1 Einleitung

Seit 2015 ist die Nachfrage nach Alphabetisierungskursen für Zugewanderte, die nicht bzw. nicht in einem lateinischen Schriftsystem alphabetisiert sind, stark gestiegen. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass es für diese Zielgruppe, die sich zudem durch eine große Heterogenität in ihren Schrift- und Lernerfahrungen auszeichnet, keine überzeugenden Alphabetisierungskonzepte gibt. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die Kurserfolgsdaten der Integrationskurse mit Alphabetisierung – erfasst im Bestehensniveau des Deutsch-Tests für Zuwanderer (DTZ) – seit 2015 kontinuierlich absinken (vgl. BAMF 2019b, S. 13). Besondere Probleme liegen im Bereich Schreiben, denn im Verhältnis zur mündlichen Verständigung erscheint die aktive Schriftproduktion eher unbefriedigend (vgl. Wienberg et al. 2021). Dieser Umstand ist besorgniserregend, denn die Beherrschung der Schriftsprache gilt nach wie vor als Schlüssel zur gesellschaftlichen Partizipation.

Das Integrationskurssystem in Deutschland ist an die Regularien des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gebunden. Für Integrationskurse mit Alphabetisierung durchlaufen Lehrkräfte gemäß Vorgabe des BAMF die „Zusatzqualifizierung Alphabetisierung“ (ZQ Alpha). Dabei erlangen sie Kenntnisse über didaktische Ansätze in der Erwachsenenalphabetisierung, etwa gemäß dem Curriculum für Integrationskurse mit Alphabetisierung (BAMF 2015). Lehrwerke für die Alphabetisierung müssen hierbei durch das BAMF zugelassen werden.

Die zugelassenen Lehrwerke sind sich dabei jedoch konzeptionell sehr ähnlich: sie sind gerade zu Beginn des Schriftspracherwerbs stark phonographisch geprägt, sie verlangen also von den Lernenden, dass sie Laute aus Wörtern heraushören und diesen Lauten entsprechende Buchstaben zuordnen. Derartige Lautanalysen sind jedoch äußerst komplex und führen gerade bei Lernenden mit ungünstigen Lernvoraussetzung nicht zum gewünschten Erfolg (vgl. Müller 2021).

In der Schriftspracherwerbsdidaktik werden hingegen in den letzten Jahren vermehrt schriftstrukturorientierte Konzepte diskutiert. Diese Konzepte gehen – im Unterschied zu phonographischen – von der Analyse des geschriebenen Wortes im Lernprozess aus und führen so vom Lesen zum Schreiben. Dadurch erhalten Lernende von Anfang an Einsicht in den Bau prototypischer Wörter des Deutschen und können das richtig geschriebene Wort als Basis für den Abgleich mit seiner Aussprache nehmen, sodass sie sich nicht auf die flüchtige und häufig wenig standardsprachliche Lautung verlassen müssen.

In der Erwachsenenalphabetisierung wird diese Orientierung an der Schriftstruktur allerdings bislang kaum berücksichtigt (vgl. BAMF 2019a), obwohl die Ausgangslage dieser Lernenden häufig noch stärker nach der Schrift als Basis für das Lernen verlangt. Erwachsene (Zweit-)schriftlernende haben zwar in der Regel (erste) Schrifterfahrungen in einem anderen Schriftsystem, das sie zur Orientierung nutzen können. Sie können sich aber, da sie Deutsch als Zweitsprache lernen, noch weniger als die mit Deutsch als Erst- und Verkehrssprache aufwachsenden Kinder an der eigenen, häufig wenig standardnahen Lautung orientieren.

Hier setzt das zu berichtende Forschungsprojekt an. In Workshops konnten Kursleitungen, die über vielfältige Erfahrungen in Integrationskursen und in der Erwachsenenalphabetisierung verfügen und in den meisten Fällen die entsprechende Zertifizierung durch den Besuch der vom BAMF geforderten „ZQ Alpha“ durchlaufen haben, das in fünften Klassen allgemeinbildender Schulen erfolgreich erprobte schriftstrukturorientierte Konzept (vgl. Bangel und Müller 2018a) im Hinblick auf eine Übertragung in die Erwachsenenbildung kennenlernen. Der Zugang über die Lehrkräfte ist insofern relevant, da sie im Rahmen der BAMF-Vorgaben über Auswahl und den Einsatz von Konzepten und Materialien für ihre Kurse bestimmen – und die entsprechende Expertise in der Gestaltung schriftsprachlicher Lernprozesse bei Erwachsenen vorweisen können. Nach dem Workshop wurden die Kursleitungen daher als Expertinnen und Experten (n = 17) in Interviews dazu befragt, welche Chancen und Grenzen sie für die Übertragung des Modells in die Alphabetisierung von Neuzugewanderten sehen.

Der Beitrag beginnt mit einer Erläuterung der Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Erwachsenenalphabetisierung, um darauf aufbauend die konzeptionellen Grundpfeiler des schriftstrukturorientierten Ansatzes zu beschreiben und den empirischen Zugang sowie seine Ergebnisse darzustellen und zu diskutieren. Die Ergebnisse sollen Anhaltspunkte dafür geben, ob, und wenn ja, mit welchen Modifikationen, die Lehrkräfte sich den Einsatz eines schriftstrukturorientierten Konzepts in ihren Kursen vorstellen können. Erst auf dieser Basis könnten dann in einem zweiten Schritt Konzept- und Materialanpassungen und umfangreichere Erprobungen erfolgen.

2 Befunde zur Alphabetisierung im Integrationskurssystem

Das Integrationskurssystem regelt den Deutschunterricht für Zugewanderte gemäß Zuwanderungsgesetz (ZuwG) und Integrationskursverordnung (IntV). Nach 2015 wurden Neuzugewanderte mit guter Bleibeperspektive in diesen Adressatenkreis aufgenommen. Daten über Teilnehmende, Kursangebot und Kurserfolg werden durch die Integrationskursgeschäftsstatistik (InGe) quartalsweise berichtet.

Allgemeine Integrationskurse verfügen über ein Curriculum mit dem Kursziel der Sprachbeherrschung auf dem B1-Niveau des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) (vgl. BAMF 2016). Integrationskurse mit Alphabetisierung zielen nach ihrem Curriculum auf das Niveau A2 (vgl. BAMF 2015). Die Kurserfolgsdaten, erfasst im Bestehensniveau des Deutsch-Tests für Zuwanderer (DTZ), sinken seit 2015 über alle Kurstypen systematisch ab (vgl. Abb. 1 aus BAMF 2019b, S. 13).

Abb. 1
figure 1

Integrationskursgeschäftsstatistik (BAMF 2019b, S. 13)

Weitere Befunde basieren auf Testergebnissen der Teilgruppe der Alphabetisierungskursteilnehmenden (2015–2018). Sie verschieben sich zulasten des B1-Niveaus in Richtung des niedrigeren A2-Niveaus des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER), das betrifft insbesondere die Integrationskurse mit Alphabetisierung (Abb. 2) sowie speziell den Teil Bereich des Schreibens (Abb. 3; Wienberg et al. 2021):

Abb. 2
figure 2

Testergebnisse in Integrationskursen mit Alphabetisierung nach Jahr und Niveau (n = 32.261). (Quelle: Teildatensatz des BAMF, eigene Berechnungen)

Abb. 3
figure 3

Testergebnisse in Integrationskursen mit Alphabetisierung nach Teiltests und Level (n = 32.261). (Quelle: Teildatensatz des BAMF, eigene Berechnungen)

Bei Aufsplittung der Testergebnisse in die drei Teiltests Hören/Lesen, Schreiben und Sprechen zeigt sich, dass im Schreiben von fast 64 % der Population das Niveau A2 nicht erreicht wird. Im Verhältnis zur mündlichen Verständigung und zum Lesen sind die Ergebnisse für das Schreiben eher unbefriedigend.

Die jüngste Evaluation der Integrationskurse (EvIK) (BAMF 2019a) schlägt für den Schriftspracherwerb ein mehrdimensionales theoretisches Erklärungsmodell vor. Als Einflussgrößen auf den Deutscherwerb werden Motivation (z. B. Asylstatus), Gelegenheiten zur Sprachnutzung sowie Vorkenntnisse (Bildungsstand, Schriftsprachkompetenz) identifiziert. Fluchtspezifika wie Gesundheitsbelastungen, Trennung von Familienmitgliedern, beengte Wohnverhältnisse werden nur bei einer Minderheit der Geflüchteten als Beeinflussungsfaktor konstatiert. Die EvIK schreibt den Lehrenden eine zentrale Bedeutung zu (vgl. a. a. O., S. 64). Als weitere „Determinanten des Zweitspracherwerbs“ (a. a. O., S. 33–34) werden Lernmethode, Lehrwerk, Unterrichtstempo, Wochenstunden oder Kursgröße benannt, wobei Fragen nach der schrifttheoretischen Ausrichtung des Unterrichts in der EvIK keine Rolle spielen.

Die Forschungsfragen des hier zu berichtenden Projekts richten sich deshalb auf diesen Aspekt im Schriftspracherwerb, da es hierzu in den bisherigen Studien aus der Erwachsenenbildung keine genauen Analysen gibt – sich aber eine Handlungsnotwendigkeit aus den schlechten Erfolgsquoten ableiten lässt.

Qualitative Interviews mit Kursteilnehmenden weisen auf die multiplen Problemlagen der Klientel sowie auf eine geringe Lernprogression im Schriftspracherwerb hin (vgl. a. a. O., S. 67). Die in der EvIK gewählten Interviewzitate beziehen sich allerdings eher auf Menschen mit primärem Analphabetismus als auf Zweitschriftlernende. Primärer Analphabetismus trifft jedoch laut Geflüchtetenpanel nur auf eine sehr kleine Minderheit der Neuzugewanderten zu (vgl. Scheible 2018).

Der Befund aus der Evaluation von Integrationskursen, dass primärer oder funktionaler Analphabetismus einen negativen Effekt auf den Erwerb des Deutschen ausübt (vgl. BAMF 2019a, S. 41), ist ebenso wenig überraschend wie der, dass mit steigender Bildung die Kenntnis des Deutschen steigt (ebd.). Dass zum einen der Subtest Schreiben im Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) am schwierigsten ist (vgl. Wienberg et al. 2021) und zum anderen die Integrationskurse mit Alphabetisierung mit 27 % das zweitgrößte Segment des Gesamtangebots der Integrationskurse darstellen (vgl. BAMF 2019b), unterstreicht die Notwendigkeit, Alphabetisierungskonzepte für zugewanderte Erwachsene zu entwickeln und wissenschaftlich zu evaluieren. Auch die Befunde der Level-One Studie (LEO) weisen auf hohe Bedarfe in der Alphabetisierung bei bereits länger im Land verweilenden Erwachsenen mit Migrationshintergrund hin (vgl. Grotlüschen und Buddeberg 2020), sodass die Herausforderungen für künftige Alphabetisierungsmaßnahmen immens sind – und von höchster gesamtgesellschaftlicher Relevanz.

3 Voraussetzungen für die Arbeit in Integrationskursen mit Alphabetisierung

Auf der Ebene der Lehrendenzulassung werden für die Arbeit in Integrationskursen mit Alphabetisierung Kenntnisse der Fremdsprachdidaktik oder Deutschdidaktik entweder auf Studienniveau oder auf Niveau der Zusatzqualifizierung verlangt. Als problematisch muss allerdings die Ausnahmeregelung mit erleichterten Zulassungen von 2015 bis 2018 angesehen werden (vgl. BAMF 2019a, S. 64–65).

Auf curricularer Ebene gilt das Konzept für den Integrationskurs mit Alphabetisierung. Hier sind drei didaktische Ansätze für die Alphabetisierung genannt und jeweils kurz skizziert (vgl. BAMF 2015, S. 113–117). Der synthetischen Methode wird der Vorzug gegeben, in der „Buchstaben und deren Lautwerte“ erlernt werden (a. a. O., S. 114). Hinzu tritt ein kursorischer Hinweis auf den befreiungspädagogischen Alphabetisierungsansatz nach Freire (vgl. a. a. O., S. 115) sowie eine Erläuterung der zweisprachigen (u. a. kontrastiven) Alphabetisierung (vgl. a. a. O., S. 109). Insofern legt das Curriculum den Weg über die Laut-Buchstaben-Beziehung nahe.

Bei den zugelassenen Lehrwerken „steht ‚Schritte plus Alpha‘ des Hueber-Verlags mit 27 % Marktanteil an der Spitze, gefolgt vom ‚Hamburger ABC‘ und ‚Alpha plus‘“ (BAMF 2019a, S. 77). Die Lehrwerke enthalten Anlauttabellen zur Unterstützung des Erwerbs der Laut-Buchstaben-Beziehungen. Dieser Weg von der gesprochenen Sprache zur Schrift gerät jedoch, wie bereits angedeutet, bei Neuzugewanderten mit minimalen Deutschkenntnissen an seine Grenzen, da diese nicht über die gesprochene deutsche Sprache verfügen.

Insgesamt zeigen die Rahmungen hinsichtlich der Curricula und der Lehrwerke, dass jüngere Befunde der Deutschdidaktik noch nicht in die Alphabetisierung in Integrationskursen aufgenommen werden konnten. Die Lehrkräfte bilden hierbei für konzeptionelle Veränderungen eine zentrale Größe, da sie trotz dieser Rahmenbedingungen über entsprechende Freiräume in der Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen verfügen. Dies wird u. a. im folgenden Interviewzitat aus der EvIk deutlich:

„[I]ch kann den Dozenten nicht sagen, sie arbeiten nur mit diesem Buch, das geht nicht. Die Dozenten unterrichten selbst, sie haben jahrelang Erfahrung und sie müssen das Buch raussuchen, womit die Teilnehmer am besten klarkommen. (Interview 22, TR 7, Abs. 70)“ (a. a. O., S. 78).

Insofern nehmen die Lehrenden – stärker als das planende Personal der Bildungseinrichtungen – eine Gatekeeperfunktion ein, was die Auswahl didaktischer Ansätze und Materialien betrifft. Daher sind sie für Fragen der Übertragbarkeit des schriftstrukturellen Ansatzes aus dem Unterricht an allgemeinbildenden Schulen in die Erwachsenenalphabetisierung zentral.

4 Schriftspracherwerbsdidaktische Grundlagen: phonographische vs. schriftstrukturorientierte Ansätze

Die Konzepte und Lehrwerke im Bereich des Zweitschrifterwerbs des Deutschen sind – wie bereits geschildert – in den meisten Fällen geprägt von phonographischen Konzepten, die den Weg von der gesprochenen Sprache zur Schrift beschreiten. Die vom BAMF zugelassenen Lehrwerke weisen hier zwar eine gewisse methodische Divergenz auf und auch die Ein- und Hinführung zu weiteren Bereichen der Schriftsprache (z. B. Einführung des morphologischen Prinzips) wird zum Teil unterschiedlich gehandhabt. Einigkeit herrscht jedoch v. a. darüber, dass geschriebene und gesprochene Sprache in einer engen Abhängigkeit zueinanderstehen. Daraus resultiert das in allen Lehrwerken kongruente Vorgehen am Beginn des Schriftspracherwerbs: Es geht in einem ersten Schritt darum, dass die Lernenden gesprochene Wörter in eine geordnete Folge abgrenzbarer Einzellaute untergliedern und sie entsprechenden Buchstaben zuordnen, häufig unter Zuhilfenahme einer sogenannten Anlauttabelle (vgl. Müller 2021). Diese Orientierung an der Analyse von Einzellauten und ihre Zuordnung zu Buchstaben verkennt jedoch die Komplexität solcher Lautanalysen, die eine hohe Abstraktion verlangen und für Lernende mit ungünstigen Lernausgangslagen nur schwer zu bewältigen sind (ebd.). Dies ist für Erwachsene im Zweitsprach- und Zweitschrifterwerb umso schwieriger, denn das phonologische System weiterer Sprachen kann (im Unterschied zum Wortschatz, zur Syntax und anderen Sprachebenen) nach dem Kindesalter kaum noch zielsprachenadäquat erworben werden (vgl. u. a. Tracy 2008). Hinzu kommt, dass sich der Lautwert eines Buchstabens im Deutschen nicht aus sich selbst ergibt, sondern erst die Position des Lautes (aus der Schreibrichtung) oder des Buchstabens (aus der Leserichtung) im Wort Auskunft darüber gibt, wie dieses Segment geschrieben bzw. gelesen werden muss (vgl. Müller 2021). Das deutsche Schriftsystem ist nämlich keine „Abbildung von Lautung“, sondern eine „Abbildung von Grammatik“ (Bredel et al. 2017, S. 22), das sich u. a. dadurch auszeichnet, dass es relativ autonom im Verhältnis zum mündlichen Sprachsystem ist. Dies wird v. a. an solchen schriftgrammatischen Phänomenen wie der Stammkonstanz (Wortstämme werden möglichst immer gleich geschrieben, um das Wiedererkennen zu vereinfachen), der Umlautschreibung und der Nichtverschriftlichung der Auslautverhärtung (wir sprechen /kint/ und schreiben <Kind>) deutlich. In diesen Fällen führt die oft empfohlene Strategie „Schreibe, wie du sprichst“, nicht zur richtigen Wortform. Würde man beispielweise bei Wörtern wie <er geht> oder <der Korb> rein phonographisch schreiben, erhielte man <er get> bzw. <der kop>. Zusätzlich zu den phonographischen sind im Deutschen silbische Informationen fixiert. Er <geht> ist auf <gehen> zurückzuführen, das <h> dient zur Markierung des Anfangsrands der zweiten Silbe. Der Zweisilber <Körbe> enthält im Anfangsrand der zweiten bzw. Reduktionsilbe das Graphem <b>, das auch in der einsilbigen Form <Korb> erhalten bleibt, obwohl es in dem Fall nicht mit dem Phonem /b/ korrespondiert (das ist die Auslautverhärtung, die im Deutschen nicht geschrieben wird). Der Buchstabe <r> wird in <Korb> zudem nicht gesprochen, sondern wir sprechen <r> in dieser Position im Wort eher als langes, aber ungespanntes /ɔ/ (vgl. Müller 2022, S. 219 f.; vgl. Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Die Strukturtypen der Wortschreibung im Kernbereich. Diese Struktur gilt für einfache Inhaltswörter. (Aus: Bangel et al. 2017, S. 7)

Schriftstrukturorientierte Konzepte berücksichtigen dies, indem sie von einer interdependenten Sicht auf das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache ausgehen. Der Lernweg führt folglich – im Gegensatz zu den skizzierten phonographischen Konzepten – von der Analyse des geschriebenen Wortes über das Lesen zum Schreiben. Dadurch erhalten die Lernenden von Anfang an Einsicht in den Bau prototypischer Wörter des Deutschen. Prototypische Wörter sind zweisilbige Inhaltswörter (Nomen, Verben, Adjektive) des nativen Wortschatzes, die aus einer Haupt- und einer Reduktionssilbe bestehen (vgl. Abb. 4), wobei die Hauptsilbe in der gesprochenen Wortform betont, die Reduktionssilbe unbetont ist. Dieses Strukturmuster lässt sich bei ca. 90–95 % der nativen Inhaltswörter (Simplizia, also Wörter, die nur aus einem Wortstamm und ggf. einer Endung bestehen) finden (vgl. Eisenberg und Fuhrhop 2007, S. 24 f.).

Diese Struktur des geschriebenen Wortes zeigt die Betonungsverhältnisse an und dient deshalb der Leseinstruktion. Dafür ist v. a. die Besetzung des Silbenendrandes in der Hauptsilbe wichtig: Ist der Endrand (wie bei <Ru-der>) unbesetzt, wird der Vokal lang und gespannt gesprochen, ist der Endrand mit einem Konsonantenbuchstaben besetzt (<Run-de>), wird der Vokal kurz und ungespannt realisiert. Solche visuellen Unterstützungsformen wie in Abb. 4 helfen, ein Verständnis von der Struktur und der Aussprache der Wörter aufzubauen.Footnote 1 Dabei ist entscheidend, dass nicht das Hören favorisiert wird, sodass den Lernenden nicht suggeriert wird, man würde im Deutschen so schreiben, wie man hört bzw. spricht. Im Hinblick auf die visuelle Unterstützung gehört das sogenannte „Haus-Garage-Modell“ zu den gängigsten Modellen (Abb. 5):

Abb. 5
figure 5

Eine Möglichkeit der Realisierung des Haus-Garage-Modells

Hier können prototypische Zweisilber des Deutschen analog zur Silbenstruktur in Abb. 4 eingetragen werden. Das Haus entspricht dabei der betonten Hauptsilbe und die Garage der unbetonten Reduktionssilbe. Die Vokalbuchstaben im zweiten „Raum“ sind dabei obligatorisch, die Anfangs- und Endränder sind fakultativ besetzt und können auch aus mehreren Konsonantenbuchstaben bestehen. Das Besondere an der Reduktionssilbe ist, dass hier als Vokalbuchstabe ausschließlich das <e> vorkommt, das im gesprochenen Wort häufig durch die Verschmelzung mit dem darauffolgenden Konsonanten nicht (z. B. <Segel> → [ze:gl]) oder nur schwer wahrnehmbar als sogenannter Schwa-Laut [ə] realisiert wird (z. B. <Sonne> → [zɔnə]). Außerdem ist der Anfangsrand der Reduktionssilbe i. d. R. besetzt. Nur, wenn als Vokalbuchstaben <au, ei, eu> im zweiten Raum der Hauptsilbe stehen, kann er unbesetzt bleiben (<bauen, Feier, neue>).

4.1 Stand der Forschung zum schriftstrukturorientierten Lernen im Feld der allgemeinbildenden Schulen

Die Nutzung der Sachstruktur des deutschen Schriftsystems als Grundlage für das Lesen- und Schreibenlernen ist bislang trotz dieser guten theoretischen Basis nur in Ansätzen erforscht. Für erwachsene Lernende kann im deutschsprachigen Raum derzeit einzig auf die Studie von Bredel et al. (2013) zurückgegriffen werden. Die Autorinnen und der Autor dieser Studie kommen auf der Grundlage ihrer Ergebnisse zu der Einschätzung, „dass schwache Leser sich (auch) dadurch auszeichnen, dass sie kein systematisches Wissen in Bezug auf die morphologischen Regularitäten der deutschen Orthographie aufgebaut haben“ (a. a. O., S. 217). Darüber hinaus belegen empirische Studien, dass sich starke Leserinnen und Leser durch einen raschen, kontextunabhängigen Zugriff auf Wortbedeutungen auszeichnen, wohingegen sich schwache Leser viel stärker am Kontext orientieren (vgl. Bangel 2018). Zur Lernentwicklung von Schriftanfängerinnen und -anfängern gibt es nur vereinzelte explorative Studien, die die Schreibsilbe fokussieren (vgl. z. B. Krauß 2014; Hein 2015) und zu Ergebnissen kommen, die die Lernwirksamkeit schriftstrukturorientierter Ansätze bestätigen.

Erste empirische Befunde aus einer Interventionsstudie zum orthographischen Lernen aus Jahrgang 5 in allgemeinbildenden Schulen belegen zudem, dass ein auf die Entdeckung der Schriftstruktur ausgerichteter Rechtschreibunterricht v. a. die Lernentwicklung schwacher Rechtschreiber/-innen positiv beeinflussen kann (vgl. Bangel und Müller 2,3,a, b). Für diese Lernergruppe zeigen die Ergebnisse, dass die Schüler/-innen der Interventionsgruppe (n = 50) sowohl direkt im Anschluss an die Intervention als auch vier Monate später signifikant größere Lernfortschritte aufweisen als die vergleichbare Gruppe der Kontrollklassen (n = 40). Die Effektstärken liegen im mittleren bis großen Bereich (Nachtest: η2 = 0,08–0,12, verzögerter Nachtest: η2 = 0,07–0,13). Das untere Leistungsquartil der Interventionsgruppe profitiert stärker als alle anderen Gruppen von dem schriftstrukturorientierten Lernangebot.

4.2 Konsequenzen des Forschungsstands für die Erwachsenenalphabetisierung

Da die beobachteten Schwierigkeiten jüngerer Schriftsprachlernender deutliche Parallelen zu den Problemlagen der (Zweit‑)Schriftlernenden in Alphabetisierungskursen aufweisen, erscheint der Transfer der Zugänge aus dem Unterricht in allgemeinbildenden Schulen als ein logischer Schritt zur Steigerung von schriftsprachlichen Kompetenzen bei erwachsenen Zugewanderten. Ein Transfer muss jedoch u. a. die Unterschiede in den Lernumgebungen zwischen der Arbeit in Integrationskursen und den Erfahrungen mit jüngeren Lernenden beachten: Teilnehmende an Integrationskursen mit Alphabetisierung sind erwachsen, sie sind i. d. R. Zweitschriftlernende (vgl. Scheible 2018; Grotlüschen et al. 2019). Die herkunftssprachliche Literalisierung erweist sich dabei als Ressource für den Erwerb der deutschen Schriftsprache (vgl. Dünkel et al. 2018). Der schriftstrukturorientierte Ansatz kann daher gut an die primäre Literalisierung anschließen. Zudem stehen Lehrkräfte in allgemeinbildenden Schulen in deutlich statushöheren Beschäftigungsverhältnissen als die Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung (vgl. Martin et al. 2017). Bisherige Befunde zeigen, dass Kursleitungen sich aufgrund unbefriedigender Beschäftigungsverhältnisse widerständig gegenüber Neuerungen verhalten (vgl. Schepers 2013). Sie zeigen jedoch auch, dass Fortbildungen mit der Akzeptanz von Neuerungen positiv korrelieren (vgl. Grotlüschen 2011).

Auf Basis dieser Unterschiede lässt sich deshalb die leitende Forschungsfrage der hier zu berichtenden Studie ableiten:

Inwiefern, und wenn ja, mit welchen Anpassungen, ist (aus Sicht der Kursleitenden) ein schriftstrukturell ausgerichteter Ansatz zum Lesen- und Schreibenlernen in Alphabetisierungskursen übertragbar?

Zudem geht es uns darum, den tatsächlichen Innovationsbedarf der Konzepte und Lehrwerke in Integrationskursen mit Alphabetisierung sowie die Bereitschaft zur Veränderung von Unterricht seitens der dort tätigen Lehrkräfte zu ermitteln.

5 Forschungsmethodisches Vorgehen

Um dieser übergeordneten Forschungsfrage nachzugehen, wurden im Oktober 2021 in zwei Workshops in Norddeutschland die notwendigen sprachwissenschaftlichen und -didaktischen Grundlagen gemeinsam mit in der Alphabetisierung tätigen Lehrkräften erarbeitet und etablierte Materialien (vgl. Bangel et al. 2017; Bangel und Müller 2018b) aus dem Primar- und Sekundarstufenbereich im Hinblick auf die Übertragbarkeit in die Alphabetisierung von erwachsenen Zugewanderten analysiert und diskutiert. In Vorbereitung auf die Workshops wurden außerdem u. a. Bedarfserhebungen durch Befragungen einzelner Lehrkräfte durchgeführt sowie gängige Materialien und Lehrwerke für Integrations- und Alphabetisierungskurse auf ihre Adaptionsmöglichkeiten untersucht und erste notwendige Adaptionen vorgenommen. Der Fokus der Fortbildungen lag dabei ausschließlich auf dem Lesen und Schreiben von Einzelwörtern des nativen Kernbereichs und damit auf den grundlegenden Baumustern der Wortschreibung – eher wortübergreifende Prinzipien spielten noch keine Rolle.

In einem ca. 14-tägigen Zeitraum nach den beiden Workshops wurden mit insgesamt 17 Lehrkräften aus diesen Workshops leitfadengestützte Experteninterviews von einer externen InterviewerinFootnote 2 geführt. Die Interviewerin war während der Fortbildungen anwesend und erklärte ihr Interesse an unterschiedlichen Sichtweisen, nicht allein an positiven Rückmeldungen, denn die Verzerrungsproblematik der positiven Rückmeldungen ist in der Erwachsenenbildungsforschung bekannt (vgl. Schügl et al. 2008), wird jedoch durch die aktive Suche nach dem Gegenhorizont beim Sampling methodisch kontrolliert (vgl. Grotlüschen 2003; Krämer 2015, S. 159).

Die Fragenblöcke innerhalb der Interviews zielten auf:

  • die Gründe für die Einsetzbarkeit des Ansatzes entlang seiner Regularitäten (Wortbaumuster, ausgehend von nativen Wörtern, bestehend aus Haupt- und Reduktionssilbe, die im Gesprochenen trochäischen Zweisilbern entsprechen; spätere Erweiterung des Wortschatzes um wortbildungsmorphologisch komplexe Wörter);

  • Die subjektiv wahrgenommenen Vor- und Nachteile der verwendeten Unterrichtsmaterialien und ihrer Lernprogression sowie der Lernspiele;

  • den Vergleich mit der derzeitigen didaktisch-methodischen Herangehensweise im Unterricht und den hypothetischen Einsatz des Schriftstrukturansatzes in Integrationskursen;

  • eventuelle Anpassungs- oder Veränderungsmöglichkeiten des Ansatzes zur Erreichung einer Übertragbarkeit;

  • den bisherigen Umgang mit Veränderungen in Lehr-Lern-Prozessen, eventuellen Ressourcenbedarf zur Fortbildungsteilnahme und Fragen der Be- oder ggf. Überlastung.

Eine Reihe von Argumenten ist in den Workshops bereits aufgefallen, daher wurde vor Interview-Ende danach gefragt. Dieser Teil der Erhebung verwendet eher fokussierte Fragen (z. B.: Wie schätzen Sie die Betonung des Lesens in diesem Ansatz ein?). Als Rahmung wurden soziodemographische Daten, Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnisse, Sprachkenntnisse, Auslandsaufenthalte sowie Einstufungs‑, Prüfungs- und Lehrerfahrungen differenziert erfragt. Dies dient auch der Nutzbarkeit der Interviews für Sekundäranalysen.

In die Auswertung wurden schließlich elf der 17 Interviews einbezogen, da aus Gründen der besseren Einschätzung der Übertragbarkeit des schriftstrukturorientierten Ansatzes nur Interviews von Lehrkräften berücksichtigt wurden, die über die Zusatzqualifizierung Alphabetisierung verfügen und bereits einen akkreditierten BAMF-Alpha-Kurs geleitet haben.

Die Interviews wurden transkribiert und mittels strukturierender und zusammenfassender Qualitativer Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2016) mithilfe des Softwareprogramms MAXQDA im Hinblick auf die Identifizierung von subjektiven Gründen für oder gegen die Übertragbarkeit des Ansatzes in die Zweitschriftalphabetisierung ausgewertet. Das Kategoriensystem wurde zunächst deduktiv anhand der vorgegebenen Leitfadenfragen entwickelt und in einem induktiven Prozess am Material sukzessive ergänzt. Es handelt sich bei diesen Kategorien um sog. „natürliche Kategorien“ (a. a. O., S. 35), die sich eng an das Datenmaterial und die Begrifflichkeiten im Material anlehnen. Im Kodierprozess wurden die Kodierregeln bzw. das Kodiermanual und Ankerbeispiele in mehreren Feedback-Schleifen mit weiteren Wissenschaftlerinnen diskutiert und auf dieser Grundlage überarbeitet und angepasst (vgl. Gläser-Zikuda 2008; Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Exemplarischer Einblick in das Kodiermanual

Für das hier vorgenommene qualitative Sampling ist dabei nicht die Summe der positiven oder negativen Haltungen relevant, sondern es geht vielmehr um die inhaltlichen Argumente, die für oder gegen den Ansatz sprechen bzw. spezifische Variationen einfordern. Zudem musste im Interview ermittelt werden, wie sicher sich die Lehrkräfte mit dem Ansatz fühlen. Dabei werden subjektiv gute Begründungen generiert, die zwar nicht notwendigerweise einer objektiven Rationalität unterliegen, jedoch als subjektiv stichhaltige Sachargumente handlungsrelevant werden (vgl. Faulstich und Bracker 2015).

6 Ergebnisse

Für einen Transfer des schriftstrukturorientierten Ansatzes in die Alphabetisierung von erwachsenen Zugewanderten spricht den interviewten Lehrkräften zufolge v. a. die klare Struktur des Ansatzes und die damit einhergehenden Visualisierungsmöglichkeiten (z. B. durch das o. g. Häusermodell (Abb. 5): der freie Raum nach dem Vokalbuchstaben im Haus ist als offene Silbe zu deuten und korrespondiert auf Lautebene mit einem langen, gespannten Vokal), die den Lernenden Einsicht in den Aufbau von Wörtern und Hilfe beim Erlesen der Wörter bieten:

„allein durch dieses, dass man bildlich sozusagen sieht, die silbe ist offen oder die silbe ist geschlossen. äh, man kommt viel besser mit diesem phänomen der langen und kurzen vokale zurecht, weil man es wirklich tatsächlich sieht und, äh, ich fand das zum beispiel sehr anschaulich.“ (Interview 16, Z. 88–92).

In Abgrenzung zum klassischen phonographischen Vorgehen, das im BAMF-Curriculum und in den zugelassenen Lehrwerken dominiert, sehen die interviewten Lehrkräfte einen weiteren Vorteil des schriftstrukturorientierten Ansatzes in der Vermeidung von Falschschreibungen von Anfang an bei Rechtschreibphänomenen, bei denen eine reine Lautorientierung nicht zur richtigen Schreibweise führt:

„das ist irgendwie ein klares system. so etwas finde ich immer gut. und vor allen dingen auch dieser zusammenhang, dass wenn unsere teilnehmenden lautbasiert lesen oder schreiben sollen, dann weiß man spätestens an irgendeinem punkt, was denn diese typischen fehler sind. da verschwindet der schwalaut hinten, der wird nicht mitgeschrieben und so ähnlich.“ (Interview 2, Z. 47–51).

Gegen eine Übertragung des Ansatzes in die Integrationskurse spricht hingegen die Gebundenheit an Wortmaterial, das für das Deutsche prototypisch ist (native Wörter: Zweisilber mit einer betonten ersten Haupt- und einer unbetonten zweiten Reduktionssilbe), das zudem an eine bestimmte Lernprogression gekoppelt ist. Die Wörter, die gerade zu Beginn des Schriftspracherwerbs in einem schriftstrukturorientierten Ansatz vorgesehen sind, weisen nicht immer eine hohe Relevanz für die Deutschlernenden auf. Die Balance zwischen für die Zielgruppe relevantem Wortmaterial und Struktureinsicht wird von den Lehrkräften als Schwierigkeit benannt, für die es eine Lösung zu finden gilt:

„dagegen spricht, ähm, aus meiner sicht, dass es eben, äh, dass das wortmaterial natürlich dann am anfang eingeschränkt werden muss und dass es auch schwierig ist dann, diese, mhh, dieses, diese baumuster zu unterrichten […] dann muss ich natürlich transparent machen, dass es jetzt hier ja erst mal nur um einen gewissen teil des wortschatzes geht, den man sich aneignet in einer sprache.“ (Interview 10, Z. 77–84)

Ein weiteres Hindernis sehen die interviewten Lehrkräfte in der Passung mit dem BAMF-Curriculum: In dem Curriculum dominieren – wie bereits dargestellt – phonographisch orientierte Ansätze; außerdem wird ein großes Augenmerk auf die Mündlichkeit sowie eine handlungs- bzw. kommunikationsorientierte Vermittlungsweise gelegt, die nach Auffassung der Lehrkräfte nur schwer mit der Schriftstrukturorientierung vereinbar ist. Hier müsste eine Anpassung, insbesondere auch mit Blick auf die zugelassenen Lehrwerke, stattfinden, damit eine Übertragbarkeit möglich ist:

„also das ist vielleicht nicht der ansatz selber, sondern dass ist das umsetzen in die praxis in unserem bereich. was ja auch beim workshop schon mehrere gesagt haben. der wortschatz, der ist so einfach nicht zu übernehmen. und die kombinierbarkeit mit dem bamf-konzept, mit dem handlungsorientierten beziehungsweise kommunikativen ansatz. das finde ich extrem schwierig. oder zumindest kann ich mir das sehr schlecht vorstellen, weil die bücher, die lehrwerke, die wir haben und die ich mir daraufhin auch nochmal durchgeguckt habe, die gehen halt ganz anders vor.“ (Interview 2, Z. 135–142)

Als zusätzliche Schwierigkeit wird die Lernkultur der Kursteilnehmenden genannt. Der schriftstrukturorientierte Ansatz ist in seinen Grundzügen ein induktiver bzw. forschend-entdeckender Zugang zur Schrift, der nach Einschätzung der Lehrkräfte für einige Lernende kognitiv zu komplex sein könnte:

„gleichzeitig wird eine gewisse gruppe, selbst wenn man das wirklich von modul eins an richtig einführt, denke ich, werden die ab einem gewissen punkt an aussteigen. also wenn ich sehe, wie viele module wir manchmal brauchen, bis jemand lernt, auf einer linie zu schreiben, was wie gesagt, manchmal gar nicht klappt, wird das einige komplett überfordern.“ (Interview 11, Z. 128–132)

Auch die große Heterogenität in den Lernvoraussetzungen innerhalb der Integrationskurse sowie die teilweise unbeständige Teilnahme werden als kritische Faktoren hinsichtlich der Übertragbarkeit des Ansatzes zu bedenken gegeben:

„aber meine spontane idee war, das kann ich machen, wenn ich frisch starte. und, ähm, alle möglich, also, wenn möglich ähnliche voraussetzungen haben, ähm, mit denen sie den kurs beginnen.“ (Interview 10, Z. 95–98)

Ebenso erfordere die Erprobung und Einführung eines neues Ansatzes Zeit, die eigentlich mit Blick auf die Abschlussprüfung nicht immer gegeben ist:

„wenn ich merke, dass ich ((bricht ab)) dass ich es nicht schaffe mit dem ansatz, dass ich dann diese kostbaren stunden, die ich nur habe, diese dreihundert, natürlich dann wieder anders belegen muss. am ende der reise steht eine prüfung, ein zertifikat.“ (Interview 5, Z. 336–338)

Insgesamt ist an den Aussagen der Lehrkräfte festzustellen, dass insbesondere ein zugelassenes Lehrwerk, das auf einem schriftstrukturorientierten Ansatz basiert und mit dem BAMF-Alpha-Curriculum kompatibel ist, die Akzeptanz und Chancen, den Ansatz in den Alphabetisierungskursen zu erproben, deutlich erhöhen würde.

Aus den Antworten der Kursleitungen wird jedoch auch deutlich, dass ein derart komplexer neuer Ansatz in der Kürze der Zeit des Workshops sowie mit gänzlich unterschiedlichem Vorwissen der Kursleitungen nur schwer in seiner Gesamtheit zu verstehen ist. So lässt sich aus den Antworten erkennen, dass v. a. die zentralen Bestandteile in Form der Lernprogression mittels der vier Wortbaumuster nicht immer durchdrungen worden sind:

„ja, wenn ich mir jetzt baumuster eins anschaue, ist es auch, ja das sind ja praktisch vier buchstaben auch so quasi ne auch wie auch die einfache form.Footnote 3 also die einfache form halt. und wenn ich aber baumuster drei anschaue, da haben sie das wort wasser zum beispiel. so es hat auch ein e, das ist ja auch immer so ein wichtiger punkt, dass auch ein e in der zweiten silbe ist. aber man spricht es anders. wenn man es so spricht, spricht man, hört sich das an wie a. ne? wassA. das finde ich ein bisschen schwierig dann. bei den wörtern, die mit er enden. ich weiß, nicht ob es da irgendwie, weil im normalfall sagt man nicht wassER, sondern man sagt wassa im normalen sprachgebrauch, zumindestens in norddeutschland oder?“Footnote 4 (Interview 14, Z. 56–65)

Gleiches lässt sich für die Auswahl des Wortmaterials konstatieren:

„also ich könnte mir schon vorstellen, also dieses erste baumuster, wo halt der vokal lang gesprochen wird, dass man da noch zusätzliche geeignete wörter anbietet. zum beispiel statt ‚rasen‘ könnte man ja auch ‚dose‘ anbieten oder ‚sofa‘Footnote 5“. (Interview 13, Z. 223–226)

Auch die herausragende Rolle des Lesens wurde nicht immer wahrgenommen. Bei konkreten Fragen zur Umsetzung im Unterricht zeigen die Antworten zudem, dass die Lehrkräfte noch nicht genügend Zeit hatten, den neuen Ansatz zu verinnerlichen und zu erproben. Allerdings lagen maximal 14 Tage zwischen Workshop und Interview, sodass es eher erstaunlich ist, dass einige Lehrkräfte schon erste Erprobungsschritte gewagt hatten. Viele Ausführungen bleiben jedoch vage und Gedankengänge werden häufig nicht beendet, sondern es wird darauf verwiesen, dass man den eigenen Unterricht und den neuen Ansatz noch einmal intensiver reflektieren müsse:

„ähmm finde ich sehr sympathisch, kann aber auch da noch nicht, ähnlich wie vorhin, noch nicht abschließend sagen, ähm wo das hinführen würde.“ (Interview 11, Z. 222–223)

Wird bei der Analyse der Aussagen der jeweilige Ausbildungsweg und das angegebene Vorwissen berücksichtigt, lässt sich in der Tendenz außerdem Folgendes feststellen: Je mehr Vorerfahrungen in der Kursarbeit, linguistisches Wissen sowie Kenntnis sprachdidaktischer Konzepte bei den Kursleitungen vorliegen (basierend auf Selbstangaben von den Lehrkräften), desto besser wird der schriftstrukturorientierte Ansatz durchdrungen und desto präziser sind die Antworten auf die Interviewfragen (Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Überblick über die wesentlichen Ergebnisse der Studie

7 Diskussion der Ergebnisse

Es ist zunächst festzuhalten, dass die Orientierung an der Schriftstruktur von den Expertinnen und Experten als gute Basis für die Alphabetisierung der (Zweit‑)Schriftlernenden betrachtet wird, auch wenn ein eintägiger Workshop nicht ausreicht, um den Ansatz umfassend zu durchdringen und im Unterricht sicher anzuwenden. Das unzureichende Verständnis des Ansatzes wird z. B. in Interview 14 deutlich, in dem das Wort „Wasser“ mit der Lautung „Wassa“ abgeglichen wird, anstatt über die Baumuster vorzugehen (s. oben). Dies zeigt die Notwendigkeit, längerfristige Fortbildungen mit Begleitprozessen in den Kursen zu initiieren und vor allem zielgruppenadäquates und variabel anpassbares Material zum Lesen- und Schreibenlernen zu entwickeln und zu erproben. In Fortbildungen, die sich idealerweise über einen längeren Zeitraum erstrecken sollten, sollte auf die unterschiedlichsten Umsetzungsmöglichkeiten eingegangen werden und in einem weiteren Schritt die Perspektive auf die hohe morphologische Konstanz und die vielfältigen und produktiven Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen gelenkt werden, sodass die hohe Passfähigkeit der Strukturorientierung mit der kommunikativen Orientierung des Erwerbs des Deutschen als Zweitsprache deutlich wird. Darüber hinaus müssen, auch wenn es vorrangig um die Verbesserung der Schreibleistungen gehen sollte, die Vorteile des Lesens als Ausgangspunkt für die Strukturerschließung und die Transferierbarkeit auf unbekannte Wörter deutlicher in den Fokus rücken. Die konservierende Funktion von Schrift und ihre hohe Eindeutigkeit ermöglichen es, Wörter (und später: Sätze) genauer zu betrachten, sie zu verändern (einzelne Buchstaben tauschen: Dosen-Rosen-Rasen) und dadurch mit einem überschaubaren Bestand an Wörtern eine große Anzahl an weiteren Wörtern bilden und analysieren zu können – und so, ohne umfangreiche Erklärungen, Regularitäten entdecken und nutzen zu können. Das Lesen als Ausgangspunkt hat außerdem den Vorteil, dass es neben dem Sprechen und Hören als weiterer „Kanal“ das Einprägen neuer Wörter unterstützen kann.

Der Faktor Zeit ist jedoch nicht nur für eine erfolgreiche und wirksame Fortbildung zentral, sondern auch hinsichtlich der Bereitschaft der Lehrkräfte, neue Lehrwerke und Konzepte in ihrem Unterricht zu erproben. Der jetzige zeitliche Rahmen in den Alphabetisierungen führt nach Aussagen der Interviewten häufig dazu, dass außerhalb des konkret Vorgeschriebenen keinerlei zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen und das oberste Ziel der Kurse zurzeit als „teaching to the test“ zusammengefasst werden kann. Hier wäre eine etwas entspanntere Zeitplanung wünschenswert.

Darüber hinaus wird in der Analyse der Interviews deutlich, dass der Ansatz mit den vom BAMF zugelassenen Lehrwerken und mit dem BAMF-Curriculum kollidiert, da dort ein lautbasiertes Konzept favorisiert wird sowie eine starke Fokussierung auf die Mündlichkeit erfolgt:

„… und vor allen dingen auch dieser zusammenhang, dass wenn unsere teilnehmenden lautbasiert lesen oder schreiben sollen, dann weiß man spätestens an irgendeinem punkt, was denn diese typischen fehler sind. da verschwindet der schwa laut hinten, der wird nicht mitgeschrieben und so ähnlich. und vor allem dingen, also mir ist dazu noch eingefallen, dass mittlerweile nach ein paar jahren flüchtlingszuwanderung bei uns zunehmend leute in den kursen sitzen, die sozusagen mündlich schon fließend falschsprecher geworden sind, weil sie schon jahrelang in deutschland unterwegs sind und furchtbar viel aufgeschnappt haben, die aber sich dem schriftsystem als zweitschriftlerner irgendwie auch nicht wirklich genähert haben, weil ihnen das so ziemlich egal, glaube ich, ist. was die dann machen, wenn sie dann schreiben sollen, das ist, dass sie fließend falsch schreiben. also was eine ziemliche katastrophe ist, weil die leute eigentlich die chance hätten, in irgendwelche arbeitsprozesse oder beruf reinzukommen, aber sowohl dieses fließend falsch sprechen, als auch diese wirklich mangelnde orthographie, die natürlich dann denen irgendwann, wenn die sprachlich weiterkommen wollen, in völlig ((bricht ab)) das ist eine völlige einbahnstraße.“ (Interview 2, Z. 48–64)

Unbedingt anstrebenswert wären deshalb weitere Erkundungen (durch Beobachtungen und Untersuchungen der Bedingungen in einzelnen konkreten Alphabetisierungskursen) und Unterstützungen der Lehrkräfte (durch Fortbildungen und Materialentwicklungen) und durch Interventionsstudien, sodass auf dieser Basis konkrete Änderungsvorschläge für das BAMF-Curriculum und die Neukonzeption von Lehrwerken gemacht werden müssten, um den Erfolg von Alphabetisierungsmaßnahmen tatsächlich zu verbessern. Darüber hinaus besteht dringender Handlungsbedarf, was die Auswahl sowie die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte in Integrations- und Alphabetisierungskursen betrifft. Schon die Befunde aus unserem kleinen Sample zeigen, dass Personen mit linguistischem Vorwissen deutlich bessere Zugänge zu neuen Konzepten finden und ihre Relevanz im Hinblick auf die eigenen Kurse fachkundiger einschätzen können. Die Tragweite dieses Ergebnisses wird umso deutlicher, wenn man es mit Befunden aus der Lehrerprofessionalisierungsforschung verknüpft, wonach das fachspezifische Wissen von Lehrkräften einen entscheidenden Einfluss auf den Lernerfolg hat (vgl. u. a. Kunter et al. 2011). Das bedeutet zum einen, dass, wenn die beruflichen Perspektiven in der Erwachsenenalphabetisierung sich nicht deutlich verbessern und nicht deutlich besser ausgebildete Personen die entsprechenden Kurse leiten, es zumindest gut und problemlos einsetzbares Lehr-Lern-Material geben muss, das den Lehrkräften sehr klare Hinweise für den Unterricht geben kann. Zum anderen schlussfolgern wir aus diesem Befund, dass die prekären Anstellungsbedingungen, mit denen es die Integrations- und Alphabetisierungslehrkräfte häufig zu tun haben (Honorarbasis, Bezahlung nur für erteilte und nicht für nicht zustande gekommene Kurse, keine Bezahlung von Fortbildungen usw.), der Vergangenheit angehören müssen, damit besser literalisierte und damit mündigere Menschen in Deutschland echte Perspektiven sehen können. Die aktuellen Herausforderungen infolge starker Migrationsbewegungen durch Flucht und Zuwanderung lassen sich nur so für alle Seiten befriedigend bewältigen.