung gegenüber Staatlichkeit noch verstärkt. Denn nach dem Deutschen Herbst 1977 zeigten Teile der bundesdeutschen Gesellschaft eine deutlich kritischere Einstellung gegenüber Staat verbunden mit dessen Entmythologisierung (Weinhauer 2008).

Von etwa Mitte der 1970er bis ungefähr Mitte/Ende der 1980er-Jahre durchlief das Forschungsfeld eine Verwissenschaftlichung (Groenemeyer 2006, S. 14). In dieser Hochphase sozialer Probleme begleitete die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle kritisch politische Programme zur Reform und zum Ausbau sozialstaatlicher Institutionen, flankiert von sozialen Bewegungen. Eingebettet war dies in lebhafte öffentliche Debatten. Es ging darum, was denn aktuell unter der sozialen Frage, was unter sozialer Ungleichheit zu verstehen sei und welche Entwicklung der Wohlfahrtsstaat nehmen solle, zwischen neoliberalen Privatisierungen, Massenkonsum und der Suche nach den Potenzialen eines lokalen Staats. Dafür bot die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle mit ihren Themenfeldern bis weit in die 1980er-Jahre offensichtlich gute Ansätze, lieferte akzeptierte gesellschaftliche Selbstbeschreibungen und wirkte auf diese zurück. Hans Haferkamp befürchtete gar, die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle könne sich immer mehr auflösen in eine „Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft“ (Haferkamp 1977, S. 208).

Der Bremer Soziologentag von 1980 zum Thema „Lebenswelt und soziale Probleme“ (Matthes 1981) dokumentiert die Verankerung des Forschungsfelds soziale Probleme und soziale Kontrolle im soziologischen Forschungskanon. Retrospektiv sahen kritische Stimmen (Groenemeyer 2006, S. 14) bereits in dieser Phase nicht nur die Abkopplung von der Theorie sozialer Bewegungen, sondern vor allem den Verlust des Bezugs zur Politik und der gesellschaftlichen Relevanz (vgl. zum Zusammenhang von sozialen Bewegungen und sozialen Problemen Albrecht 1990, S. 11).

Der Transfer US-amerikanischer Konzepte (u. a. durch Günter Albrecht und Hans Haferkamp, in der Kriminologie durch Fritz Sack) gab der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle weiterhin viele Anregungen (Groenemeyer 2006, S. 13, 2012, S. 24). Einige US-Klassiker lagen auf Deutsch vor (frühe Einblicke vermittelt Steinert 1973). Bis in die 1980er-Jahre wurden vor allem US-basierte konstruktivistische Ansätze aus Interaktionismus und Ethnomethodologie rezipiert. Als Ausdruck dieser „konstruktivistischen Wende“ (Groenemeyer 2001, S. 13) befanden sich objektivistische Positionen, von 1990 ausgesehen, schon seit „ca. 20 Jahren auf dem Rückzug“ (Albrecht 1990, S. 7). Die Studien von John I. Kitsuse und Malcolm Spector (1973 und 1977) sowie von Steve Woolgar und Dorothy Pawluch (1985) hatten zur Reflexion und Weiterentwicklung konstruktivistischer Ansätze beigetragen und zahlreiche wissenssoziologische Studien angeregt. Seitdem schien zu dem Thema jedoch alles gesagt zu sein. Weitere Debatten über die Konzeptionalisierung des Forschungsfelds fanden in dieser Phase kaum noch statt. Es dominierten empirische Einzelstudien (Groenemeyer 2001, S. 12), denen es jedoch nicht gelang, theoretisch-konzeptionelle Klärungen voranzutreiben bzw. neue Grundsatzfragen aufzuwerfen (vgl. zu den USA: Dreyer und Schade 1992, S. 41 f.). Zudem unterblieb eine gründliche Debatte darüber, ob bzw. inwieweit aus den USA importierte Ansätze für die Analyse der bundesdeutschen Gesellschaft verwendbar waren.

3 Die Zeitschrift Soziale Probleme

3.1 Empirische Konsolidierung und methodisch-konzeptionelle Stagnation (Mitte 1980er–Ende 1990er-Jahre)

In den 1980er-Jahren wandelten sich die Rahmenbedingungen für die Erforschung sozialer Probleme grundlegend. Grundsätzlich wurde die gesellschaftliche und politische Reformeuphorie mehr und mehr von Zukunftsängsten überlagert (Suess und Woyke 2012, S. 19 f.). Die auf soziale Probleme und soziale Kontrolle fokussierten Analysen konkurrierten mit anderen Gesellschaftsdiagnosen. Durch Bezüge auf Konzepte wie die Risikogesellschaft waren anscheinend gesellschaftliche Entwicklungen wie die Erosion festgefügter sozialer Milieus, Fortschritts- und Wachstumsskepsis sowie Konflikte um atomare Bewaffnung und Umweltprobleme ebenfalls gut auszudrücken. Darüber hinaus stand eine Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle vor den Herausforderungen durch das wachsende Interesse an kulturellen Aspekten (u. a. symbolische Ordnungen, Gender, Körper, Ethnizität), der damit einhergehenden Konkurrenz kulturwissenschaftlicher Disziplinen (Literaturwissenschaft, Ethnologie, Cultural Studies) sowie dem Bedeutungsgewinn der französischen Soziologie.

Die um Mitte der 1980er-Jahre einsetzende dritte Phase der Geschichte des Forschungsfelds war neben den geänderten gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen von zwei Tendenzen bestimmt: Die oben bereits angesprochene methodisch-konzeptionelle Stagnation stand neben einer empirischen Konsolidierung. Die vom damaligen Vorstand der DGS-Sektion gegründete Zeitschrift Soziale Probleme erschien in dieser Phase, genauer: im Jahr 1990. Ihr Ziel war es, so das Editorial, „Ergebnisse und Wege der Beschäftigung mit Ursachen, Verlauf, Entdeckung, Auswirkungen und Kontrolle sozialer Probleme“ zu untersuchen (Editorial 1990, S. 3). Anders als es dieses weitgefasste Statement vermuten lässt, zeigt das Publikationsprofil von Soziale Probleme jedoch deutliche Schwerpunkte. Für den Zeitraum von 1990 bis 2020 habe ich 295 Beiträge in Soziale Probleme ausgewertet, nicht erfasst sind Nachrufe sowie Editorials ohne weiteren Titel. Es gibt eine deutlich erkennbare Spitzengruppe von Themen, neben 45 Beiträgen zu diversen Fragen, die jeweils maximal dreimal vertreten waren. Die Untersuchung theoretischer, methodischer und begrifflicher Aspekte von sozialen Problemen (71 Beiträge, das entspricht 24,1 %) wird gefolgt von 39 Beiträgen zu Staatlichkeit (inkl. Strafe und Gefängnis); rechnet man die Beiträge zu Polizei (14) noch hinzu sind es sogar 53 Aufsätze (18 %), die staatliche Aktivitäten analysieren. Das breite Mittelfeld der in Soziale Probleme publizierten Aufsätze besteht aus Themen, die tief in der Tradition des Forschungsfelds verankert sind. Angeführt wird dieses Ensemble vom Thema Drogen (20), dann finden sich jeweils 18 Beiträge zu Gewalt und zu Kriminalität/abweichendem Verhalten, gefolgt von je 16 Aufsätzen zu Krankheit/Behinderung sowie Arbeit/Armut. Dahinter rangieren Themen wie Ausländer/Migration (14) sowie Jugend (11). Eine Sonderstellung kommt dem Thema Sicherheit mit 13 Beiträgen zu, die alle erst in den 2010er-Jahren publiziert wurden und die Offenheit der Zeitschrift gegenüber neuen Themen verdeutlichen.

Auch begriffliche Erörterungen gehören zum Profil der Zeitschrift. So konstatierte Axel Groenemeyer (2001, S. 13): Eine Soziologie sozialer Probleme untersuche „Bedingungen und Prozesse, mit denen soziale Phänomene problematisiert und zu öffentlichen Themen gemacht werden“. Damit lag er nah bei der von Michael Schetsche 1996 umrissenen, jedoch eher wissenssoziologisch ausgerichteten Definition: „Ein soziales Problem … ist … alles, was von kollektiven Akteuren, der Öffentlichkeit oder dem Wohlfahrtsstaat als solches angesehen und bezeichnet wird“ (Schetsche 1996, S. 2). Demgegenüber unterstrich Groenemeyer, die Bedeutung von Strukturen für die Entstehung sozialer Probleme. Zudem hob er die Bedeutung staatlicher Kontrollakteure hervor: Staat sei nicht nur Adressat, sondern auch zentraler Akteur der „Produktion von Deutungsmustern und Diskursen“ (Groenemeyer 2007, S. 14). Jedoch wurden Entitäten wie Staat oder generell Organisationen kaum hinterfragt oder auf darauf bezogene Zuschreibungen hin untersucht. Auch der von ihm diskutierte Ansatz Doing Social Problems oder Social Problems Work (Groenemeyer 2010) ist bei allem Innovationspotenzial von diesem strukturbezogenen Blickwinkel stark beeinflusst.

Insgesamt gesehen bildet Soziale Probleme ein Forum, das Theorie und Empirie sowie Innovation und Tradition verbindet. Vor allem aber zeigt(e) sich die Zeitschrift als eine Plattform für im weitesten Sinne theoretische Reflexionen über soziale Probleme und soziale Kontrolle, wobei staatliche Kontroll- und Sanktionsaspekte stark vertreten waren. Soziale Probleme war somit ein klares Statement gegen die methodisch-konzeptionelle Stagnation in dieser dritten Entwicklungsphase des Forschungsfelds.Footnote 4

3.2 Krisenphase und Lösungswege (seit Ende der 1990er-Jahre)

In der vierten Phase der Geschichte des Forschungsfelds, die gegen Ende der 1990er/Anfang der 2000er-Jahre begann, wähnte sich die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle in einer tiefen Krise, gekennzeichnet durch den massiven Verlust akademischer Positionen. Zudem war die Soziologie nicht mehr die unumstrittene Leitwissenschaft für die Erforschung sozialer Probleme. Andere Fachdisziplinen traten ihr zur Seite. Auch schienen Themen wie Exklusion inzwischen attraktiver zu sein. Soziale Probleme fungierte in dieser vierten Phase nicht nur als Forum der Krisendiagnose, sondern auch als Ort, um mögliche Auswege aus dieser Krise zu skizzieren. Mit der Zeitschrift sollte auch versucht werden, so scheint es zumindest von außen, ein inzwischen stark diskursiv oder diskursanalytisch ausgerichtetes Forschungsfeld um neue Ansätze zu bereichern. Verschiedene Autor*innen wurden eingeladen, ihre Kritik und damit auch Vorschläge für neue Perspektiven zu formulieren. Es ging weniger darum, neue Untersuchungsthemen für die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle zu finden, als um eine methodisch-konzeptionelle Öffnung und Rekonfiguration. Die Erträge dieser sehr anregenden und offen geführten Perspektivdebatte, intellektuell vor allem vorangetrieben durch den US-Soziologen Joachim J. Savelsberg (2006, S. 48–51; siehe auch Best 2006, S. 27–30) möchte ich in drei Schlagwortkomplexen bündeln: Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft, Reflexion von Staatlichkeit sowie Integration lokal-globaler Interaktionen. All das sollte verankert sein in Mikrokontexten, um dort genauer zu analysieren, wie Problemdefinitionen vor Ort verliefen, ggf. institutionalisiert wurden und welche Auswirkungen sie hatten. Diese empirischen Ergebnisse sollten wiederum für konzeptionell-theoretische Impulse genutzt werden.

Erstens war ausgehend von Mikrokontexten ein Kernproblem des Forschungsfeldes anzugehen: die genauere Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft. Savelsberg plädierte dafür, die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle solle sich gegenüber kulturell geprägten Interpretationen öffnen und diese kritisch reflektieren. Als Beispiel nannte er die Verarbeitung von Gewalterfahrungen in Form von kollektivem Gedächtnis und kulturellen Traumata. Es kam jedoch zu keiner expliziten Debatte über diesen Vorschlag. Offensichtlich fiel es in der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle schwer, Kultur nicht vorrangig als Wertekanon oder als klar umrissene Entität bzw. als etwas zu betrachten, das von sozialen Strukturen bestimmt oder in diese eingebettet war (Albrecht 2001, S. 134). Bündeln lässt sich dies in der Zuspitzung, erst wenn es schwierig werde, gesellschaftliche Bedingungen zu ändern, würden die „kulturellen und symbolischen Aspekte sozialer Probleme an Bedeutung“ gewinnen (Groenemeyer 1999, S. 50). Das Verhältnis von Gesellschaft und Kultur wurde, anders als in der Grundsatzdebatte über objektivistische und konstruktivistische Interpretationen sozialer Probleme, nicht offen diskutiert. Auch die wissenssoziologischen Studien konnten hier nicht vermitteln.

Als weiterer Ausweg aus der Krise wurde, zweitens, eine kritische Reflexion von Staatlichkeit eingefordert. Die Rolle staatlicher Akteur*innen, speziell das Konzept soziale Kontrolle in seiner Verflechtung mit sozialen Problemen, hatte zwar schon Mitte der 1990er-Jahre auf dem Prüfstand gestanden. Diese Kontroverse, ausgetragen zwischen etablierten Forscher*innen aus dem Umfeld der Zeitschrift (Cremer-Schäfer und Steinert 1998; Steinert 1995, 2006; Cremer-Schäfer 1995; Peters 1995, ähnlich 2006), war jedoch im Sande verlaufen. Grundsätzlicher war Savelsbergs Plädoyer, ausgehend von Mikrokontexten die Aktivitäten staatlicher Akteur*innen mit einem weiten Blickwinkel neu zu erforschen. Einbezogen werden sollten nicht nur Problemdefinitionen, sondern auch deren Institutionalisierung im Recht und in Kontrollinstanzen, aber auch die Verflechtungen und Abhängigkeiten der Forschung von staatlichen Daten und Mitteln. Vor allem wollte er, dies markiert einen wichtigen Unterschied zu zeitlich früheren Debatten, grundsätzlich darüber reflektieren, ob bzw. inwieweit soziale Probleme nur im nationalstaatlichen Rahmen untersucht werden können oder ob nicht auch transnationale Einflüsse berücksichtigt werden müssen. Diese nicht explizit reflektierte Transnationalität, also der fehlende kritische Blick auf die Anwendbarkeit von Ansätzen, die z. B. aus den USA übernommen wurden, war zeitgenössisch ein erstaunlicher blinder Fleck im Forschungsfeld.

Drittens führte Savelsberg die beiden zuvor genannten Impulse zusammen und eröffnete so dem Forschungsfeld soziale Probleme und soziale Kontrolle völlig neue Untersuchungsperspektiven. Letztere führten nicht nur heraus aus der Enge einer wenig reflektierten nationalstaatlich umgrenzten Gesellschaft, sondern öffneten sich für konkret zu erforschende lokal-globale Wechselwirkungen und Verflechtungen. Zugleich mahnte er, sich sowohl von simplifizierenden interlokalen und internationalen Vergleichen als auch von einem unidirektionalen Verständnis globaler Prozesse zu lösen. Gleichzeitig müsse überdacht werden, welche Entitäten warum und unter welchen Kriterien miteinander verglichen bzw. relationiert würden. Auch das förderte die oben angesprochene Abkehr von einem Verständnis des Nationalstaats als Container, der eine mit ihm deckungsgleiche Gesellschaft umschloss. Savelsbergs Überlegungen ähneln denen der neueren mikrohistorisch fundierten Globalisierungsforschung (Epple 2017, 2018). Hier wird nicht pauschal von der einen Globalisierung gesprochen, von der dann irgendwelche nicht genau bezeichnete Wirkungen auf lokale Entwicklungen ausgehen. Der Plural Globalisierungen wird der Komplexität eher gerecht. Zusammenfassend betrachtet bringen erst lokale Praktiken das Globale hervor, passen es an und verändern es dabei. Anders formuliert, „globalization of the local … depends on the localization of the global“ (Fourcade und Savelsberg 2006, S. 515). Die Kritik von Savelsberg und anderen beeinflusste später auch das Publikationsprofil von Soziale Probleme (u. a. Scherr und Scherschel 2015). Neue Wege beschreiten auch Beiträge, die ethnografisch orientiert staatliches Handeln decodieren, dessen Auswirkungen auf Betroffene analysieren und so den Weg für zukünftige Forschungen umreißen (Soziale Probleme 2020).

3.3 Kontroversen über Gewalt: Soziale Strukturen, kulturelle Ordnungen, Staat

Gewalt ist ein hoch relevantes soziales Problem, zugleich ein häufig diskutiertes Thema in Soziale Probleme. Auch war die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle bis in die 1990er-Jahre ein wichtiges akademisches Feld für die soziologische Theoriediskussionen zu Gewalt (Groenemeyer 2007, S. 20). Am Beispiel einer kleinen Kontroverse, ausgetragen zwischen Trutz von Trotha und Axel Groenemeyer in Soziale Probleme (2005 Heft 2), lässt sich sehr gut aufzeigen, welche Unterschiede bestehen zwischen einer eher strukturell ausgerichteten (Gewalt‑)Analyse, wie sie die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle lange geprägt hat, und einer stärker kulturell und ethnologisch ausgerichteten Gewaltforschung.Footnote 5 Zudem werden Differenzen im Verständnis von Staatlichkeit ebenso deutlich wie der forschungspraktische Bedeutungsverlust des Labeling-Ansatzes.

Einige Jahre nach Gründung der Zeitschrift Soziale Probleme kam die soziologische Gewaltforschung in der Bundesrepublik in Bewegung. Ausgangspunkt war das von Trutz von Trotha herausgegebene Themenheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zur „Soziologie der Gewalt“ (1997). Orientiert an Heinrich Popitz rückte ein Gewaltbegriff in den Mittelpunkt, der auf körperliche Gewalt begrenzt war. Dieses Plädoyer für einen engen Gewaltbegriff war zwar nicht neu (siehe Neidhardt 1986), aber in Verbindung mit anderen Einsichten, schon eine sehr wichtige Innovation. So wurde betont, Gewalt sei eine Jedermannsressource, die in triadischen (Täter-Opfer-Dritte) Kontexten untersucht werden solle, bevorzugt durch dichte Beschreibungen von Gewalt, durch genaues Hinsehen auf die jeweiligen gewaltsamen Handlungen. Es ging um das „Wie“ der Gewalt, weniger um die bis dahin dominante Frage nach deren Ursachen, die die Gewalthandlungen selber jedoch kaum untersuchte. Dieser ethnologisch inspirierte Ansatz hat die Gewaltforschung über die Soziologie hinaus ungemein belebt.Footnote 6 Durch diesen Fokus auf körperliche Gewalt war es möglich, Forschungen zur Praxis von Gewalt weit genauer umzusetzen als mit einem weniger klar definierten Gewaltbegriff. Die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle spielte seit dieser Hinwendung zu kulturell grundierten Wie-Fragen und der Abkehr von strukturorientierten Warum-Fragen kaum noch eine Rolle in den Debatten über Gewalt. Auch dies war ein Ausdruck der gegen Ende der 1990er-Jahre einsetzenden Krisenphase des Forschungsfelds.

Einerseits zeigten sich die gewaltbezogenen Forschungsbeiträge in Soziale Probleme vom Wandel der soziologischen Gewaltforschung seit Mitte der 1990er-Jahre relativ unbeeindruckt. So fallen die Aufsätze, von Ausnahmen abgesehen (Equit 2012), nicht dadurch auf, dass sie sich explizit mit der neueren soziologischen Gewaltforschung befassen – ob kritisch oder zustimmend.Footnote 7 Auch fällt der eher lockere Umgang mit dem Gewaltbegriff auf. Der Terminus wurde entweder nicht genau definiert und/oder sehr weit gefasst. Andererseits wurden durchaus innovative Forschungsergebnisse publiziert, auch wenn sie nicht dem Trend der neuen Gewaltforschung folgten. Ralf Bohnsack (1995) kritisierte die kriminologische Forschung, die eher Diskurse über als die körperliche Ausübung von Gewalt untersucht. Birgit Menzel (1997) betonte überzeugend die Wichtigkeit definitionstheoretischer Ansätze – eine Anregung, die erst vor kurzem in der Kritik der Gewaltforschung wieder thematisiert wurde (Peters 2016).

2005 kritisierte Trutz von Trotha einen sehr umfassenden Überblicksaufsatz von Axel Groenemeyer. Letzterer zeigte in seinem breit angelegten und forschungsgesättigten Überblick, dass selbst noch so differenzierte Strukturanalysen von Stadtvierteln nicht erklären, wie hier gewaltsames Handeln genau entsteht und wie diese Gewalt ausgeübt wird (Groenemeyer 2005). Gewalt sei eben „nicht nur das Ausagieren von Frustration oder die mangelhafte Unterdrückung der immer unter der Oberfläche brodelnden aggressiven Triebe“ (Groenemeyer 2005, S. 17). Im Einklang mit der neueren soziologischen Gewaltforschung wandte er sich dagegen, Gewalt als ein soziales Defizit zu betrachten. Ihm ging es speziell um den Zusammenhang von Armut und Gewalt. Dabei betonte er zum einen, die Untersuchung von Gewalt sei eng gekoppelt an die Suche nach Störungen sozialer Ordnung. Zum anderen habe Gewalt aber auch soziale Ordnungsfunktionen, z. B. bei der Verteidigung männlicher Ehre. Deutlich wird eine Distanz zu kulturalistischen Erklärungen und eine größere Nähe zu Ansätzen, die Gewalt durch den Rückbezug auf soziale Ungleichheit erklären.

Trutz von Trotha blickte genauer auf die Gewaltakteur*innen (hier: Jugendliche) in prekären Stadtvierteln. Unter Nutzung seiner frühen Arbeiten über Jugendbanden (Trotha 1974, S. 63 ff., 119 ff.) unterstrich er die hohe Bedeutung, die die eingeschränkte Voraussehbarkeit des Handelns des jeweiligen Gegenübers für das Ausüben von Gewalt besitzt. Wenn in einem für diese Jugendlichen häufigen Leben im Hier und Jetzt nicht darauf vertraut werden konnte, wie die/der Interaktionspartner*in auf die eigene Aktivität reagieren würde, war die Durchsetzung der eigenen Anliegen mittels körperlicher Gewalt eine naheliegende Handlungsoption. Anders als bei Groenemeyer, der einem engen Kulturbegriff folgt, der vor allem auf Werte bezogen und in Strukturen eingebettet ist, orientierte sich Trotha im Sinne von Clifford Geertz an einem Verständnis von Kultur als einem „Gewebe von Bedeutungen“ (Trotha 2005, S. 45). Schließlich war für Trotha die praktische Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols ein zentraler analytischer Bezugspunkt.Footnote 8 Aus seiner Sicht war es eben nicht überall gegeben und akzeptiert. Gewalt sei dynamisch und hochumstritten, weil ihre Anwendung gerechtfertigt werden müsse. Somit verstoße Gewalt nicht nur gegen Vorstellungen von Gewaltlosigkeit (Trotha 2005, S. 46), sondern berühre Kernaspekte der Praxis und der Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols. Zudem kritisierte er an Groenemeyers Argumentation die fehlende Thematisierung von Zuschreibungsaspekten. Hier zeigt sich, dass der Labeling-Ansatz, einst innovativer wichtiger Impulsgeber bei der Erforschung sozialer Probleme in der Bundesrepublik, in den 2000er-Jahren kaum noch forschungsrelevant war. Ein so umrissenes Forschungsfeld soziale Probleme thematisiert soziale Ordnungsformen eher mit einem strukturorientierten Gesellschafts- als mithilfe eines weitgefassten Kulturbegriffs.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Ausgangspunkt dieser geschichtswissenschaftlichen Analyse des Forschungsfelds soziale Probleme und soziale Kontrolle in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren war der Blick auf die Entwicklung der Sozialgeschichte. Erstens wurde gefragt, wie wurden im Forschungsfeld relevante Ordnungsbegriffe wie Gesellschaft, Staat und Struktur reflektiert und aus welcher Perspektive analysiert? Zweitens wurde untersucht, wie die Positionierung zum cultural turn (besonders zum Kulturbegriff) verlief. Orientiert an diesen zwei Fragen sowie an den gesellschaftlichen, politischen und wissen(schaft)sgeschichtlichen Rahmenbedingungen wurde die Geschichte des Forschungsfelds in vier sich überlappende Phasen eingeteilt. Die beiden ersten Zeitabschnitte (Etablierung von etwa Mitte der 1960er-Jahre bis etwa Mitte der 1970er-Jahre sowie Verwissenschaftlichung bis etwa Mitte/Ende der 1980er-Jahre) waren gerahmt von einer Aufbruchstimmung, die viele lösungsbedürftige soziale Probleme thematisierte. In den zwei Folgephasen – auf die empirische Konsolidierung und die methodisch-konzeptionelle Stagnation folgte die Krisenphase seit etwa Ende der 1990er-Jahre – waren diese förderlichen Rahmenbedingungen weitgehend verschwunden. Auch hatte der Begriff „Gesellschaft“ an Überzeugungskraft verloren, für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung wie für die Erklärung politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen. Zudem gab es seit den 1990er-Jahren nicht nur einen massiven Verlust akademischer Positionen, sondern auch eine Verlagerung von wichtigen Themen in andere Disziplinen wie Soziale Arbeit, Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften.Footnote 9 Darüber hinaus entwickelten empirische, anwendungsbezogene und theoretisch-konzeptionelle Arbeiten jeweils ein Eigenleben, nahmen wenig Bezug aufeinander und integrierten kaum noch die Ergebnisse der anderen Ausrichtungen. In diesem Nebeneinander erodierte auch der für die beiden ersten Phasen wichtige (und verbindende) Bezug auf den Zuschreibungsaspekt sozialer Probleme bzw. dessen Reflexion. Die vielen diskursanalytisch ausgerichteten wissenssoziologischen Studien konnten dieser Zerfaserung des Forschungsfelds nicht entgegenwirken.

Seit etwa Ende der 1980er-Jahre war der cultural turn in der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle das Andere, von dem sich eher implizit als explizit abgegrenzt wurde, ausgenommen waren einige wissenssoziologische Studien. Da explizite Kontroversen mit kulturalistischen Ansätzen nicht ausgetragen wurden, blieb die Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft unterkomplex. Auch wurden im Forschungsfeld Entitäten wie Staat und Gesellschaft, aber auch Strukturen, in allen vier Phasen kaum hinterfragt und zumeist aus der Top-Down-Perspektive betrachtet. Das galt zumindest für diejenigen, die in solchen Entitäten dachten. Gesellschaftsbezogene Ordnungen besaßen offensichtlich mehr Überzeugungskraft als kulturelle Ordnungen. Dieses enge Verständnis von Kultur ist umso erstaunlicher, als es in der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle bis in die Verwissenschaftlichungsphase intensive Debatten über die soziale Konstruiertheit sozialer Probleme gab. Obwohl damit eine große Nähe zu kulturalistischen Ansätzen bestand, hat sich die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle nicht explizit gegenüber kultursoziologischen Ansätzen geöffnet.

Die Gründung von Soziale Probleme im Jahr 1990 war ein Plädoyer für die Profilierung einer theoretisch informierten gesellschaftsorientierten und empirisch fundierten soziologischen Forschung in Zeiten einer wachsenden Aufmerksamkeit für kulturalistisch fundierte Analysen. Zudem wurden in Soziale Probleme in der Krisenphase zahlreiche Auswege aus dieser Krise skizziert. Dazu gehörte die vom US-Soziologen Joachim Savelsberg favorisierte Öffnung gegenüber der neueren Globalisierungsforschung. Diese kann dazu beitragen, das Denken in Kategorien einer nationalstaatlich umgrenzten Gesellschaft ebenso zu überwinden wie die unreflektierte und dekontextualisierte Übernahme von Ansätzen, die auf andere Gesellschaften bezogen sind. Zudem schärfte seine Kritik an Top-Down-Perspektiven den Blick für lokale Praktiken, die das Globale erst hervorbringen, es anpassen und verändern.

Ausgehend von sozial und kulturell konstitutiven lokalen Praktiken und orientiert an einer explizit mikrohistorisch erweiterten Globalisierungsforschung ließen sich drei Impulse für das Forschungsfeld umreißen. Erstens haben praxeologische Ansätze das Denken vom Sozialen her nicht aufgegeben. Sie betrachten es unter kulturellen Aspekten (vgl. zum Folgenden Hillebrandt 2014, S. 58–61; Schäfer 2017). Wobei Praktiken den Gebrauch von Zeichen und Dingen, also symbolische, narrative und materiale Dimensionen, aber auch die Körperlichkeit des Sozialen betreffen. Solche Ordnungspraktiken ermöglichen, begrenzen und verändern das Soziale, bilden also die Grundlagen für soziale Ordnung, für Wandel sowie für Subjektivität. Wie Hilmar Schäfer betont, ist es notwendig, „möglichst geringe theoretische Vorannahmen in Bezug auf die Zielgerichtetheit und Reflexivität einer Praxis, ihre zeitliche Ausdehnung und (sozial-)räumliche Verteilung, das jeweilige Zusammenspiel von Körperlichkeit und Materialität etc. in die Analyse hineinzutragen“ (Schäfer 2017, S. 12 f.).

Zweitens ist es wichtig zu berücksichtigen, dass jede Praxis in ein Netz aus Relationen eingebettet ist. Durch diesen „fundamental relationalen Begriff der Praxis“ (Schäfer 2017, S. 14) werden die analytisch wenig produktive abstrakte Gegenüberstellung von Struktur und Kultur ebenso wie die Dichotomien zwischen Individuum und Gesellschaft, Handeln und Struktur oder zwischen Mikro- und Makroperspektiven vermieden. Drittens könnte diese Orientierung an relationalen Praktiken, die soziale und kulturelle Ordnungen hervorbringen, die interdisziplinäre Kooperation stärken. So könnte auch der Austausch mit der Geschichtswissenschaft reaktiviert werden. Auch dort werden praxistheoretische Zugänge derzeit intensiv diskutiert, nicht nur in der Globalisierungsforschung (dazu Epple 2018). Denn gerade die Fragilität der von Praktiken getragenen Ordnungen lässt es notwendig erscheinen, über ihre Wandlungen und deren Ursachen und damit über die historische Spezifik dieser Ordnungen genauer nachzudenken. Soziale und kulturelle Ordnungen werden hergestellt und verändert durch relationierte Wiederholungen, die nicht das Vorhandene replizieren, sondern Änderungen bringen, wenn auch nur nuancierte (Schäfer 2013, S. 388).

Praxistheoretische Ansätze haben jedoch auch blinde Flecken, dazu gehört der Blick auf Staatlichkeit sowie auf dessen Gewaltmonopol. Eine „Ethnographie des Staates“ (Riekenberg 2017, S. 19–21) könnte hier Abhilfe schaffen. Dieser Ansatz, der noch praxistheoretisch zu fundieren wäre, geht grundsätzlich davon aus, dass es viele Regionen in der Welt gibt, in denen Menschen nicht erwarten, dass der Staat sie in irgendeiner Weise schützt und stützt. Diese Erkenntnis sollte Ausgangspunkt sein, das staatliche Gewaltmonopol keinesfalls als gegeben zu betrachten und auch hier die relationalen Ordnungspraktiken zu untersuchen, die es (situativ) konstituieren, aber auch infrage stellen und damit wandelbar gestalten. Vor diesem Hintergrund sollten nicht vorrangig solche Ordnungspraktiken untersucht werden, die sich auf Gesetze und andere staatliche Dokumente beziehen, sondern solche, die sich aus Gewohnheitsrechten, moralischen Ökonomien oder aus Symbolen, Ritualen und Narrativen speisen. In einem zweiten Schritt wäre dann zu erarbeiten, wie staatliche Akteur*innen mit diesen Ordnungspraktiken umgehen und ggf. dadurch beeinflusst werden. Gerade die Coronakrise hat jüngst eindrucksvoll die Handlungsfähigkeit staatlicher Akteur*innen verdeutlicht. Der Staat ist wieder erstarkt, und ihm wird auch Handlungsfähigkeit zugeschrieben. Sozial- wie geschichtswissenschaftliche Forscher*innen könnten das nutzen, um mit praxistheoretisch informierten Ansätzen neue Erkenntnisse über diesen Totgesagten und über dessen Wechselverhältnis zu sozialen und kulturellen Ordnungspraktiken herauszuarbeiten. Vielleicht konnte dieser Beitrag dazu anregen, weiterzudenken in Richtung einer praxistheoretisch fundierten und historisch informierten „Soziologie sozialer und kultureller (Ordnungs‑)Praktiken“.