1 Berufs- und Laufbahnberatung – eine professionelle Praxis im Wandel

Berufs- und Laufbahnberatung wird im Folgenden in Anlehnung an Hirschi (2019, S. 740) verstanden als eine professionelle Praxis, die darauf abzielt, „Klienten bei der Konstruktion einer subjektiv bedeutungsvollen Identität zu unterstützen, ihre Selbstreflexion zu steigern und ihnen zu helfen, eine ihrer persönlichen Identität und Lebensgeschichte entsprechende Laufbahn zu gestalten“ (Hirschi 2019, S. 740). Als solche ist sie traditionell stark an ein bestimmtes räumliches Setting gebunden. „To me the counseling room is sacred“, formulierte Savickas (2006) einst prägnant. Das bedeutet nicht, dass Berufs- und Laufbahnberaterinnen und -berater nicht schon seit jeher auch außerhalb ihres Beratungsraums, z. B. in Schulen, Betrieben, bei Netzwerkpartnern oder auf Messen, beratend agieren. Medial erweiterte Arbeitskontexte sind für die professionelle Berufs- und Laufbahnberatung alles andere als neu (Cedefop 2018). Dennoch dürfte der geschlossene Beratungsraum, der vielfach mit Bedacht gestaltet, liebevoll gepflegt und bei inner-organisatorischen Verteilungskämpfen vehement verteidigt wird, für viele Praktikerinnen und Praktiker ein zentrales Element ihrer professionellen Identität und eine Art professionelle Heimat darstellen.

Die Covid-19-Pandemie stellte für Berufs- und Laufbahnberatung weltweit eine gravierende Zäsur dar, insbesondere im Hinblick auf die „modes of career guidance delivery“ (Cedefop 2020, S. 50). Beratungen wurden aufgrund der Kontaktverbote im Lockdown von einem Tag auf den anderen aus ihrer angestammten Lokalität verdrängt und mussten auf andere Weise angeboten werden. Die traditionellen räumlichen Grenzen der Beratung wurden verschoben und vermischten sich mit anderen Settings.

Oft ging das einher mit starker Mediatisierung der Beratungsräume, verstanden als

„technological communication media that saturate more and more social domains which are drastically transforming at the same time. […] mediatization refers to the relationship between the transformation of media and communication on the one hand and culture and society on the other“ (Hepp 2020, S. 3).

Die Einführung der Videoberatung in der Berufs- und Karriereberatung (Rübner 2022, Stanik 2023) und in der Bundesagentur für Arbeit (Rübner und Pintschka-Vögeli 2022) wäre ohne die Pandemie nicht oder nicht in demselben Tempo denkbar gewesen. Beratungsräume wurden technisch erheblich aufgerüstet und Beraterinnen und Berater standen plötzlich vor der Herausforderung, neben ihrem mediatisierten physischen Beratungsraum neue virtuelle Räume zu erschließen, zu kontrollieren und sinnvoll miteinander zu verzahnen (Mocigemba et al. 2023, S. 33). Aber die räumliche Verschiebung der Beratung vollzog sich nicht nur von physischen in virtuelle (Videoberatung) oder auditive (Telefonberatung) Kommunikationsräume. Auch andere physische Räume wurden, z. B. bei Walk’n Talks im Park (Kacor 2016) oder Beratung an öffentlichen Plätzen und in zentral gelegenen Institutionen verstärkt (wieder-)entdeckt. Die im Folgenden beschriebenen Veränderungen von Beratungspraxis sind nicht rein technologisch begründet.

Auch wenn sich seit dem Ende der Pandemie und der Lockdowns Beratung wieder stark zurück in den traditionellen Beratungsraum orientiert, bleiben die neuen Räume weiterhin verfügbar und stellen für viele Beraterinnen und Berater eine geschätzte Repertoire-Erweiterung dar. Dabei machen Beraterinnen und Berater die Erfahrung, dass räumliche Setting-Änderungen oft weitere Veränderungen nach sich ziehen: Videoberatung, Videozuschaltung in Face-to-Face-Gesprächen oder die Durchführung von Walk and Talks haben andere Zeitlichkeiten als traditionelle Beratungsgespräche. Sie variieren in der Geschwindigkeit, in der Dauer, in der erforderlichen Flexibilität der Terminfindung oder in der Frequenz zwischen Terminen. Auch neue soziale Settings in der Beratung werden möglich: Dritte können flexibler zugeschaltet, neue Formen der Peerberatung praktiziert werden (Klier et al. 2019). Institutionelle Grenzen zwischen Beratungseinrichtungen verwischen, wenn Beraterinnen und Berater aus anderen Abteilungen oder Organisationen zugeschaltet oder Beratungsangebote an öffentlichen Orten gemeinsam gestaltet werden. Bakke et al. (2018) nutzen für diese neuen, kollaborativen, mediatisierten Praktiken in der Berufs- und Laufbahnberatung jenseits klassischer Informationsvermittlung den Begriff des „Co-Careering“.

Der vorliegende Beitrag konzeptualisiert in einem ersten Schritt diese multiplen Verschiebungen der Settinggrenzen traditioneller Beratungspraxis unter dem Begriff der „Hybridisierung“. Dabei wird theoretisch Bezug genommen auf ein bildungswissenschaftliches Verständnis von Hybrid Learning nach Gil et al. (2022). Diese interpretieren Hybridisierung als ein kontinuierliches „blurring the boundaries“ auf einzelnen oder mehreren Ebenen. Das Modell wurde aus zwei Gründen als theoretische Basis dieser Studie gewählt: 1. Es besticht durch seine Einfachheit; die Reduktion auf vier Dimensionen von Hybridisierung ermöglicht sowohl eine gute Nachvollziehbarkeit als auch eine praktikable Operationalisierung. 2. Es erlaubt außerdem Generalisierungen und Vergleichbarkeit, indem es Hybridisierung von Beratung nicht aus dem Gegenstand heraus definiert (z. B. Anforderungen der Klientinnen und Klienten und deren sich wandelnder Lebensumstände an Beratung), sondern in Tradition der Mediatisierungsforschung Berufs- und Laufbahnberatung als eine soziale Domäne oder Praxis von außen beschreibt und vergleichbar zu anderen Praktiken erklärt, inwiefern sich deren Setting-Grenzen verschieben.

In einem zweiten Schritt wird auf Basis einer Umfrage unter 237 Berufsberaterinnen und Beratern der Bundesagentur für Arbeit in Bayern empirisch dargelegt, wie diese die Hybridisierung ihrer Beratungspraxis seit der Pandemie erlebt haben, welche weiteren Veränderungen sie künftig erwarten und wie sie diese bewerten.

2 „Hybrid“ und „Hybridisierung“ in Bezug auf Bildung und Beratung

Wenn im Folgenden von „hybrid“ und „Hybridisierung“ in Bezug auf Beratung und Beratungssettings die Rede ist, so muss zunächst theoretisch geklärt werden, was mit diesen Begriffen gemeint ist. Die folgende Argumentation leitet den Begriff aus einer bildungswissenschaftlichen Tradition rund um die Konzepte von Hybrid Learning oder hybrider Lehre her.

Diese hatten während der Pandemie in vielen Bildungsinstitutionen weltweit Konjunktur. Etymologisch leitet sich der Begriff „hybrid“ vom lateinischen hibrida ab. Das bedeutet „Mischling“ und verweist auf Mischformen analoger und digitaler Lehr- und Lernsettings und vor allem Lehr- und Lernorte. Es handelt sich dabei nicht um ein gänzlich neues Konzept. Eine Analyse bei Google Trends (Abb. 1) zeigt, dass auch Jahre vor der Pandemie weltweit sehr kontinuierlich nach dem Begriff „Hybrid Learning“ gesucht wurde. Mit Beginn der Pandemie nahmen die Suchanfragen etwa um Faktor 10 zu, um dann nach und nach wieder abzuklingen und sich seither auf dem drei- bis vierfachen Niveau im Vergleich zu vor der Pandemie einzupendeln.

Abb. 1
figure 1

Weltweite Suchanfragen (% zum höchsten Wert) des Begriffs hybrid learning zwischen Juli 2018 und Juli 2023 mit Höhepunkt im Sommer 2020. (Quelle: Google Trends, abgerufen am 19.07.2023; verweist auf eine von Google nicht näher spezifizierte Änderung des Trends-Algorithmus zu Beginn des Jahres 2022)

Eyal und Gil (2022) haben auf Basis einer umfangreichen Literaturanalyse drei unterschiedlich weitreichende Verständnisse von Hybrid Learning im bildungswissenschaftlichen Diskurs identifiziert (a) „hybrid as blended“, (b) „hybrid as merging interactions“ und (c) „hybrid as fluid“. Diesen ist gemein, dass sie Hybrid Learning als ein „blurring the boundaries“ Gil et al. (2022, S. 29), eine kontinuierliche Verschiebung und Neudefinition traditioneller Grenzen von Lehr- und Lernsettings beschreiben. Unterschiede zwischen den drei Verständnissen liegen darin, auf welchen Dimensionen sich diese Verschiebungen vollziehen und wie weitreichend und disruptiv die Konsequenzen dieser Verschiebung sind.

Im Folgenden werden diese drei Verständnisse skizziert und in etwas vereinfachter Form auf Berufs- und Laufbahnberatung übertragen. Auch wird eine begriffliche Abgrenzung zum Konzept des blended counseling vorgeschlagen, das eine systematische, fundierte und passgenaue Kombination analoger und digitaler Elemente im Beratungsprozess (Hörmann et al. 2019, S. 24) und die Vermischung von „Online-Interventionen mit Offline-Angeboten“ (Eichenberg und Kühne 2014, S. 210) bezeichnet oder Beratungsprozesse charakterisiert, die „medial über verschiedene Kommunikationskanäle realisiert werden“ (Engelhardt 2018, S. 127).

2.1 „Hybrid as Blended“ – Verschiebungen räumlicher und zeitlicher Settinggrenzen

Der Begriff Hybrid Learning wird häufig schlicht als Synonym für blended learning verwendet, womit die Integration digitaler Medien und neuer Kommunikationskanäle in traditionelle Lehr- und Lernprozesse und somit Zwischenformen physisch verorteten Präsenzlernens und online-basierten E‑Learnings bezeichnet sind. Olapiriyakul und Scher (2006, S. 288) konstatieren: „these two terms blended learning and hybrid learning are used alternatively but refer to the same concept.“

Eyal und Gil (2022) setzen die Begriffe „hybrid“ und „blended“ dann gleich, wenn damit vornehmlich eine Verschiebung der räumlichen und zeitlichen Dimension traditioneller Lernprozesse bezeichnet wird: „So far, hybrid and blended, when used synonymously, have focused on the place- and time-dimensions of learning.“ (Eyal und Gil 2022, S. 14).

In Anlehnung an Christensen et al. (2008) sehen sie in „hybrid as blended“ ein Verständnis von Lehre mit wenig disruptivem Potenzial, das traditionelle Lehre ergänzt, erweitert und neu organisiert aber nicht grundlegend neu denkt. Dieser Gedanke soll im Folgenden als Unterscheidungsmerkmal zwischen hybrid und blended auch in Bezug auf Beratung herangezogen werden: Während blended auf die Anreicherung einer bestehenden und im Kern zu bewahrenden Praxis (Lehre oder Beratung) abzielt, beinhaltet hybrid stärker die disruptive, diese Praxis erweiternde, verändernde, verflüssigende Wirkung räumlicher und zeitlicher Settingverschiebungen.

Als zweites Unterscheidungsmerkmal von hybrid zu blended soll im Folgenden verstanden werden, dass Settinggrenzen jenseits der räumlichen und zeitlichen auch auf anderen Dimensionen verschoben werden, auf die die beiden weiterreichenden von Eyal und Gil aus der Literatur extrahierten Verständnisse von hybrid learning abzielen.

2.2 „Hybrid as Merging Interactions“ – Verschiebung sozialer Setting-Grenzen

Ein über hybrid as blended hinausgehendes Verständnis von Hybrid Learning, das sie als „merging interactions“ bezeichnen, sehen Eyal und Gil (2022) erreicht, wenn jenseits räumlicher und zeitlicher auch soziale Grenzen des Lernsettings verschoben werden: „A state of constantly being connected adds a social dimension to the learning experience.“ (Eyal und Gil 2022, S. 16). Hier rücken neue Arten der Interaktion und Beziehung sowohl zwischen Lernenden untereinander als auch zwischen Lernenden und Lehrenden in den Blick. Traditionelle Rollenverteilungen des Lehrens und Lernens werden dadurch herausgefordert, neue Kommunikationsebenen (z. B. paralleler informeller Austausch zwischen Lernenden auf Messenger-Diensten, Direktmessages von Lehrenden an einzelne Lernende zur individuellen Förderung, Einbindung von Personen außerhalb der Lerngruppe via Social Media) in den Lernprozess eingezogen und Lernende stärker in Verantwortung für die Gestaltung ihres eigenen Lernprozesses gebracht. Flexible, neue soziale Settings werden initiiert, traditionelle Lerngruppen dadurch in Frage gestellt oder aufgelöst.

Eyal und Gil betonen das erhöhte disruptive Potenzial, das mit diesem Verständnis von Hybrid Learning verbunden ist: „Metaphorically, hybridity might be moving away from the concept of ‚mixture‘ towards that of a ‚compound‘. In a compound, the materials do not contain their initial properties, but rather blend with each other, forming a new material with properties different from the properties of each constituent material“ (2022, S. 16).

2.3 „Hybrid as Fluid“ – Verschiebung formaler, institutioneller und weiterer Settinggrenzen

Das am weitesten gehende Verständnis von hybrid learning mit dem höchsten disruptiven Potenzial bezeichnen Eyal und Gil als „hybrid as fluid“. Hier werden Grenzen nicht innerhalb von Bildungseinrichtungen, sondern durch die Lernenden selbst über Bildungseinrichtungen hinaus verschoben.

Es wird eine bewusste Vermischung von Lernprozessen in festen curricularen und institutionellen Gefügen mit Lernen außerhalb dieser Gefüge ermöglicht: „The choice is the result of individual motivation and is not dictated by institutions or prescribed rules. True choice is possible only when there are no boundaries, or more precisely, when boundaries are blurred.“ (Eyal und Gil 2022, S. 19). Neben räumlichen, zeitlichen und sozialen Rahmenbedingungen des Lernens werden hier auch formales und informelles Lernen, also Lernen in Bildungseinrichtungen oder festen Curricula und in alltäglichen Lebenswelten sowie die institutionelle Anbindung von Lehr- und Lernprozessen bewusst vermischt und verwischt.

In diesem radikalsten von Eyal und Gil aus der Literatur extrahierten Verständnis wird Hybrid Learning interpretiert als eine alle etablierten Traditionen und Strukturen des Bildungswesens verflüssigende (hybrid as fluid) disruptive Kraft. Mit Verweis auf Köppe et al. (2017, S. 1) beschreiben Eyal und Gil „Hybrid Education“ in diesem Sinn als: „the use of educational patterns that actively strike to cut across, circumvent, upheave traditional dichotomies within education such as physical-digital, academic-nonacademic, online-offline, formal-informal, learning-teaching and individual-collective. In doing so, hybrid education invites uncertainty, open-endedness, risk-taking, experimentation, critical creativity, disruption, dialogue and democracy into the heart of education.“ (Eyal und Gil 2022, S. 18).

2.4 Theoretische Verdichtung und Transfer auf Berufs- und Laufbahnberatung

Die oben dargestellten theoretisch-konzeptionellen Überlegungen von Eyal und Gil (2022) zu den Begriffen Hybrid Learning und Hybridisierung werden im Folgenden zusammengefasst und auf (Berufs- und Laufbahn‑)Beratung übertragen:

  • Unter hybrider Beratung wird im Folgenden eine Beratungspraxis verstanden, die eine kontinuierliche Verschiebungen ihrer traditionellen Settinggrenzen einkalkuliert und dabei eine Vermischung mit anderen professionellen Praktiken und Settings insbesondere auf räumlicher, zeitlicher, sozialer und institutioneller Ebene forciert.

  • Hybridisierung der Beratung bezeichnet die initiierten Maßnahmen (z. B. Einführung der Videoberatung, Re-organisation der Zeitstruktur von Beratung, Kooperation und Verweispraxis zwischen Netzwerkpartnerinnen und Netzwerkpartnern) und den Prozess der Verschiebung dieser Settinggrenzen. Die zu Beginn des Textes genannten Beispiele für den Wandel in der Berufs- und Laufbahnberatung während und nach der Pandemie und den Lockdowns sind Hinweise für Hybridisierung professioneller Praxis in der Berufs- und Laufbahnberatung.

  • Eine solche Hybridisierung kann durch externe Ereignisse, durch organisationale Veränderungen innerhalb einer Beratungsinstitution, aber auch durch professionelles Handeln einzelner Praktikerinnen und Praktiker befördert werden.

  • Mediatisierung ist ein wichtiger Motor der Hybridisierung von Beratung. Nicht jede Hybridisierung von Beratung ist jedoch durch Mediatisierung initiiert.

  • Hybridisierung bezeichnet die Verschiebung traditioneller Settinggrenzen der Beratung auf unterschiedlichen Dimensionen und die Vermischung der Beratung mit anderen professionellen Settings. Die im Anschluss präsentierte empirische Untersuchung zur Beschreibung der Hybridisierung der Berufsberatung fokussiert auf folgende vier Dimensionen:

    1. a)

      Räumlich: Vermischung der Beratungsorte mit Lernorten von Schülerinnen, Schülern und Studierenden, Arbeitsorten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Lebensorten (Homeoffice) von Beraterinnen und Beratern, Verschiebung der Beratung in virtuelle oder öffentliche Räume etc.

    2. b)

      Zeitlich: Veränderung von Beratungszeiten, z. B. saisonale und tageszeitliche Verschiebungen, flexiblere Terminierungen, Frequenzen, Dauer und Geschwindigkeiten von Beratungsgesprächen sowie Vermischung von klassischen Arbeitszeiten und Freizeiten der Beraterinnen und Berater sowie von Klientinnen und Klienten.

    3. c)

      Sozial: Vermischung der sozialen Akteurs-Konstellationen der Beratung durch (temporäre) Involvierung Dritter (Eltern, Partnerinnen und Partner, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen, Übersetzerinnen und Übersetzer etc.) in den Beratungsprozess oder durch neue Formen von Gruppen- und Peerberatung.

    4. d)

      Institutionell: Vermischung der institutionellen Grenzen der Beratung und ggf. Wahrnehmbarkeit der institutionellen Zugehörigkeit der Beraterinnen und Berater durch Klientinnen und Klienten, z. B. durch intensivierte Kooperation der Beraterinnen und Berater verschiedener Beratungseinrichtungen, optimierter Verweispraktiken oder kooperativer und integrierter Beratungsarbeit.

  • In Abgrenzung zum etablierteren Konzept des blended counseling betont hybride Beratung stärker das mit den Verschiebungen der Settinggrenzen verbundene disruptive Potenzial. Hybridisierung der Beratung verweist auf die Erweiterung, Veränderung und potenziell Auflösung bestehender professioneller Praxis und ihre Vermischung mit anderen Praktiken und Rollen (z. B. (Hochschul‑)Lehrerinnen und Lehrer, Coaches, Lebensberaterinnen und -berater, aufgesuchte Expertinnen und Experten etc.). Blended Counseling fokussiert stärker auf die Anreicherung etablierter und im Kern zu erhaltener professioneller Beratungspraxis durch digitale Medien.

3 Studie zu erlebten und erwarteten Hybridisierungstendenzen in Beratungssettings und deren Bewertung

Die bisherigen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu einer Hybridisierung von Berufs- und Laufbahnberatung im Sinne einer Veränderung oder Verschiebung der Grenzen von Beratungssettings auf verschiedenen Ebenen haben für sich heuristischen Wert: Sie helfen den Wandel professioneller Beratungspraxis zu beschrieben, geben Hinweise zu dessen Gestaltung und erklären Effekte und Nebenwirkungen.

3.1 Forschungsfragen, Datenerhebung, Stichprobe und Operationalisierung von Hybridisierungstendenzen

Doch wie haben Beraterinnen und Berater diesen Wandel ihrer Berufspraxis seit der Pandemie erlebt? Welche weiteren Veränderungen erwarten sie in der näheren Zukunft? Und wie bewerten sie diesen Wandel?

Zur empirischen Beantwortung dieser drei Forschungsfragen wurde im März 2023 (07.03.2023 bis 21.03.2023) eine Umfrage unter Bayerischen Berufsberaterinnen und -beratern der Bundesagentur für Arbeit (BA) realisiert. Bevor diese vorgestellt wird, sollen die drei darin untersuchten Beratungssettings (a) der Berufsberatung vor dem Erwerbsleben (BBvE), (b) der Berufsberatung im Erwerbsleben (BBiE) und (c) der Beratung zur beruflichen Rehabilitation und Teilhabe (Reha) vorgestellt werden:

Alle drei Formate wurden unter dem Begriff der Lebensbegleitenden Berufsberatung (LBB) als Reaktion auf die EU-Resolutionen zu Lifelong Guidance (re-)konzipiert und werden kontinuierlich angepasst. Sie unterscheiden sich vor allem in Bezug auf ihre Zielgruppe: BBvE unterstützt „junge Menschen [..] bei ihrer Berufs- und Studienwahl“ (BA 2021, S. 6), BBiE „Menschen in allen Phasen ihres Erwerbslebens“ (ebd., S. 10), Reha-Beratung Menschen mit Behinderung. Alle drei Formate sind präventiv, leicht, zugänglich, vielfältig, klischeefrei, geschlechtersensibel, prozessual und fachwissenschaftlich fundiert und finden ihre Legitimation im SGB III. Für die hier interessierende Fragestellung ist wichtig, dass von institutioneller Seite eine Hybridisierung im oben definierten Sinn für alle drei Formate und auf verschiedenen Ebenen konzeptionell angestrebt und gezielt forciert wird: Neben der persönlichen Einzelberatung umfasst die LBB sehr explizit die Telefon- und Videoberatung (ebd., S. 5), eine intensive Mediatisierung der Beratung mit zielgenauen berufsorientierenden Medien (ebd., S. 8), diverse berufsorientierende Veranstaltungen außerhalb der Beratungseinrichtung (ebd. S. 5) und verschiedene Ansätzen der Vernetzung mit anderen Beratungseinrichtungen (ebd., S. 10f). Die folgende Studie zeichnet nach, inwieweit diese institutionell angestrebten Hybridisierungstendenzen sich in der Beratungspraxis bereits niederschlagen und wie sie bewertet werden.

Datenerhebung

Über die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit Bayern (RD BY) wurden alle Berufsberaterinnen und -berater des Bundeslandes (N = 894) zur Teilnahme an der mit socialsurvey umgesetzten, vorwiegend standardisierten Online-Befragung eingeladen. Die eingeladenen Beraterinnen und Berater gehörten innerhalb der BA den Teams: (a) BBvE, (b) BBiE und (c) Reha an. Insgesamt konnte eine Stichprobe von n = 237 vollständig und plausibel ausgefüllter Datensätze realisiert werden, was einer Rücklaufquote von 26,5 % entspricht, wobei Reha-Beraterinnen und Berater minimal unter- und beide anderen Gruppen minimal überrepräsentiert sind, wie Tab. 1 zeigt.

Tab. 1 Rücklaufquote der Befragung für die Gesamtstichprobe und die drei einzelnen Teams von Berufsberaterinnen und Beratern

Stichprobe

Die Umfrage-Teilnehmenden waren vorwiegend weiblich (w = 63,7 %, m = 36,3 %), zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 25 und 65 Jahren alt (M = 45,4; Mdn = 44) und verfügten über beraterische Berufserfahrung zwischen einem und 38 Jahren (M = 10,3; Mdn = 7). Die überwiegende Mehrheit (72,6 %) der Befragten gab als höchsten formalen Bildungsabschluss einen Studienabschluss an, weitere 12,3 % verfügten über eine allgemeine Hochschulreife oder Fachhochschulreife, 15,2 % über einen mittleren Schulabschluss. Im Vergleich der drei Gruppen von Beratenden wich lediglich die kleinste Gruppe der BBiE-Beraterinnen und Berater stärker von den Verteilungen der Gesamtstichprobe ab. Diese waren im Schnitt jünger (M = 39; Mdn = 38) und verfügten über weniger Berufserfahrung (M = 2,5; Mdn = 2,3). Außerdem gaben die befragten BBiE-Beraterinnen und Berater als höchsten formalen Bildungsabschluss seltener ein Studium (62,5 %) und häufiger einen mittleren Schulabschluss (25 %) an.

Operationalisierung erlebter und erwarteter Hybridisierungstendenzen und deren Bewertung

Hybridisierungstendenzen in der Beratung wurden auf Basis der oben präsentierten theoretischen Überlegungen auf den genannten vier Dimensionen (räumliche, zeitliche, soziale und institutionelle Verschiebungen der Beratungssettings) mit insgesamt 20 Items (je Dimension fünf Items) operationalisiert. Dabei wurde je ein Item eher allgemein formuliert (Item 5, 10, 15 und 20), während vier Items sich auf konkretere Veränderungen innerhalb dieser Dimension beziehen.

Die Items wurden je dreimal randomisiert präsentiert, wobei sie von den Befragten zunächst in Bezug auf wahrgenommene Veränderungen seit der Pandemie (Fragestellung 1: Welche Veränderungen Ihrer Beratungspraxis haben Sie seit der Covid-19-Pandemie erlebt?), in Bezug auf erwartete Veränderungen in der näheren Zukunft (Fragestellung 2: Welche Veränderungen erwarten Sie künftig in Ihrer Beratungspraxis?) und Bezug auf eine professionelle Bewertung (Fragestellung 3: Wie bewerten Sie als professionell Beratende diese Veränderungen?) jeweils auf einer fünfstufigen Likert-Skala („stimme ganz und gar nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“ bzw. „begrüße ich ganz und gar nicht“ bis „begrüße ich voll und ganz“) bewertet wurden. Dabei wurden die Itemformulierungen minimal variiert, um zur jeweiligen Fragestellung (z. B. in der Zeitform) zu passen. Die internen Konsistenzen sind durchweg als gut bis akzeptabel zu bewerten, was eine Aggregation der jeweils fünf Items pro Dimension rechtfertigt, auf deren Basis einige der folgenden Auswertungen basieren (Tab. 2).

Tab. 2 Erlebte und erwartete Hybridisierungstendenzen in Beratungssettings und deren Bewertung für alle 20 Items und aggregiert für alle vier Dimensionen

Offene Fragen zur qualitativen Diskussion der Befunde

Die Umfrage umfasste abschließend nach den soziodemografischen Fragen und den Items zu erlebten und erwarteten Hybridisierungstendenzen in der Beratung und deren Bewertung noch drei offene Fragen zu (a) der stärksten positiv erlebten Veränderung seit der Pandemie, (b) der stärksten negativen Änderung und (c) der für die nahe Zukunft größten erwarteten Veränderung in der Beratung.

3.2 Ergebnisse

Zunächst werden Hybridisierungstendenzen auf Basis deskriptiver Auswertungen der Einzelitems berichtet. Anschließend werden die drei Fragestellungen, die drei Beratungsgruppen (BBvE, BBiE und Reha) sowie die vier Hybridisierungsdimensionen in aggregierter Form auf Basis von Mittelwertunterschiedenen berichtet:

3.2.1 Deskriptive Analyse der Hybridisierungstendenzen auf Ebene der Einzelitems

Eine deskriptive Analyse auf Ebene der Einzelitems zeigt, dass die Werte vielfach eng um den Skalenmittelpunkt streuen. Einzelne Items stechen jedoch hervor:

Erlebte Hybridisierung (Fragestellung 1)

In Bezug auf erlebte Hybridisierung seit der Pandemie fallen vor allem die Flexibilisierung der Beratungszeiten (Item 6) und die gewonnene Freiheit in Hinsicht auf die zeitliche Gestaltung (Item 8) von Beratungen auf. Bemerkenswert niedrige Werte erhalten vor allem Items, bei denen der Verlust wichtiger Standards professioneller Beratungspraxis angesprochen sind, z. B. der geschlossene Beratungsraum (Item 4), die individuelle Begegnung zwischen Beratenden und Klientinnen und Klienten (Item 13) oder die institutionelle Zugehörigkeit und Identität (18). Erweiterungen des sozialen Beratungssettings um Dritte (Items 11 und 13) und die Zunahme von Gruppenberatungen (Item 14) haben offenbar nur wenig Befragte erlebt.

Erwartete Hybridisierung (Fragestellung 2)

In Bezug auf die künftig erwartete Hybridisierung ihrer Beratungspraxis zeigt sich, dass die Befragten sich für die Zukunft am ehesten räumliche und zeitliche Veränderungen ihrer Beratungssettings vorstellen und soziale und institutionelle Veränderungen für eher unwahrscheinlich halten. Auffällig ist auch, dass die jeweils generisch formulierten Aussagen (Items 5, 10, 15 und 20) zumeist höhere Zustimmung erfahren als die konkret formulierten Items, was als eine allgemeine Veränderungserwartung oder ein Bewusstsein für anstehende Transformationen interpretiert werden kann.

Bewertung der Hybridisierung (Fragestellung 3)

Auffällig sind die fast durchweg erhöhten Werte in Bezug auf die Bewertung der Hybridisierung. Neben einem Bewusstsein über anstehende Veränderungen drückt sich hier eine tendenzielle Bejahung vieler dieser Veränderungen aus. Auch hier erhalten die allgemein formulierten Items durchweg hohe Werte, was als generelle Veränderungsbereitschaft interpretiert werden kann. Ansonsten werden vor allem die Mediatisierung des Beratungsraums (Item 2), die flexibilisierten Arbeitszeiten (Item 6), die Freiheiten bei der zeitlichen Gestaltung und Taktung der Beratungen (Item 7), flexible Frequenzen zwischen Beratungssitzungen (Item 9), die Kooperation mit Beraterinnen, Beratern und Akteuren anderer Einrichtungen (Item 16) und eine Stärkung von Intervision und Supervision (Item 17) befürwortet.

3.2.2 Unterschiede zwischen den drei Fragestellungen und den drei Beratungsgruppen

Mittelwertunterschiede zwischen den drei Fragestellungen

Aggregiert man jeweils die fünf Einzelitems der vier Dimensionen für alle drei Fragestellungen, fällt zunächst auf, dass die künftig erwartete Veränderung auf allen Dimensionen die bereits erlebte Veränderung durchweg überschreitet. Wie auf Ebene der Einzelitems deutet dies auf ein generelles Bewusstsein der Befragten für anstehende Veränderungen ihrer Beratungssettings hin. Auffallend ist, dass nur die räumliche und zeitliche Dimension hierbei auf oder über dem Skalenmittelpunkt (M > 3) liegen. Hier waren Verschiebungen für die Befragten seit der Pandemie offenbar bereits erfahrbar und weitere Veränderungen werden erwartet.

Unabhängig vom Bewusstsein über anstehende Veränderungen, die möglicherweise schlicht ein Zeitgeist-Klischee (i. S. v. „Die Megatrends unserer Zeit werden auch Beratungspraxis verändern.“) abbilden, ist vor allem die durchweg positive Bewertung (M > 3) der Befragten zu diesen Veränderungen bemerkenswert. Dabei werden zeitliche Verschiebungen (M = 3,7) im Beratungssetting stärker gutgeheißen als institutionelle, (M = 3,52) räumliche (M = 3,43) und soziale (M = 3,20). Auf allen fünf Dimensionen sind die Mittelwertunterschiede zwischen der erwarteten Hybridisierung und deren Bewertung in t-Tests für eine Stichprobe signifikant.

Mittelwertunterschiede zwischen den drei Beratungsgruppen (BBvE, BBiE, Reha)

Besonders interessant ist ein Vergleich der drei Gruppen der Beraterinnen und Berater vor dem Erwerbsleben (BBvE), Beraterinnen und Berater im Erwerbsleben (BBiE) und der Reha-Beraterinnen und Berater (Reha) auf allen vier Dimensionen über die drei Fragestellungen hinweg. Für die räumliche und zeitliche Ebene zeigt sich hier ein klares Muster: BBiE hat Hybridisierung am stärksten erlebt, erwartet die stärksten Veränderungen und bewertet diese am positivsten. Reha-Beraterinnen und Berater haben am wenigsten Hybridisierung erlebt, erwarten am wenigsten und befürworten Veränderungen am wenigsten.

Für die anderen beiden Dimensionen unterschieden sich die Gruppen nicht wesentlich. Lediglich auf der sozialen Dimension berichten die Reha-Beraterinnen und Berater von einer signifikanten Steigerung im Vergleich zu den BBvE-Beratenden, d. h. dass sie seit der Pandemie stärker als die Kolleginnen und Kollegen in Beratungssettings mit Dritten gearbeitet haben.

3.2.3 Demografische Unterschiede bei der Bewertung der Hybridisierungstendenzen

Alter

Dichotomisiert man das Alter am Mittelwert (45 Jahre) zeigt sich, dass jüngere Beraterinnen und Berater (< 45 Jahre) gegenüber den älteren Kolleginnen und Kollegen (≥ 45 Jahre) durchweg minimal höhere Werte aufweisen. Sie haben seit der Pandemie offenbar auf allen vier Ebenen mehr Veränderungen ihrer Beratungssettings erlebt, aufgesucht oder hergestellt, erwarten diese künftig eher und bewerten sie positiver. Auffällig dabei ist, dass diese Unterschiede im Mittelwertvergleich nur auf zwei Dimensionen signifikant sind: Jüngere Beraterinnen und Berater (M = 3,63) haben durchweg höhere Werte auf der institutionellen Dimension als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen (M = 3,4), d. h. dass sie offenbar mehr Kooperation mit Externen und Netzwerkpartnerinnen und Partnern erlebt haben, für die Zukunft erwarten und diese auch stärker befürworten als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. Auf der sozialen Dimension finden sich signifikante Unterschiede nur bei der Frage nach der Bewertung. Jüngere Beraterinnen und Berater (M = 3,32) stehen Veränderungen im sozialen Setting (Einbindung von Dritten, Gruppenberatungen, Gruppenveranstaltungen) wohlwollender gegenüber als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen (M = 3,01).

Geschlecht

Im Vergleich zwischen weiblichen und männlichen Beratenden finden sich nur auf der zeitlichen Dimension signifikante Mittelwertunterschiede. Beraterinnen (M = 3,32) haben seit der Pandemie sowohl stärker zeitliche Hybridisierung erlebt als ihre Kollegen (M = 3,02), erwarten künftig mehr zeitliche Veränderungen (w: M = 3,32; m: M = 3,07) in ihren Beratungssettings und bewerten diese positiver (w: M = 3,78; m: M = 3,55). Es kann davon ausgegangen werden, dass hier familiäre Rollenverteilungen eine Erklärung liefern: Insbesondere Mütter dürften von den zeitlichen Flexibilisierungen ihrer Arbeits- und Beratungszeiten profitiert haben, wie sie durch Videoberatungen aus dem Homeoffice und eine allgemeine Flexibilisierung der Arbeitszeiten erlebbar wurden.

Bildungsabschluss und Berufserfahrung

Zwischen dem höchsten Bildungsabschluss der Beraterinnen und Berater und ihren Werten zur erlebten und erwarteten Hybridisierung auf allen vier Ebenen sowie deren Bewertung lassen sich keinerlei Zusammenhänge feststellen.

Auch die Berufserfahrung hat keinen Einfluss auf erlebte oder erwartete Hybridisierungstendenzen. Allerdings geben berufserfahrene Kolleginnen und Kollegen signifikant negativere Bewertungen zu Veränderungen auf räumlicher, zeitlicher und institutioneller Dimension ab. Dies kann als ein Festhalten an etablierten, möglicherweise selbst erkämpften Standards, aber auch eine geringere Flexibilität bei der Anpassung professioneller Beratungspraxis interpretiert werden.

3.2.4 Auswertung der offenen Antworten

Zum Ende der Umfrage waren die Teilnehmenden aufgefordert, drei offene Fragen zu den gravierendsten Veränderungen ihrer Beratungspraxis seit der Pandemie zu beantworten:

  1. a)

    Was ist die stärkste positive Veränderung, die Sie seit der Pandemie in Ihren Beratungen erleben? (n = 210)

  2. b)

    Was ist die stärkste negative Veränderung, die Sie seit der Pandemie in Ihren Beratungen erleben? (n = 185)

  3. c)

    Was ist die stärkste Veränderung, die Sie in der Zukunft in Ihren Beratungen erwarten? (n = 164).

Die qualitativen Antworten wurden kodiert und kategorisiert. Sie sind hilfreich für eine Ausdeutung der bisher präsentierten Ergebnisse und ein dichteres Verständnis der beschriebenen Hybridisierungstendenzen.

Stärkste positive Veränderung

Die häufigsten Nennungen positiver Veränderungen seit der Pandemie bezogen sich auf einen Zugewinn an Flexibilität und professioneller Kontrolle. Beispielhafte Äußerungen waren:

  • Dass die BA offener gegenüber neuen/anderen Medien geworden ist und die Berater mehr Freiraum für eigene Ideen haben und bei deren Umsetzung Unterstützung erhalten.

  • Die hohe Eigenverantwortung, Beratungssettings flexibel und individuell zu gestalten.

Insbesondere die Einführung der Videoberatung wurde als wichtiger Zugewinn interpretiert:

  • Die Möglichkeit zur Online- und telefonischen Beratung, auch wenn ich sie nicht immer nutze.

  • Einführung und Etablierung der Videoberatung: Beschäftigte Personen sind hierbei wesentlich flexibler bei der Terminabsprache, Wegezeiten können vermieden werden.

Am dritthäufigsten waren Äußerungen, die sich auf Home-Office und Work-Life-Balance bezogen:

  • Generell sehr gute, neue Möglichkeiten durch Homeoffice; Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

  • Möglichkeit des Homeoffice, um Nacharbeiten nicht an der Schule, sondern flexibel zu einer anderen Zeit zu Hause zu erledigen.

Weitere Äußerungen bezogen sich auf eine Verbesserte Zusammenarbeit und erlebte Wertschätzung, sowohl durch neue Beratungssettings als auch durch die kontrastierte Erfahrung, dass die Präsenzberatung wegfällt:

  • Die Berufsberatung wird in den Schulen (noch mehr als sonst) als nützlicher, positiv einwirkender Part gesehen, der die Schüler aktiv unterstützt. Schüler wenden sich sehr oft an die BBvE, um Unterstützung zu erhalten. Beratungssettings sind flexibler, viel Beratung an der Schule, viele Dritte sind involviert (z. B. Eltern).

  • Kunden wertschätzen die persönlichen Termine heute deutlich mehr.

Stärkste negative Veränderung

Die weitaus meisten Nennungen negativer Veränderungen seit der Pandemie bezogen sich auf die Negativen Auswirkungen der Pandemie auf Klientinnen und Klienten, d. h. deren Gesundheitsprobleme, psychische Beeinträchtigungen, Ängste, neue Orientierungslosigkeit und soziale Probleme, z. B.:

  • viele Menschen mit psychischen Problemen

  • die Orientierungslosigkeit der Menschen bei gleichzeitigem Veränderungsdruck und -willen.

Viele Äußerungen bezogen sich auf die Anforderungen und teilweise Überforderungen der Beratenden, etwa durch unrealistische Verfügbarkeitserwartungen, z. B.:

  • Beratungen werden zunehmend zu Randzeiten gefordert. Das ist einerseits verständlich, andererseits auf Dauer nicht immer durchführbar. Die Flexibilität der Kunden nimmt stark ab.

  • Entgrenzung der Arbeit

Aber auch organisatorische und kulturellere Veränderungen innerhalb der eigenen Beratungseinrichtung werden bemängelt, z. B.:

  • Verlust von „Flurgesprächen“ und der kurzen Dienstwege und persönlichen Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen.

  • Starke Kontrolle durch Teamleitung (beispielsweise wird der Skype-Status nachgehalten).

Stärkste erwartete Veränderung

Sehr vielseitig waren die Äußerungen der Befragten auf die von Ihnen am stärksten für die Zukunft erwarteten Veränderungen ihrer Beratungspraxis. Besonders häufig wurden hier Digitalisierung/Mediatisierung der Beratung genannt, z. B.:

  • Ich wünsche mir, dass sich in meinem Beratungsraum mehr Endgeräte zur Nutzung digitaler Medien befinden und ich diese Ausrüstung von meinem Arbeitgeber gestellt bekomme.

  • Einsatz von VR-Brillen, Chat-Bots, KI

Erwähnenswert sind außerdem Äußerungen, die für die Zukunft Komplexere Fälle und ganzheitlichere Beratungen erwarten, z. B.:

  • Reine Berufsberatung reicht oft nicht mehr aus – Notwendigkeit von Beratung auch bezogen auf andere Lebenslagen.

  • Fortsetzung der Veränderung der Beraterrolle weg vom Wissensvermittler hin zum Entscheidungsbegleiter.

Viele Äußerungen bezogen sich außerdem auf eine erwartete Flexibilisierung der Beratungsformate, z. B.:

  • Ich erwarte weniger Beratungen in den Räumen der Agentur und stattdessen einen intensiveren und häufigeren Kontakt an den Schulen, bei Bildungsträgern etc. Das Klientel dort abholen, wo es ist.

  • Noch flexiblere Beratungssettings, z. B Walk and Talk-Beratung an ungewöhnlichen Orten, um noch mehr Ratsuchende zu erreichen.

Viele offenen Antworten unterstreichen, dass die dargestellten Hybridisierungstendenzen während der Covid-19-Pandemie zwar vielfach, aber nicht durchweg durch Mediatisierung der Beratung forciert wurden.

3.3 Zusammenfassung und Diskussion

Die vorgestellte Studie hat auf Basis einer Umfrage unter bayerischen Beraterinnen und Beratern der Bundesagentur für Arbeit Hybridisierungstendenzen in deren Beratungssettings im eingangs konzeptionell hergeleiteten Verständnis untersucht. Dabei können entlang der drei definierten Forschungsfragen folgende zentrale Ergebnisse festgehalten werden:

Beraterinnen und Berater haben seit der Covid-19-Pandemie Hybridisierungen ihrer Beratungssettings erlebt

Den aufgrund der Lockdowns notgedrungenen räumlichen Verschiebungen der Beratungssettings während der Pandemie, insbesondere der Mediatisierung der Beratungsräume, folgten vor allem zeitliche. Von diesen wurden insbesondere die flexibleren Arbeitszeiten im Homeoffice und die Freiheiten bei der zeitlichen Gestaltung der Beratungsgespräche hervorgehoben. Dabei können Unterschiede zwischen den Reha-Beraterinnen und Beratern und den beiden anderen Gruppen konstatiert werden. Eine mögliche Interpretation hierfür, die in den offenen Antworten vereinzelt anklingt, wäre, dass die neue Flexibilität nicht für alle Klientinnen und Klienten als gleichermaßen sinnvoll erachtet wird. Hybridisierungstendenzen in den Beratungssettings ermöglichen zwar prinzipiell höhere beraterische Flexibilität, jedoch will diese adäquat ausgestaltet und genutzt werden. Die Unterschiede zwischen Reha-Beraterinnen und Beratern und den beiden anderen Gruppen könnten aber auch damit erklärt werden, dass für BBvE und BBiE institutionsseitig mehr zielgerichtete Beratungsmedien zur Verfügung gestellt wurden.

Bemerkenswert sind die niedrigen Werte zu Hybridisierungstendenzen auf sozialer Ebene, insbesondere der Öffnung des Beratungssettings durch Involvierung Dritter, die als wichtige Veränderung der Beratungspraxis bei Aneignung der Videoberatung beschrieben wurde (Mocigemba et al. 2023, S. 36). Möglicherweise haben die Befragten die Videoberatung nicht oder vorwiegend in dem von der Organisation vorgeschlagenen 1:1-Setting mit ihren Klientinnen und Klienten genutzt, was in der Umfrage nicht erhoben wurde.

Beraterinnen und Berater erwarten künftig weiterreichende Verschiebungen ihrer Beratungssettings

Sowohl auf Ebene der Einzelitems als auch der aggregierten Dimensionen übersteigen die Werte der erwarteten fast durchweg die Werte der erlebten Veränderungen, insbesondere bei den eher allgemein formulierten Items. Dies kann als allgemeines Veränderungsbewusstsein der Befragten interpretiert werden und schließt auch die soziale und institutionelle Ebene ein, auf der bislang noch wenig Verschiebungen erlebt wurden. Die relativ hohen Werte bei erwarteter Veränderung auf der räumlichen und zeitlichen Ebene unterstreicht erneut, dass Hybridisierungen des Beratungssettings von Beraterinnen und Beratern nicht als temporäre Erscheinung im Zuge der Pandemie gedeutet, sondern auch künftig als bedeutsam erachtet werden.

Die Antworten der offenen Frage stützen dies: „Dort beraten, wo die Klientinnen und Klienten sind!“, ist ein vielfach geäußertes Credo. Dies entspricht auch Projekten und Initiativen, insbesondere der BBiE-Beratung der BA, in neuen Räumen, z. B. in Unternehmen, in Industrieparks oder an öffentlichen Orten verstärkt Beratung anzubieten oder zumindest anzubahnen.

Beraterinnen und Berater verfügen über eine Bereitschaft zu weiteren Veränderungen sowie zur Mitgestaltung

Die stärksten Unterschiede finden sich sowohl auf Ebene der Einzelitems als auch der aggregierten Dimensionen zwischen erlebter und erwarteter Veränderung einerseits und der Bewertung dieser Veränderung andererseits. Dies kann als eine hohe Veränderungsbereitschaft der befragten Beraterinnen und Berater auf allen vier Hybridisierungsdimensionen interpretiert werden, wenn auch hier die räumlichen und zeitlichen Verschiebungen hervorstechen und allgemein formulierte Items erneut höhere Werte erzielen als konkret formulierte.

Die Veränderungsbereitschaft der Beraterinnen und Berater weist aber auch wichtige, kritische Einschränkungen auf: Items, die eine Abwertung oder einen Verlust zentraler Elemente professioneller Beratungspraxis ansprechen, z. B. der Bedeutungsverlust des geschlossenen Beratungsraums, der individuellen Begegnung zwischen Beratenden und Klientin bzw. Klient oder der institutionellen Zugehörigkeit und Identität, erhalten deutlich niedrigere Werte als andere. Auch die Äußerungen in den offenen Fragen weisen auf die Sorgen der Beraterinnen und Berater vor einer Entgrenzung der Arbeit, einer vollständigen Aufgabe von Face-to-face-Gesprächen durch Videoberatung oder für bestimmte Zielgruppen fehlgeleiteten Hybridisierung der Beratungssettings hin.

Limitierungen der Studie

Die präsentierten Ergebnisse können als theoretisch anschlussfähig und empirisch plausibilisierte Thesen einer explorativen Studie verstanden werden. Die selbst-selektierte Stichprobe erlaubt keinen Repräsentativitätsanspruch. Es muss außerdem als Limitierung der Studie angesehen werden, dass ausschließlich Beraterinnen und Berater der Bundesagentur für Arbeit befragt wurden. Der Einfluss der Beratungseinrichtungen, ihrer unterschiedlichen Organisationsstrukturen und Beratungskulturen darf in Hinblick auf die Hybridisierung von Beratungssettings nicht unterschätzt werden. Schließlich muss auf die theoretische Verengung der empirischen Studie hingewiesen werden, die lediglich vier Dimensionen von Setting-Verschiebungen betrachtet hat, wo in Anschluss an die theoretischen Ausführungen weitere Hybridisierungsdimensionen denkbar gewesen wären.

4 Ausblick für Beratungsforschung, -praxis und -ausbildung

Der vorliegende Beitrag fokussiert theoretisch und empirisch auf den Wandel der Rahmenbedingungen professioneller Beratungspraxis. Er legt nahe, dass Berufs- und Laufbahnberatung als professionelle Praxis ihr Erscheinungsbild verändert hat und auch künftig kontinuierlich verändern wird.

Hier deuten sich spannende Forschungsfragen für die Beratungswissenschaft an: Welche Rückwirkung haben die beschriebenen materiellen Veränderungen von Beratungspraxis auf deren ideellen Überbau, d. h. auf professionelle Selbstverständnisse von Beraterinnen und Berater und ganz allgemein Denkweisen und Paradigmen von Beratung (Savickas 2008; Schreiber 2022)? Wie verändert sich die Klientel der Berufs- und Laufbahnberatung, wenn Beraterinnen und Berater tatsächlich vermehrt in hybriden Settings agieren? Welche Auswirkungen hat das auf Wahrnehmung und Image der Berufs- und Laufbahnberatung? Welche Methoden und Themen finden Eingang in die neuen Beratungsräume und -zeiten? Nach welchen Kriterien kann und soll hybridisierte Beratungspraxis evaluiert werden? Inwiefern sind die beschriebenen Hybridisierungstendenzen institutions- oder feldspezifisch? Welche Freiheit und welche organisatorischen Rahmenbedingungen brauchen professionelle Beraterinnen und Berater innerhalb einer Organisation, um ihre Beratungspraxis sinnvoll zu hybridisieren? Hierzu wären vergleichende Studien mit anderen Einrichtungen (z. B. Studienberatungsstellen an Hochschulen) aufschlussreich, deren Beraterinnen und Berater zumeist in weniger reglementierten und standardisierten Settings arbeiten.

Für die Beratungspraxis und die Ausbildung von professionellen Berufs- und Laufbahnberaterinnen und Beratern stellt sich die Frage, welche professionellen Kompetenzen im Zuge der oben beschriebenen Hybridisierungstendenzen künftig verstärkt benötigt werden. Schon Schiersmann et al. (2014) definierten im Rahmen eines Europäischen Kompetenzrahmens (NICE) als zwei von sechs Berufsrollen für zukunftsträchtige Berufs- und Laufbahnberaterinnen und Berater den „Manager für beraterische Dienstleistungen“ und den „Beeinflusser und Entwickler von sozialen Systemen“. Als deren Kernkompetenzen gaben sie u. a. an „Betrieb und Projekte von Beratungsorganisationen koordinieren können“ oder „Netzwerke und Gemeinschaften beeinflussen, mitgestalten und aufbauen“ (Hirschi 2019, S. 749). Die beschriebenen Hybridisierungstendenzen stellen Anforderungen an Beraterinnen und Berater (z. B. kontinuierliche, kommunikative Rahmung des räumlich-zeitlich flexibilisierten Settings, Arbeit in neuen sozialen Konstellationen), die in der Ausbildung von Berufs- und Laufbahnberaterinnen und Beratern eine gezielte Vorbereitung für diese beiden Berufsrollen nahelegen.

Camenzind et al. (2023) identifizieren Medienkompetenz als beraterische Kernkompetenz in blended oder hybriden Settings und entwickeln ein Kompetenzmodell mit sieben Dimensionen, von denen eine explizit die Gestaltung der kommunikativen Settings anspricht. Der vorliegende Beitrag verweist mit der Darstellung der Hybridisierungstendenzen zusätzlich auf die Prozesshaftigkeit, Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit jeglichen Medienkompetenzerwerbs: Zusätzlich zur Bereitschaft und Fähigkeit, Medien systematisch, fundiert und passgenau in Beratungsprozesse zu integrieren, werden Beraterinnen und Berater künftig die Bereitschaft und Fähigkeit zur kontinuierlichen Neu-Aneignung von Medien und Technologien und auch zur kontinuierlichen Re-Organisation ihrer Beratungspraxis benötigen, um in zunehmend volatilen Umgebungen professionell wirken zu können.

Beraterische Aus- und Weiterbildungsangebote reagieren hierauf nach und nach und legen dabei besonderen Wert auf die Vermittlung von Medienkompetenzen im professionellen Kontext (z. B. Kettunen 2021). In der Bundesagentur für Arbeit absolviert ein Großteil der Berufsberaterinnen und -berater aktuell das umfangreiche Zertifikatsprogramm „Erweiterte Beratungskompetenz“ (Grüneberg et al. 2023; Lohmann 2023), das auch ein Wahlmodul zur Aneignung von Beratungsmedien und der Gestaltung hybrider Beratungssettings beinhaltet.

Für die BA als Beratungseinrichtung lässt sich aus den präsentierten Ergebnissen, insbesondere in Bezug auf die erwarteten und befürworteten Hybridisierungstendenzen die Chance ablesen, künftige Beratungssettings noch stärker partizipativ unter Einbeziehung der Beraterinnen und Berater fortzuentwickeln.