1 Einleitung

Es gibt kaum ein Thema in der Wirtschaftspolitik, das weltweit so viele Kommissionen, Ausschüsse und ad-hoc Gremien beschäftigt hat, wie die Frage nach der „richtigen“ Wettbewerbspolitik in der digitalen Welt.Footnote 1 Auch die Wirtschaftswissenschaften haben sich darauf eingestellt: Ein ganzer Forschungszweig, der der Industrieökonomik, hat sich mittlerweile zu großen Teilen der Erforschung von digitalen Plattformen verschrieben.

Der Autor dieses Beitrags war an einigen dieser Kommissionen und Gutachten beteiligt. Zu erwähnen sind insbesondere das „frühe“ Sondergutachten 68 der Monopolkommission „Wettbewerbspolitik: Herausforderung digitale Märkte“ von 2015 (Monopolkommission 2015) sowie der Bericht der vom Bundesminister für Wirtschaft und Energie eingesetzten Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 „Ein neuer Wettbewerbsrahmen für die Digitalwirtschaft“ von 2019 (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2019).

Die Gesetzgeber haben nachgezogen. Bereits die 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) mit Geltung ab Juni 2017 wurde maßgeblich von den Entwicklungen in digitalen Märkten beeinflusst. Die 10. Novelle des GWB, die 2021 in Kraft trat, lief unter der Bezeichnung „GWB-Digitalisierungsgesetz“. Auch die derzeit geplante 11. Novelle zur „Verschärfung des Wettbewerbsrechts“ hat Bezüge zur digitalen Ökonomie. Parallel dazu wurde in der EU, nach einigem Zögern, der Digital Markets Act (DMA) verabschiedet, der im November 2022 in Kraft trat.

Im Folgenden werde ich auf die ökonomischen Grundlagen der digitalen Ökonomie eingehen, die ein Umdenken in der Wettbewerbspolitik notwendig machten. In einem zweiten Schritt diskutiere ich ausgewählte Aspekte der legislativen Reformen in Deutschland und Europa unter Berücksichtigung der ökonomischen Grundlagen. Die Arbeit endet mit einem Ausblick auf die 11. GWB-Novelle.

2 Zur Ökonomie der digitalen Märkte

Die Besonderheiten der digitalen Ökonomie zeigen sich insbesondere an den folgenden drei Punkten: Erstens, der vermehrten Nutzung von Daten als Inputfaktoren der Digitalunternehmen. Zweitens, dem vermehrten Einsatz von Plattformen als Geschäftsmodelle. Drittens, dem Aufkommen von digitalen Ökosystemen, also dem marktübergreifenden Auftreten von Digitalunternehmen.

Der Begriff Digitalunternehmen ist hier weit gefasst und nicht wohl definiert. Mittelfristig wird eine Unterscheidung zwischen Digital- und konventionellen Unternehmen auch nicht mehr zielführend sein. Wichtiger ist es daher, die ökonomischen Besonderheiten der digitalen Ökonomie in den Fokus zu nehmen. Im Folgenden werde ich auf alle drei Besonderheiten eingehen und ihre Konsequenzen für die Wettbewerbspolitik ableiten.

2.1 Daten: Wissen ist replizierbar und schützenswert

Die gestiegene Rechenleistung der heutigen Computer hat es möglich gemacht, dass Daten – personen- wie nicht personenbezogene Nutzer- bzw. Nutzungsdaten, Standortdaten, Umweltdaten etc. – kostengünstig gespeichert und auf vielfältige Art verarbeitet werden können. Die derzeit entstehenden Zentren für künstliche Intelligenz und der vermehrte Einsatz von maschinellem Lernen wären ohne den Zugang zu Daten („Big Data“) nicht möglich. Die Nutzung von Daten in der Wirtschaft ist kein neues Feld – gerade in den Finanzmärkten ist und war der Zugang zu Daten schon immer essentiell. Auch die Wettbewerbsbehörden sind mit den Besonderheiten eines auf Daten aufbauenden Marktes mehrfach in Kontakt gekommen, etwa bei der Übernahme der britischen Nachrichtenagentur Reuters durch die kanadische Thomson Corporation 2008, die u. a. durch die europäische Wettbewerbsbehörde intensiv geprüft wurde. Das Geschäftsmodell beider Unternehmen bestand zu einem großen Teil aus der Zurverfügungstellung von Daten mit Relevanz für Finanzmärkte.

2.1.1 Daten sind die Basis von Information

Daten sind gespeicherte Information. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es kein dezidiertes Forschungsgebiet der „Datenökonomik“, aber sehr wohl eines der „Informationsökonomik“. Der seit 2007 amtierende Chefökonom von Alphabet (Google), Hal Varian, der zuvor Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Berkeley war, hat die Grundlagen dieses Forschungsfeldes in seinem Buch „Information Rules“ (gemeinsam mit Carl Shapiro) bereits 1999 zusammengetragen.Footnote 2 Dieser Bezug zwischen Daten und Informationen ist wichtig, um einige der Vorschläge zum Umgang mit Daten besser einordnen zu können.

Wer mehr Daten hat, weiß mehr, hat ein besseres Verständnis über die Präferenzen der Kunden und kann Produkte, Dienstleistungen und Werbung besser an die Kundenwünsche anpassen. Individualisiertes Eingehen auf den Bedarf, sei es etwa in der Medizin (z. B. bei der individualisierten Prädiktion) oder der Werbung (targeted advertising), wird erst durch bessere Information über möglichst viele Nutzer und die Rechenkapazität, diese zu verarbeiten, möglich.

2.1.2 Daten sind beliebig replizierbar, aber dennoch schützenswert

Daten sind, anders als physische Güter, beliebig replizierbar. Der Verwendung der Daten durch eine Person oder ein Unternehmen steht die Verwendung der Daten durch eine zweite Person oder ein zweites Unternehmen nicht entgegen, es gibt keine „Rivalität im Konsum“. Der Ruf nach „Datenteilung“ ist daher naheliegend. Allerdings sprechen gewichtige Gründe dafür, eine solche Teilung vorsichtig anzugehen: Die Datenschutzgrundverordnung schützt die privaten Daten jedes Einzelnen. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gelten als geheimhaltungsbedürftig gegenüber Wettbewerbern und der Öffentlichkeit.

Hinzu kommt, dass Daten immer zunächst generiert und verarbeitet werden müssen. Ein Anreiz, dies zu tun, ist der Ertrag, der sich mit den Daten erwirtschaften lässt. Je geringer daher die Voraussetzungen für eine verpflichtende Datenteilung sind, und je geringer die Ertragsmöglichkeiten sind, desto weniger Aufwand wird getätigt werden, um Daten zu sammeln und in eine verwertbare Form zu bringen. Die Parallele zum Patentschutz ist dabei hilfreich: Auch Patente als kodifizierte Form von Wissen sind prinzipiell beliebig replizierbar, doch gibt es gute Gründe, diese zunächst (im Patentschutz für 20 Jahre) zu schützen. So bleiben die Anreize für die Entwicklung neuer Patente gewahrt.

Die angesprochenen Schutzbedürfnisse gelten zu einem geringeren Anteil bei Daten der öffentlichen Hand. Die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 hatte daher die Erarbeitung von Datenstrategien für die Sammlung, Nutzung und Bereitstellung von Daten des öffentlichen Sektors empfohlen. Außerdem sollen Unternehmen, die für die öffentliche Hand arbeiten, verpflichtet werden, die im Zuge dieser Tätigkeit generierten Daten zur Nutzung und Weitergabe an Dritte zur Verfügung zu stellen.

2.1.3 Informationen können zu Informationsasymmetrien führen

Falls Informationen nur einer Vertragsseite vorliegen, kommt es zu Informationsasymmetrien. Das Forschungsgebiet der Informationsökonomik ist primär daran interessiert, wie mit solchen Informationsasymmetrien umzugehen ist. Die Informationsasymmetrien sind auch von hoher wettbewerblicher Relevanz: Informationsvorteile können als Markteintrittsbarrieren dienen, sie können das Risiko einer Ausbeutung von Kunden erhöhen, und grundsätzlich kann das Vorliegen von Informationsasymmetrien auch zu ineffizienten Allokationen führen.

Der Umgang mit Informationsasymmetrien ist fast immer fallspezifisch. Auch wenn die Literatur einige Dimensionen der Systematik der Thematik herausgearbeitet hat (z. B. common versus private information), sind Anwendungen der Informationsökonomik oder im wettbewerblichen Bereich des Marktdesigns immer vom spezifischen Kontext abhängig.

2.1.4 Mehr Daten sind besser – aber um wieviel?

Mehr Daten, also mehr Informationen sind häufig besser. In einigen Situationen steigt der Wert zusätzlicher Daten, je mehr Daten das Unternehmen bereits besitzt – man spricht dann von positiven Skaleneffekten. Positive Skaleneffekte führen tendenziell zu Monopolsituationen: Ein Unternehmen, das bereits Daten besitzt, bezieht einen solchen Vorteil aus seinen Daten und generiert einen solchen Mehrwert durch zusätzliche Daten, dass es für andere Unternehmen schwer wird, nachzuziehen. Volkswirtschaftlich ist in einer solchen Situation ein Monopolist möglicherweise sinnvoll – da zusätzliche Daten in den Händen dieses einen Unternehmens einen höheren (sozialen) Mehrwert generieren, was dafür spricht, dass zusätzliche Daten auch diesem Unternehmen zugeführt werden.

Ob positive Skalenerträge vorliegen oder nicht, wird in verschiedenen Märkten unterschiedlich zu bewerten sein. Und selbst bei Vorliegen von Skalenerträgen ist es nicht zwingend, dass diese zu monopolistischen Strukturen führen. Im Versicherungssektor etwa, in dem Daten ein wesentlicher Produktionsfaktor sind und in dem auch grundsätzlich positive Skalenerträge vorliegen (so fällt das notwendige Eigenkapital pro Versicherten mit der Anzahl der Versicherten, da Diversifikationseffekte besser ausgenutzt werden können), hat sich dennoch eine Industrie mit vielen größeren und kleineren Akteuren etabliert. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft als Instanz, die marktrelevante Daten wie etwa Schadensfälle zusammenführt und in aggregierter Form den Marktakteuren zurückspielt (und der Rückversicherungsmarkt, der zur Diversifizierung der Risiken beiträgt).

2.1.5 Datenalgorithmen können stillschweigende Vereinbarungen erleichtern

Zur Verarbeitung der Daten sind immer häufiger Algorithmen im Einsatz. Insbesondere der Einsatz von Preisalgorithmen kann gemeinsame Preiserhöhungen vereinfachen, da automatisiert schneller auf Verhalten von Wettbewerbern reagiert werden kann. Durch künstliche Intelligenz selbstlernende Algorithmen vermögen kollusives Verhalten gar als Lernergebnis zu produzieren. Um ein solches Verhalten zu identifizieren, empfiehlt die Monopolkommission (Hauptgutachten XXII, Kapitel 1 „Algorithmen und Kollusion“), die Marktbeobachtung durch das Instrument der kartellbehördlichen Sektoruntersuchung zu verstärken. Verbraucherschutzverbände, bei denen Informationen über möglicherweise kollusiv überhöhte Preise am ehesten anfallen, sollten die Durchführung solcher Sektoruntersuchungen durch das Kartellamt initiieren dürfen.

2.1.6 Datenregulierung – trade off zwischen Zugang und proprietärer Nutzung

Eine wesentliche Aufgabe der Regulierung der Datenökonomie besteht darin, das richtige Maß zwischen dem Zugang zu Daten (für alle bzw. für Wettbewerber) und dem proprietärem Nutzen von Daten zu ermöglichen, um Anreize zur Generierung und Verarbeitung von Daten zu schaffen. So liegt z. B. im Gesundheitssektor der Schwerpunkt der öffentlichen Diskussion derzeit mehr auf dem Zugang für die Wissenschaft; hier wäre es notwendig, konsequenter über eine wirtschaftliche Nutzung (also dem proprietären Einsatz) von Daten nachzudenken. So haben etwa in den USA viele Krankenhäuser einen Clinical Data Manager, der die im Krankenhaus generierten Daten nicht nur verarbeitet, sondern auch vermarktet. In vielen Bereichen der digitalen Ökonomie hingegen, die „unreguliert“ entstanden sind, ist tendenziell eine verstärkte Datenteilung anzustreben. Daten sollten, ähnlich wie Patente, bei der proprietären Nutzung ein Verfallsdatum haben.

Der aktuell in Europa geplante Data Act („Datengesetz“) sieht vor, dass sowohl der Dateninhaber als auch die Nutzer der Produkte des Dateninhabers mit einem Recht zur Verwendung der Daten ausgestattet werden. Der Rechteinhaberkreis wird also ausgeweitet, und eine gewisse Datenteilung kann stattfinden. Es wird sich in der Umsetzung zeigen, inwiefern dieser Ansatz dazu beitragen wird, die Balance zwischen effizienter Verwendung der Daten und hinreichender Generierung der Daten zu gewährleisten.

2.2 Plattformen: Netzwerkeffekte begünstigen das Entstehen von Gatekeepern

Die wesentlichen wissenschaftlichen Grundlagen der Plattformökonomik wurden Ende der 1990er-Jahre geschaffen.Footnote 3 Damals entstand unter anderem durch die vermehrt auftretenden wettbewerblichen Verfahren der Behörden gegenüber Kreditkartenunternehmen der Bedarf nach einem besseren Verständnis für solche Märkte. Kreditkartenunternehmen bilden eine „Plattform“ zwischen den Händlern und den Verbrauchern (und den beteiligten Hausbanken). Sie benötigen viele Händler und viele Verbraucher, um attraktiv zu sein. Aus Sicht der Verbraucher ist insbesondere die Anzahl der Händler, die die jeweilige Karte akzeptieren, ein Grund für gerade diese Karte. Umgekehrt interessiert einen Händler, wie stark die jeweilige Karte bei den Verbrauchern verbreitet ist, bevor er sich für einen Vertrag mit einem Kreditkartenunternehmen entscheidet. Diese sogenannten indirekten Netzwerkeffekte beeinflussen die Ökonomie von Plattformmärkten in besonderer Weise. Die Literatur hat dafür den Begriff der zweiseitigen Märkte geprägt – zwei- oder mehrseitige Plattformen beschreiben das Phänomen treffender.

2.2.1 Direkte und indirekte Netzwerkeffekte führen zu Marktmacht in der Plattformökonomie; multihoming kann dem entgegenwirken

Die soeben beschriebenen Netzwerkeffekte, indirekter Art, wie sie etwa bei Ebay vorliegen, oder direkter Art, wie bei Facebook, sind kennzeichnend für die Plattformökonomie. Die Plattform bringt mehrere Marktseiten zusammen und wird zum „Gatekeeper“, wenn sie die Kontrolle über den Zugang zu der jeweils anderen Marktseite erlangt. Anbieter von Waren oder Dienstleistungen bevorzugen diejenigen Online-Marktplätze, auf denen sie mit möglichst vielen Kunden rechnen können; Kunden suchen eher solche Online-Marktplätze auf, bei denen sie auf ein möglichst breites Angebot an für sie relevanten Produkten oder Dienstleistungen treffen.

Netzwerkeffekte, die aus den regulierten Industrien wie Telekommunikation oder Bahn bekannt sind, können zu einer Vermachtung des jeweiligen Marktes führen. Um in den Genuss der Netzwerkeffekte zu kommen, gehen Marktteilnehmer bevorzugt zur größten Plattform, was diese Netzwerkeffekte wiederum verstärkt. Kleine Plattformen oder Markteintreter haben es schwer, diesen Vorsprung aufzuholen, falls es überhaupt möglich ist.

Wenn der Nutzer mehrere Plattformen nutzen kann (multihoming), kann das diesem Effekt entgegenwirken. So sind etwa im Reisemarkt neben Expedia auch Booking.com und weitere Plattformen aktiv – Reisende suchen bei verschiedenen Plattformen, Hotels bieten ihre Zimmer auf mehreren Plattformen an. Ähnliches gilt etwa beim Markt für Gebrauchtwagen (z. B. Autoscout24 und mobile.de) oder bei Preisvergleichsportalen (Idealo oder billiger.de). In anderen Märkten, in denen multihoming zwar möglich ist, hat sich dennoch eine dominante Plattform herausgebildet (etwa bei Messenger-Diensten). Allerdings schränkt die Möglichkeit des multihomings den Handlungsspielraum dieser Dienste ein.

Die Datenschutzgrundverordnung gibt den Nutzern einer Plattform das Recht, die sie betreffenden personenbezogenen Daten vom Plattformbetreiber zu erhalten. Um die Möglichkeiten von multihoming zu stärken, sollten insbesondere marktbeherrschende Plattformen dazu verpflichtet werden, über die Datenschutzgrundverordnung hinaus ihren Nutzern die Portabilität ihrer Daten in Echtzeit zu ermöglichen. Auf Verlangen eines Plattformnutzers sollte zudem die Interoperabilität der Datenformate mit komplementären Diensten gewährleistet werden.

2.2.2 Preissetzung auf Plattformen erfolgt nach eigenen Regeln

Mittlerweile ist dies selbstverständlich, aber zu Anfangszeiten der Literatur zu mehrseitigen Plattformen war es eine wesentliche Erkenntnis, dass Preissetzung entlang der Plattformseiten nicht den Kriterien der klassischen Ökonomie entspricht. Während in klassischen Märkten Wettbewerbspreise etwa in Höhe der Grenzkosten liegen sollten, und Aufschläge über den Grenzkosten gemeinhin als Maß für die Beschränkung des Wettbewerbs gelten, sind in mehrseitigen Plattformen andere Preismodelle üblich und sinnvoll.

Da es das Ziel der Plattform ist, möglichst viele Nutzer zu generieren, ist es nicht unüblich, dass etwa eine Seite, die preissensitivere, kein Entgelt zahlt, während die andere Seite weit mehr als die von ihr verursachten Grenzkosten zahlen muss. Und dies gilt unabhängig davon, ob man „mit Daten“ zahlt oder pekuniär. Auch Werbehefte etwa werden unentgeltlich verteilt, die Erträge werden auf der anderen Marktseite – in diesem Fall die Annoncengeber – generiert.

In der Gründungsphase haben die Plattformen zusätzlich einen Anreiz, schnell zu skalieren, um Netzwerkeffekte zu generieren und damit mögliche Wettbewerber fernzuhalten. Subventionierte Preise auf allen Plattformseiten und Verluste in den Gründungsjahren sind daher häufig zu beobachten. Wenn dann nur noch ein Unternehmen übrig bleibt, spricht man auch davon, dass der Markt gekippt ist.

2.2.3 Wettbewerbsrecht oder Regulierung für Plattformen?

Die Parallele zu Netzindustrien legt es nahe, auch Plattformen einer Regulierung zu unterwerfen. Dagegen spricht, dass obwohl die Internetgiganten in einzelnen Märkten marktmächtige Positionen einnehmen, dennoch diese Märkte meist dynamisch und vielfältigen Entwicklungen ausgesetzt sind. Eine im Regelfall träge Regulierung kann sich für diese Entwicklungen als Hindernis erweisen. Andererseits ist das Wettbewerbsrecht beim Umgang mit den wettbewerblichen Problemen der Digitalökonomie an Grenzen gestoßen – insbesondere dauern die Verfahren sehr lange, die Abhilfemaßnahmen sind häufig nicht zielgenau oder greifen zu spät und können im Verfahrensverlauf immer weiter vermachtete Strukturen kaum mehr aufbrechen.

Um eine Parallele zu anderen Märkten zu ziehen: Im Telekommunikationssektor wird der Drei-Kriterien-Test angewendet, um zu ermitteln, ob ein Markt (noch) regulierungsbedürftig ist. Für eine Regulierung kommen solche Märkte in Betracht, (1) die durch beträchtliche und anhaltende strukturelle, rechtliche oder regulatorische Marktzutrittsschranken gekennzeichnet sind, (2) deren Strukturen angesichts des Infrastrukturwettbewerbs und des sonstigen Wettbewerbs innerhalb des relevanten Zeitraums nicht zu wirksamem Wettbewerb tendieren und (3) auf denen die Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts allein nicht ausreicht, um dem festgestellten Marktversagen angemessen entgegenzuwirken. Es hat einige Zeit gebraucht, um zu realisieren, dass (1) und (2) in der digitalen Welt gegeben sind, auch wenn sich selbst die Internetgiganten in ihren Kernfeldern immer wieder Wettbewerb ausgesetzt sehen – so muss sich etwa Facebook der Konkurrenz durch TikTok stellen. Maßgeblich für die wegweisenden Gesetzgebungsverfahren wie die 10. GWB-Novelle und dem DMA war aber die Erkenntnis (3), dass das Wettbewerbsrecht nicht ausreichend Biss gezeigt hat.Footnote 4

2.3 Digitale Ökosysteme: Marktübergreifende Hebelung von Marktmacht

Vereinfacht lässt sich sagen, dass digitale Ökosysteme vorliegen, wenn ein Digitalunternehmen in mehreren Märkten aktiv ist, und wesentliche Komplementaritäten zwischen diesen Märkten vorliegen.Footnote 5 Amazon betreibt eine Handelsplattform und ist selber als Händler auf dieser Plattform tätig, konkurriert also mit anderen Händlern in den jeweiligen Märkten. Facebook bietet mit einem sozialen Netzwerk mit vielfältigen Diensten ein digitales Ökosystem an. In „Multi-Produkt-Ökosystemen“ werden miteinander kompatible und sich gegenseitig verstärkende Produkte oder Dienstleistungen angeboten, wie etwa ein Betriebssystem gemeinsam mit App-Store und Webbrowser. „Multi-Akteur-Ökosysteme“ führen Anbieter komplementärer Dienste zusammen, etwa im Zusammenspiel aus App-Store-Anbieter und Entwicklern von Apps.

2.3.1 Daten und Plattformen verstärken den Trend zu digitalen Ökosystemen

Wenn Daten auf der Ebene der Nutzer ansetzen, ist es naheliegend, diese Daten auch in Märkten zu nutzen, in denen die Nutzer aktiv sind und in denen das durch die Daten gewonnene Verständnis über die Präferenzen der Nutzer hilfreich ist. Ein besonderer Mehrwert kann dabei durch die Kombination von Daten aus unterschiedlichen Märkten geschaffen werden. Produkte und Dienstleistungen lassen sich dadurch noch zielgenauer auf die Wünsche und Interessen der Nutzer ausrichten. Die Konsequenz ist, dass Unternehmen aus ihrem jeweiligen Kerngeschäft in neue Märkte eintreten: So betreibt Alphabet eine Suchmaschine (Google) und ist aktiv in den Bereichen Videostreaming, Online-Werbung und Smartphone-Betriebssysteme.

Plattformen, die mehrere Marktseiten zusammenbringen, sind in einer guten Position, auf den jeweiligen Märkten und darüber hinaus aktiv zu werden. Dadurch, dass häufig die Transaktionsdaten über die jeweilige Plattform laufen, generieren sie vielfältige Informationen, die für das Eintreten in andere Märkte genutzt werden können. Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass (marktmächtige) Plattformen häufig auch als Regelsetzer fungieren. Sie bestimmen, unter welchen Voraussetzungen auf ihrer Plattform gehandelt oder Informationen ausgetauscht werden. Über eine solche Position verfügen etwa AppStores im Verhältnis zu App-Entwicklern, oder Betriebssystem-Betreiber im Verhältnis zu Anbietern von Diensten. Diese Regelsetzungsmacht kann genutzt und auch missbraucht werden, um eigenes Agieren auf Drittmärkten zu erleichtern. So hatte Google die Verwendung des Betriebssystems Android durch Mobilfunkanbieter daran gekoppelt, dass weitere Dienste von Google auf dem jeweiligen Mobiltelefon installiert werden mussten. Während dieses Vorgehen missbräuchlich war – die Europäische Kommission hat dies 2018 untersagt und Google zu einer Geldbuße von über 4 Mrd. € verpflichtet – sind andere Fälle wettbewerblich zunächst unkritischer, etwa wenn der Plattformbetreiber auf dem Drittmarkt nur einen geringen Marktanteil hat. Aber dieser Marktanteil mag nur der Anfang sein, und Märkte können kippen.

2.3.2 Digitale Ökosysteme entwickeln sich dynamisch – Erschwernis für die Fusionskontrolle

In der digitalen Welt wird viel Neuland betreten. Häufig lässt sich daher in digitalen Märkten nicht absehen, welche Geschäftsform sich letztendlich durchsetzen wird. 2015 etwa war die Sorge groß, dass Google mit seinem Informationsvorsprung durch die Suchmaschine und den Online-Kartendienst Google Maps auch die Automobilindustrie dominieren würde – heute ist eher Tesla das führende Unternehmen, das seine Marktstellung insbesondere durch den kreativen Umgang mit digitalen Anwendungen ausbauen konnte. Im Finanzsektor gab es lange die Einschätzung, dass Fintechs die Märkte überrollen würden – heute ergänzen sie das traditionelle Bankgeschäft, ein Bankensterben ist nicht in Sicht.

Das bedeutet aber auch, dass es unklar ist, wenn Digitalunternehmen in neue Märkte eintreten, welche Rolle sie mittelfristig in diesen Märkten spielen werden. Manchmal treten sie nach einiger Zeit wieder aus, so wie Amazon aus dem Krankenversicherungsmarkt, manchmal sind sie als „normaler“ Wettbewerber weiterhin aktiv, so wie Google im Markt für Heizungsablesung, manchmal dominieren sie aber auch den neuen Markt nach einiger Zeit, so wie Facebook im Markt für Messenger-Dienste, nachdem sie einen solchen (WhatsApp) gekauft haben. In der Fusionskontrolle stellt dies ein Problem dar: Auch wenn zu konstatieren ist, dass die zunehmend konglomeraten Strukturen vieler Digitalunternehmen durch Übernahmen von Unternehmen, häufig auch durch die Übernahme kleiner, innovativer Starts-ups, gestärkt wird, so ist doch zum Zeitpunkt der Übernahme meist unklar, ob dies zu einer problematischen Marktstellung in dem jeweiligen Markt führen wird. Auch sogenannte „Killer-Akquisitionen“, bei denen das gekaufte Unternehmen nach einiger Zeit eingestellt wird, sind nicht unbedingt problematisch und in jedem Fall zum Zeitpunkt des Kaufes nicht unbedingt absehbar. Hinzu kommt: Während in der Pharmaindustrie, in der diese Akquisitionen zu beobachten sind, der Wert des Unternehmens in den jeweiligen Patenten liegt, sind in der digitalen Welt häufig die Daten und Menschen des Start-Ups maßgeblich. Der Einsatz dieser Faktoren ist nicht an ein bestimmtes Produkt gebunden.

2.3.3 Ein besseres Verständnis des Verhaltens der Endnutzer bei der Wahl von digitalen Ökosystemen ist notwendig

Das vermehrte Auftreten von digitalen Ökosystemen macht es nötig, das Verhalten der Konsumenten, wenn sie sich in ein solches Ökosystem begeben, genauer zu verstehen. In Ökosystemen werden Produkte und Dienstleistungen explizit oder indirekt gebündelt. Denkt etwa ein Käufer eines Apple-Mobiltelefons daran, dass er damit auch den App-Store von Apple wird nutzen müssen, Bankdienste nur über die Apple-Schnittstelle möglich sind, usw.? Ähnlich wie ein Autokäufer vermutlich nicht den „Aftermarket“, also den Markt für Reparaturen und Ersatzteile im Fokus hat, mag ein Nutzer von digitalen Dienstleistungen (zunächst) nur die vordergründigen Dienste sehen, die er bezieht, wenn er sich in ein digitales Ökosystem begibt. Und es stellt sich die Frage, ob – ähnlich wie im Fahrzeugmarkt, in dem aufgrund von Regulierung auch freie Werkstätten auf die Speicher der Fahrzeuge zugreifen dürfen und Ersatzteile nicht unbedingt Markenprodukte sein müssen – Eingriffe auch in digitalen Märkten notwendig sind, um den Wettbewerb auf den „Aftermärkten“ sicherzustellen.

Die Wirtschaftswissenschaft hat sich mit der Verhaltensökonomie diesen Themen genähert. Allerdings gilt auch hier, dass viele der gewonnenen Erkenntnisse fallspezifisch sind. Während in einem Markt das Hauptprodukt „salient“ ist, d. h. Nutzer sich bei ihrer Entscheidung primär auf dieses Produkt oder diese Dienstleistung fokussieren, ist es in anderen Märkten gerade die Gesamtheit des Ökosystems, die den Nutzer dazu bewegt, sich in dieses zu begeben. Man denke etwa an die Entscheidung eines Unternehmens, Cloud-Dienste zu beziehen, bei der gerade die angebotenen Services in diesem Dienst maßgeblich für die Wahl des Betreibers sein können.

2.3.4 Untersagung von Selbstbegünstigung um Märkte offen zu halten

Das Konzept des digitalen Ökosystems lenkt den Blick auf die Märkte jenseits des Kernmarktes, in dem das jeweilige Unternehmen durch die Kombination von Plattformeffekten und Datenzugang bereits dominant ist. Wenn das Unternehmen diese Stellung und das Wissen aus dem einen Markt nutzt, um Konsumenten in einem anderen Markt bessere Angebote zu machen, so kann dies effizienzsteigernd sein. Es kann aber auch zu einer Hebelung von Marktmacht in diesen neuen Markt führen. Um die effizienzsteigernden Produktbündelungen oder -verknüpfungen nicht zu behindern, aber dennoch Wettbewerb in den anliegenden Märkten zu ermöglichen, bietet sich ein Verbot der Selbstbegünstigung an. Amazon etwa müsste dann allen Händlern auf seiner Plattform dieselben Daten zuweisen und von ihnen dieselben Konditionen verlangen, wie es auch mit sich selber als Händler verfährt. Dann hätten in dem angrenzenden Markt alle dieselben Startbedingungen.

3 Legislative Reformen in Deutschland und der EU

Mit der 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 2017 und der 10. Novelle von 2021 hat Deutschland auf die neuen Entwicklungen durch die digitale Ökonomie reagiert. Die EU hat mit ihrem Digital Markets Act von 2022 nachgezogen. Diese wettbewerbspolitischen Gesetze sind eingebettet in eine Vielzahl von weiteren europäischen Maßnahmen zur Regulierung des digitalen Raumes, wie dem Digital Services Act, dem Data Governance Act, dem Data Act sowie dem Rechtsakt über Künstliche Intelligenz. Im vorliegenden Beitrag werde ich mich auf die Gesetzesakte zum Wettbewerbsrecht konzentrieren und besprechen, inwiefern diese die ökonomischen Besonderheiten der digitalen Ökonomie aufgreifen.

3.1 9. GWB-Novelle: Plattformen und Daten nehmen Einzug ins GWB

Die 9. Novelle des GWB markiert den Beginn der gesetzgeberischen Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. Bundeswirtschaftsminister Gabriel äußerte sich nach dem Kabinettsbeschluss vom 28.09.2016 dazu wie folgt: „Die dynamische Entwicklung der digitalisierten Wirtschaft in den letzten Jahren hat uns gezeigt, dass wir einen modernen digitalen Ordnungsrahmen brauchen. Zentrales Ziel der GWB-Novelle ist es, Innovationsanreize durch Wettbewerb zu setzen und zu erhalten sowie faire Wettbewerbsbedingungen abzusichern. Deshalb wird das Bundeskartellamt in Zukunft Phänomene wie Netzwerk- und Skaleneffekte oder den Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten bei der Prüfung der Marktbeherrschung von Unternehmen ausdrücklich berücksichtigen können. Im Bereich der Fusionskontrolle sollen auch Übernahmen von Unternehmen geprüft werden können, deren wettbewerbliches Potenzial sich – typisch für die digitale Wirtschaft – noch nicht in den Umsatzerlösen, aber in einem besonders hohen Kaufpreis von über 400 Mio. € zeigt.“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2016).

Im Zitat werden wesentliche Elemente der Reform zusammengefasst: Bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens kann berücksichtigt werden, ob dieses in „mehrseitigen Märkten und Netzwerken“ tätig ist, ob „direkte und indirekte Netzwerkeffekte“ vorliegen und auch der „Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ kann entscheidend sein (§ 18 Absatz 3a GWB). Es ist gut, dass diese Kriterien nunmehr ausdrücklich im Gesetz genannt sind. Gleiches gilt für den neuen Absatz 2a, in dem festgestellt wird: „Der Annahme eines Marktes steht nicht entgegen, dass eine Leistung unentgeltlich erbracht wird.“ Diese Änderungen im GWB sind Klarstellungen, die es dem Bundeskartellamt erleichtern, Schadenstheorien basierend etwa auf Netzwerkeffekten vor Gericht durchzusetzen. Sie greifen die Erkenntnisse der Plattformökonomik auf und lenken den Blick auf die wesentlichen Eigenschaften dieser Wirtschaftsform.

Eine Änderung in der Substanz ergab sich in der Fusionskontrolle. Wurden vorher Zusammenschlüsse nur dann kontrolliert, wenn die beteiligten Unternehmen zusammen weltweit mehr als 500 Mio. € Umsatz, und mindestens eines der Unternehmen mehr als 25 Mio. € und ein anderes mindestens 5 Mio. € Umsatz innerhalb Deutschlands erzielen, gilt seit der 9. GWB-Novelle neben diesen (in der 10. GWB-Novelle angepassten) Umsatzschwellen auch eine Transaktionswert-Schwelle: Zusammenschlüsse können der Fusionskontrolle unterfallen, wenn der Wert der Gegenleistung (in der Regel der Kaufpreis) über 400 Mio. € liegt. Geschuldet ist diese Regel dem Fall Facebook/WhatsApp, den das Bundeskartellamt nicht hatte kontrollieren können, da WhatsApp die Umsatzschwellen nicht erreicht hatte. Den Zusammenschluss konnte die Europäische Kommission letztlich nur prüfen, weil er in einigen Mitgliedstaaten anmeldepflichtig war und an die Europäische Kommission verwiesen wurde. Die Regel entspricht dem Gedanken, dass in Plattformmärkten mit Netzwerkeffekten Unternehmen zunächst stark wachsen wollen, auch auf Kosten des Umsatzes, um schnell diese Netzwerkeffekte aufzubauen und wettbewerblich weniger angreifbar zu sein. Seit 2017 bis September 2020 ist diese Schwelle 31 mal bei der Fusionskontrolle in Anspruch genommen wurden. In diesem Zeitraum wurde keine Fusion untersagt. Diese Zahlen sind aber nur bedingt aussagekräftig. Relevanter wäre es zu wissen, wie viele Fusionen erst gar nicht geplant wurden, da die Unternehmen die Befürchtung hatten, mit dieser neuen Transaktionswert-Schwelle in die Kontrolle des Bundeskartellamts zu gelangen. Start-up Verbände hatten als Nachteil der neuen Regelungen gesehen, dass dadurch Verkäufe von Start-ups behindert würden und dies letztendlich zu einer geringeren Start-up Aktivität führen würde.

3.2 10. GWB Novelle: Verschärfte Kontrolle von digitalen Ökosystemen

Wettbewerbspolitisches Neuland wurde mit der 10. GWB-Novelle, dem GWB-Digitalisierungsgesetz, betreten. Nachdem das Bundeskabinett der Novelle zugestimmt hatte, äußerte sich der zuständige Bundeswirtschaftsminister Altmaier am 09.09.2020 so: „Die Digitalisierung verändert Geschäftsmodelle, Märkte und die wirtschaftlichen Machtverhältnisse immer schneller. Die Corona-Pandemie hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie die Bedeutung von digitalen Geschäftsmodellen gewachsen ist und weiter wächst. Mit dem GWB-Digitalisierungsgesetz reagieren wir darauf. Große marktbeherrschende Digitalunternehmen werden einer verschärften Missbrauchsaufsicht unterworfen. Wir schaffen die Möglichkeit, dass das Kartellamt mit einstweiligen Maßnahmen schneller reagieren kann – denn wenn ein Markt erst einmal verteilt ist, nützt es einem herausgedrängten Unternehmen nach Jahren nichts mehr, wenn ein Verstoß eines jetzt dominierenden Wettbewerbers festgestellt wird. Mittelständische Unternehmen werden zudem bei der Fusionskontrolle entlastet, und sie erhalten mehr Rechtssicherheit, damit sie die Chancen der Digitalisierung nutzen können.“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2020). Diese „verschärfte Missbrauchsaufsicht“ hat es in sich.

Mit der Novelle wurde ein neuer Paragraph, § 19a GWB, eingeführt, der die Wettbewerbskontrolle neu ausrichtet. Unternehmen mit „überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“ müssen sich, sobald sie vom Bundeskartellamt als solche identifiziert werden, einer neuen Kontrolle durch die Behörde stellen.

Dieser Paragraph stellt das digitale Ökosystem in den Vordergrund. Adressaten sind Unternehmen mit „marktübergreifender“ Bedeutung für den Wettbewerb. Eine Plattform, die nur in einem Markt tätig ist, würde hier nicht angesprochen werden. Bislang wurde drei Unternehmen diese Bedeutung zugesprochen: Alphabet, Meta und Amazon. Während Alphabet und Meta die Entscheidung akzeptiert haben, hat Amazon Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingereicht. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wurde im Gesetz als Beschwerdeinstanz ausgeschlossen, um den Verfahrensablauf im Zusammenhang mit § 19a GWB zu beschleunigen. Der Fallbericht für die „Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb“ bei „Meta (vormals Facebook)“ vom 30.06.2022 geht explizit auf die Vielzahl der Märkte ein, stellt aber auch die Grenzen des Denkens in expliziten Märkten fest: „Metas Ökosystem hat im Ergebnis eine vom Wettbewerb nicht oder nur schwer angreifbare Position über mehrere Märkte bei verschwimmenden Marktgrenzen inne.“ (Bundeskartellamt 2022)

Die Untersagungen, die das Bundeskartellamt gegenüber solchen Unternehmen erlassen kann, haben primär (aber nicht nur) den Wettbewerb in diesen anliegenden Märkten im Fokus. Insbesondere kann es den Unternehmen verbieten, „die eigenen Angebote gegenüber denen von Wettbewerbern bevorzugt zu behandeln“ (§ 19a Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 GWB) oder „die Interoperabilität von Produkten oder Leistungen oder die Portabilität von Daten zu verweigern oder zu erschweren und damit den Wettbewerb zu behindern“ (§ 19a Absatz 2 Satz 1 Nr. 5 GWB). Wettbewerber sollen auf den benachbarten Märkten dieselben Bedingungen vorfinden wie das dominante Unternehmen. Weitere Formen der Behinderung auf diesen benachbarten Märkten, etwa durch Produktbündelung oder der Verknüpfung von Daten zwischen diesen Märkten, können ebenfalls untersagt werden.

Da jetzt zumindest drei Unternehmen als solche mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb identifiziert wurden, wird das Bundeskartellamt im nächsten Schritt konkrete Maßnahmen anordnen, ohne im Einzelfall einen Missbrauch nachweisen zu müssen. Nachgewiesen werden muss aber – zumindest in einigen Untersagungstatbeständen bzw. Regelbeispielen –, dass die Handlugen zu einer Behinderung des Wettbewerbs oder der Wettbewerber führen. Hier wird Neuland betreten, und die Rechtsprechung wird in den nächsten Jahren sicher einiges zu tun bekommen, um Klarheit zu schaffen, in welchen Situationen diese neuen Eingriffsmöglichkeiten zulässig, und welche Maßnahmen in der jeweiligen Situation angemessen sind.

3.3 Digital Markets Act: Regulierung von zentralen Plattformdiensten

Die Europäische Kommission hatte lange das allgemeine Wettbewerbsrecht für ausreichend gehalten, um auch in der digitalen Ökonomie für einen fairen Wettbewerb zu sorgen. Doch die vermehrte Evidenz zur mangelnden Wirksamkeit der eigenen wettbewerblichen Verfahren sowie der politische Druck aus den Mitgliedstaaten, die nach eigenen Lösungen für das Wettbewerbsrecht suchten, bewirkten einen Sinneswandel. 2022 trat der Digital Markets Act in Kraft. Die zuständige Wettbewerbskommissarin Vestager äußerte sich in der Pressemitteilung anlässlich der Einigung in den Verhandlungen mit Europäischem Parlament und Europäischem Rat vom 25.03.2022 so: „Was wir wollen, ist einfach: faire Märkte auch im digitalen Bereich. Wir gehen jetzt einen gewaltigen Schritt voran, um zu Märkten zu kommen, die fair, offen und bestreitbar sind. Große Gatekeeper-Plattformen verhindern, dass Unternehmen und Verbraucher von den Vorteilen wettbewerbsorientierter digitaler Märkte profitieren. Die Gatekeeper werden sich nun an eine Reihe klar festgelegter Verpflichtungen und Verbote halten müssen. Zusammen mit einer konsequenten Durchsetzung des Wettbewerbsrechts wird diese Verordnung bei vielen digitalen Diensten in der gesamten EU fairere Bedingungen für Verbraucher und Unternehmen schaffen.“ (Europäische Kommission 2022). Damit setzt der DMA andere Schwerpunkte als die 10. GWB-Novelle.

Adressaten des DMA sind große Unternehmen, die (1) einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt haben, (2) einen zentralen Plattformdienst bereitstellen, der gewerblichen Nutzern als wichtiges Zugangstor zu Endnutzern dient, und (3) hinsichtlich ihrer Tätigkeiten eine gefestigte und dauerhafte Position innehaben oder absehbar ist, dass sie eine solche Position in naher Zukunft erlangen werden. Der DMA geht davon aus, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, wenn ein Unternehmen in den vergangenen drei Geschäftsjahren jeweils mindestens bestimmte Umsätze oder eine bestimmte Marktkapitalisierung erzielt und eine bestimmte Anzahl an Nutzern gehabt hat. Ziel des DMA sind Verhaltensvorschriften für diese Unternehmen. Im Gegensatz zur 10. GWB-Novelle steht daher nicht der Aspekt des Ökosystems im Vordergrund, sondern zunächst die Größe, aber eigentlich die dahinter liegende Marktmacht, die u. a. von den Netzwerkeffekten auf Plattformmärkten ausgeht. Eine „reine“ Plattform, wie etwa Booking.com, würde, wenn sie die Schwellen des DMA erreicht, unter den DMA fallen, aber nicht unbedingt unter § 19a GWB. Dieser Fokus auf den Plattformgedanken und die Wettbewerbsprobleme, die von diesen Plattformen ausgehen, hätte eigentlich die Marktbeherrschung als zusätzliches Kriterium notwendig gemacht, auch wenn in der digitalen Ökonomie in vielen Fällen die Überlappung zwischen großen und marktbeherrschenden Unternehmen gegeben ist. Da allerdings viele der wettbewerblichen Probleme von Ökosystemen ausgehen, hatte die Monopolkommission in der Entstehungsphase des DMA die Empfehlung gegeben, den „Normadressatenkreis durch ein Ökosystem-Kriterium zielführend zu begrenzen“ (Policy Brief Ausgabe 8, Juli 2021).

Die Verhaltensauflagen an die Torwächter setzen stärker an den Plattformen an als an den benachbarten Märkten im Ökosystem, auch wenn diese Trennung „verschwommen“ ist. Die Bestreitbarkeit der Plattform ist dabei ein weiteres Ziel. So sollen Datenportabilität und -interoperabilität es Nutzern erleichtern, zu Konkurrenten der zentralen Plattformdienste zu wechseln. Neben der Bestreitbarkeit der Plattform sind aber auch Formen der Selbstbevorzugung untersagt.

Der DMA ist zum 01.11.2022 in Kraft getreten. Viele Fragen sind noch ungeklärt, etwa hinsichtlich der Zusammenarbeit der nationalen Behörden und der Europäischen Kommission und hinsichtlich der Auslegung der jeweiligen Verhaltensauflagen. Auch wenn die Kommissarin in ihrer Aussage davon ausgeht, dass „die Gatekeeper … sich an … eine Reihe klar festgelegter Verpflichtungen und Verbote halten müssen“ (Europäische Kommission 2022) und somit auch werden, wird sich die Wirkmächtigkeit des DMA wahrscheinlich erst in den Durchsetzungsverfahren der Kommission zeigen.

4 Ausblick – neue Instrumente wirken lassen

Die Reformen in Deutschland und in der EU haben eine Vielzahl neuer ökonomischer Konzepte aufgenommen. Mit der Regulierung großer Plattformen (DMA) und digitaler Ökosysteme (§ 19a GWB) sind die wesentlichen Ausprägungen der digitalen Ökonomie in den Blick genommen worden. Diese Instrumente sollten jetzt auch Zeit bekommen, zu wirken.

Konzeptionell stellt sich die Frage, ob „kippende Märkte“ nur im Nachhinein gemaßregelt werden können oder ob solche Märkte auch verhindert oder zumindest rückgeführt werden können. Im klassischen Wettbewerbsrecht übernimmt die Zusammenschlusskontrolle diese Aufgabe. Fusionen werden untersagt, wenn sie wirksamen Wettbewerb erheblich behindern. Dies ist insbesondere der Fall, wenn zu erwarten ist, dass durch den Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung erlangt oder verstärkt wird. Damit dieses Instrument auch in der digitalen Ökonomie wirkt, wurde die Fusionskontrolle bereits hinsichtlich der Schwellenwerte angepasst (s. oben), was der Tatsache Rechnung trägt, dass Digitalunternehmen häufig erst auf Wachstum abzielen, bevor sie viel Umsatz und schließlich Gewinne erwirtschaften. Weiter wurde mit der 10. GWB Novelle dem Bundeskartellamt die Möglichkeit gegeben, marktstarke Unternehmen zu verpflichten, Zusammenschlüsse auch mit kleineren Zielunternehmen anzumelden.

Da die Märkte sehr dynamisch sind, ist allerdings fraglich, ob im Rahmen der Fusionskontrolle schon absehbar ist, ob es sich bei dem jeweiligen Markt um einen Markt mit Kippgefahr handelt und ob die Fusion diese Gefahr erhöht. In vielen Fällen scheint dies selbst den beteiligten Unternehmen nicht klar zu sein. Damit stellt sich die Frage, ob man Fusionen zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sich mehr Klarheit über die Marktsituation ergeben hat, auch wieder rückabwickeln können sollte, wie dies etwa der britischen Wettbewerbsbehörde erlaubt ist.

Diese Überlegung greift die geplante 11. GWB-Novelle zur „Verschärfung des Wettbewerbsrechts“ auf, geht aber darüber hinaus. Die Bundesregierung möchte grundsätzlich und nicht nur nach Fusionen die (missbrauchsunabhängige) Entflechtung von Unternehmen ermöglichen. Dem vorausgehen soll eine Sektoruntersuchung, deren Durchführung stärker prozedural reglementiert wird.

Auch bislang kann das Bundeskartellamt Sektoruntersuchungen durchführen, und macht von dieser Möglichkeit auch reichlich Gebrauch. So fanden beispielsweise Untersuchungen bei Krankenhäusern, im Lebensmitteleinzelhandel, und bei Haushaltsabfällen statt. Im Digital-Bereich waren oder sind die Märkte für Online Werbung, Vergleichsportale, Smart-TVs, Mobile Apps und Messenger- und Video-Dienste Gegenstand von Sektoruntersuchungen. Solche Untersuchungen können förderlich sein, um eine besseres Verständnis über die jeweiligen Märkte und die Geschäftsmodelle der Unternehmen in diesen Märkten zu gewinnen.

Als ultima ratio nach einer solchen Sektoruntersuchung soll dann mit der 11. GWB-Novelle eine eigentumsrechtliche Entflechtung möglich werden; auch andere Eingriffe, unterhalb der Entflechtung, sollen erlaubt werden. Die missbrauchsunabhängige Entflechtung stellt einen tiefen Eingriff in die Eigentumsrechte der Unternehmen dar. Die Vorfeldwirkung muss dabei im Blick behalten werden – eventuell zögern Unternehmen, in Märkte vorzudringen, weil sie befürchten, im „Erfolgsfall“, der unter Umständen mit einer dominanten Marktstellung einhergeht, entflochten zu werden. Ausreichende „checks and balances“ beim Einsatz dieses Instruments und die Beschränkung auf besonders problematischen Fallgruppen sind daher notwendig, um ein Überschießen der Wettbewerbspolitik zu vermeiden.

Die Stärkung des Instruments der Sektoruntersuchung kann auch dazu beitragen, gegen Fälle der stillschweigenden Kollusion, etwa getrieben durch Preisalgorithmen, effektiver vorzugehen. Nach dem Entwurf der 11. GWB-Novelle kann das Bundeskartellamt Abhilfemaßnahmen im Nachgang zu einer Sektoruntersuchung erlassen, wenn es eine „erhebliche andauernde oder wiederholte Störung des Wettbewerbs“ feststellt. Preisalgorithmen, die sich auf hohe Preise koordinieren, würden eine solche Störung verursachen.

Mit den Reformen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Deutschland und dem Digital Marktes Act in Europa wird wettbewerbspolitisches Neuland betreten. Den Wettbewerbsbehörden stehen eine Vielzahl neuer Instrumente zur Verfügung, um in der digitalen Ökonomie wettbewerblichere Strukturen zu ermöglichen. Viele dieser Instrumente folgen aus den neuen ökonomischen Eigenschaften dieser Märkte. Andere erleichtern den Verfahrensablauf, um der Dynamik der Märkte besser gerecht zu werden. Die Wirkung wird sich in den nächsten Jahren zeigen.