1 Einleitung

Mit der Untersuchung von Verwaltungsdokumenten haben wir für das vorliegende Schwerpunktheft eine Forschungsperspektive gewählt, die die Konstitution von Artefakten fokussiert, die ihre Wirkung im Zuge von organisationalen Verwaltungstätigkeiten entfalten. In der empirischen Sozialforschung werden solche Dokumente als Daten bezeichnet, die im Prozess produziert wurden. Darunter fallen insbesondere Dokumente und Aktenbestände, die durch die Verwaltung von Menschen im Zuge des Ausbaus nationaler Sozialstaaten erzeugt worden sind (Müller 1977; Bick et al. 1984). Verwaltungsdokumente repräsentieren unterschiedliche Formen der Materialisierung von Verwaltungstätigkeiten. Denkbar sind Anträge, Formulare, Gutachten, handschriftliche Notizen und Korrespondenzen, die in Papierform oder zunehmend auch in elektronischer Form archiviert werden. Über alle Unterschiede hinweg teilen solche Dokumente aus einer methodologischen Perspektive das Charakteristikum, dass es sich um Material handelt, das nicht aktiv durch Sozialforscher*innen erzeugt wurde. Verwaltungsdokumente entstehen vielmehr in bürokratisch regulierten Prozessen, die nicht der wissenschaftlichen Auswertung oder Analyse von Sachverhalten, sondern der Bewältigung alltäglicher Arbeitsroutinen in der (Sozial‑)Verwaltung und deren Legitimation dienen.

Die Herausgabe eines Themenheftes zu diesem Schwerpunkt basiert auf unserer langjährigen Forschung zu Fallakten aus der westdeutschen Heimerziehung in Hessen während der 1950er bis 1970er Jahre. Zunächst wurden Fallakten aus ehemaligen Erziehungsheimen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) im Rahmen eines interdisziplinären Forschungs- und Ausstellungsprojekts untersucht. In diesem Projekt der Universität Kassel sind in den Jahren 2011 und 2012 insgesamt 1010 Fallakten aus dem genannten Zeitraum quantitativ analysiert und so Strukturdaten zur Heimerziehung erhoben worden. Darüber hinaus wurden Interviews mit verschiedenen Zeitzeug*innen erhoben (Bereswill et al. 2013). Auf dieser Basis entstand in Zusammenarbeit mit Prof. Gabriele Franziska Götz und Prof. Joel Baumann von der Kunsthochschule Kassel eine Ausstellung, in der die quantitativen und qualitativen Befunde zu Prozessen des Verwaltens und Erfahrungen des Verwaltet-Werdens zu einer visuell-auditiven Vermittlung verdichtet wurden (LWV Hessen 2013).

Das 2018 abgeschlossene DFG-Projekt „Die Verwaltung des Falls“ (283908306) basierte maßgeblich auf den empirischen Vorarbeiten des zuvor skizzierten Projektes. Im Zentrum stand die Rekonstruktion der spezifischen Konstitutionsprozesse einer Fallakte als kontextgebundener interaktiver und intertextueller Aushandlungsprozess. In dieser Perspektive ist die Konstitution eines Falls in erheblichem Maß durch das administrativ strukturierte Erstellen und fortlaufende Anordnen von Dokumenten in einer Akte geprägt. Die Verknüpfung eines handlungstheoretisch-rekonstruktiv ausgerichteten Ansatzes mit einer textwissenschaftlichen Interpretationsheuristik führte zu grundlegenden Einsichten in die Struktureigentümlichkeiten von bürokratischem Schrifthandeln im Hinblick auf die Hervorbringung und Bearbeitung eines Einzelfalls, vor allem mit Bezug auf Aushandlungen von richtungsweisenden Entscheidungen, beispielsweise über Verlegungen oder Entlassungen. So konnte die temporale Strukturierung und Wirkmacht von Verwaltungsprozessen für biografische Verläufe gezeigt werden (Bereswill und Müller 2018).

Zudem wurde beleuchtet, dass die spezifische Fachautorität von gutachterlichen Dokumenten in Entscheidungsprozessen der Fallverwaltung ebenfalls intertextuell ausgehandelt wird (Bereswill und Müller-Behme 2018). Parallel zu diesem Projekt sind in einem Dissertationsvorhaben einzelne Antragsdokumente der Jugendämter zur Einweisung aus den Fallakten untersucht worden. Rekonstruiert wurden hier Deutungsmuster, mit denen etwa anhand von vergeschlechtlichten Arbeitsvorstellungen eine Einweisung in ein Erziehungsheim legitimiert wurde (Müller-Behme 2019).

In der Forschungsperspektive der Herausgeber*innen ist bürokratisches Schrifthandeln in Verwaltungsdokumenten aufs engste mit der gesellschaftlichen Konstruktion sozialer Probleme verknüpft. Soziale Probleme werden dabei als Ergebnis eines gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozesses verstanden (Blumer 2013, S. 146). Solche Prozesse sind umkämpft, indem gesellschaftliche Interessengruppen nach Dominanz ihrer jeweiligen Problemdefinitionen und Deutungen streben. Diese sozialpolitische Auseinandersetzung mündet in mehr oder weniger stark konventionalisierten Deutungsmustern von als problematisch verstandenen sozialen Zuständen und Verhaltensweisen. Das politische Ziel solcher Auseinandersetzungen ist in der Regel die Etablierung sozialstaatlicher Leistungen und Maßnahmen, mit denen diese konstruierten Problemkonstellationen adressiert werden sollen. Mit der Institutionalisierung der Bearbeitung sozialer Probleme in Form von öffentlichen Einrichtungen, rechtlichen Regelungen und sozialarbeiterischen Konzepten werden die zuvor umkämpften Problemdefinitionen schließlich als vorhandene und berechtigte Phänomene objektiviert und gesellschaftlich sichtbar bestätigt (Gronemeyer 2012, S. 118). Die Institutionalisierung führt demnach zur Verfestigung und Legitimität eines sozialen Problems und seiner Bearbeitung. Hans Achinger (1959) macht in seinem erkenntnisreichen Beitrag „Soziologie und Sozialreform“ deutlich, dass Einrichtungen der Sozialverwaltung Instanzen mit einer strukturgebenden Bedeutung sind, indem sie „Spielregeln“ (S. 42) setzen, mit denen soziale Probleme behandelt werden. Diese Regeln beziehen sich etwa auf soziale Handlungen, wenn durch Öffnungszeiten, Sprechstunden, Zuständigkeitsbereiche und eine bürozentrierte Arbeitsweise die Interaktion mit den Klient*innen gesteuert wird. Die Sozialverwaltung bestimmt zudem die Problemdefinitionen, denen die möglichen Adressat*innen sich unterordnen müssen. So werden Problemsituationen von Klient*innen in Bezug auf die rechtlichen Vorgaben versachlicht und quantifiziert. Das führt dazu, dass in den Institutionen der Sozialbürokratie komplexe Prozesse der Umformung und Anpassung zwischen den individuellen Problemlagen der Adressat*innen einerseits und den institutionalisierten Problemdefinitionen der Sozialbürokratie und ihrer Akteur*innen andererseits stattfinden. Verwaltungsdokumente spielen in diesem Prozess eine zentrale Rolle, da schriftliche Fixierung und Aktenmäßigkeit einen wesentlichen Kern bürokratischer Arbeitsprozesse und staatlicher Herrschaft ausmachen (Weber 1976, S. 126; Seibel 2017). Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen und Leistungen für Klient*innen sozialer Hilfen werden hiernach durch Dokumente vermittelt. Als Teil einer regelorientierten und hierarchisch organisierten Bürokratie materialisieren sie das Verhältnis zwischen Adressat*innen und professionellen Akteur*innen sowie den Verwaltungsinstanzen. Die Dokumente in der Sozialverwaltung sind Artefakte, die als „Anlaß, Ergebnis, Förderung oder Hemmung menschlichen Handelns in Betracht“ gezogen werden müssen (Weber 1984, S. 22). Dokumente und Akten verfügen über eine Agency als Teil sozialer Interaktionen. So strukturieren und bestimmen Aufbau, formale Ordnung sowie die inhaltlichen Dimensionen eines Schriftstückes, in welcher Weise etwas gelesen und verstanden werden kann. Dokumente strukturieren soziale Handlungen und wirken mit ihrem Informationsgehalt auf die Interaktionsbeziehungen zwischen professionellen Akteur*innen und deren Adressat*innen ein. Sie determinieren solche Interaktionen aber nicht, sondern erlauben spezifische Handlungsspielräume. Das wird besonders dann deutlich, wenn ein Legitimationsprozess plötzlich umbricht und bereits angebahnte Entscheidungen plötzlich aufgegeben oder auch konterkariert werden.

Die Bedeutung von Verwaltungsdokumenten ist also nicht nur in Bezug auf den intrinsischen Gehalt von Dokumenten zu betrachten. Sie sind immer auch das Ergebnis der situativen und handlungsbezogenen Zuschreibungen, in die sie eingebunden sind (Prior 2003, S. 2). Das Wechselverhältnis aus intrinsischer Information und situationsbezogener Zuschreibung ist Teil der bürokratischen Bearbeitung sozialer Probleme. Die Beiträge in diesem Themenheft beleuchten verschiedene Aspekte der diskutierten Prozesse und Dynamiken, indem sie die Materialisierung und Bearbeitung sozialer Probleme in Verwaltungsdokumenten betrachten.

Im ersten Beitrag von Ingolf Notzke wird die Logik der Wirklichkeitskonstruktion und Wirkmächtigkeit einer Fallakte am Beispiel von Sonderakten aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau in der DDR aus einer methodologischen Perspektive diskutiert. Dabei wird das wissenschaftlich bislang nicht ausgeschöpfte Potenzial der Analyse des Schrifthandelns in den Sonderakten herausgestellt. Eine umfassende Untersuchung dieser Artefakte verspricht Einblicke in die Interpretationsroutinen von Verwaltungsakteur*innen der DDR-Jugendbehörden. So rücken Prozesse der Etikettierung von Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund sozialistisch politisierter Ordnungsvorstellungen in den Blick.

Im Beitrag von Mechthild Bereswill, Henrike Buhr und Patrik Müller-Behme werden Fallakten der öffentlichen Erziehung in der BRD aus einer textinterpretativen Perspektive analysiert. Es wird eine Heuristik vorgestellt, in der das Schrifthandeln in Fallakten als transdokumenteller Zusammenhang gefasst und in seiner auch widersprüchlichen, oftmals paradox anmutenden Ereignishaftigkeit zugänglich wird. In dieser handlungstheoretischen Perspektive wird am Beispiel von zwei Fallausschnitten ein als erzieherisch gerahmtes Deutungs- und Handlungsmuster herausgearbeitet, in dem die Steigerung von Disziplinierung als wesentliches Instrument im Umgang mit als renitent etikettierten Persönlichkeiten hervortritt.

Der Beitrag von Sylvia Kühne und Christina Schlepper verschiebt die Perspektive vom Blick auf die konkrete Beschaffenheit der Dokumente in Fallakten hin zur Funktion von Dokumentationen in Interaktionen der Hilfe und Kontrolle. In einem ethnografischen Zugang werden Verwaltungsdokumente so in einem situativen Zusammenhang betrachtet. Untersucht wird der Einsatz von Akten und Berichten in der Jugendgerichtshilfe anhand von Gesprächsinteraktionen zwischen Sozialarbeiter*innen und ihren Adressat*innen. Im Zentrum steht dabei der professionsbezogene Handlungs- und Rollenkonflikt zwischen justiziellem Hilfeauftrag und sozialarbeiterischem Hilfeverständnis. So fungiert die Verwendung von Gerichtsakten und Dokumenten in Gesprächsinteraktionen vornehmlich für das Erfüllen eines justiziellen Hilfeauftrags. Eine zurückhaltende Zuhilfenahme solcher Artefakte repräsentiert hingegen ein sozialarbeiterisches Hilfeverständnis, das Bezüge zu einem Ideal von Unvoreingenommenheit zeigt. Die Befunde des Aufsatzes stammen aus einem noch laufenden Forschungsprojekt, das als Replikation der klassischen Studie „Die Sanften Kontrolleure“ von Peters und Cremer-Schäfer aus dem Jahr 1975 angelegt ist. Auf dieser Basis wird auch nach möglichen Veränderungen im Rollenverständnis von Sozialarbeiter*innen gefragt.

Der Beitrag von Magdalena Apel fokussiert die Wirkmacht von Verwaltungsdokumenten aus einer biografietheoretischen Perspektive. Im Mittelpunkt steht die Bedeutung von sozialbürokratischen Dokumenten für die biografischen Verarbeitungsprozesse von Menschen, die als Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht waren. Anhand von narrativen Interviews wird herausgearbeitet, wie Dokumente aus Fallakten der Heimerziehung der 1950er bis 1960er Jahre für ehemals untergebrachte Menschen als „Vehikel“ dienen, um sich institutionelle Fremdzuschreibungen der Vergangenheit retrospektiv zu vergegenwärtigen. Die Untersuchung verdeutlich, dass und wie die Formen und die Inhalte von Verwaltungsdokumenten zum Bezugspunkt für ambivalente biografische Auseinandersetzungen werden, die einerseits eine identitätsstiftende Bedeutung haben können, andererseits aber in ihrer kränkenden und stigmatisierenden Form auch Schmerz und Widerstand hervorrufen. Dabei wird das Problem deutlich, dass es bei der Lektüre der eigenen Akte, als Teil eines nachträglichen Selbstbestimmungsrechtes, kaum Adressat*innen für die unterschiedlichen Eindrücke und Empfindungen gibt und die Personen, die Dokumente über sich selbst lesen, mit einer „Ohnmacht gegenüber der Wirkmacht“ dieser Artefakte alleine zurückbleiben. In dem Aufsatz wird problematisiert, inwieweit die Einsicht in Verwaltungsdokumente einen biografischen Aufarbeitungsprozess sinnvoll begleiten können.

Flavia Guerrini, Ulrich Leitner und Michaela Ralser nehmen in ihrem Beitrag biografisches Wissen aus einer erinnerungs- und gedächtnistheoretischen Perspektive in den Blick. Sie untersuchen die Rolle der Fürsorgeakte als „Organisatorin und Ordnerin biografischer Wissensbestände“. Anhand eines narrativen Interviews wird gezeigt, in welcher Weise eine Akte als unterstützte Erinnerung hilfreich sein kann, um Vergangenheit zu ordnen und ein eigenes Verhältnis dazu zu entwickeln. Es wird herausgearbeitet, wie die Akte von Zeitzeug*innen als „Ressource ihres Erinnerungsprozesses“ die Möglichkeit gewährt, sich in der Gegenwart eine legitime Position gegenüber den verschrifteten Zuschreibungen von Obrigkeiten zu erobern.

Unser fortlaufender Verweis auf die in den Akten und Dokumenten enthaltenen Zuschreibungen und Etikettierungen verdeutlicht die Bedeutung sozialer Ordnung im Schrifthandeln. Sabine Stange analysiert in ihrem Beitrag das damit verbundene Deutungswissen sozialer Ordnung in internen Berichten der Heimverwaltung. Dafür wertet sie Schriftstücke über heimkritische Aktionen der außerparlamentarischen Opposition (APO) aus, die im Sommer 1969 in Westdeutschland, konkret in Hessen, stattgefunden haben. Rekonstruiert werden Deutungsmuster der Verwaltung, mit denen die Kritiker*innen der Heimerziehung durch Leitungen und Verwaltungen delegitimiert und diskreditiert werden, um Vorstellungen sozialer Ordnung der Heimverwaltung zu legitimieren und stabil zu halten. Damit schärft Sabine Stange den Blick auf eine gesellschaftliche Umbruchsituation, in der die Heimordnung „als pars pro toto für die gesellschaftliche Ordnung“ steht.

Der Beitrag von Anna Renker nimmt den Faden institutioneller Zuschreibungen weiter auf. Sie untersucht die aktuelle Prozessierung inklusiver Sozialpolitik. In einer ethnomethodologischen Perspektive wird die Kategorisierungsarbeit in formalisierten Antragsdokumenten der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe analysiert. Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion typischer Kategorisierungen bei der Fallbearbeitung. So wird gezeigt, dass in den Hilfen zur Erziehung primär verwalterische in Verschränkung mit sozialpädagogischen Typiken der Kategorisierung verwendet werden. In der Eingliederungshilfe wird die Kategorisierung mit dem Ziel der Feststellung einer konkreten Leistungsberechtigung und zur Kostenverwaltung durchgeführt. Anna Renkers Untersuchung verdeutlicht, dass diese unterschiedlichen Kategorisierungstypiken der unterschiedlichen Systeme reflektiert werden müssen, wenn eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe angestrebt wird.