1 Ausgangssituation

Die Wettbewerbspolitik sieht sich gegenwärtig einer Reihe von Herausforderungen gegenüber. Zum einen enthüllen Makrostudien eine insgesamt sinkende Wettbewerbsintensität quer durch eine Vielzahl von Branchen und Industrien (inter alia, Autor et al. 2017; Gutiérrez und Philippon 2018; Grullon et al. 2019; De Loecker et al. 2020; De Loecker und Eeckhout 2020), für welche insbesondere auch die Rolle von Superstarunternehmen sowie die konzentrationssteigernden Wirkungen von Plattformmärkten verantwortlich gemacht werden. Zum zweiten kommt eine beeindruckende Anzahl an Expertenstudien zu den Folgen der Digitalökonomie für die WettbewerbspolitikFootnote 1 unabhängig voneinander zu einer Reihe von übereinstimmenden Ergebnissen (Kerber 2019):

  • Es sind gravierende Marktmachtprobleme bei digitalen Serviceanbietern („GAFA“Footnote 2 und Co) zu beobachten.

  • Die Kombination von direkten (Farrell und Saloner 1985; Katz und Shapiro 1985) und indirekten (Rochet und Tirole 2003, 2006; Caillaud und Jullien 2003; Armstrong 2006) Netzwerkeffekten führt zu „Tipping“ (Umkippeffekte in Richtung permanenter Dominanz), insbesondere wenn – natürliche oder strategisch geschaffene – Inkompatibilitäten und Wechselkosten hinzukommen (Klemperer 1995).

  • Daten- und Verbundvorteile etablierter Unternehmen eröffnen Spielräume für antikompetitives vertikales und konglomerates Leveraging, da die gesammelten Daten auch für andere Märkte relevant sind (inter alia, Farrell und Katz 2000; Zhu und Liu 2018; De Cornière und Taylor 2019, 2020; Hagíu et al. 2020). Ein Beispiel wären Formen der Selbstbegünstigung (d. h. Bevorzugung eigener Service- und Inhaltsangebote in angrenzenden Märkten, wodurch die eigenen Dienste dann unabhängig von ihrer Qualität durch den Hebel der Marktmacht erhebliche Marktanteile in diesen Märkten gewinnen können). In ähnlicher Weise ermöglicht eine Doppelfunktion eines Digitalkonzerns als Plattformbetreiber und Inhaltebereitsteller auf dieser Plattform (sog. „dual role“) Spielraum für wettbewerbswidrige Leveragingeffekte. Beispielsweise agiert Amazon sowohl als klassischer Einzelhändler als auch als virtueller Marktplatzanbieter („Amazon Marketplace“) für andere Anbieter, so dass Amazon sozusagen ein virtuelles Einkaufszentrum betreibt und auch selbst den größten Shop innerhalb dieser Shopping Mall. In ähnlicher Weise betreiben Apple und Google Alphabet für Smartphones sowohl die Betriebssoftware (Apple IOS und Android) als auch die (bei Apple exklusive) Plattform für den Bezug von Software-Programmen (Apple App Store und Google Play Store).

  • Die Kontrolle über exklusive Daten kann Marktmacht auch ohne klassische Marktdominanz generieren, weswegen generell eine wachsende Bedeutung von Situationen ökonomischer Abhängigkeit selbst großer Unternehmen von bestimmten Plattform- oder Dienstebetreibern zu beobachten ist („economic dependence“; inter alia, Bougette et al. 2019).

Parallel hierzu nehmen auch Forderungen aus Politik und Gesellschaft zu, die „Plattformmacht“ zu brechen und/oder eine Regulierung für mächtige Digitalkonzerne zu schaffen (inter alia, European Parliament 2014; CDU, CSU & SPD 2018; BMWi 2019). Deutschland hat bereits mit der 9. GWB-Novelle (Juni 2017) versucht, das nationale Wettbewerbsrecht an die Herausforderungen der Digitalwirtschaft anzupassen (kritische Diskussionen hierzu liefern bspw. Budzinski 2017; Budzinski und Stöhr 2019a). Inspiriert insbesondere von den Studienergebnissen der zwischenzeitlich etablierten Expertenkommissionen des Bundeswirtschaftsministeriums (Schweitzer et al. 2018) sowie der sog. Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 (BMWi 2019) soll die nun geplante 10. GWB Novelle als „GWB-Digitalisierungsgesetz“ den Ordnungsrahmen für die digitale Wirtschaft weiter gestalten und vervollständigen (BMWi 2020; Budzinski et al. 2020; Louven 2020). Dabei stehen vor allem die Verschärfung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige (Digital‑) Unternehmen sowie Erleichterungen bei der Fusionskontrolle im Zentrum des weitreichenden Vorschlages. Aus ökonomischer Sicht stellt sich damit die Frage, ob durch das GWB-Digitalisierungsgesetz tatsächlich ein angemessener Ordnungsrahmen für die Digitalökonomie geschaffen wird: Verbessern die geplanten neuen Wettbewerbsregeln den Schutz des Wettbewerbsprozesses über eine Eindämmung der Marktmacht digitaler Konzerne oder wird mit der Erweiterung wettbewerbspolitischer Eingriffsmöglichkeiten einem neuen Interventionismus Tür und Tor geöffnet? In dem vorliegenden Beitrag operationalisieren wir diese grundlegende Fragestellung über die Teilfragen:

(i):

Entsprechen die neuen Regeln den wettbewerblichen Besonderheiten daten- und algorithmengetriebener Märkte (Abschn. 3.1 und 3.2)?

(ii):

Was spricht für, was gegen die tendenzielle Verlagerung der Wettbewerbspolitik weg von der Ex-Ante-Strukturkontrolle (Erleichterungen bei der Fusionskontrolle) hin zu einer Ex-Post-Verhaltenskontrolle (Verschärfung der Missbrauchsaufsicht) (Abschn. 3.3)?

(iii):

Ist die nationale Wettbewerbspolitik der richtige Ort, um die globale Digitalökonomie in einen geeigneten Ordnungsrahmen einzubinden (Abschn. 3.4)?

Bevor wir uns der Behandlung dieser Fragen widmen, fassen wir in Abschn. 2 die für unsere Fragestellung wesentlichen Aspekte des Entwurfs der 10. GWB Novelle zusammen. Abschn. 4 zieht ein Fazit.

2 Der Referentenentwurf zur 10. GWB Novelle

2.1 Ziele und weitere Bestimmungen

Mit der 10. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen soll nach Vorgabe des Koalitionsvertrages „eine Modernisierung des Kartellrechts in Bezug auf die Digitalisierung und Globalisierung der Wirtschaftswelt“ geschafft werden (CDU, CSU & SPD 2018, Rn. 2755 f.). Dabei sollen Verfahren beschleunigt und gleichzeitig die Rechtssicherheit für (insbesondere mittelständische) Unternehmen gestärkt werden. Vor allem in Bezug auf missbräuchliches Verhalten von Plattformunternehmen sehen die Koalitionspartner die Notwendigkeit von schnelleren Eingriffsmöglichkeiten der Wettbewerbsbehörden (CDU, CSU & SPD 2018; BMWi 2020). Die Harmonisierung des Wettbewerbsrechts im europäischen Kontext stellt ein weiteres übergeordnetes Ziel der Novelle dar.

Neben den für die Zwecke unseres Papieres besonders relevanten Reformelementen enthält der Referentenentwurf (Stand Januar 2020) noch eine Reihe weiterer Änderungsvorhaben (BMWi 2020):

  • Firmen, die als Kronzeugen in Kartellfällen agieren, sollen nicht nur von einer Strafbefreiung bzw. einer verringerten Strafe seitens des Staates profitieren, sondern auch von der privaten Schadenersatzpflicht freigestellt werden. Dies soll den Anreiz verstärken, illegale Kartelle als Kornzeuge aufzudecken, um Kartelle weiter zu destabilisieren. Von dieser Maßnahme kann man aus ökonomischer Sicht sowohl eine höhere Aufdeckungswahrscheinlichkeit als auch (damit zusammenhängend) eine geringere Anzahl an zustande kommenden illegalen Kartelle erwarten.

  • Um die Kartellrechtsdurchsetzung zu beschleunigen und zu schärfen, soll die Anordnung einstweiliger Maßnahmen vereinfacht werden (§ 32a GWB-RefE).

  • Um mehr Rechtssicherheit für insbesondere mitteständische Kooperationen (legale Kartelle) zu schaffen, sollen Unternehmen die Möglichkeit einer verbindlichen Auskunft zur Legalität ihres Vorhabens beim Bundeskartellamt erhalten (§ 32c GWB-RefE). Bis 2004 mussten Kartelle gemäß den Ausnahmen vom allgemeinen Kartellverbot generell vorab vom Bundeskartellamt genehmigt werden. Seither gilt, dass Unternehmen selbst die Legalität ihrer Kooperation einschätzen müssen und das Kartellamt nur eingreift, wenn es illegalen Auslegungen auf die Spur kommt. Dieser – seinerzeit kontrovers diskutierte (inter alia, Budzinski und Christiansen 2005a) – europaweite Wechsel von einer Ex-Ante-Kontrolle zu einem Ex-Post-Legalausnahmesystem wird nun also wieder um eine (für die Unternehmen freiwillige) Ex-Ante-Kontrolle ergänzt.

  • Im Rahmen der Umsetzung der EU Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten im Hinblick auf wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes sollen unter anderem Ermittlungsbefugnisse ausgeweitet, Amtshilfe verbessert und härtere Sanktionen gegen Verfahrensverstöße ausgesprochen werden.

  • Schließlich gibt es geplante Modifikationen des Ministererlaubnisverfahrens im Rahmen der Zusammenschlusskontrolle (Konrad 2020). Hier soll zum einen die Verknüpfung der Gemeinwohlgründe, die eine Ministererlaubnis rechtfertigen, von gesamtwirtschaftliche Vorteile „oder“ überragendes Interesse der Allgemeinheit durch „und“ ersetzt werden, sodass beides zukünftig erfüllt sein müsste. Der Referentenentwurf betont in der Reformbegründung dabei die Bedeutung des Kriteriums überragendes Interesse der Allgemeinheit (BMWi 2020: 102), womit die vorgeschlagene Änderung zwar in die richtige Richtung, aber nicht weit genug geht (Budzinski und Stöhr 2018; Stöhr und Budzinski 2019). Zweitens wird eine neue Voraussetzung für eine Ministererlaubnis eingeführt: mindestens einer der beiden einstweiligen Rechtsbehelfe gegen die Verbotsentscheidung des Bundeskartellamts muss als unbegründet abgelehnt worden sein (§ 42 (1a) GWB-RefE). Damit soll verhindert werden, dass die Unternehmen anstelle einer Anfechtung des Kartellamtsurteils den Weg einer Ministererlaubnis suchen.

Im vorliegenden Beitrag konzentrieren wir uns nachfolgend auf die Änderungen, welche die Missbrauchsaufsicht und die Zusammenschlusskontrolle reformieren. Dabei schlägt der Referentenentwurf zu einer 10. GWB Novelle bereits eine Formulierungsänderung für die Grundnorm der Missbrauchsaufsicht vor (§ 19 (1) GWB). Ist bisher die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung verboten, so soll künftig der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung untersagt sein. Es soll sich hierbei um eine formulierungstechnische Klarstellung handeln, dass keine „strikte Kausalität“ (d. h. das missbräuchliche Verhalten erfordert Marktbeherrschung) notwendig ist, um das Verbot auszulösen, sondern eine „Ergebniskausalität“ (d. h. negative Wirkungen des Verhaltens) ausreicht (BMWi 2020, S. 72–74). Für das Regelbeispiel des sog. Anzapfverbotes (§ 19 (2) Nr. 5 GWB) war diese Klarstellung bereits in der 9. GWB-Novelle erfolgt, nun wird sie auf alle Fälle des Ausbeutungs- und Behinderungsmissbrauch ausgeweitet. Sie entspricht einem wirkungsbasierten Ansatz der Wettbewerbspolitik.

2.2 Bewertung der Marktstellung: Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten und Intermediationsmacht

Bereits in der 9. GWB Novelle wurden bei der Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung Anpassungen an digitale Märkte und deren spezifische Charakteristika vorgenommen (Netzwerkeffekte, Multi-Homing, Größenvorteile mit Nerzwerkeffekten, Zugang zu Daten und Wettbewerbsdruck durch Innovationsdynamik) (Budzinski 2017; Budzinski und Stöhr 2019a). Die Liste der Kriterien für Marktbeherrschung soll nun im Rahmen der 10. Novelle um den „Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ (§ 18 (3) GWB-RefE) erweitert werden. Damit wird Daten eine höhere Stellung zugemessen, da sie in Wertschöpfungsprozessen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Über die 9. GWB Novelle hinaus soll klargestellt werden, dass das Kriterium der wettbewerbsrelevanten Daten nicht nur für mehrseitige Märkte oder Plattformen gilt, sondern auch für andere Unternehmen der fortschreitend digitalisierten Wirtschaft. So kann die effiziente Nutzung von Daten, Algorithmen und künstlicher Intelligenz (KI) erhebliche Wettbewerbsvorteile schaffen, die potenziell zu Marktmacht führen können. Dennoch gilt weiterhin, dass eine marktbeherrschende Stellung per se nicht verboten ist. Mit dem Zusatz in §18 (3) GWB-RefE werden zunächst schlicht die Kriterien erweitert, um die Marktmachtdefinition für neue Ausnutzungstatbestände (in §19a GWB-RefE) zu öffnen.

Darüber hinaus wird das Konzept der Intermediationsmacht in §18 (3b) GWB-RefE ergänzt, um die Rolle von Plattformen als Vermittler auf mehrseitigen Märkten besser erfassen zu können. Der „Vermittlungsdienstleitung“ von Unternehmen, die auf solchen Märkten tätig sind, wird entsprechend eine größere Bedeutung beigemessen. Die Intermediäre vermitteln Angebot und Nachfrage auf Basis gesammelter Daten und deren Analyse, womit Anbieter häufig auf ein vorteilhaftes „Ranking“ z. B. in Suchergebnissen angewiesen sind. Damit kann im Extremfall der Markzugang durch den Gatekeeper/Intermediär kontrolliert werden (Schweitzer et al. 2018). Diese Intermediations- und Koordinationsmacht, mit der z. B. der Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten kontrolliert werden kann, soll nun ein zusätzliches Kriterium werden, welches für das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung sprechen kann.

2.3 Ergänzung der Verbotstatbestände

Der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch sogenannte Geschäftsverweigerung bzw. Verweigerung des Zugangs zu einer wesentlichen Einrichtung, in diesem Fall Verweigerung des Zugangs zu Netzen und Infrastruktureinheiten, soll verallgemeinert und um „Daten“ ergänzt werden (§ 19 (2) Nr. 4 GWB-RefE). Diese Neufassung der „Essential Facilities Doctrine“ im Sinne des EU-Rechts zielt darauf ab die Macht von „Gatekeepern“ einzuschränken. Mit dieser Neuerung soll klargestellt werden, dass die Zugangsverweigerung zu Plattformen und Schnittstellen sowie zu wettbewerbsrelevanten Daten den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung begründen kann. So sollen Konstellationen erfasst werden, bei denen ein Dienstleistungsanbieter Zugang zu Nutzungsdaten, die von einem marktbeherrschenden Unternehmen kontrolliert werden, objektiv benötigt, um auf einem vor- oder nachgelagerten Markt überhaupt tätig zu sein. Ein Beispiel wären Daten aus der Nutzung einer Maschine, zu welchen Anbieter von Zusatzdienstleistungen (Wartung, Reparaturen, sonstige komplementäre Angebote) Zugang haben müssen, um in diesem Markt Angebote machen zu können (BMWi 2020, S. 74–75).

2.4 Einführung eines Konzeptes „überragende marktübergreifende Bedeutung“ (ÜMÜB) und Verhaltenspflichten

Mit Einführung des § 19a GWB-RefE wird ein neuer Eingriffstatbestand mit besonderen Verhaltenspflichten (insbesondere für große Plattformen und Digitalkonzerne (BMWi 2020, S. 75)) etabliert. Deren „überragende marktübergreifende Bedeutung“ (ÜMÜB) kann das Bundeskartellamt durch Verfügung feststellen. In § 19a (1) GWB-RefE wird hierzu eine nicht abschließende Liste von Kriterien zur Feststellung des wettbewerblichen Potenzials eines Unternehmens aufgeführt. Diese beinhaltet (i) marktbeherrschende Stellung auf einem oder mehreren Märkten, (ii) Finanzkraft und Zugang zu sonstigen Ressourcen, (iii) vertikale und konglomerate Integration/Tätigkeit, (iv) Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten, (v) Bedeutung für/Einfluss auf Geschäftstätigkeit Dritter, insb. Marktzugang (inkl. upstream & downstream).

Die Kriterien, die in § 19a (1) GWB-RefE aufgeführt werden, ähneln jenen Kriterien, die auch für die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung herangezogen werden (Monopolkommission 2020). Im Unterschied zu §§ 18–19 GWB können nun jedoch nicht nur Praktiken auf dem „betroffenen Markt“, in dem eine marktbeherrschende Stellung festgestellt wurde, als missbräuchlich geahndet werden, sondern auch Tätigkeiten in anderen Märkten in denen das Unternehmen tätig, jedoch nicht marktbeherrschend ist und die in irgendeiner Weise zu dem „digitalen Ökosystem“ gehören, in welchem das ÜMÜB-Unternehmen von besonderer Bedeutung ist. Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich im Plattformumfeld wettbewerbliche Probleme (u. a. der Datenökonomik) schneller und deutlicher verschärfen, als es in anderen Märkten der Fall ist (s. auch die Gemeinsamkeiten der Studien in Abschn. 1). Das ÜMÜB-Konzept rüstet die Wettbewerbspolitik dabei hinsichtlich der in der traditionellen Wettbewerbspolitik tendenziell vernachlässigten, in der Digitalökonomie aber besonders bedeutsamen, vertikalen und konglomeraten Ausnutzungen einer marktmächtigen Stellung auf.

Im Falle einer Feststellung nach § 19a (1) GWB kann das Bundeskartellamt dem Unternehmen folgende Tätigkeiten nach § 19a (2) GWB untersagen: (i) Angebote von Wettbewerbern anders zu behandeln als eigene Angebote (Selbstbegünstigungsverbot), (ii) „Hebeln“ von Märkten (Tipping an der Schwelle zur Marktbeherrschung), (iii) Leveraging von dem beherrschten Markt auf andere Märkte, insb. durch Daten (Marktzutrittsschranken), (iv) die Interoperabilität von Produkten oder Leistungen oder die Portabilität von Daten zu erschweren, (v) unzureichende Information gegenüber anderer Unternehmen sowie strategische Intransparenz (vertikal). Diese Verhaltensweisen sind nicht missbräuchlich, wenn sie sachlich gerechtfertigt sind. Für den Nachweis der sachlichen Rechtfertigung liegt die Beweislast bei den Unternehmen.

2.5 Relative Marktmacht

Eine weitere Neuerung, welche mit der Novelle des GWB erreicht werden soll, ist die Anpassung des § 20 GWB. Hier soll konkret der Bezug zu kleineren und mittleren Unternehmen in Absatz 1 Satz 1 wegfallen, um zu erfassen, dass auch größere Unternehmen sich eines Missbrauchs durch ein anderes Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht ausgesetzt sehen können, ohne dass das missbrauchende Unternehmen direkt marktbeherrschend ist. Beispiele für diese Form der Economic Dependence sind die Abhängigkeit eines App-Anbieters vom Apple App-Store oder auch eines Verkäufers auf Amazon Marketplace von der Listung auf der Plattform, um Zugang zum Konsumenten zu bekommen. Die hier angesprochenen Beispiele von Plattformmärkten werden in § 20 (1) 2 GWB-RefE explizit adressiert, indem insbesondere die Abhängigkeit von Vermittlungsleistungen als eine weitere Möglichkeit der relativen Marktmacht ins Gesetz aufgenommen werden soll. Unklar bleibt hierbei jedoch, inwieweit durch diese Erweiterung Anreize für größere Unternehmen geschaffen werden, diese Regelungen auszunutzen und es durch diesen Eingriff in bilaterale Vertragsverhältnisse zu erhöhter Arbeitsbelastung des Bundeskartellamtes kommt. Grundsätzlich gilt es nach § 20 GWB abzuwägen, inwieweit Marktmacht ohne Gegenmacht besteht, wobei das Vorhandensein dieser durch die Behörde festzustellen ist. Fälle, in denen Konzerne wie beispielsweise Nike, einem Plattformanbieter wie Amazon ohne jegliche Gegenmacht gegenüberstehen sind zwar potenziell denkbar, scheinen jedoch eher selten aufzutreten.

Neu eingeführt werden soll zudem § 20 (1a) GWB-RefE. Dieser stellt klar, dass auch die Abhängigkeit von Daten, deren Zugang durch ein relativ marktmächtiges Unternehmen kontrolliert wird, von § 20 GWB abgedeckt ist. Die Verweigerung des Zugangs zu Daten, auch wenn für diese noch kein Geschäftsverkehr aufgenommen ist, kann damit potenziell einen Missbrauchstatbestand im Sinne des GWB darstellen.

Eine weitere Klarstellung soll durch § 20 (3a) GWB-RefE erwirkt werden. Dieser schließt in den Tatbestand der unbilligen Behinderung nun auch die Behinderung eigenständiger Erzielung positiver Netzwerkeffekte durch Wettbewerber ein. Damit gemeint sind Praktiken, welche zum sog. Tipping von (Plattform‑)Märkten führen können.

2.6 Fusionskontrolle

Die Zahl der beim Bundeskartellamt angemeldeten Zusammenschlüsse steigt seit Jahren kontinuierlich (s. Abb. 1). Um dieser zeit- und ressourcenbeanspruchenden Entwicklung entgegenzuwirken, sollen mithilfe der in der 10. GWB Novelle geplanten Änderungen die Aufgreifschwellen angehoben und so der Arbeitsaufwand der Behörde gesenkt werden (BMWi 2020, S. 3).

Abb. 1
figure 1

Beim Bundeskartellamt angemeldete Zusammenschlüsse, 2009–2018. (Abgeändert nach: BKartA 2019)

Konkret soll der zweite Umsatzschwellenwert angehoben werden. § 35 (1) Nr. 2 GWB-RefE sieht nunmehr eine Anmeldepflicht eines Zusammenschlusses erst vor, wenn neben dem Inlandsumsatz von (jeweils mindestens) 25 Mio. Euro eines Unternehmens, ein weiteres beteiligtes Unternehmen einen Inlandsumsatz von 10 Mio. Euro, statt bisher 5 Mio. Euro, aufweist. Auch § 35 (1a) Nr. 2b GWB soll dahingehend angepasst werden. Des Weiteren sieht der Referentenentwurf die Ausweitung der sog. Bagatellmarktklausel bis zu einem Marktumsatzvolumen (inländisch, im letzten Kalenderjahr) von 20 Mio. Euro, statt bisher 15 Mio. Euro, vor (§ 36 (1) 2 Nr. 2 GWB-RefE). Damit werden die Fusionskontrollvorschriften insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) gelockert. Ziel ist es, das externe Wachstum mittelständischer Unternehmen zu erleichtern und gleichzeitig die Kontrollpflicht und damit die Anmeldezahlen wettbewerblich unproblematischer Fälle beim Bundeskartellamt zu senken (BMWi 2020, S. 3; Monopolkommission 2020, S. 6).

Eine gänzlich neue Regelung soll die durch die Erhöhung der Aufgreifschwellen erreichte Abschwächung der Fusionskontrollvorschriften dahingehend ergänzen, dass Fälle, welche aufgrund niedriger Marktumsätze der beteiligten Unternehmen nun nicht mehr anmeldepflichtig sind, aber potenziell wettbewerblich problematische Auswirkungen haben, dennoch kontrolliert werden können. § 39a GWB-RefE gibt dem Bundeskartellamt die Verfügungsgewalt, Unternehmen dazu aufzufordern, jeden Zusammenschluss des Unternehmens mit anderen Unternehmen in einem oder mehreren bestimmten Wirtschaftszweigen anzumelden. Diese Verfügung kann die Behörde unabhängig von der Art der Übernahme und der Aufgreifschwellen erlassen.

3 Kritische Würdigung ausgewählter Aspekte: Interventionismus oder Laissez-faire?

3.1 Marktmacht und -missbrauch durch exklusiven Datenzugang

Die effizienzsteigernde Nutzung von Daten zur Produktion, Design, in Vertrieb und Marketing oder anderen Teilen der Wertschöpfungskette sind zentrales Merkmal der digitalen Wirtschaft. Dies ist grundsätzlich wohlfahrtsfördernd. Aus wettbewerbspolitischer Sicht können Unternehmen daraus einen relevanten Wettbewerbsvorteil erarbeiten, der u. U. bis zu einer dominanten bzw. marktmächtigen Position führen kann. Eine auf diese Weise leistungsbezogen erworbene Markstellung wäre an sich aus ökonomischer Sicht nicht zu beanstanden, solange sie angreifbar bleibt (Baumol 1982; Baumol et al. 1982). Anders sieht das jedoch aus, wenn andere Unternehmen diesen Wettbewerbsvorteil nicht mehr aufholen können, bspw., weil sie keinen Zugang zu diesen wettbewerbsrelevanten Daten haben (Haucap 2020). Nun stellt sich die Frage, ob die neuen Regelungen des Referentenentwurfs diesen Besonderheiten einer digitalisierten und algorithmenbasierten Wirtschaft entsprechen.

Bereits in der 9. GWB Novelle hat der Gesetzgeber die Problematik der Kontrolle von Daten und daraus resultierender Marktmacht aufgegriffen (§ 18 (3a) Nr. 4 GWB). Der Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten als Marktmachtkriterium bezieht sich hier jedoch insbesondere auf mehrseitige Märkte und Netzwerke. Die Bedeutung der Datenmacht geht jedoch über die Bedeutung von Plattformen und Netzwerken hinaus. So können Daten beispielsweise ein kritischer Inputfaktor zum Angebot von Produkten und Dienstleistungen sein; auch Verbund und Skalenvorteile bei der Sammlung und Nutzung von Daten müssen berücksichtigt werden (Schweizer et al. 2018). Bei einem privilegierten Datenzugriff eines Unternehmens, wie beispielsweise Maschinendaten oder Nutzungsdaten durch Endanwender, ist die Frage der Daten-Governance zu berücksichtigen. Werden die Daten von außenstehenden Dritten erzeugt, wie dem Fahrer eines Fahrzeuges, ist fraglich, wem die Daten „gehören“ und wie über deren Verwendung entschieden werden kann (Kerber 2018). Datenschutz und Persönlichkeitsrechte spielen hier eine bedeutende Rolle. Es ist fraglich, ob der Hersteller des Fahrzeugs lediglich aus dem originären Verkauf des Fahrzeugs auch ausschließliche Rechte über alle später erzeugten Daten erhält. Bestimmte Dienstleistungen wie Reparaturen o. ä. können nur von einem Anbieter durchgeführt werden, der Zugang zu den dazu notwendigen Daten besitzt. Ein exklusiver Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten kann also einen ökonomischen Machtfaktor darstellen und mithin zu einer marktmächtigen Stellung ebenso wie zu ihrer missbräuchlichen Ausnutzbarkeit beitragen. Ob und inwieweit der exklusive Zugang zu Daten eine marktbeherrschende Stellung begründet, ist letztendlich im Einzelfall zu entscheiden; die Erweiterung in § 18 (3) GWB-RefE eröffnet diese Möglichkeit nun ausdrücklich auch auf nicht Plattform- oder Netzwerkmärkten.

Eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen ist per se nicht verboten, sondern „lediglich“ deren missbräuchliche Ausnutzung. Das GWB verbietet den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung umfassend und ergänzt eine Reihe von Regelbeispielen, die als nicht abgeschlossene Liste missbräuchliche Verhaltensweisen aufzählen. In der Aufzählung dieser Regelbeispiele sollen Daten im Rahmen der auch als „Essential Facility“ oder „wesentliche Einrichtung“ bezeichneten Infrastruktureinrichtungen in § 19 (2) Nr. 4 GWB-RefE aufgenommen werden. Sollte ein Gatekeeper seinen Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten und damit seine Marktmacht nutzen, um (tatsächliche oder potentielle) Wettbewerber zu behindern oder ihnen zu schaden, gilt dies als Marktmachtmissbrauch. Dabei würde die Geschäftsverweigerung bzw. Verweigerung des Zugangs eine prohibitive Markteintrittsbarriere konstituieren. Ohne den Datenzugang ist in solchen Fällen ein Agieren im Markt nicht möglich. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht immer erfüllt. Aufgrund der Reproduzierbarkeit bestimmter Daten, wie beispielsweise Nutzerdaten einer Suchmaschine, ist es technisch möglich, diese auch als Newcomer selbst zu generieren. In diesen Fällen wäre der Zugang zu den Daten des Marktführers nicht objektiv notwendig um Wettbewerb im betroffenen sowie wie vor- und nachgelagerten Märkten zu ermöglichen und der neue Missbrauchstatbestand würde – grundsätzlich gerechtfertigter weise – nicht greifen. Jedoch können in bestimmten Fällen auch die schiere Menge und der Umfang des Zugriffs auf reproduzierbare Daten durch bestimmte Unternehmen (bspw. GAFA) den Vorsprung dieser Unternehmen realistischer Weise uneinholbar und unangreifbar machen. Dies würde jedoch klassischerweise nicht unter die „Essential Facility Doctrine“ fallen, da der Zugriff auf die Ressource „Daten“ nicht unter Verschluss eines einzelnen Unternehmens ist. Interpretiert man die vorgeschlagene Regelung in dieser engen Weise, so ist es fraglich, ob die Neuregelung tatsächlich ihr Ziel erreicht, da ein Großteil der Unternehmen nicht in den dann notwendigen Bereich des Besitzes von exklusiven, nicht-reproduzierbaren Daten fällt. Die Plattformmacht von Google & Co würde somit nicht angreifbarer gemacht. Sind die in § 19 (2) Nr. 4 GWB-RefE aufgezählten Elemente – Daten, Netze, Infrastruktureinrichtungen – hingegen nicht im engen Sinn als wesentliche Einrichtung zu verstehen, kann jede Zugangsverweigerung, welche den wirksamen Wettbewerb auszuschalten droht, erfasst werden, was aus datenökonomischer Sicht besser geeignet wäre.

Darüber hinaus ist zu überlegen, ob die Aufnahme der Zugangsverweigerung zu wettbewerbsrelevanten Daten in die erweiterten Regelungen zu relativer Marktmacht (§ 20 GWB-RefE; s. auch 2.5) nicht bereits viele Fälle abdeckt, da diese Regelung deutlich früher greift und nicht die Feststellung einer absoluten Marktbeherrschung erfordert (Haucap 2020). Insgesamt ist aber ein Absenken der Eingriffsschwelle bezüglich „Datenmacht“ aus ökonomischer Sicht zu begrüßen, da es zu den wesentlichen Charakteristika der digitalen Wirtschaftswelt gehört, dass Unternehmen in ökonomischer Abhängigkeit von Dienstleistern beispielsweise virtueller Marktplätze oder digitaler Ökosysteme agieren müssen (inter alia, Bougette et al. 2019), welche zudem in einer „dual role“ nicht nur als Marktplatzorganisator sondern auch vor- oder nachgelagert tätig sind und mithin gleichzeitig auch horizontale Wettbewerber der vertikal von ihnen abhängigen Unternehmen darstellen. Beispiele wären Shop-Betreiber auf Amazon Marketplace, die auch in Konkurrenz zu Amazons eigenem Handelsgeschäft stehen oder App-Anbieter, die im Apple App Store oder in Google Play mit Apples und Alphabet-Google-Androids eigenen Apps konkurrieren müssen. Die Verweigerung des Zugangs zu Daten (inklusive eigener Umsatz‑, Rechnungslegungs- und Kundendaten des Verkaufs der eigenen Apps/Güter über den Store/MarketplaceFootnote 3) stellt hier nicht selten auch bereits unterhalb der Schwelle der absoluten Marktbeherrschung aus (daten-)ökonomischer Sicht im Effekt bereits ein Missbrauch von Marktmacht dar.

Ein Vorteil der Regelung in § 19 liegt aus datenökonomischer Perspektive in der Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung der Zugangsverweigerung zu wettbewerbsrelevanten Daten, wobei es ebenfalls zu begrüßen ist, dass hierfür die Beweislast bei dem zugangsverweigernden Unternehmen liegt. Auch bei Datenzugangsverweigerung aufgrund nur relativer Marktmacht (§ 20 (1a) GWB-RefE) sollte eine solche Klausel ergänzt werden, so wie sie bei der unbilligen Behinderung gemäß § 20 (3) GWB auch besteht. Durch § 20 (1a) GWB-RefE soll ein kartellrechtlicher Anspruch auf Datenzugang geschaffen werden „sofern und soweit die Vorteile einer mehrfachen Nutzung der betreffenden Daten die Nachteile eines Verlustes der exklusiven Verfügung über diese Daten überwiegen“ (BMWi 2020, S. 83). Diese Fälle sind beispielsweise auf zusammenhängenden Wertschöpfungsketten denkbar, auf denen auf Aftermärkten tätigen Reparatur- und Serviceunternehmen der Zugang zu Daten durch das relativ marktmächtige Herstellerunternehmen verwehrt wird (Kerber 2020). Im Extremfall kann das dazu führen, dass diese Reparatur- und Serviceunternehmen ohne den benötigten Datenzugang vom Markt ausgeschlossen werden. Für Beispiele in dieser Art stellt § 20 (1a) GWB-RefE eine geeignete Möglichkeit dar, diese Art der missbräuchlichen Ausnutzung zu sanktionieren bzw. zu unterbinden. In den Erläuterungen zum Referentenentwurf spricht der Gesetzgeber recht allgemein von „spezifischen Konstellationen“, in welchen diese Neuregelung sinnvoll sein kann (BMWi 2020, S. 83). Das genannte Beispiel der Wertschöpfungskette ist wohl ebenso eine solche spezifische Konstellation wie die oben aufgeführten Beispiele mit Blick auf „Dual Role“-Probleme. Allerdings bestehen neben dieser sinnvollen Anwendung der Regelung durch die fehlende Klausel einer sachlichen Rechtfertigung auch die Gefahr eines gewissen Ausnutzungspotenzials bzw. -anreizes sowie eine gewisse Rechtsunsicherheit – gerade aufgrund der niedrigeren Eingriffshürden und der Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen bei alleinigem vs. geteiltem Datenzugang, welche im Einzelfall durch das BKartA getroffen werden soll.

Das Wegfallen des Bezugs des § 20 (1) GWB auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ist jedoch aus wettbewerbsökonomischer Sicht zu begrüßen, sind doch Abhängigkeitsverhältnisse und das Innehaben relativer Marktmacht nicht (allein) durch die Größe des jeweiligen Unternehmens bestimmt. Zudem sollen hiervon weiterhin nur Abhängigkeitsverhältnisse betroffen sein, die nicht gegenseitig sind, d. h. also nur Fälle von relativer Marktmacht, in denen keine Gegenmacht besteht. Damit kann einer potenziellen Ausnutzung dieser Ausweitung Einhalt geboten werden. Die Regelung ist insbesondere auch im Bereich der digitalen Märkte und relativer Marktmacht, welche auf den Zugang zu Daten zurückzuführen ist, relevant, da hier die Unternehmensgröße regelmäßig eher von nachrangiger Bedeutung ist. Gleichzeitig entfällt durch das Streichen der Begrenzung von § 20 auf KMUs jedoch eine natürliche Begrenzung der Anwendbarkeit des Konzepts relativer Marktmacht. Die meisten bilateralen (vertikalen) Vertragsverhältnisse zwischen Unternehmen werden durch – ggf. lediglich marginale – Ungleichgewichte in der Verhandlungs- und Marktmacht gekennzeichnet sein, so dass hier die Gefahr einer Ausdehnung der Anwendung von § 20 GWB-RefE auf ubiquitäre Vertragsverhältnisse droht. Dabei wäre es angesichts der Auslastung des Bundeskartellamts weniger die Sorge, dass das Kartellamt hier einen willkommenen Anreiz zur Tätigkeitsausweitung sieht (Budzinski und Haucap 2020), sondern vielmehr ist an eine strategische Berufung auf die Ausnutzung relativer Marktmacht als Instrument zur Disziplinierung vertikaler Vertragspartner oder nachträglicher Korrektur getroffener Vereinbarungen zu denken. So motivierte Beschwerden an die Kartellbehörden würden in ineffizienter Weise Ressourcen binden und Steuerzahlergeld kosten.

Bei beispielsweise Maschinendaten oder Fahrzeugdaten, die sich de facto im exklusiven Besitz eines Unternehmens befinden und nicht reproduzierbar sind, können Anbieter komplementärer Dienstleistungen oder Produkte auf die Ursprungsdaten des Gatekeeper-Unternehmens angewiesen sein, um effizient (oder gar überhaupt) anbieten zu können. Der Zugang zu vorgelagerten Daten könnte in solchen oder ähnlichen Fällen objektiv notwendig sein. Die Neuregelung der „Essential Facility Doctrine“ könnte hier Abhilfe schaffen und den Zugang Dritter erleichtern. Welche und wie viele Fälle das de facto umfasst, bleibt abzuwarten. Besonders wichtig ist gerade bei der Frage des Zugangs zu nicht-reproduzierbaren Daten die entsprechende Öffnung und Erweiterung der Regeln zu relativer Marktmacht (§ 20 GWB-RefE; s. Abschn. 2.5), denn in vielen Bereichen der Digitalisierung abseits der GAFA-Fälle werden diese Fälle oft nicht mit der Beherrschung des gesamten Marktes durch den Dateninhaber einhergehen (Maschinendaten, Fahrzeugdaten, etc.). Bei absoluter Marktmacht (§ 19 GWB) wird dabei in begrüßenswerter Weise berücksichtigt, dass Daten und die damit verbundenen Algorithmen wesentliche Erfolgsparameter eines Unternehmens darstellen können und somit gegen die erzwungene Herausgabe von „Betriebsgeheimnissen“ eine sachliche Rechtfertigung angeführt werden kann. Aus ökonomischer Sicht wäre es ungünstig, wenn diese Möglichkeit bei einer schwächeren Marktposition des exklusiven Dateninhabers („nur“ relative Marktmacht gemäß § 20 GWB) nicht bestünde. Ein Zwang zur Offenlegung von essentiellen internen Daten, die den fortbestehenden leistungswettbewerblichen Erfolg eines Unternehmens gefährden, muss von den Wettbewerbsbehörden sorgsam im Einzelfall abgewogen werden.

3.2 Marktmacht und -missbrauch durch Plattformen

Die geplante Einführung des § 19a GWB-RefE verschärft die Missbrauchsaufsicht; unternehmerischen Strategien großer Plattformen, die den Wettbewerb gefährden könnten, soll so Einhalt geboten werden können. Wenn ein Unternehmen im erheblichen Maße auf Plattformmärkten tätig ist, kann vom Bundeskartellamt eine „überragende marktübergreifende Bedeutung“ (ÜMÜB) festgestellt werden. Mit dieser Feststellung kann das Bundeskartellamt wettbewerbswidrige oder gefährdende Verhaltensweisen untersagen (s. Abschn. 2.4). In der Literatur wird diese Neuregelung als regulierungsnahes Vorgehen bezeichnet, die ex-ante Verhaltensweisen untersagt (Haucap 2020), wobei jedoch die Begründung des Referentenentwurfes einen zweistufigen Prozess aufzeigt (wie es auch im herkömmlichen Falle von Marktmachtmissbrauch bekannt ist): (i) Feststellung einer ÜMÜB und darauf aufbauend (ii) Missbrauch dieser Stellung (BMWi 2020). Damit sind nach Feststellung der ÜMÜB bestimmte Verhaltensweisen ex-nunc missbräuchlich und können somit eine ex-ante Wirkung haben, da betroffene Unternehmen über das Verbot der Verhaltensweisen, die in einem „normalen“ Wettbewerbsverhältnis unproblematisch wären, informiert sind und sich an die gesetzlichen Einschränkungen halten können.

Das neue Konzept der ÜMÜB ist bislang nicht im deutschen Missbrauchsrecht verankert, daher stellt deren Feststellung eine neue Herausforderung dar. Die Kriterienliste für das Feststellen einer ÜMÜB (s. Abschn. 2.4) schließt dabei tatsächliche marktbeherrschende Stellungen als Indiz für eine ÜMÜB ein und mischt fortan klassische Einzelmarktbeherrschungskriterien (bspw. Finanzkraft) mit Elementen ökonomischer Abhängigkeit bzw. relativer Marktmacht (s. a. Abschn. 2.5 und 3.1). Inwieweit die teilweise recht allgemeinen Kriterien operational und justiziabel wären, würde wohl erst die wettbewerbsrechtliche Praxis zeigen. In jedem Fall wird neben absoluter und relativer Marktmacht hiermit eine dritte Kategorie geschaffen, die man als systemische Marktmacht bezeichnen könnte.

Aus ökonomischer Sicht stellt sich aber insbesondere die Frage, welche Fälle unter eine ÜMÜB fallen würden, welche von der „klassischen“ Missbrauchskontrolle à la § 19 GWB nicht erfasst würden. Geht man davon aus, dass die Domäne der klassischen Missbrauchskontrolle direkte horizontale (Behinderungsmissbrauch) und direkte vertikale (Ausbeutungsmissbrauch) Effekte sind, so würden die in Abb. 2 dargestellten Fälle als Kandidaten für ÜMÜB verbleiben.

Abb. 2
figure 2

Übersicht potenzielle ÜMÜB-Typen

(i):

Vertikal marktübergreifende Bedeutung haben Unternehmen in vielen Bereichen, wobei es sich hier um eine klassische Wertschöpfungskette und nicht um Plattformmacht handelt. Während direkte vertikale Fälle unter Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung auf einer Stufe unter die klassische Missbrauchskontrolle (§ 19 GWB) fallen sollten, sind mindestens zwei Fallkonstellationen denkbar, die nur unter § 19a GWB-RefE händelbar wären. Erstens wären Fälle zu nennen, in denen die wettbewerbliche Behinderung nicht in einem der beherrschten Marktstufe vor- oder nachgelagerten Markt stattfindet, sondern sozusagen mindestens eine Stufe überspringt und sich erst in der übernächsten Stufe der Wertschöpfungskette antikompetitiv niederschlägt. Da die ÜMÜB die gesamte Wertschöpfungskette umfassen kann, könnte hier ein Eingriffsgrund besser dargelegt werden. Zweitens kann es sein, dass das Unternehmen auf keiner Stufe über eine marktbeherrschende Stellung verfügt, aber dennoch über eine ÜMÜB für die gesamte Wertschöpfungskette und deswegen über antikompetitive Handlungsspielräume. Diese würden von der klassischen Missbrauchskontrolle kaum erfasst. Der Zusammenschluss von AT&T und Time Warner, der zu Black-Outs konkurrierender Fernsehangebote geführt hat (Stöhr et al. 2020), könnte hier beispielhaft genannt werden.

(ii):

Große Plattformen mit marktübergreifender Bedeutung auf den verschiedenen Marktseiten fallen (falls überragend) auch unter ÜMÜB. Dieser Fall wird in der Literatur auch unter dem Begriff Intermediationsmacht diskutiert (Schweitzer et al. 2018), da der Plattformbetreiber als Intermediär die Kontrolle über die Vermittlungsleistung hat und als Gatekeeper fungiert. Somit ist Intermediationsmacht ein Sonderfall von ÜMÜB, was für fortlaufenden Überlegungen und Regulierungen berücksichtigt werden sollte. Die geplante Einführung des § 18 (3b) GWB-RefE rekurriert offenbar ebenfalls auf das Konzept der Intermediationsmacht, allerdings als Kriterium für eine klassische marktbeherrschende Stellung im Sinne von § 19 GWB – und auch für die Feststellung einer ÜMÜB kann Intermediationsmacht ein Kriterium sein (s. Abschn. 2.4).

(iii):

Die konglomeraten/lateralen Ausprägungen sind besonders komplexe Systeme und diffuse Machtstrukturen (wie bspw. mit dem modern werdenden Begriff „digitale Ökosysteme“ umschrieben), die unter dem klassischen Marktmachtbegriff besonders schwierig greifbar sind. Beispiele für laterale Marktvernetzungen und „Ökosysteme“ bei klassischen Märkten wären bspw. Unternehmen wie Siemens oder Bosch. Mischformen von Plattformmärkten und Nicht-Plattform Märkten (wobei nicht immer wie in Abb. 2 eine Plattform im Zentrum stehen müsste) wären z. B. Alphabet/Google oder Apple. Unter Plattformvernetzung könnte man bspw. Social Media Ökosysteme wie Facebook, Instagram, YouTube, Snapchat, Messenger-Dienste etc. fassen. Hier haben die einzelnen Plattform-Betreiber eventuell schon innerhalb der Plattform Intermediationsmacht und darüber hinaus noch plattformübergreifende Macht z. B. Facebook mit Instagram, WhatsApp und dem Facebook Messenger.

Die ÜMÜB ergibt sich hierbei bspw. daraus, dass nur das ÜMÜB-Unternehmen in allen Bereichen des Ökosystems mitmischt oder aber das aufgrund von (strategisch geschaffenen) Inkompatibilitäten zu anderen horizontal konkurrierenden Ökosystemen alle anderen Akteure innerhalb des Systems von den Aktivitäten des ÜMÜB abhängig sind. Im letzteren Fall würde es sich um ein System multipler ökonomischer Abhängigkeit (multiple economic dependence) handeln. In solchen Ökosystemen können aus ökonomischer Sicht wettbewerbswidrige Strategien (Selbstbegünstigung in Such- und Empfehlungssystemen, willkürliche Auslistung, künstliche Inkompatibilitäten, Boykotte, raising rivals’ costs durch diskriminierende Gebühren und (Zugangs‑)Preise, Erzwingung asymmetrischer Datennutzungsvereinbarungen, usw.) möglich sein, ohne dass in einem der beteiligten Einzelmärkten eine marktbeherrschende Stellung des ÜMÜB-Unternehmens vorliegt. Ebenfalls ist es denkbar, dass Effekte indirekt und konglomerat auftreten, weswegen sie von der klassischen Missbrauchskontrolle nur schwer zu erfassen sind.

Natürlich können auch Plattformen und Submärkte in (ii, iii) zudem vertikal integriert sein. Vor allem Märkte mit Beteiligung von Plattformen und der Kombination aus Intermediationsmacht und marktübergreifenden Strukturen sind missbrauchsanfällig. Digitale Informations- bzw. Datenmacht hat aufgrund der typischen Markteigenschaften (Netzwerkeffekte, Tipping, etc.) eine besondere Stellung und Unternehmen mit erheblichen Datenvorsprung (GAFA & Co) können sich eine kaum mehr angreifbare, persistente Machtstellung erarbeiten. Die Masse an Daten wird „ausgeschlachtet“ und durch professionelle Datenanalyse, KI und Algorithmen genutzt. Dabei führen Diversifikation, vertikale und horizontale Integration zu einer Bildung von umfassenden Konglomeraten, die Transaktionskosten für Konsumenten à la „One-Stop-Shopping“ senken. Alle Daten liegen „sicher“ bei einem Anbieter und wurden sowieso schon „bezahlt“. Diese Merkmale reduzieren Transparenz und erschweren die Unterscheidung zwischen legitimen Leistungswettbewerb und missbräuchlichem Verhalten auf den vielen (vermeintlich) unterschiedlichen Märkten (Schweitzer et al. 2018). Wettbewerbswidriges Verhalten kann hier jedoch gerade aufgrund dieser Merkmale zu weitreichenderen Schäden führen, da diese Märkte leichter in Richtung eines (oder einiger weniger) Anbieter „kippen“ und stärkere Konzentrationstendenzen aufweisen.

Zudem verfügen Unternehmen mit ÜMÜB in digitalen Ökosystemen oftmals über besonders ausgeprägtes Potenzial für antikompetitive Leveraging-Effekte. In der Shopping-Mall von Amazon ist Amazon selbst der größte Shop des Einkaufzentrums. Durch die Stellung als Marktplatzanbieter können Anreize entstehen die eigenen Ressourcen und Informationen zur Selbstbegünstigung zu nutzen oder die Machtposition auf angrenzende Märkte auszudehnen („Leveraging“), wie bspw. in den Fällen Google Search und Google Shopping (Schweitzer et al. 2018). Dabei können beispielsweise Algorithmen hausinterne Angebote bei Suchergebnissen oder Empfehlungen bevorzugen oder es werden wettbewerbsrelevante Daten nur an Tochterunternehmen weitergegeben, den Konkurrenten dieser Tochterunternehmen aber verweigert, etc. (s. auch Abschn. 3.1).

Aus ökonomischer Sicht sind ÜMÜB-Phänomene allerdings nicht auf digitale Ökosysteme begrenzt, sondern können auch innerhalb klassischer Wertschöpfungsketten oder in klassischen konglomeraten Strukturen (Typen (i) und (iii a) in Abb. 2) auftreten. Beispiele könnten zum einen Multimarkt-Industriefirmen wie Siemens, Bosch oder Bayer darstellen, bei denen es zwar schwer sein kann, die Beherrschung eines einzeln abgegrenzten Marktes festzustellen, die aber durch führende Stellungen in diversen mit einander verwandten Märkten über ausnutzbare systemische Marktmacht verfügen. Ein solch weites Verständnis des ÜMÜB-Konzepts mag von den Autoren des § 19a GWB-RefE nicht intendiert sein (BMWi 2020, S. 75–81), wäre aus ökonomischer Sicht aber dennoch eine Verbesserung der Wirksamkeit der Wettbewerbspolitik – auch aber nicht nur in Bezug auf die Digitalökonomie.

3.3 Ex-Ante-Strukturkontrolle vs. Ex-Post-Verhaltenskontrolle auf digitalen Märkten

Mit den geplanten Anpassungen der Missbrauchsaufsicht und der Fusionskontrolle soll zum einen die Eingriffstiefe im Rahmen der Fusionskontrolle tendenziell verringert werden. Gleichzeitig würde der Interventionsgrad in der Missbrauchsaufsicht potenziell ansteigen (s. Abschn. 3.1 und 3.2). Damit entwickeln sich Ex-Ante-Strukturkontrolle (Zusammenschlusskontrolle) und Ex-Post-Verhaltenskontrolle (Missbrauchsaufsicht) potenziell in entgegengesetzte Richtungen.

Ein Grund für das Erhöhen der Aufgreifschwellen in der Fusionskontrolle ist das hohe Fallaufkommen beim BKartA, durch die im internationalen Vergleich relativ niedrigen (Inlands‑) Umsatzschwellenwerte. Durch die geänderten Regeln (s. Abschn. 2.6) soll die Zahl der vom BKartA jährlich zu prüfenden Fälle um ca. 20 %, auf 1000 bis 1100 Prüfverfahren sinken. Dies würde zum einen mit Ersparnissen innerhalb der Ressourcen des BKartA einhergehen und den Bürokratieaufwand senken. Zum anderen verspricht sich der Gesetzgeber davon Erleichterungen insbesondere für den Mittelstand (BMWi 2020, S. 65 f., 94 f.). Zu prüfen gilt es hierbei zunächst, inwiefern tatsächlich nur wettbewerblich unproblematische Fusionsfälle aus dem Prüfraster herausfallen. Im Zeitraum zwischen 2011 und 2018 wurden beim BKartA insgesamt über 9600 Fusionsfälle angemeldet (s. Abb. 1). Davon wurden lediglich 100 Zusammenschlüsse einer Untersuchung der zweiten Phase, also einem Hauptprüfverfahren, unterzogen. Nur knapp über 10 % dieser Hauptprüfverfahren endeten mit einer Untersagung des Vorhabens durch das BKartA; mehr als 50 % wurden (mit oder ohne Auflagen) freigegeben (Stand: 30.04.2020; BKartA 2020). Bei konkreter Betrachtung der Hauptprüfverfahren seit 2011 (unter der Voraussetzung, dass die Umsatzzahlen in der Entscheidung des BKartA veröffentlicht wurden) würden lediglich vier Fälle unter den neuen Umsatzschwellenwerten möglicherweise aus der Anmeldepflicht fallen – wobei immerhin einer davon mit einer Untersagung durch die Wettbewerbsbehörde endete (Klinikum Worms gGmbH/Agaplesion Hochstift Evangelisches Krankenhaus Worms 2012; BKartA 2012) und damit als klar wettbewerbsschädigend eingestuft wurde. Die anderen drei Fälle wurden jeweils ohne Nebenbedingungen freigegeben. Die Gefahr, dass potenziell wettbewerbsschädigende Zusammenschlüsse durch die Anhebung der Schwellen nun nicht mehr einer Kontrolle unterzogen werden, lässt sich somit nicht gänzlich ausschließen.

Die mit der 9. GWB Novelle zusätzlich eingeführte Transaktionsschwelle (Budzinski und Stöhr 2019a) dürfte hier als weiterer absichernder Faktor dienen. Insbesondere in Fusionsfällen von Unternehmen, die auf digitalen Märkten tätig sind und/oder an denen aufstrebende Mavericks beteiligt sind, werden auch die bisherigen Umsatzschwellen häufig bereits nicht erreicht. Nichtsdestotrotz können von solchen Fusionen antikompetitive Wirkungen ausgehen, wie beispielsweise im Fusionsfall Flixbus/Postbus (BKartA 2016). Das Einführen der Transaktionsschwelle im Rahmen der letzten GWB-Novelle gibt dem BKartA auch bei niedrigen Umsätzen der beteiligten Unternehmen die Möglichkeit, den Zusammenschluss zu untersuchen und ggf. zu untersagen, wenn ein hohes Transaktionsvolumen (also v. a. ein hoher Kaufpreis) signalisiert, dass der Zusammenschluss trotz niedriger Umsatzwerte eine hohe ökonomische Relevanz hat.

Grundsätzlich signalisieren die Bemühungen, die Zusammenschlusskontrolle für mittelständische Unternehmen zu erleichtern, einen Fokus des Gesetzgebers auf die Vermeidung von Fehlern des Typs I (sog. false positives; inter alia, Easterbrook 1984; Christiansen und Kerber 2006). Durch die Verringerung der Gefahr, pro-kompetitive Zusammenschlüsse abzuschrecken (aufgrund der Kosten, die mit der Prüfung durch die Wettbewerbsbehörden für die Fusionspartner einhergehen), einzuschränken oder zu verbieten, könnten beispielsweise Effizienzen besser realisiert und Synergien ausgenutzt werden. Gleichzeitig steigt die Gefahr von Fehlern des Typs II (false negatives). Eine höhere Wahrscheinlichkeit des Erlaubens antiwettbewerblicher Fusionen, deren negativen Wirkungen womöglich auch durch eine schärfere Ex-Post-Kontrolle (Missbrauchsaufsicht) nicht (vollständig) rückgängig gemacht werden können, bringt neben diesen Wettbewerbsschäden beispielsweise auch wieder potenziell erhöhte Durchsetzungskosten für die Behörden mit sich. Das BMWi sieht allerdings insgesamt ein Überwiegen der Vorteile, i.S. eines Abbaus des bürokratischen Aufwands und die Umverteilung von Ressourcen auf die immer aufwändiger werdenden Hauptprüfverfahren (BMWi 2020, S. 95).Footnote 4

Fraglich ist jedoch, ob die geplante Aufforderungsregel nach § 39a GWB-RefE diese potenziellen Einsparungen möglicherweise zunichtemacht. Mit der Umsetzung dieses Vorschlags würde indirekt ein Ex-Post-Element in die Fusionskontrolle aufgenommen werden, da die Erteilung der Anmeldepflicht per Verwaltungsakt (BMWi 2020, S. 100) eine Ex-Post-Marktbeobachtung durch das BKartA voraussetzt. Bei einer durch die Marktbeobachtung festgestellten erhöhten Konzentration, intensiven vergangenen Fusionstätigkeit sowie Hinweisen auf zukünftige Gefahren für den wirksamen Wettbewerb durch eventuelle weitere Zusammenschlüsse, kann das BKartA eine (ex-ante‑) Anmeldepflicht für zunächst drei Jahre aussprechen. Diese Anmeldepflicht für alle weiteren Zusammenschlüsse dieses Unternehmens ist dann unabhängig von allen (umsatz- und transaktionswertbezogenen) Aufgreifschwellen. Trotz – oder gerade wegen – erheblicher Unklarheiten bei der Durchführung dieser Aufforderungsregel, besteht hier die Gefahr eines erheblichen bürokratischen und ressourcenbezogenen Aufwands für das BKartA, welcher möglicherweise etwaige Ressourceneinsparungen im Bereich der Ex-Ante-Kontrolle (durch das Sinken der Anmeldezahlen) ausgleichen oder gar übersteigen kann. Zudem kann dieses neue Instrument potenziell auch zu mehr Rechtsunsicherheit für Unternehmen führen – und damit gar zu Hemmungen, tatsächlich wettbewerblich unbedenkliche und/oder effizienzsteigernde Zusammenschlüsse einzugehen. Damit kommt es hier zu einer Reform der Fusionskontrolle, welche tendenziell entgegen der Entwicklung der Missbrauchskontrolle läuft, wo über das Auskunftsverlangen aus Rechtssicherheitsgründen wieder ein Ex-Ante-Element eingeführt werden soll (s. Abschn. 2.1).

Insbesondere sollen durch die neuen Regelungen in der Fusionskontrolle mittelständische Unternehmen von Anmeldepflichten entlastet werden (BMWi 2020, S. 60), jedoch kann es so möglicherweise auch zu einer Vereinfachung von wettbewerbsschädigenden Transaktionen und Kooperationen kommen. Die explizite Entlastung des Mittelstands sollte nicht dazu genutzt werden, sog. National Champions zu etablieren und die Unternehmen vor vermeintlich „zu viel Wettbewerb“ zu schützen (inter alia, Budzinski und Stöhr 2019b). Auch auf mittelständischen Märkten mit vergleichsweise geringen Umsatzvolumina bestehen regelmäßig Konzentrationstendenzen, welche durch den weiteren Schutz vor (ausländischem) Wettbewerb noch verstärkt werden würden und so negative Wirkungen bspw. auf Innovationsanreize, Produktqualität und Preise haben können (Zettelmeyer 2019).

Mit den Erweiterungen der Eingriffstiefe in der Missbrauchsaufsicht (s. Abschn. 3.1 und 3.2) aber insbesondere auch mit den gleichzeitigen Lockerungen in der Fusionskontrolle und der geplanten Einführung der beschriebenen Ausnahmeregelung stellt sich die grundsätzliche Frage danach, wie der Trade-off zwischen Ex-Ante-Strukturkontrolle und Ex-Post-Verhaltenskontrolle zu bewerten ist. Insbesondere bezogen auf die andauernde dynamische Entwicklung digitaler Märkte ist ein Vorteil von Ex-Post-Kontrollen die überlegenere Wissenslage über diese neuartigen Märkte. Andererseits bestehen hier regelmäßig Schwierigkeiten in der Durchsetzbarkeit der Regelungen, beispielsweise bezogen auf die dann potenziell notwendige Entflechtung von Unternehmenszusammenschlüssen. Da eine Ex-Post-Kontrolle ja erst greift, wenn die Wettbewerbsschädigung bereits stattfindet, entstehen bspw. im Falle des Tippings von Plattformmärkten aber auch durch zunächst durchgeführte Fusionen in jedem Fall negative Wohlfahrtseffekte für Konsumenten und Gesellschaft (in der Zeit bis zum Eingriff) sowie nicht selten irreversible Wettbewerbsschäden, welche auch mit der Ex-Post-Intervention nicht mehr auszugleichen sind. Wurden bspw. Wettbewerber bereits verdrängt, so lassen sich wettbewerbliche Marktstrukturen u. U. durch das nachträgliche Verbot der verdrängenden Verhaltensweise nicht wiederherstellen, wie der Microsoft-Fall bspw. bei Office-Produkten oder auch der aktuellere Google Shopping-Fall eindrucksvoll zeigen. Auch die Entflechtung von fusionierten Unternehmen ist ökonomisch (wie auch rechtlich) ein sehr problematisches Unterfangen (inter alia, Krakowski 1980; von Hirschhausen et al. 2008).

Weiterhin besteht die Frage, inwieweit das ÜMÜB-Kriterium, welches im Bereich der Missbrauchsaufsicht eingeführt werden soll (s. Abschn. 2.4 und 3.2), sinnvollerweise auf die Fusionskontrolle ausgeweitet werden könnte/sollte. Ex-Post-Missbrauchsaufsicht und Ex-Ante-Zusammenschlusskontrolle wirken systematisch zusammen: die Zusammenschlusskontrolle soll das Entstehen von Marktmacht durch externes Unternehmenswachstum verhindern, während die Missbrauchsaufsicht die Ausnutzung von trotzdem entstandener Marktmacht (bspw. durch internes Wachstum) sanktionieren soll. Es wäre daher prinzipiell in der Logik der Wettbewerbsregeln, wenn die Ergänzung der Missbrauchskontrolle um ÜMÜB einherginge mit einer entsprechende Ergänzung in der Zusammenschlusskontrolle, so dass die Missbrauchsaufsicht die Ausnutzung von ÜMÜB sanktioniert, während die Zusammenschlusskontrolle die Entstehung von ÜMÜB durch externes Unternehmenswachstum verhindert. Eine solche Ergänzung der Zusammenschlusskontrolle, also die Entstehung oder Verstärkung von ÜMÜB als zweites Regelbeispiel für das Verbotskriterium „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ (§ 36 (1) GWB), fehlt im Vorschlag zur 10. GWB Novelle allerdings. Eine Ergänzung des überwiegend horizontal wirkenden ersten Regelbeispiels (Marktbeherrschung) um ein insbesondere auf vertikale und konglomerate Effekte ausgerichtetes zweites Regelbeispiel (ÜMÜB) wäre aus (daten-)ökonomischer Sicht zu begrüßen (Salop 2018; Stöhr et al. 2020) und würde zudem auch eine (Re‑) Harmonisierung der Ex-Post- und Ex-Ante-Regelungen innerhalb des GWB bedeuten. Als erfreulicher Nebeneffekt könnte die Relevanz einer exakten Marktabgrenzung abnehmen – wie es von führenden Ökonomen schon lange gefordert wird (Farrell & Shapiro 2010; Kaplow 2011, 2015) – und damit verhindert werden, dass Fälle scheitern, bei denen antikompetitive Effekte ökonomisch nachgewiesen wurden, aber bei denen die juristische Exaktheit der Marktabgrenzung Entscheidungen zu Fall gebracht hat (bspw. Tetra Laval/Sidel; Oracle/PeopleSoft). Mit ÜMÜB wäre es nicht mehr so bedeutend, ob ein Zusammenschluss horizontal (wenn also bspw. Getränkeverpackungen einen Markt bilden) oder konglomerat (wenn also bspw. Glas‑, Karton- und PET-Getränkeverpackungen jeweils einen eigenen Markt bilden) ist; in letzterem Fall würde dann ÜMÜB greifen. Möglicherweise könnte sich dies auch auf die Problematik des Common Ownership von Beteiligungsgesellschaften und Banken (Schwalbe 2020a) erstrecken, die zwar in einem dritten Wirtschaftszweig selbst keine marktbeherrschende Stellung einnehmen, denen durch ihre Tätigkeit und Verflechtung mit allen relevanten Wettbewerbern in diesem Wirtschaftszweig aber eine überragende marktübergreifende Bedeutung zukommen könnte.

Grundsätzlich ist zwar die Stärkung der Ex-Post-Verhaltenskontrolle im Sinne der Missbrauchsaufsicht angesichts vieler neuartiger Missbrauchsstrategien in der digitalisierten Wirtschaft zu begrüßen, sie sollte allerdings nicht mit einer Schwächung der Ex-Ante-Strukturkontrolle, also der Verhinderung marktmächtiger Positionen ohne Leistungswettbewerb, einhergehen. Letzteres stellt im vorliegenden Entwurf zur 10. GWB Novelle zwar nur eine leichte Tendenz dar, diese sollte aus ökonomischer Sicht aber auf keinen Fall verstärkt werden.

3.4 Harmonisierung der europäischen Wettbewerbsordnung?

In den letzten etwa 25 Jahren waren Reformen der deutschen Wettbewerbsordnung stark durch Harmonisierungsbestrebungen mit den europäischen Wettbewerbsregeln gekennzeichnet. Das europäische System der Wettbewerbsordnungen ist durch eine Zwei-Ebenen-Struktur gekennzeichnet, in welcher Fälle mit gemeinschaftsweiter Bedeutung (also solche, deren Effekte den primär Binnenmarkt der Europäischen Union bzw. des Europäischen Wirtschaftsraumes betreffen) von der Europäischen Kommission auf Basis des europäischen Wettbewerbsrechts behandelt werden, während Fälle, deren Wirkungen überwiegend in den Märkten einzelner Mitgliedstaaten durch die nationalen Wettbewerbsbehörden nach nationalem Wettbewerbsrecht entschieden werden (zur Entwicklung und zu Anreizen innerhalb dieses System siehe, inter alia, Budzinski und Christiansen 2005b). Die Fallallokation erfolgt dabei zum einen aufgrund komplexer Zuständigkeits- und Verweisungsregeln und zum anderen durch die behördliche Kooperation innerhalb des Europäischen Netzwerks der Wettbewerbsbehörden (European Competition Network, ECN) (Budzinski 2006, 2008, S. 121–134). In Deutschland wurden mit der 6., 7. und 8. GWB-Novelle (1998, 2005 und 2013) die materiellen Wettbewerbsregeln insbesondere der Kartellpolitik und der Zusammenschlusskontrolle umfassend und mit nur sehr wenigen Ausnahmen an die europäischen Regeln angepasst (Eisenkopf 1998; Van den Bergh und Camesasca 1998; Wagner-von Papp 2006; Schwalbe und Zimmer 2011; Bien 2013). Gleichzeitig erhielten die nationalen Wettbewerbsbehörden, wie in Deutschland das Bundeskartellamt, die Kompetenz, selbst und direkt die europäischen Wettbewerbsregeln anzuwenden, was die Eigenständigkeit und die Bedeutung der nationalen Wettbewerbsregeln weiter schwächte (Budzinski 2007). Die Harmonisierungsbestrebungen dienten dabei der Verbesserung der Kohärenz der europäischen Wettbewerbsordnung und trugen somit zu einem Ordnungsrahmen für einen vertieften Binnenmarkt in der EU bei.

Seit der 9. GWB-Novelle ist jedoch zu beobachten, dass die Reformen der deutschen Wettbewerbsregeln die Gemeinsamkeiten mit den europäischen Institutionen tendenziell wieder verringern und neue Unterschiede schaffen (Budzinski und Stöhr 2019a) – eine Entwicklung, welche mit der geplanten 10. GWB Novelle weiter verstärkt werden würde. Die Einführung einer ÜMÜB (s. Abschn. 2.4 und 3.2) und die erhebliche Ausweitung der Relevanz relativer Marktmacht (s. Abschn. 2.5 und 3.1 und 3.2) stellen Elemente dar, welcher der Europäischen Wettbewerbspolitik systemfremd sind – auch wenn sie aus ökonomischer Sicht grundsätzlich einen interessanten Weg zum Einfangen digitalökonomischer Besonderheiten darstellen. Dabei ist diese Entwicklung nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern eine ganze Reihe weiterer Mitgliedstaaten wollen den wahrgenommenen Wettbewerbsproblemen im Kontext der Digitalisierung der Wirtschaft mit nationalen Sonderregeln begegnen, wobei sich die Reformvorhaben in den verschiedenen Mitgliedstaaten trotz gemeinsamer Elemente voneinander unterscheiden (s. auch Abschn. 1). In Abwesenheit einer koordinierten Vorgehensweise, welche die europäische Ebene mit einschließt, droht damit ein Kaleidoskop neuer Regeln, welche die Kohärenz der europäischen Wettbewerbsordnung schwächen könnte. Eine Ursache für diese Entwicklung mag dabei auch darin liegen, dass die europäischen Wettbewerbsregeln – insbesondere auch jene der Missbrauchskontrolle – aufgrund ihrer Kodifizierung im grundlegenden Vertrag der Europäischen Union (Treaty of the Functioning of the European Union; hier insbesondere Art. 81 und 82 TFEU) nur mit erheblichem Aufwand und entsprechender Einigkeit der Mitgliedstaaten zu ändern sind. Mit einem „Öffnen“ des Gesamtpakets TFEU würde die Wettbewerbspolitik dann mutmaßlich auch in den Strudel anderer (und wettbewerbsfremder) politischer Interessen und Konfliktfelder geraten. Gleichzeitig sind die europäischen Wettbewerbsregeln vergleichsweise allgemein formuliert und eine Anpassung der Richtlinien zu ihrer Auslegung (der „Guidelines“ der Europäischen Kommission) wäre niederschwelliger möglich und würde die in den Mitgliedstaaten diskutierten Reformen womöglich auch hinreichend erfassen können. Mit anderen Worten, die objektiven Schwierigkeiten einer Änderung des EU-Vertrages erklären oder rechtfertigen die offenbar mangelnde europäische Koordination bei der Anpassung der Wettbewerbsregeln an die Digitalökonomie noch nicht.

Zudem ist zu hinterfragen, ob die europäische Wettbewerbspolitik nicht auch die geeignetere Ebene wäre, um den Herausforderungen der datenbasierten Digitalökonomie effektiv und effizient zu begegnen. Primäre Adressaten der verschärften Missbrauchskontrollregeln in dem Konzept der 10. GWB-Novelle sind ja internationale Digitalunternehmen (GAFA & Co), die naturgemäß nicht nur in den einzelnen Mitgliedstaaten aktiv sind, sondern deren (pro- und antikompetitives) Wettbewerbsverhalten den gesamten Binnenmarkt betrifft. In der Logik der vertikalen Kompetenz- und Fallallokation innerhalb des Europäischen Systems der Wettbewerbsordnungen wären die EU und die Europäische Kommission hier die geeignete Ebene, um zum einen hinreichend Durchsetzungsmacht aufzubieten (Effektivität der Wettbewerbspolitik)Footnote 5 und zum anderen multiple Fälle in mehreren Mitgliedstaaten zu den gleichen wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen der gleichen Unternehmen (Effizienz der Wettbewerbspolitik) zu vermeiden. Da auch auf der europäischen Ebene längst eine Diskussion um eine mögliche Anpassung der (Interpretation der) Wettbewerbsregeln an die digitalen Herausforderungen läuft (inter alia, Budzinski und Stöhr 2019a; Crémer et al. 2019), besteht ohne entsprechende Koordination der Ebenen innerhalb der EU die Gefahr, dass zeitlich nach der 10. GWB Novelle eine europäische Reform kommt. Diese kann dann wieder Anpassungen der nationalen Regelungen erfordert und damit einen neuerlichen Harmonisierungsprozess.

Die globale Dimension der Tätigkeit der GAFA und weiterer Digitalkonzerne sowie die länder- und kontinentalübergreifende Natur digitaler und datenbasierter Geschäftsmodelle und Wettbewerbsbeziehungen wirft ohnehin die Frage nach einer internationalen Wettbewerbspolitik auf (Budzinski 2020). Unabhängig von der weiteren Entwicklung physischer Wertschöpfungsketten (zwischen weiterer Globalisierung und möglichen Tendenzen partieller Deglobalisierung) ist ein Kern der Digitalwirtschaft die verringerte Bedeutung von Distanzen und damit auch die räumliche Ausweitung von Wettbewerbsbeziehungen und -effekten. Selbst der Europäische Wirtschaftsraum stellt dabei ein jurisdiktionelles Gebilde dar, was geographisch kleiner ist, als viele Marktbeziehungen und Wettbewerbseffekte, woraus Ineffizienzen und Ineffektivitäten einer nicht entsprechend internationalen Wettbewerbsordnung resultieren, wie interjurisdiktionelle Externalitäten, überhöhte Verfahrenskosten, Mängel in der Durchsetzbarkeit und weitere Probleme (Budzinski 2020). Vorschläge dazu, eine solche internationale Wettbewerbsordnung effektiv und effizient zu gestalten, ohne das bürokratische Monster einer supranationalen Wettbewerbsbehörde zu forcieren oder einem „one size fits all“-Ansatz das Wort zu reden, liegen vor (inter alia, Budzinski 2018, 2020) – und ihre Umsetzung dürfte angesichts fortschreitender Digitalisierung eine wachsende Relevanz erfahren.

4 Fazit

Der Referentenentwurf zu einer 10. GWB Novelle will die Wettbewerbsordnung weiter in Richtung eines geeigneten Ordnungsrahmens für die Digitalwirtschaft entwickeln. Hierzu wird basierend auf den Expertenempfehlungen vorgeschlagen, die Missbrauchsaufsicht zu verschärfen, im Wesentlichen durch drei Elemente:

(i):

Fälle absoluter Marktmacht: Ergänzung der Kriterien für das Vorliegen und die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung um spezifische Aspekte wettbewerbsrelevanter Daten in der Digitalökonomie.

(ii):

Fälle relativer Marktmacht: Ausweitung der Anwendbarkeit der existierenden Regeln gegen die missbräuchliche Ausnutzung relativer Marktmacht.

(iii):

Fälle systemischer Marktmacht: Schaffung eines neuen Marktmachtyps – die überragende marktübergreifende Stellung (ÜMÜB) – welcher den komplexen Strukturen digitaler Ökosysteme und der Rolle bestimmender Unternehmen in diesen Netzwerken gerecht werden soll.

Die Stoßrichtung dieser Reformbemühungen ist aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht insgesamt zu begrüßen, da die Besonderheiten datengetriebenen Märkte besser berücksichtigt werden (auch: Budzinski et al. 2020). Wesentliche Wettbewerbsprobleme mit erheblichen negativen Wohlfahrtsverlusten entstehen in der Digitalwirtschaft durch die Verhaltensweisen marktmächtiger Unternehmen, ohne dass diese im traditionellen Sinne über eine absolute Beherrschung eines klar abgrenzbaren Marktes verfügen. Die Ausweitung wettbewerbspolitischer Eingriffsmöglichkeiten gegenüber „nur“ relativen oder systemimmanenter Marktmacht bzw. ihrer antikompetitiven Ausnutzung erhöht zwar den Interventionsgrad der Wettbewerbspolitik, macht dies aber in einer den Charakteristika dieser Märkte adäquaten Weise.

Bei aller Notwendigkeit, das Schwert der Wettbewerbsbehörden zu schärfen, darf aber auch nicht übersehen werden, dass die profitablen Verwendungsmöglichkeiten digitalisierter Daten keinesfalls grundsätzlich wohlfahrtsschädlich sind, sondern ganz im Gegenteil erhebliche Wohlfahrtsgewinne für Konsumenten und Gesellschaft mit sich bringen. Daher ist immer auch zu prüfen, ob erweiterte Interventionsbefugnisse der Wettbewerbsbehörden nicht zu weit gehen und leistungswettbewerbliche Unternehmensstrategien einzuschränken drohen. Daher halten wir es für einen guten Weg, bspw. bei der Frage des Zugangs zu wettbewerbsrelevanten Daten marktmächtiger Konkurrenten stets die Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung der Zugangsverweigerung zu eröffnen, wie dies bei absoluter Marktmacht beispielhaft vorgesehen ist. Wichtig und aus ökonomischer Sicht sachadäquat ist dabei auch, dass die Beweislast dieser sachlichen Rechtfertigung bei den zugangsverweigernden Unternehmen liegt. Bedauerlicherweise fehlt diese Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung allerdings in den Fällen relativer Marktmacht und ÜMÜB. Insbesondere im schwächsten Fall „nur“ relativer Marktmacht besteht deswegen die Gefahr, einer zu weit reichenden Anwendung von Datenoffenlegungspflichten – oder zumindest der Anreiz dazu, dies seitens des datenschwächeren Unternehmens zu verlangen und damit Verfahrenskosten zu kreieren. Geschieht dies nur aus strategischen Gründen – um sich einen Vorteil zu verschaffen, weil man selbst im Leistungswettbewerb zurückgefallen ist, oder um das stärkere Unternehmen zu beschäftigen und seine Kräfte zu binden – so stellen die eventuell entstehenden Kosten gesellschaftliche Wohlfahrtsverluste dar.

Es ist allerdings auch zu bedenken, dass ein wettbewerbspolitischer Eingriff nicht nur das Feststellen einer marktmächtigen Position voraussetzt, sondern auch, dass die vom marktmächtigen Unternehmen angewendete Strategie diese Marktmacht missbräuchlich ausnutzt, mithin negative Wettbewerbswirkungen entstehen (Behinderungswettbewerb). Im Gegensatz zu einer Regulierung des Datenzugangs im Rahmen einer – politisch durchaus geforderten – Sektorregulierung bedingt dies eine verhaltensbezogene Einzelfallprüfung und stellt insgesamt den deutlich milderen Eingriff dar (ähnlich in anderem Kontext auch Franck 2020; Heimeshoff 2020). Daher sind die vorgeschlagenen Wettbewerbsregeln auch gegenüber einer Sektorregulierung der Digital- oder Datenökonomie oder spezieller Plattformen klar zu bevorzugen.

Bedenklicher ist aus unserer Sicht die schrittweise Verlagerung der wettbewerbspolitischen Eingriffskompetenzen von der Ex-Ante-Strukturkontrolle zu einer Ex-Post-Verhaltenskontrolle. Wenngleich die Stärkung der letzteren durch die Ausweitung der Missbrauchskontrolle grundsätzlich zu befürworten ist, so ist die Schwächung der ersteren durch eine Aufweichung der Zusammenschlusskontrolle kritisch zu sehen. Insbesondere das Ziel, Zusammenschlüsse im Bereich von KMUs zu vereinfachen, lässt sich aus ökonomischer Sicht nicht unterstützen, da auch Mittelständler marktmächtige Stellungen aller drei Arten einnehmen können. Die Diskussion um die jüngste Ministererlaubnis für den marktdominanten Zusammenschluss der global marktführenden Mittelständler MIBA und Zollern (Budzinski und Stöhr 2019b; Konrad 2020) verdeutlicht dies zum einen und zeigt zum anderen, dass das Bundeswirtschaftsministerium gegenwärtig dem Wettbewerbsschutz auf konzerngeprägten Plattformmärkten und mittelständisch geprägten Industriemärkten offenbar deutlich unterschiedliches Gewicht einräumt. Alternativ, aber ökonomisch nicht sinnvoller, könnte die Herkunft der Unternehmen diese unterschiedlichen Stoßrichtungen begründen, es mithin um eine National/European Champions-Strategie gehen, welche aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht klar abzulehnen wäre. Freilich muss an dieser Stelle betont werden, dass die tatsächlichen Vorschläge im Referentenentwurf bestenfalls einen kleinen Schritt in diese Richtung darstellen und die vorgeschlagene Anhebung der Umsatzschwellen eher keine wesentliche Schwächung des Wettbewerbs erwarten lässt. Unausgegoren erscheint vor allem das Konzept einer Aufforderungsregel, wonach die Wettbewerbsbehörde kritische Märkte identifizieren soll, um dann dort Unternehmen aufzufordern, alle weiteren Konzentrationen unabhängig von Aufgreifkriterien anzumelden und unter Genehmigungsvorbehalt zu stellen. Definitiv läuft dies der Idee einer Verringerung der Arbeitsbelastung des Bundeskartellamtes entgegen.Footnote 6

Aus unserer Sicht wäre es hingegen eine gute Idee, sowohl die Ex-Post-Verhaltenskontrolle als auch die Ex-Ante-Strukturkontrolle zu stärken. Hierzu würde eine konsequente Integration des ÜMÜB-Konzeptes auch in die Zusammenschlusskontrolle gehören, beispielsweise als zweites Regelbeispiel neben der (absoluten) Marktbeherrschung im Rahmen der Konkretisierung des allgemeinen Verbotskriteriums einer erheblichen Einschränkung des wirksamen Wettbewerbs (§ 36 (1) GWB) (Budzinski et al. 2020). Auch das Ausklammern weiterer Maßnahmen gegen sog. „Killer Acquisitions“ (inter alia, Caffarra et al. 2020; OECD 2020) ist nicht zwangsläufig überzeugend.

Schließlich ist noch die Frage aufzuwerfen, ob die nationalen Wettbewerbsregeln die adäquate institutionelle Ebene für einen Ordnungsrahmen für die (ja im Wesentlichen grenzüberschreitende) Digitalwirtschaft darstellt. Die europäische Ebene erscheint hier klar geeigneter – und sei es dort aus politischen Gründen auch eher auf der Ebene der Richtlinien. Jedenfalls gewinnt man bisher nicht den Eindruck eines konzertierten, gemeinsamen europäischen Vorgehens, was zu einer neuerlichen Divergenz der Wettbewerbsordnungen in der Europäischen Union führen und damit jahrzehntelange Harmonisierungsbestrebungen gefährden könnte. Aus ökonomischer Sicht würden die besonderen Wettbewerbsprobleme der Digitalökonomie es sogar rechtfertigen, die Frage nach einem globalen System der Wettbewerbsordnungen wieder zu stellen und zurück auf die Agenda zu bringen.