1 Einleitung und Ziel der Untersuchung

In den vergangenen zwei Jahrzehnten schossen die Studien zum Abbruch krimineller Karrieren wie die Pilze aus dem Boden.Footnote 1 Gleichwohl gibt es bislang nur wenige Untersuchungen, die auf Abbruchs- und Fortführungsprozesse und auf die Selbstsicht der Betroffenen gleichermaßen eingehen (vgl. hierzu Sampson und Laub 1993; Stelly und Thomas 2004; Stelly et al. 2003). In den meisten Studien, die sich mit der Entwicklung normkonformen Verhaltens von Straftätern befassen, wird das dynamische Wechselspiel von individual-psychologischen und sozial-strukturellen Einflüssen als ausschlaggebend für das Beenden der kriminellen Laufbahn und damit für Desistance hervorgehoben (vgl. bspw. Giordano et al. 2002; Sampson und Laub 2005). Der „Wille und die Wege“ („the will and the ways“, LeBel et al. 2008, S. 136; Burnett 2010, S. 663) sind demnach entscheidend für eine langfristige Verhaltens-, Einstellungs- und damit Lebensstiländerung. Der „Wille“ zur Veränderung kann in diesem Zusammenhang auch in das Konzept der Agency übersetzt werden. In Anschluss an Giddens kann Agency auch als „individuelles Handeln“ oder individuelle Bewältigungsstrategie verstanden werden (Giddens 1988, S. 55 ff.).

Ergebnisse der kriminologischen Lebenslaufforschung zeigen, dass der Abbruch devianter Verhaltensweisen bei jugendlichen und heranwachsenden Straftätern im Allgemeinen beim Übergang ins Erwachsenenalter stattfindet (vgl. Thomas und Stelly 2008, S. 199). Nur bei einem kleinen Teil der jungen Straftäter verfestigt sich dieses Verhalten in Form einer anhaltenden kriminellen Karriere (vgl. „chronic offenders“ Farrington 2003 oder „life-course persisters“ Moffitt 1994).

Der vorliegende Beitrag behandelt Abbruchs- und Fortführungsprozesse devianten Verhaltens junger ehemals inhaftierter Gewalt- und Sexualstraftäter. Anhand eines Interaktionsmodells sollen die Bedingungen aufgezeigt werden, unter denen es zu einer Stabilisierung oder Destabilisierung normkonformen Verhaltens, kommt. Hierbei werden nicht nur brüchige Übergangskonstellationen von Befragten, deren Interviews nach einer Wiederinhaftierung erneut in Haft geführt wurden, sondern auch vermeintlich erfolgreich bewältigte Übergänge von der Jugendstrafanstalt in die Freiheit in den Blick genommen. Im Mittelpunkt der vorliegenden Ausführungen stehen daher nicht Daten offizieller Desistance, wie in der klassischen quantitativen Rückfallforschung, sondern Prozesse der Verhaltensänderung im Sinne einer behavioral desistance.Footnote 2 Daher stehen sowohl Chancen- als auch Risikoverläufe der Befragten im Mittelpunkt. Dabei müssen diese Risikoverläufe nicht unmittelbar mit neuen Straftaten in Zusammenhang stehen, auch wenn positive Entwicklungsprozesse in diesen Fällen massiv gefährdet sind.

Nach einer Aufbereitung der Literatur von Agency in der Desistance-Forschung und der analytischen Perspektive auf Veränderungsprozesse anhand des Karrierekonzepts, die für das Verständnis von Verlaufsmustern krimineller Karrieren (Abschn. 2) erforderlich scheint, wird das der Arbeit zugrundeliegende Sample und das methodische Vorgehen (Abschn. 3) und der Auswertungsprozess (Abschn. 4) kurz erläutert. Im Anschluss daran kommt im Ergebnisteil das entwickelte empirische Interaktionsmodell (ZARIA-Schema) zur Anwendung (Abschn. 5). Dieses wird anhand von zwei ausgewählten Fallbeispielen eines Chancen- und eines Risikoverlaufs, die miteinander kontrastiert werden, exemplarisch dargestellt. Hauptziel des Beitrags ist es aufzuzeigen, warum es in einem Fall zu einer (temporären) Stabilisierung normkonformen Verhaltens kommt, während in einem anderen Fall mit gleichen Ausgangsbedingungen hingegen eine Destabilisierung erfolgt.

2 Die Rolle von Agency und die kriminelle Karriere im Lichte der Desistance-Forschung

Für den Beginn des Desistance-Prozesses wird dem Konzept der Agency ein hoher Stellenwert beigemessen (vgl. Maruna 2001). Einerseits wird Desistance dabei als ein innerer Prozess begriffen, der durch den Willen zur Veränderung gekennzeichnet ist. Andererseits kann man unter Agency im Allgemeinen die Handlungs- und Wirkmächtigkeit sozialer Akteure verstehen, die sich mitunter in den sprachlichen Konstruktionen der Befragten in ihrer Erzählung rekonstruieren lassen (vgl. Lucius-Hoene 2012).

Auch wenn es innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte umfangreiche Forschung zum Abbruch krimineller Karrieren und devianter Verhaltensweisen gegeben hat, so besteht, wie bereits erwähnt, über das feingliedrige Zusammenspiel konkreter Wirkfaktoren nach wie vor nur wenig Wissen (vgl. Healy 2014). In den letzten Jahren jedoch ist die Agency-Analyse als ein methodisches Instrument zur Rekonstruktion narrativer Identität in der Desistance-Forschung zunehmend populärer geworden und konnte interessante Einblicke in die (Motivations-)Dynamik einer Verhaltensänderung geben (vgl. u. a. Healy 2013, 2014; King 2013; Maruna 2001; Soyer 2014; Stevens 2012).Footnote 3 Große Bedeutung kommt hierbei der Frage zu, inwiefern Menschen Agency in Interaktionen verwenden, um ein positives Selbstbild zu konstituieren und sich an prosozialem Verhalten zu orientieren. Die Herausforderung, eine (narrative) Identität zu entwickeln, die sich an normkonformen Verhaltensweisen orientiert, ist dabei eng mit der subjektiven Bewältigung solcher Übergänge verknüpft. Dabei sollte ferner zwischen „imaginierter Agency“ (Soyer 2014), unter der eine lediglich in der Vorstellungskraft des Akteurs liegende Handlungsmächtigkeit verstanden werden kann, wohingegen dieser jedoch auf der faktischen Ebene nicht zwangsläufig über Kontrolle verfügen muss, von agentivierten Handlungen unterschieden werden, die sich unmittelbar auf der Handlungsebene auswirken. Eine „authentische“ Desistance, in deren Erzählung ein glaubwürdiges Fernbleiben von Straftaten zu Tage tritt, oder eine „liminale“ Desistance, d. h. ein Prozess, der sich zwischen der Aufgabe und der Wiederaufnahme devianter Verhaltensweisen bewegt, können des Weiteren genannt werden (Healy 2014, S. 878).

Der analytische Blick ist dabei grundsätzlich auf die biografische Weichenstellung gerichtet, die Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder verschließen kann. In der Analyse wurde in Augenschein genommen, wie die Befragten ihr Leben nach der Haftentlassung sehen, und ob sich Veränderungsprozesse oder Einschnitte in ihrem Leben rekonstruieren lassen. Dies geschieht anhand der Betrachtung der Abfolgen phasenspezifischer Verbindungen von Erleiden (hierzu siehe Schütze 1981) und Aktivität (Agentivierungen). Hierüber können wichtige Erkenntnisse für das Verständnis des Abbruchs- oder Fortführungsprozesses devianten Verhaltens gewonnen werden. Um diese Veränderungsprozesse in einer kriminellen Laufbahn verstehen zu können, wird dem Konzept des Wendepunktes ein hoher Stellenwert beigemessen. Denn dieser verbindet Übergänge (Haftentlassung) mit Verläufen (etwa einem positiven Entwicklungsverlauf). Derartige Wendepunkte werden häufig durch den Eingang einer partnerschaftlichen Beziehung oder durch die Übernahme der Vaterschaftsrolle ausgelöst (Sampson und Laub 1993). Diese neuen Beziehungen binden die Betroffenen in ein Set an Verpflichtungen und Erwartungen ein und können somit eine innere Wendung befördern.Footnote 4

Karrieremodelle beinhalten generell ein phasendynamisches Verständnis des Lebenslaufs. Diese Modelle gehen von einer flexiblen und zukunftsoffenen Auffassung des Ablaufs einer Karriere aus. Dieses offene Verständnis des Veränderungsprozesses folgt der Vorstellung, dass bestimmte Stufen und Entwicklungsschritte im Desistance-Prozess übersprungen, ausgelassen oder in ihrer Reihenfolge vertauscht sein können (siehe hierzu auch Helfferich 2012, S. 217). Jede Stufe, die erreicht wird, kann im Sinne einer Entwicklungsstufe verstanden werden: Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass auf jeder Karrierestufe andere Ausgangsbedingungen wirksam werden, die neue Verhaltensweisen ermöglichen, aber auch erfordern. Somit wird auf jeder Stufe eine neue Entscheidung darüber getroffen, ob diese bewältigt wird oder auf eine bereits (vermeintlich) bewältigte zurückgekehrt wird.

Nach Helfferich (2012) verändert jeder Übergang auch eine mögliche Umkehr oder Weichenstellung in der Karriere und kann demnach Entwicklungsmöglichkeiten einschränken und diese folglich nur in eine bestimmte Richtung zulassen. Die dadurch eintretende Schließung von Möglichkeiten erschwert es, bestimmte Hürden zur Umkehr in einem Entwicklungsprozess erfolgreich zu nehmen (vgl. Hess 1978, zitiert in Helfferich 2012, S. 216).Footnote 5 Ganz ähnlich geht auch die Entwicklungskriminologie davon aus, dass eine positive Veränderung im Leben zu jedem Zeitpunkt – unabhängig vom Alter – möglich ist. Eine feste Arbeitsstelle (vgl. Uggen 2001) und eine stabile Partnerschaft werden dabei am häufigsten als ausschlaggebend für eine positive Wendung in Richtung eines straffreien Lebens genannt (vgl. Sampson und Laub 1993).

Die klassischen Verlaufsmuster einer kriminellen Karriere dokumentierte Daniel Glaser bereits in seinen empirischen Studien, die sich mit den Effekten eines Gefängnisaufenthalts und der Bewährungshilfe auseinandersetzen. Die Quintessenz seiner Untersuchungen: „Almost all criminals follow a zig-zag path“ (Glaser 1964, S. 85). Delinquenzverläufe oder kriminelle Karrieren, kann man – ebenso wie Desistance – als einen Prozess auffassen, der sich selten aufgrund des Auftretens eines singulären Ereignisses manifestiert, sondern sich vielmehr über einen längeren Zeitraum hinziehen kann. Dabei ist eine typische kriminelle Karriere meist nicht durch einen stetigen Zuwachs an Straftaten gekennzeichnet. Vielmehr hat sich die Vorstellung von Zickzack-Verlaufsmustern, die sich durch Vor- und Rückwärtsbewegungen zwischen kriminellen und nicht-kriminellen Episoden auszeichnen, durchgesetzt. Diese Auslegung stellt einen geeigneten Ansatzpunkt dar, um sowohl längere als auch kürzere Unterbrechungen in einer kriminellen Laufbahn verstehen zu können. Zickzack-Verläufe beinhalten also kleinere Pausen und Unterbrechungen der kriminellen Aktivität aber auch umfassendere Übergänge in neue soziale Rollen, wie der Elternschaft oder des verantwortungsvollen Angestellten. Die Haftentlassung kann dementsprechend als ein solcher Übergang von einem zum nächsten Lebensabschnitt begriffen werden.

Für die vorliegende Studie ist das Konzept der Verlaufskurven von Schütze (1981) von besonderer Bedeutung. In Prozessstrukturen des Lebensablaufs formuliert er eine der ersten Agency-theoretischen Abhandlungen in der Lebenslaufforschung. Dabei richtet Schütze seine Aufmerksamkeit auf die beiden gegensätzlichen Pole des Gestaltens und Erleidens und nimmt damit den Bruch des herkömmlichen Orientierungsrahmens der Akteure in den Blick, der eingeordnet ist in einen Prozess oder eine Stufenabfolge.Footnote 6 Schütze verwendet den Begriff gemäß Glaser und Strauss (1971), die ihren Fokus ebenfalls auf die Phase des Wechsels zwischen Erleidens- und Aktivitätsformen richten, da sie diese als entscheidend für individuelle Bewältigungsprozesse betrachten. Wird beispielsweise eine Phase der Aktivität als ein fortwirkender Erleidensprozess erlebt, der schließlich zu einem völligen Abbruch der Handlungs- und Identitätsorientierung führt, so schafft dies erst die Voraussetzung für einen potentiellen Veränderungsprozess. Denn erst dann können „biographisch relevante handlungsschematische Bearbeitungsstrategien vom Betroffenen innerlich übernommen oder gar selbst entwickelt werden“ (Schütze 1981, S. 90). Somit richtet der Autor seine Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Ablaufmuster in der erzählten Lebensgeschichte. Auf diese Weise können die unterschiedlichen Verarbeitungsformate in den Erzählungen herausgearbeitet werden.

Als ein typisches Charakteristikum von Karrierekonzepten wird die periodische Wiederkehr, der Wechsel zwischen Phasen krimineller Aktivitäten und der Abstinenz von kriminellen Handlungen hervorgehoben: „A temporary abstinence from criminal activity during a particular period of time only to be followed by a resumption of criminal activity after a particular period of time“ (Piquero 2004, S. 108). In diesem Sinne ist auch der Desistance-Prozess als ein temporärer Zustand zu begreifen. Aufgrund des kurzen Beobachtungszeitraums der Studienteilnehmer von etwa einem Jahr nach der Haftentlassung, kann in vorliegender Studie keine Aussage über den langfristigen Entwicklungsverlauf der einzelnen Befragten gemacht werden. Stattdessen stehen at-risk-Verläufe und die temporary desistance im Mittelpunkt. Denn wie in den meisten Untersuchungen zur Desistance kann eben kein endgültiger Abbruch der kriminellen Karriere prognostiziert werden (hierzu siehe auch Gadd und Farrall 2004).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Karrieremodelle im Kern Veränderungsprozesse in einem dynamischen Interaktionsverhältnis zwischen individuellem Handeln einerseits und dem individuellen sozialen Umfeld andererseits begründet sehen. Diese Vorstellung legt eine offene und sequenzielle Ordnung von Übergängen und Lebensphasen nahe. Es muss daher berücksichtigt werden, dass in jeder Phase andere Voraussetzungen vorliegen und damit neue Handlungsanforderungen und -strategien potenziell vorhanden, aber auch erforderlich sind, um die neue Situation erfolgreich zu bewältigen.

Die Entstehung von Desistance (oder die Entwicklung eines positiven Selbstbilds) kann unter einem derartigen Karrieremodell subsummiert werden. Denn der Abbruch einer kriminellen Karriere erfolgt nicht schlagartig und plötzlich, sondern entwickelt sich über einen längeren Zeitraum des Abwägens. Die relevanten Faktoren dieses Abwägungsprozesses liegen einerseits in der Überlegung, einen normkonformen Lebensstil aufzubauen und die damit verbundenen Anstrengungen auf sich zu nehmen und andererseits in der Überlegung, die kriminellen Aktivitäten und unter Umständen auch die damit verbundenen (vermeintlichen) Annehmlichkeiten aufzugeben.Footnote 7 Die Bereitschaft, sich von deviantem Verhalten zu verabschieden, kann nach einem anfänglichen committment, dem entschiedenen Bekenntnis und Willen sich von devianten Verhaltensweisen zu distanzieren, im Laufe der Zeit nachlassen oder aber auch ganz aufgegeben werden. Andererseits ist es auch möglich, dass das committment erst im Zeitverlauf, im Zuge der Eingewöhnung in die neue Situation und unter Einfluss von Bezugspersonen, entsteht und sukzessive weiterentwickelt und aufrechterhalten wird. Aus diesem Grund wird der Ablauf eines entstehenden, sich verändernd wahrgenommenen und realisierten Abschieds vom alten Selbstbild des Straftäters in der Literatur als langfristig angelegter Desistance-Prozess (secondary desistance) definiert. In der vorliegenden Studie soll dieser Stufenverlauf auch als Abbruchprozess devianter Verhaltensweisen bezeichnet werden.

3 Sample und Methodisches Vorgehen

Das Sample der vorliegenden Studie besteht aus insgesamt 24 jungen Gewalt- und Sexualstraftätern aus dem Gesamtprojekt „Jugendliche Sexualstraftäter in den sozialtherapeutischen Einrichtungen des Freistaates Sachsen“, mit denen qualitative (teil-)narrative Interviews ein Jahr nach ihrer Haftentlassung geführt wurden. Der halbstrukturierte Leitfaden umfasste Fragen zur sozialen Lebenssituation der jungen Bestraften wie der Beschäftigungs- und Wohnsituation, der finanziellen Lage, der partnerschaftlichen und sozialen Einbindung, dem Freizeitverhalten, der erlebten sozialen Unterstützung und dem Umgang mit der Haftstrafe an sich. Mit einem offenen Erzählanstoß und der Aufforderung zu berichten, wie die Zeit nach der Haftentlassung erlebt wurde, konnte eine individuelle Relevanzsetzung der jungen Befragten ermöglicht und damit einem explorativen Vorgehen entsprochen werden. Kernmerkmale des Samples sind Tab. 1 zu entnehmen. Anstelle der Repräsentativität durch große Fallzahlen und einer Zufallsauswahl, wie in der quantitativen Sozialforschung üblich, ist die Heterogenität und die Kontrastierung der Fälle des Samples (Deliktart, Vorstrafenanzahl, Haftzeiten, usw.) als Gütekriterium qualitativer Untersuchungen zu werten.Footnote 8

Tab. 1 Merkmale des Samples der jungen Haftentlassenen im Überblick

4 Auswertungsprozess

Die qualitative Analyse erfolgte anhand von zwei methodischen Zugängen: Einem eher standardisierten qualitativen Kodierverfahren und einer offenen Einzelfallanalyse, die ihr Augenmerk auf die Selbstsicht des Handlungsmachterlebens der Befragten richtet.Footnote 9 Anhand des qualitativen Kodierens wurden Schlüsselkategorien herausgearbeitet, die als Grundlage für die Theoriegenerierung und die Entwicklung des Interaktionsmodells dienten. Dieses Vorgehen wurde in Anlehnung an die von Glaser und Strauss (1979) entwickelte Grounded-Theory Methodik gewählt. Die Verlaufsmuster konnten über die sprachlichen Konstruktionen in den biografischen Erzählungen anhand der Analyse narrativer Identität rekonstruiert werden. Die Gliederung der Ablaufdynamik in Erzählphasen wurde anhand des Wechsels der (mikro-)sprachlich konstruierten Ausdrucksformen von Handlungs- und Wirkmächtigkeit in den Erzählungen rekonstruiert, die auf das Ablassen oder die Fortführung von devianten Verhalten hinweisen und jeweils andere zentrale (Lebens- oder) Ausgangsbedingungen und (Interaktions-)Situationen verdeutlichen. Solche Sequenzen kommen in Satzkonstruktionen wie etwa „dann habe ich gleich losgelegt“, „ich habe das alles selbst hingekriegt“ und in Termini wie „die haben mir nur Steine in den Weg gelegt“, „dann habe ich mich wieder hängenlassen“ und „dann hat es mal nen Knick gemacht“ zum Ausdruck.Footnote 10

5 Empirische Ergebnisse: Lebensverlaufsdynamiken nach Haftentlassung – Das ZARIA-Schema

Die Analyse des empirischen Materials besteht aus einem zweistufigen Auswertungsverfahren. Im ersten Auswertungsschritt wurden die zentralen Aspekte im Rahmen von Fortführungs- und Abbruchsprozessen der ausgewählten Befragten herausgearbeitet und zu fünf Schlüsselkategorien verdichtet: Ziele, Agency, Ressourcen, Identität und Anerkennung. Ziele nehmen eine Schlüsselposition ein, da sich diese durch alle anderen Kategorien hindurchziehen; diese Kategorie ist also auch Teil aller anderen. Auf diese Weise können Schwachpunkte in anderen Kategorien ausgeglichen werden, respektive Impulse für den Anstoß von Entwicklungsprozessen in den anderen Kategorien liefern. Diese Kernkategorien wurden schließlich, wie in Abb. 1 ersichtlich, in einem Interaktionsmodell, dem sogenannten ZARIA-Schema, zusammengefasst.Footnote 11

Abb. 1
figure 1

Empirisches Interaktionsmodell – Das ZARIA-Schema

5.1 Fortführungs- und Abbruchsprozesse der kriminellen Karriere

Der prozesshafte Ablauf von Fortführung und/oder des Abbruchs devianter Verhaltensweisen wird anhand von zwei ausgewählten Fallbeispielen aufgezeigt. In beiden Erzählungen werden Anpassungsschwierigkeiten an das Leben in Freiheit sichtbar; deren Bewältigung gestaltet sich jedoch auf unterschiedliche Weise. In diesem Abschnitt soll daher der Frage nachgegangen werden, warum das Vorhaben, ein straffreies Leben zu führen, in einem Fall zum Zeitpunkt des Interviews überwiegend gelang, also authentischer war, während dies in einem anderen Fall (mit ähnlichen Ausgangsbedingungen) hingegen eher unglaubwürdig erschien.Footnote 12 In diesem Fall konnte aus der Position des nach Struktur und Halt Suchenden nicht in die Rolle eines Gefestigten und straffrei Lebendenden gewechselt werden.

Fall 1: Benedikt – der authentische Desister

In der Erzählung des authentischen Desisters wird der erfolgreiche Ausstieg aus der kriminellen Laufbahn mit einem Einstieg in Arbeitsleben und Familienalltag verknüpft. Aber auch die grundsätzliche Orientierung an normkonformen Verhaltensweisen und der Ausrichtung des Lebensstils an konventionellen Zielen, wie der Gründung einer Familie, kommt in diesen Erzählungen zum Vorschein. Augenfällig ist, dass diese Gruppe der Befragten durchgängig auf die Unterstützung von Menschen aus einem normkonformen Umfeld zurückgreifen konnte, die ihnen Halt und Sicherheit boten. Diese stützenden Sozialkontakte waren meist die Freundin, die Eltern, Geschwister oder andere bedeutende Personen, wie Mentoren (ehemalige Chefin, der aktuelle Chef). Zudem waren sie in eine sinnvolle tagesstrukturierende Tätigkeit, wie eine Schulausbildung oder einen Ausbildungsplatz, eingebunden. Im Folgenden soll das dynamische Zusammenspiel der Kernkategorien am Beispiel von Benedikt ausführlich dargestellt werden.

Ziele: Benedikts Ziele kristallisieren sich in seinem veränderten Verhalten und der Übernahme neuer Routinen; seine Erzählung zeichnet sich durch eine reflektierte und agentivierte Sprechweise aus, die seine deviante Vergangenheit mit seinem neuen und antizipierten Selbstbild verknüpft und ein authentisches Bild seiner Verhaltenstransformation verdeutlicht:

Ich sehe mein Leben früher, wie es gewesen ist, ich sehe mein Leben heute, ich sehe mein Leben, wie es in der Zukunft sein soll, ich habe ’n Plan, ich habe mein Ziel vor Augen, so nicht mehr so wie früher in den Tag hinein gelebt […].

Als Motiv für eine Veränderung beschreibt er seine Sehnsucht nach Ruhe und einem geordneten Leben. Einen hohen Stellenwert nehmen in diesem Erzählmuster private sowie berufliche Ziele ein („Ich will später mal was werden!“), die Hand in Hand mit dem Vorhaben gehen, die kriminelle Karriere zu beenden. Neben seiner Sehnsucht nach Ruhe und einem geordneten Leben war es gleichwohl auch eine gewisse Ermüdung hinsichtlich des anstrengenden und unsteten kriminellen Lebenswandels, die ihn dazu motivierte, seinen Lebensstil zu verändern:

Und ich hatte keinen Bock mehr, auf der negativen Meile zu fahren, weil das einfach nur alles ne Berg- und Talfahrt war, habe mich halt so nach kontinuierlich Routine gesehnt, ne?!

Anerkennung: Der Befragte beschreibt sich als jemand, der in der Vergangenheit falsche Entscheidungen getroffen und auf fehlende Anerkennungs- und Respektbekundungen mit physischer Gewalt reagiert hat. Darin drückt sich einerseits ein verändertes Selbstbild aus, andererseits wertet er sein früheres Verhalten nicht ab, sondern wechselt in die persönliche Rede, was zudem auf eine fehlende emotionale Distanziertheit des Probanden gegenüber seinem früheren Verhalten und der gemachten Erfahrungen hindeutet. Er sieht das Recht auf Anerkennung als ein menschliches Grundbedürfnis.

Benedikt bezieht diese früheren Krisen auf nicht vorhandene Anerkennungsverhältnisse. Denn während dieser Krisen hatte der Befragte weder eine Arbeitsstelle noch eine Partnerschaft, aus denen er Anerkennungsressourcen generieren konnte. Die Hilfeleistung der Familie, der Partnerin oder aber auch des Arbeitgebers wird demgegenüber als eine Chance begriffen, an die eine Verhaltensänderung maßgeblich gekoppelt ist:

[…] Es gibt eine Bahn, um einzulenken, um die Sichtweisen zu ändern, um seine Konsequenzen daraus zu ziehen. Und dann muss die Chance dazu gegeben werden.

Wenn die Chance dazu nicht gegeben wird, tut der den Ehrgeiz, das zu machen, tut irgendwann abnehmen, tut sich wieder zurück in Frust verwandeln. Und irgendwann hast du einfach keinen Bock mehr, also irgendwann denkst du dir, fick dich, also fickt euch alle.

Deutlich wird hier, dass sich negative Erfahrungen in Krisensituationen aktualisieren. Diese Aktualisierung führt, den Ausführungen des Befragten zufolge, letztlich dazu, dass eine gewisse Trotzhaltung eingenommen wird, die an unreifes und rebellierendes Verhalten gebunden ist. Diese gewisse Art von Renitenz kann letztlich zu Risikoverhalten, im schlimmsten Fall sogar zu einer Wiederinhaftierung führen. Jedoch generiert die hohe Selbstanerkennung („ich habe halt menschlich überzeugt“) Benedikts, die auch im Umgang mit der Haftstrafe sichtbar wird („daher kam die Haft gut“, „sonst wäre ich nicht der Typ, der ich jetzt bin“) das Erleben von Handlungsmächtigkeit und stößt bei ihm einen Aufwärtsverlauf der Handlungsmächtigkeit und somit einen Chancenverlauf an. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit der Übernahme einer Außenperspektive, die vor der Haft Schwierigkeiten bereitete und einen weiteren Indikator für eine veränderte Sichtweise darstellt:

Na ja, weil ich ja so ein Typ bin und halt irgendwie manchmal die falsche Entscheidung getroffen habe.

In Zusammenhang mit der Beschreibung der Bewältigung eines episodenhaften Absturzes wird dann die Eigenleistung betont, die mit dem Beenden des Konsums von Drogen verbunden war:

Ich habe auch selbständig wieder aufgehört, also so ist es nicht. Ich habe da zum Glück ziemlich viel Selbstdisziplin.

In dieser Sequenz zeigt sich Benedikts enorme Selbstanerkennung, die es ihm ermöglicht, sich als handlungsmächtig wahrzunehmen. Durch die Selbstdisziplin kann die Verfolgung von Zielen, wie beispielsweise der Antrieb dazu, sich eine Ausbildungsstelle zu suchen, eine positive Entwicklungs- und Lernerfahrung darstellen. Auf diese Weise kann auch der Verlust des Handlungsmachterlebens in anderen Lebensbereichen, beispielsweise im privaten Bereich, (zumindest teilweise) ausgeglichen werden.

Im Laufe der Zeit jedoch reißt die soziale Unterstützung aufgrund seines erneuten Drogenkonsums und der emotionalen Überforderung naher Bezugspersonen (beste Freundin, Schwester und Stiefvater), die mit seinen psychischen Problemen überfordert sind, nahezu gänzlich ab. Entgegen der Erwartungen zeigt sich jedoch, dass der Wegfall von sozialer Unterstützung aktive Handlungsbemühungen generieren kann:

Hilfe ist auch irgendwann abgebrochen halt. Es gab halt dann keine Kumpels oder Freunde oder so, die halt gekommen sind und gesagt haben: Gut Jung, machen wir das und das, machen wir das und das, gab’s halt nicht so. Dann habe ich halt irgendwie alles alleine gemacht.

Ressourcen: Trotz der enormen Bedeutung von nahen Bezugspersonen in seinem Leben verstärken das Wegbrechen sozialer Beziehungen und der Verlust des sozialen Rückhalts seine Eigenmotivation, aktiv zu werden. In diesem Fall erweist sich der Beziehungsabbruch als Motor für Agency (getreu dem Motto: Jetzt erst recht!). Er schöpft aus den versagten Anerkennungsbekundungen Selbstdisziplin und Antrieb dafür, neue Aufgaben zu bewältigen. Aus der Abwendung der Bezugspersonen generieren sich bei Benedikt innere Ressourcen, die sich in seinem Bewusstsein darüber ausdrücken, diese schwierige Lage aus eigenen Kräften bewältigt zu haben (Selbstanerkennung); hieran wird auch ersichtlich, dass sich die unterschiedlichen Kategorien durchaus überschneiden, wie hier die Kategorie Ressourcen mit der Kategorie Anerkennung. Durch das „Ansammeln von Kapital“ (wie noch in der folgenden Kategorie Identität zu sehen ist) während der Inhaftierungszeit, konnte Benedikt Überforderungssituationen nach der Entlassung überwinden.

Aber auch äußere Ressourcen, wie die Unterstützungsleistung seiner ehemaligen Chefin, trugen dazu bei, dass er letztlich seine erste Krise überwinden konnte. Wie gesehen, wird dabei die Bewältigung von schwierigen Situationen nach der Haftentlassung einerseits an die Unterstützungsleistung naher Bezugspersonen geknüpft, andererseits aber auch auf seine Eigenleistung zurückgeführt. Als ihm beispielsweise sein Stiefvater und seine Schwester mit der Zeit ihre Unterstützung versagen, aktiviert er seine inneren Ressourcen und wird ohne jegliche Unterstützung von außen selbst aktiv.

Identität: Benedikt betrachtet die Inhaftierung als einen positiven Wendepunkt in seinem Leben. Er beschreibt die Hafterfahrung als „Auszeit“, in der er viel nachgedacht, an sich gearbeitet habe. In diesen Sequenzen zeigt sich erneut die Identitätsarbeit des jungen Befragten. Zwar zeigt sich keine gänzlich erfolgte Abgrenzung vom alten Selbstbild, vielmehr integriert Benedikt die alten devianten Anteile in sein neues Identitätsbild. Letztlich gelang es ihm die schwierige Zeit nach der Haftentlassung zu bewältigen und sich wieder sozial zu integrieren, was er auf sein in Haft bereits angespartes „Energiepolster“ zurückführt:

Ich habe meine Energie halt, ich bin ganz ehrlich, glaube ich heute noch, ich bin halt aus der Haft raus, auch nach drei Stunden Entlassung – sage ich mal – klar, war alles schwierig und ich wusste, das wird hart und kompliziert, aber ich hatte halt ’n riesengroßes Energiepolster […].

Benedikt deutet die Hafterfahrung zudem als eine Lebensphase, in der es ihm erstmalig ermöglicht wurde, schmerzliche Lebenserfahrungen zu verarbeiten.

Also es war halt zwischenzeitlich halt gewisse Phasen halt gewesen, wo ich mir wirklich gesagt habe, warum bist du nicht auch so geworden, ja, weil da einfach zu viel auf einen eingeströmt ist. Unsere Kindheit war halt so nicht wirklich so da. Das habe ich halt nicht so richtig verstanden, ob das alles umgewandelt hat in Aggressionen und so, halt reingefressen Aggressionen und halt, ja. Nicht so richtig verarbeitet. Und daher kam die Haft gut.

Situationen, in denen die Kontrolle über das eigene Leben wiederhergestellt werden konnte, aber auch der Chancenverlauf per se, sind an eine positive Beschreibung der Haft geknüpft. Der Freiheitsentzug bot durch die Herausnahme aus dem devianten Milieu und dem dortigen „stressigen Leben“ Zeit zum Nachdenken. In diesem Fall setzte die sozialtherapeutische Behandlung den Impuls, über das Leben und insbesondere über die kriminelle Vergangenheit nachzudenken, und ermöglichte dadurch den Beginn eines Umdenkprozesses („habe vorher nie darüber nachgedacht“).

Ein Veränderungsprozess oder eine bewältigte Entwicklungsstufe zeigt sich auch an dem Umgang mit dem Stigma der Hafterfahrung; ihr wird ein positiver Lerneffekt abgewonnen, der eine Veränderung des Selbstbilds ermöglichte. Somit wird die zu Beginn der Inhaftierung meist noch als schmerzlich empfundene Inhaftierung in eine positive Lernerfahrung umgedeutet.

Es war wirklich gut, dass ich in Haft gekommen bin, ohne Spaß, sonst wäre ich heute nicht der Typ, der ich heute bin.

Im Anschluss an die Überwindung der anfänglichen Schwierigkeiten, sich nach der Entlassung sozial zu integrieren, und die hohe Motivation, den kriminellen Aktivitäten zu entsagen, folgt eine Episode des „Schleifenlassens“. Sie ist mit einem erheblichen Motivationseinbruch und dem Abbruch von aktiven Handlungsbemühungen, ein normkonformes Leben aufzubauen, verbunden:

[…] aber dann nach einer gewissen Zeit hat’s dann halt auch mal nen Knick gemacht, also dann war’s bloß noch Geschleife, weil halt immer wieder Gedanken halt gekommen sind so nach dem Motto: Also geht nun die ganze Kacke von früher wieder los? Dass es den Leuten eigentlich Scheißegal ist, obwohl sie gerade im Gefängnis erzählt haben: „hier Resozialisierung“.

Der Einschnitt, den der Befragte hier beschreibt, geht mit Gedanken an in der Vergangenheit erlebten schmerzhaften Erfahrungen und Enttäuschungen einher. Als Wendepunkt der Handlungsmächtigkeit kann bei Benedikt die Erkenntnis von eigenmächtig bewältigten Problemen in der Vergangenheit betrachtet werden. Es wird weiterhin die unzureichend erlebte Unterstützung von Institutionen des Strafvollzugs thematisiert. Infolge von (einem teilweise massivem) Überforderungserleben mit der Welt draußen erfahren negative Lebenserfahrungen eine Aktualisierung. Diese Gefühle setzen Prozesse in Gang, die beispielsweise mit einem Nachlässigwerden („habe mich dann hängen lassen in manchen Sachen“) verbunden sind. Interpretiert werden kann dieser Verweis auf die Vergangenheit („geht nun die ganze Kacke von früher wieder von vorne los“), als Ausdruck der Häufung versagter Anerkennungsverhältnisse und unsicherer Bindungserfahrungen in seinem Leben („dass es den Leuten eigentlich scheißegal ist“). In einer Krise werden dann Erfahrungsmuster aus der Vergangenheit an die Oberfläche befördert und dienen für ihn als eine Rückbestätigung dafür, dass Menschen ihr Wort nicht halten. Dies deutet sich auch in der Beschreibung der Vergangenheit als durchsetzt von Schwierigkeiten und Krisen (in der Familie oder mit der Partnerin) an.

Ein episodenhafter Zusammenbruch der Handlungsmächtigkeit ist an den Verlust der inneren Bewältigungsstrategien, die aufgrund von gehäuften krisenhaften Entwicklungen aufgebraucht wurden, gekoppelt („ich war auf einem absoluten Nullpunkt angekommen“). Der Umgang mit dieser Situation gestaltet sich in der Aufnahme alter Verhaltensmuster, wie des Drogen- und/oder Alkoholkonsums. Dieses Problemverhalten setzt wiederum Prozesse in Gang, die zu einem völligen Zusammenbruch aktiver Handlungsbemühungen, sich an normkonformen Verhaltensweisen zu orientieren, und der Verfolgung von zuvor gesetzten Zielen führen können. Seine zuweilen auch dysfunktionalen Bewältigungsstrategien, die er als Lösung für seine Überforderung betrachtet, zeigen sich in folgendem Zitat:

Da habe ich echt versucht, das Bestmögliche halt daraus zu machen, habe dann anderthalb Monate, habe ich dann Drogen halt genommen, halt Aufputschmittel. Das ich halt überhaupt noch Power kriegte, also ich bin nicht faul oder so, (..) weil ich einfach nicht mehr konnte.

Benedikt arrangiert sich mit der Situation und agiert, wenn auch in dysfunktionaler Art und Weise, um weiterhin Antrieb zu generieren. Aufgrund seiner aufgebrauchten Energiereserven bedient er sich illegaler Substanzen, wie Aufputschmittel, um weiterhin seiner Arbeit nachgehen zu können. Daran wird auch deutlich, wie voraussetzungsreich und kräftezehrend der Befragte die Bewältigung dieser Übergangssituation nach der Haftentlassung empfunden haben muss.

Agency: Nach einer Episode des „Absturzes“ bricht Benedikt aufgrund seiner enormen psychischen Belastung seine begonnene Ausbildung ab und sucht sich sehr engagiert und selbstinitiiert einen neuen Ausbildungsplatz. In einzelnen Bereichen, wie der Ausbildungsplatzsuche, wird eine hohe positive Agency, die sich in der Entwicklung von Eigeninitiative ausdrückt, sichtbar. Hinsichtlich der Bewältigung enormer psychischer Belastungssituationen wird von Erfolgen berichtet, die er auf seine eigenen Fähigkeiten zurückführt:

Ja und habe dann Sport wieder regelmäßig aufgenommen, hat mir Kraft gegeben, habe mich um ’nen Ausbildungsplatz gekümmert, war ein ganz großes Trubellubel. Dann haben wir mit [Name der Behörde] telefoniert, also hin und her, ich meine, ich hab’s geschafft! Ja, Ausbildungsplatz gesichert.

Dagegen beschreibt er sich im Bereich von Liebesangelegenheiten („komme immer an Frauen, die nicht wissen, was sie wollen“) als jemand der begrenzt Einfluss darauf hat, was mit ihm geschieht. Diese passive Formulierung verweist auf seine Wahrnehmung dieser Situation als von ihm nicht „aktiv“ steuerbar. Benedikt berichtet von etlichen Krisen in seinem Lebensverlauf („hätte ich nicht so viel durch in meinem Leben“), die ihm dazu verhelfen, weiterzumachen und ihm die Kraft geben, nicht aufzugeben. Im Fall von Benedikt zeigt sich, trotz des episodenhaften Absturzes in deviante Verhaltensmuster, eine reflexive und initiative Form von Agency, die sich in der Reflexion seines Verhaltens unter Einbezug der vergangenen devianten Lebensweise und der initiativen Arbeitssuche auszeichnet.

Fall 2: Pascal – der unglaubwürdige Desister (Persister)

Pascal steht exemplarisch für den unglaubwürdigen Desister. Der unglaubwürdige Desister zeichnet sich durch seinen festen Entschluss und den Willen aus, dem devianten Lebensstil zu entsagen. Dieses Ziel setzte er sich bereits in Haft und fasste konkrete Pläne, dieses in Freiheit durchzusetzen. Außerdem unternahm er konkrete Schritte in Richtung eines straffreien Lebens. In diesem Sinne deuten sich Verhaltensänderungen und positive Entwicklungsprozesse an, die allerdings (noch) nicht stabilisiert werden konnten. In der Erzählung nimmt er wiederholt Bezug darauf, dass er aus dem „Teufelskreis der Kriminalität“ herausgekommen sei:

Und weil ich mich einfach selbst mit mir sehr viel auseinandergesetzt habe, selbst für mich entschieden habe, einen anderen Weg zu gehen, ne. Dadurch konnte ich halt rauskommen aus diesem Teufelskreis, sage ich mal, ne.

Diese Selbstdarstellung steht allerdings in Kontrast zu den vielen Erzählpassagen, in denen Gedanken an erneute Straftaten aufkommen. In diesem Abschnitt soll daher der Frage nachgegangen werden, warum sich das Vorhaben, den devianten Lebensstil zu beenden, in den Fällen, bei denen eine Abbruchsintention vorlag, die konkrete Verhaltensänderungen zur Folge hatten sowie teilweise auch einen Identitätswandel erkennen ließen, letztendlich (noch) nicht umgesetzt werden konnte. Auch wenn zunächst Anerkennungsressourcen, wie eine Arbeitsstelle und eine Partnerschaft, vorlagen, so brachen diese jedoch im Laufe der Zeit ab. Die zuvor bereits in Haft gefassten Zukunftspläne werden dann meist verworfen und fallengelassen. Im Unterschied zum authentischen Desister sind folgende Aspekte auszumachen: Gedanken an Straftaten keimen wieder auf und die deviante Peer-Group nimmt erneut (wenn auch nur zeitweise) einen zentralen Stellenwert im Leben dieser jungen Menschen ein.

Ziele: Pascal verfolgte bereits in Haft gesteckte Ziele und absolvierte beispielsweise einen Bildungsabschluss im Jugendstrafvollzug mit hervorragenden Zensuren. Bereits vor seiner Entlassung formulierte er hochmotiviert Ziele, um ein straffreies Leben zu führen, und hatte konkrete und durchaus realistische Anstrengungen unternommen, um diese Ziele zu erreichen. Dabei umfasst dieser neu anvisierte Lebensstil den Aufbau eines normalen Lebens mit konventionellen Zielen, der zudem an die Beschreibung der Gründung einer Familie geknüpft war:

Ich will auch mal glücklich sein, (...) will ordentlich wohnen können, kleine Familie, quasi, zwei Kinder, Hund, Frau [lächelt], jeder ein Auto so. Also Frau und ich, also einen guten Lebensstandard. Ich muss nicht reich werden oder so …

Ebenfalls kurz vor seiner Entlassung berichtet er davon, ein Studium aufnehmen zu wollen, nachdem er seinen angestrebten, nächsthöheren Abschluss (Fachabitur) erfolgreich absolviert hat. Er zeigt sich selbstbewusst und selbstsicher hinsichtlich der Realisierung seiner Ziele und des Bestehens in Freiheit. Er organisiert bereits aus der Haft heraus den Beginn seiner Schulausbildung und kümmert sich um eine psychologische Nachbetreuung. Seine enthusiastische Berichterstattung über seine angestrebten Lebensziele, deren erfolgreiche Realisierung selbst von den Anstaltsmitarbeitern nicht angezweifelt wurde, steht als Hinweis für seinen gefassten Entschluss und den Willen, der Kriminalität zu entsagen. Seine einst gesteckten Zukunftspläne und Ziele werden jedoch aufgrund finanzieller Probleme zunächst einmal hintangestellt und dann gänzlich verworfen.

Ressourcen: Pascal nimmt in seiner Erzählung immer wieder Bezug auf Schwierigkeiten und Rückschläge, die er nach seiner Haftentlassung erfahren hat. Über die vergangene Hafterfahrung wird fast ausschließlich in Form von Kritik an den Maßnahmen und dem Umgang der Anstalt mit jungen Haftinsassen berichtet („das sind furchtbare Zustände dort, das müsste man mal publik machen“). Diese kritischen Äußerungen könnten auch als eine Art Abwehrmechanismus interpretiert werden, wodurch schmerzhafte Erfahrungen im Leben schlichtweg neu gerahmt werden. Denn auf diese Weise können Verletzungen ausgeblendet oder aus der Lebensgeschichte herausgeschnitten werden; diese kommen aber immer wieder als handlungsbestimmende Elemente an die Oberfläche, wenn sich krisenhafte Situationen abzeichnen (Trennung von Freundin, Tod der Oma, Zusammenbruch auch aufgrund nicht aufgearbeiteter persönlicher Defizite: „die Liebe, das war schon immer mein Problem“). Dies drückt sich dann auch in einem Mangel an funktionalen Bewältigungsstrategien aus:

Das ist so mein Knackpunkt halt, ne. Also, wie gesagt, nachdem ich sie kennengelernt habe, wo es das erste Mal ein Problem gab so, habe ich das erste Mal wieder Alkohol getrunken, ne. Ich habe vorher die ganze Zeit nicht getrunken, wollte auch gar nicht mehr so und wenn bei mir Liebe ins Spiel kommt, dann bin ich da sehr verletzlich und so, ne. Und auch nach der Trennung so, hatte ich auch solche Gedanken, so wie, dass ich ihr irgendwas tun müsste oder so, oder mir was antun müsste und so. Ach, ganz furchtbar.

Anerkennung: Pascal nimmt immer wieder Bezug auf Schwierigkeiten und Rückschläge, die er nach seiner Haftentlassung erfahren hat, die offenbar an den Verlust von Anerkennungsverhältnissen (Wegfall der Arbeit und der Partnerschaft) geknüpft sind. Lebensereignisse, die mit Anerkennungsleistungen verbunden sind, werden kaum thematisiert: stattdessen wird der Fokus auf eben jene krisenhafte Entwicklung der schulischen und beruflichen Laufbahn sowie der Liebesbeziehung gelegt. In diesem Erzählmuster sind irrationale Verhaltensweisen (wie der erneute Anschluss an die deviante Peer-Group, trotz des zuvor gefassten Entschlusses sich von diesen distanzieren zu wollen) dominant und gehen häufig mit einem völligen Zusammenbruch der einst noch normkonformen Handlungsausrichtung einher. Sein Schmerz über die Trennung überschattet alles andere und führt zu einer Abwärtsspirale, die gekennzeichnet ist durch Passivität und die verstärkte Aufnahme alter Verhaltensgewohnheiten im devianten Milieu („dann habe ich wieder mehr mit den alten Leuten zu tun gehabt“). Interpretiert werden könnte dies damit, dass auf diese Weise versagte oder nicht vorhandene Anerkennungsverhältnisse im normkonformen Bereich kompensiert werden können.

Ausbleibende Anerkennungsverhältnisse in der Schule („dann bin ich mit dem Stoff nicht mehr hinterhergekommen“, „dann habe ich die Schullaufbahn kurzeitig unterbrochen, um zu arbeiten“) und Frustrationserleben in seinem Nebenjob („das sind sklavenhafte Bedingungen dort“) führen dann wieder dazu, dass er sich dem alten devianten Milieu anschließt und alte Verhaltensweisen übernimmt („dann habe ich wieder angefangen zu kiffen“). Die zuvor gesetzten hohen Ziele („ich wollte das Fachabitur machen“) treten dann in den Hintergrund und der Veränderungswille zeigt sich gebrochen. Infolge einer Häufung von missglückten Bemühungen, sich in den Leistungsbereich (schulisch als auch beruflich) einzugliedern, und den damit verbundenen Enttäuschungen sowie Beziehungsproblemen, die schließlich zu einer Trennung führten, wechselt sein zuvor enorm ausgeprägtes Gestaltungserleben auf die Ebene des Erleidens:

Also die Welt hier draußen hat mich echt enttäuscht so, als ich rausgekommen bin. Ich habe mir das einfach alles schöner vorgestellt. Du stehst hier draußen und hast, du hast kein Geld, du hast nur irgendwelchen Stress so innerlich, immer irgendwelchen Druck ja, du kannst gar nicht richtig abschalten.

Den Zugang zu der Gruppe der Studenten sieht er durch seine kriminelle Vergangenheit als beschränkt; der gescheiterte Anschlussversuch habe außerdem zu einer erneuten negativen Veränderung seinerseits beigetragen:

Also ich habe, also zu Freunden, na ja, ich habe versucht neue Kontakte zu finden, vernünftige Leute und so. Aber es hat nicht so funktioniert.

Habe ich dann wieder ein Stück weit an meine alten Leute gehalten von früher und welche die neu dazugekommen sind. Das sind halt aber alles, na die konsumieren alle Drogen. Sind alle mehr oder weniger kriminell, mehr oder weniger gewaltbereit, also es ist halt nicht jeder gleich, deswegen sage ich mehr oder weniger.

Identität: Als einen negativen Wendepunkt der Handlungsmächtigkeit beschreibt Pascal den Wegfall bedeutender Bezugspersonen, wie der Großmutter (die verstirbt) und der Freundin (die sich trennt) sowie die unausweichliche Unterbrechung seiner Schullaufbahn, um zunächst „Geld zu verdienen“. Hinzukommt seine Enttäuschung und Frustration über die schlechten Arbeitsbedingungen, die er im Rahmen seines Nebenjobs in einem großen Unternehmen vorfindet. Sukzessive werden seine Zuversicht, in Freiheit zu bestehen, und sein entwickeltes positives Selbstbild brüchig:

Ja. Ja, am Anfang war eigentlich alles ganz gut. Also man kommt raus, ist voller Zuversicht und Freude, ist total euphorisch und denkt, man kann die Welt einreißen. […] Ja aber nach ein paar Wochen holt einen dann schon irgendwo ein Stück weit das Alltägliche wieder ein.

An die Stelle der einstigen Motivation und Zuversicht hinsichtlich der Verfolgung seiner Ziele und der Gestaltung seines straffreien Lebens nach der Haftentlassung tritt letztlich Resignation:

Man hat Probleme mit Ämtern, Probleme mit anderen Leuten, Probleme mit sich selbst wieder. Also die Welt hier draußen ja, nimmt einen quasi so ein Stück weit zurück. Und man kommt gleich wieder in alte Verhaltensmuster und so. Also die Ansicht, die Einstellung verändert sich wieder.

Ja, was halt dann auch noch, dazu beigetragen hat, dass ich mich wieder verändert habe.

Auf den missglückten Anschlussversuch an normkonforme Sozialkontakte reagiert er mit dem Rückgriff auf alte Verhaltensmuster und zieht – wenn auch nicht bewusst, dann zumindest indirekt – Schlüsse auf seine erneute Veränderung zum Negativen. Gleichzeitig grenzt er sich von der devianten Peer-Group erneut ab und ist sich mehr oder weniger des schlechten Einflusses dieser Kontakte bewusst. Infolgedessen kommt es zu einer erneuten Abkehr von diesen devianten Kreisen, weil er sich kurzfristig wieder an den einstigen Zielen orientieren und seine überwiegend unabhängige und selbstbestimmte Lebensführung wiederaufnehmen kann („jetzt mache ich eigentlich wieder mehr so mein eigenes Ding“). Diese Entscheidung birgt jedoch ihre Schattenseiten: die Einsamkeit. An folgendem Zitat von Pascal wird eine imaginierte Agency sichtbar, die sich lediglich in seiner Vorstellung verortet. Denn er bezieht sich in der weiteren Erzählung vorwiegend auf die Beschreibung des wiederaufgenommenen Kontakts zur devianten Peer-Group:

Jetzt gerade mehr oder weniger alleine ja, also weil einfach ich mich wieder von den anderen Leuten distanziert habe, aber ich hab’s halt quasi jetzt alles über den Haufen geworfen, um einfach mein eigenes Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken, und bringt halt nichts mit den Leuten. Na ja, jetzt mache ich so alleine, ne.

Er sieht zwar diesen Rückfall in alte Verhaltensmuster lediglich als kurze Episode, aus der er sich eigenständig wieder herausgezogen hat – jedoch erscheinen seine Ausführungen hierzu wenig glaubwürdig. Wiederholt kommen Aspekte in der Erzählung zum Vorschein, die seinen stetigen Handlungsmachtverlust und eine deutliche Abwärtsspirale verdeutlichen.

Agency: Pascal beschreibt, dass er anfängliche Schwierigkeiten eigenständig bewältigen konnte. Er entwickelt Problemlösungsstrategien, die reflektiert umgesetzt werden. Nach einem zwischenzeitlichen Rückfall in alte Verhaltensmuster hat er sich wieder auf den rechten Weg begeben – seine Ziele verhalfen ihm dazu, neue Energie zu schöpfen und sich wieder von devianten Peer-Group-Kontakten zu lösen. Pascal setzt den Fokus in seiner Erzählung primär auf sein Scheitern und einen steten Verlust der Handlungsmächtigkeit, den er seit der Haftentlassung zu bewältigen habe. Dieser wird lediglich von eher kürzeren Phasen des Aufschwungs unterbrochen. Durch die Trennung seiner Partnerin bricht letztendlich alles zusammen. Die partnerschaftliche Beziehung wird über alles gestellt. Als neben dem Beziehungsabbruch auch noch der Job wegfällt und die Großmutter stirbt, der Anschluss an normkonforme Kontakte nicht gelingt, bricht die vermeintlich wiederhergestellte Kontrolle über sein Leben endgültig zusammen und es kommen Gedanken an Straftaten auf. Im Fall von Pascal zeigt sich eine habituelle und reaktive Form von Agency, die sich darin auszeichnet, dass Pascal in Phasen der Destabilisierung in altbekannte Verhaltensmuster zurückfällt und sich seine Handlungen nunmehr lediglich auf Reaktionen auf seine gescheiterten Versuche, sich zu integrieren, beschränken. Anstatt wie Benedikt eigeninitiiert und selbstdiszipliniert Probleme anzugehen, fällt Pascal langfristig wieder in alte Verhaltensmuster und verharrt darin. Auf funktionale Bewältigungsstrategien kann er kaum mehr zurückgreifen.Footnote 14

Die dargestellte Dynamik macht deutlich, dass die fehlenden inneren Ressourcen von Pascal letztlich dazu führen, dass Ziele fallengelassen und das Handlungsmachterleben sukzessive schwindet. Das anfänglich positive Selbstbild des Probanden, das sich als selbstsicher und voller Hoffnung und Zuversicht hinsichtlich des Lebens in Freiheit auszeichnete, bricht zusammen und eine vorwiegend negative Selbstsicht, die Übernahme des Straftäter-Selbstbildes, tritt in den Vordergrund der Erzählung („wir gehören halt zu den bösen Jungs“). In diesem Sinne können Beziehungen, insbesondere im Falle einer Trennung, einen Risikofaktor darstellen, wodurch der Wechsel von der Ebene des Gestaltens auf die Ebene des Erleidens ausgelöst werden kann. In der gesamten Erzählung von Pascal schwingt geradezu eine gewisse Hoffnungslosigkeit mit. Sein Selbstbild verfestigt sich nach und nach in negativer Form, wodurch eine gewisse Missachtung seiner selbst deutlich wird. Passagen, die auf Selbstanerkennung hindeuten – wie bei Benedikt –, kommen in der Erzählung kaum zum Vorschein. Der bereits ohnehin gebrochene Veränderungswille führt dazu, dass die Verfolgung der zuvor gesetzten Ziele sukzessive verworfen wird. Letztlich berichtet er nur noch von seiner Angst, erneut Straftaten zu begehen, was wie eine self-fullfiling prophecy anmutet. Der Befragte wurde tatsächlich kurze Zeit nach dem Interview mit einer Gewaltstraftat erneut rückfällig und wiederinhaftiert.

5.2 Vergleich der Fälle: Chancen- vs. Risikoverlauf

Als gemeinsames Kernthema kristallisiert sich in beiden Narrationen die (teilweise) eigenständige Bewältigung von Anfangsschwierigkeiten heraus. Die beiden Verläufe unterscheiden sich lediglich in der Form des Umgangs mit diesen biografischen Krisen. Beide Probanden berichten von multiplen Problemlagen, beruflichen Rückschlägen und emotionalen Krisen, die beide zunächst kurz nach der Haftentlassung destabilisieren.

Im Fall von Benedikt war der Veränderungswille sehr stark ausgeprägt und er konnte Hürden und Krisen auf dem Weg in ein normkonformes Leben bewältigen.Footnote 15 Bedeutende Sozialkontakte, die sich dann von ihm abwenden, generieren bei Benedikt eigeninitiative Handlungsbemühungen, sich sozial zu integrieren. Seine Ziele ermutigten ihn auch, in schweren Zeiten aktiv zu werden und sich aus seiner misslichen Lage selbst zu befreien. Wie gesehen, können also durch diese inneren Ressourcen, sprich die Verfolgung von Zielen, fehlende äußere Ressourcen, wie die Unterstützung von Bezugspersonen, ausgeglichen werden.

Bei Pascal war der Veränderungswille zwar auch vorhanden, jedoch konnte er persönliche Rückschläge und Krisen langfristig nicht bewältigen. Auffällig ist, dass sein soziales Netzwerk überwiegend aus devianten Kontakten besteht – seiner Aussage nach befinden sich die richtigen Freunde nicht in unmittelbarer Nähe, sondern leben in einer anderen Stadt. Ausschlaggebend dürfte die Tatsache sein, dass seine bedeutenden Anerkennungsverhältnisse sukzessive wegbrachen und er wieder negative Zuschreibungen, wie die des bösen Buben, übernahm.

Auf einer fallübergreifenden Ebene beginnt der Chancenverlauf, in dem sich Handlungsmöglichkeiten eröffnen, meist mit der Beschreibung von in der Vergangenheit überwundenen Schwierigkeiten aufgrund der eigenen Anstrengung. Diese wurden gemeistert, obwohl die äußeren Bedingungen nicht immer ideal waren. Neues Verhalten wurde erprobt und neue Strukturen angenommen, die sich letztlich mit der Zeit verfestigten und zu einer Stabilisierung des normkonformen Verhaltens führten. Die Erzählung endet häufig mit der Feststellung, ein völlig neues Leben zu führen, und der Erkenntnis, zu einem anderen Menschen geworden zu sein. Die meist von Straftaten und Gewalt geprägte Vergangenheit wird in dieser Beschreibung in eine positive Lernerfahrung umgedeutet. Sie wird mit Sinn ausgestattet, wodurch sie ihre zunächst negative Konnotation in ein identitätsstiftendes Element verwandelt („ohne das, was ich erlebt habe, wäre ich heute nicht der Mensch, der ich bin“). Die Hafterfahrung und die sozialtherapeutische Behandlung werden in diesem Muster überwiegend als eine positive Erfahrung gewertet, die in vielen Fällen ein Umdenken ermöglichte.

Der Risikoverlauf hingegen beginnt mit der Beschreibung anfänglicher Schwierigkeiten, die nur zeitweise – wenn überhaupt – überwunden werden können. Meist verläuft die Erzählung bis hin zu einem rapiden Verlust von Handlungsmächtigkeit, der häufig an die Beschreibung eines eskalierenden Endpunkts und die Gleichgültigkeit den weiteren Lebensverlauf betreffend, gekoppelt ist („dann war mir alles egal“). In den Mittelpunkt der Handlungsaktivitäten treten dann (wieder) Alkohol- und Drogenkonsum und das ziellose Herumhängen mit der devianten Peer-Group. Diese habituellen Verhaltensmuster begünstigen dann in einigen Fällen erneut die Begehung von Straftaten. Gescheiterte Bemühungen, sich normkonformen Kontakten anzuschließen, berufliche oder schulische Ziele zu erreichen oder sich von Autoritätspersonen zu emanzipieren, treten dann häufig auch mit dem Gedanken an eine Wiederinhaftierung zu Tage („in Haft war es einfacher“).

6 Zusammenfassung und Diskussion

Das Ziel der empirischen Analysen war es, Veränderungsprozesse nach der Haftentlassung unter besonderer Berücksichtigung von Agency zu betrachten und typische Dynamiken aufzuzeigen. Es zeigt sich, dass die unterschiedliche Bewältigung des Übergangs und der Hafterfahrung maßgeblich an den Rückgriff auf Anerkennungsressourcen gekoppelt ist. Liegen diese in Form eines Arbeitsplatzes oder einer unterstützenden Partnerbeziehung nicht vor, so können diese nur durch innere Ressourcen kompensiert werden. Insgesamt sind Ressourcen solche Faktoren, die den Veränderungsprozess in Richtung von Desistance und damit die Entwicklung eines positiven Selbstbildes in Form der Generierung kriminalitätsunterdrückenden Kapitals begünstigen. Hierdurch kann Agency in Form von aktiven Handlungsbemühungen und die Entwicklung von Lebenszielen angestoßen werden, die als zentrale Elemente in den Erzählungen der jungen Befragten zu Tage treten. (Lebens-)Ziele als innere Ressourcen können sich auf diese Weise als positive Wendepunkte erweisen und fehlende äußere Ressourcen, wie die emotionale und soziale Unterstützung durch Bezugspersonen, ausgleichen.

Eine mögliche Erklärung dafür, weshalb das Vorhaben, die kriminelle Karriere zu beenden, letztlich (noch) nicht umgesetzt werden konnte, besteht darin, dass zuvor gesetzte Ziele und der feste Entschluss, sein Leben ändern zu wollen, angesichts der zunehmenden Krisenentwicklung an Bedeutung verlieren und in den Hintergrund treten. Die Kumulation von Problemen überlagert die einst gefassten Vorsätze, sich von devianten Verhaltensweisen abzugrenzen. Zwei Aspekte könnten für diese missglückte positive Agency-Orientierung eine Rolle spielen: Zum einen sind es die begrenzten Möglichkeiten, normkonforme Sozialkontakte zu finden, zum anderen aber auch, diese Beziehungen langfristig aufrechtzuerhalten. Die Wahrnehmung von Diskriminierung aufgrund der kriminellen Vergangenheit kommt dabei nicht nur als subjektives Gefühl der Befragten zum Ausdruck, sondern wirkt sich über den versagten Anschluss an eine normkonforme Gleichaltrigengruppe durchaus auf ihre Lebensrealität aus.

Wie gezeigt wurde, ist das Bewältigen des Übergangs von Haft in Freiheit an ein komplexes Zusammenspiel der fünf Kernkategorien, Ziele, Anerkennung, Ressourcen, Identität und Agency, gebunden. Diese Kernvariablen stehen in einem Interaktionsverhältnis und bedingen sich wechselseitig, jeweils auch in kompensierender Form. Eine hohe Ausprägung der Variable Ressourcen, wie etwa umfassende Unterstützung bedeutender Bezugspersonen, kann somit fehlende Anerkennungsverhältnisse – wenn beispielsweise keine Partnerschaft und keine sinnstiftende Tätigkeit vorliegt – ausgleichen. Aber auch innere Ressourcen, wie Selbstanerkennung (und das Wissen, bereits Lebenskrisen aus eigenen Anstrengungen selbst bewältigt zu haben), kann fehlende soziale Unterstützung kompensieren. Ziele (beruflich, wie privat) dienen dann maßgeblich als Katalysator, die dazu motivieren können, auch in schwierigen Situationen nicht aufzugeben.

Auf diese Weise können Ziele zum Gelingen der Handlungsbemühungen, sich sozial einzubinden, beitragen. Diese können, wie oben bereits erwähnt, fehlende Ressourcen (soziale Unterstützung oder eigene Bewältigungsstrategien, wie bspw. Frustrationstoleranz) ausgleichen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die zu einer normkonformen Entwicklung beitragen können. In Übereinstimmung mit Sampson und Laub (1993) kann hier das Konzept des Sozialkapitals genannt werden und die daraus, über die Stärkung und Vertiefung der sozialen Beziehungen, resultierende informelle soziale Kontrolle. Äußere Ressourcen, wie die soziale Einbindung in eine erfüllende Partnerschaft und/oder eine ausfüllende Arbeitsstelle, sind Faktoren, die Handlungsmächtigkeit respektive Wirkmächtigkeit befördern (vgl. auch Laub et al. 1998). Die Wahrnehmung, selbst etwas bewirken zu können, ist ein Aspekt, der dazu dient, ein positives Selbstbild zu entwerfen. Anzumerken ist, dass sich diese Ergebnisse auch mit den Befunden von Healy (2014) und Soyer (2014) decken.

Ressourcen können aber auch innere Faktoren sein, wie bspw. das Wissen darüber, eine schwierige Situation gemeistert oder ein gesetztes Ziel in der Arbeit erfolgreich erreicht zu haben. An diesem Aspekt werden Überschneidungen mit der Kategorie Anerkennung sichtbar; so kann Selbstanerkennung als innere Ressource dienen und das Erleben von Wirkmächtigkeit generieren und fehlende Anerkennungsverhältnisse, wie eine unterstützende Partnerschaft, ausgleichen. Diese verschiedenen Anerkennungsverhältnisse sind eingebunden in die Veränderung der sozialen Rolle (liebevoller Partner, verantwortungsvoller Mitarbeiter), und damit an die Bewältigung der jeweiligen Entwicklungsstufe gebunden. Letztlich verdeutlichen die Ergebnisse dieser Untersuchung abermals den schmalen Grat zwischen Abbruchsintention von deviantem Verhalten und ihrer tatsächlichen Umsetzung nach einer Haftentlassung und belegen die Zickzack-These von kriminellen Karrieren von Daniel Glaser (1964) erneut.