1 Einleitung

Dass das Lernen Erwachsener als ein Mittel zur Bewältigung gesellschaftlicher Problemlagen thematisiert wird, ist längst kein neues Phänomen mehr. Kennzeichnend für solche Dynamiken der Pädagogisierung (vgl. auch Proske 2002) ist die Herleitung einer Notwendigkeit zu Lernen aus der Benennung eines gesellschaftlichen Problems. Als dominierende Fragen ergeben sich vor diesem Hintergrund, wie es dazu kommen kann, dass Adressatinnen und Adressaten die benannten Probleme und lösungsrelevanten Aspekte angemessen wahrnehmen, und wie sie die Fähigkeit entwickeln können, diese in ihrem Handeln zu berücksichtigen sowie entsprechende Formen der Problembearbeitung von sich aus in Angriff zu nehmen. Ausgangspunkt einer solchen Variante der Pädagogisierung gesellschaftlicher Probleme ist somit die Unterstellung eines Lernmangels.

Im Horizont einer solchen – vom gesellschaftlichen Problem und nicht vom Lernen – ausgehenden Perspektivierung bleibt unbeobachtet, wo, wie, wodurch und für wen gesellschaftliche Probleme zum Gegenstand des Lernens werden bzw. bereits geworden sind. Im vorliegenden Beitrag nehmen wir diese Frage zum Ausgangspunkt, um uns dem Verhältnis von gesellschaftlichen Problemlagen und Lernen von einer veränderten Perspektive aus anzunähern. Wir greifen hierfür auf das in der Erwachsenenbildungswissenschaft eingeführte Konzept der Lernanlässe zurück und untersuchen, welche Möglichkeiten der analytischen Bestimmung und der empirischen Analyse sich mit ihm eröffnen. Hierfür nutzen wir als Beispiel das aktuell besonders prominent thematisierte Verhältnis des Lernens Erwachsener zur Klimakrise.

In einem ersten Schritt wenden wir uns kritisch der Genese der Konzepte „Umweltbildung“ und „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ zu und arbeiten heraus, dass in ihnen der Frage nach Lern-Anlässen keine systematische Bedeutung zugemessen wird. Die ökologische Krise wird hier vielmehr vorwiegend als Lern-Notwendigkeit, somit als Lehr-Anlass diskutiert. (2).

Anschließend setzen wir uns mit erwachsenenpädagogischen Konzepten auseinander, die danach fragen, woraus sich Anlässe individuellen Lernens ergeben. Diskutiert werden das Auftreten eines nicht unmittelbar zu bewältigenden Handlungsproblems (Holzkamp 1995), der Prozess der Genese von Interesse (Grotlüschen 2010) und die irritierende Erfahrung von Fremdheit (Schäffter 1997). (3).

Die in diesen Konzepten vorgenommene Fokussierung auf die je individuellen Lernsituationen Erwachsener erweitern wir in einem dritten Schritt dadurch, dass wir auf die Bedeutung sozialer Kontexte für die Situierung von Lernen und damit für die Entstehung von Lernanlässen hinweisen, was wir exemplarisch anhand dreier Handlungskontexte vorführen. (4).

Abschließend erörtern wir zusammenfassend, welche Erkenntnismöglichkeiten sich im Rückgriff auf einen um soziale Konstitutionsbedingungen erweiterten Begriff von Lernanlässen für die empirische Analyse des Lernens Erwachsener im Umgang mit der gesellschaftlichen Problemlage „Klimakrise“ eröffnen. (5).

2 Die ökologische Krise als Lehranlass – Ein Blick zurück in die Entwicklung der Umweltbildung

Die Verknüpfung ökologischer Fragen mit Lernerwartungen hat eine lange Geschichte. So thematisiert beispielsweise die Anfang der 1970er-Jahre veröffentlichte UNESCO-Studie zum lebenslangen Lernen „Learning to be“ (Faure et al. 1972) Gefahren für die Menschheit, die sich aus einem weiteren unkontrollierten Voranschreiten technischer Entwicklungen ergeben. Ein Lernen Aller sei notwendig, um das entsprechende Bewusstsein und die Kompetenzen zu schaffen, so dass die Menschheit in die Lage versetzt wird, Technik zu ihrem Wohle einzusetzen und zu gestalten. Der sogenannte „Lernbericht“ des Club of Rome (Botkin et al. 1979) beklagt eine „Diskrepanz zwischen der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer Fähigkeit, ihr wirksam zu begegnen“ (S. 25). Daraus ergebe sich ein „Mißverhältnis zwischen Macht und Weisheit“ (Botkin et al. 1979, S. 92). Daher gelte es, „neue Formen des Lernens als Überwindung des menschlichen Dilemmas“ (Botkin et al. 1979, S. 28) zu etablieren.

Der Gedanke einer Bearbeitung der ökologischen Krise durch Lernanstrengungen findet sich nicht nur in Publikationen, die sich dezidiert auf Fragen des Lernens konzentrieren. Vielmehr wird Lernen regelmäßig auch dort zur Forderung, wo Wege zur Bewältigung der globalen ökologischen Krise gesucht und benannt werden. Als Beispiel kann der Brundtland-Bericht (Hauff 1987) gelten, der das Thema nachhaltige Entwicklung in den Diskurs einführt und mit Lernerwartungen verknüpft. Auch der letzte, vollständig vorliegende Klimabericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC 2014) hebt die Notwendigkeit von Lernen hervor.

Der übliche Weg, ökologische Fragen und Lernen aufeinander zu beziehen, besteht demnach darin, aus der Benennung ökologischer Probleme Lernnotwendigkeiten abzuleiten. Vor dem Hintergrund der Wahrnehmung, dass Menschen nicht einfach von sich aus lernen, wird die Anforderung abgeleitet, Vorkehrungen zu treffen, dieses Lernen wahrscheinlicher zu machen. So wird die ökologische Krise zu einem Anlass des Lehrens.

Im Verweis auf diese Forderung begründen sich auch die dezidiert pädagogischen Überlegungen, die sich an Konzepten wie „Umweltbildung“ (in den 1980er und 1990er-Jahren) (u. a. Apel 2010; Michelsen 1990) oder „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (in den 1990er und 2000er Jahren) (u. a. Apel 2016; Overwien 2020) orientieren. Sie fragen danach, welche Maßnahmen notwendig sind, um Formen des Lernens herbeizuführen, die den Herausforderungen der ökologischen Krise gerecht werden. Der Schwerpunkt dieser Diskussionen liegt dabei auf der Adressierung von Kindern und Jugendlichen in schulischen und außerschulischen Angeboten (vgl. Giesel et al. 2002), daneben werden aber auch Angebote der Erwachsenenbildung in den Blick genommen (z. B. Bräse 2004; Apel 2016). Trotz eines erheblichen Einsatzes von Mitteln und Zeit bleibt die Resonanz auf entsprechende Angebote in der Erwachsenenbildung vergleichsweise gering (schon Michelsen 1990, S. 47). Als ein wesentliches Problem wird die Beobachtung wahrgenommen, dass erworbenes Umweltwissen nicht notwendig umweltgerechtes Handeln nach sich zieht (vgl. u. a. Gräsel 1999).

Mögliche Gründe für diese eingeschränkte Reichweite der Lehrbemühungen in der Erwachsenenbildung werden in einem zu engen Verständnis von Umweltbildung mit Blick auf Wissen und daraus abgeleiteter handelnder Selbstverantwortung gesehen (vgl. Körber und Tutschner 1994). Erweiterungsversuche zielen darauf ab, Umweltbildung über verschiedene Ebenen zu verschränken, sinnlich (Naturerleben), wissend (Umweltwissen) und handelnd (Umwelthandeln) hin zur sogenannten Gestaltungskompetenz (vgl. Apel 2010). Auch diese kompetenzorientierte Perspektive im Konzept „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ lässt aber ungeklärt, warum die durch die Angebote adressierten Personen an entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen wollen (sollten) bzw. was sie zum (Nicht‑)Lernen im Hinblick auf die angebotenen Themenstellungen veranlasst. Diese Fragen werden zwar in der praktischen Umsetzung von Umweltbildungsangeboten notwendig immer mitbearbeitet – für einen Überblick über Angebote der Volkshochschulen vgl. Galina Burdukova (2019) –, in der theoretischen Reflexion werden sie aber bislang nicht systematisch diskutiert.

Während es also an programmatischen Forderungen einer pädagogischen Adressierung ökologischer Probleme zu keiner Zeit fehlte und diese Programmatiken auch im Zuge von Forschungen zur Pädagogisierung gesellschaftlicher Problemlagen einer Analyse unterzogen wurden (vgl. Proske 2002), sind empirische Analysen dazu, wie Lernen in konkreten sozialen Konstellationen auf ökologische Fragen bezogen ist und wie es sich zur Klimakrise verhält, rar gesät. Dies könnte unter anderem daran liegen, dass die Differenz zwischen programmatisch benennbaren gesellschaftlichen Lernanforderungen und den konkreten Bezugnahmen Erwachsener auf die gesellschaftlichen Problemlagen, die mit der Klimakrise einhergehen, bislang nicht ausreichend problematisiert wurde. Im vorliegenden Beitrag schlagen wir daher vor, das Konzept der Lernanlässe zu nutzen, um diese Differenz deutlicher herauszuarbeiten und so eine empirische Perspektive auf Konstellationen des Lernens Erwachsener im Horizont der Klimakrise zu eröffnen. Leitend ist dabei die Frage, durch welche Vorgänge es dazu kommt, dass die Klimakrise zu einem Lernanlass wird.

3 Wie wird etwas zum Lernanlass I: Individuumszentrierte Modelle

Um das Erkenntnispotential einer solchen Frageweise aufzuklären, betrachten wir zunächst drei Vorschläge zur theoretischen Beschreibung der Vorgänge, in denen etwas zum Lernanlass wird. Sie fokussieren in je unterschiedlicher Weise Prozesse, in denen sich Erwachsene je individuell auf die Welt beziehen. In der subjektwissenschaftlichen Perspektive Klaus Holzkamps steht die Betrachtung von Situationen des begründeten Handelns im Vordergrund (Holzkamp 1995). Anke Grotlüschen nimmt dagegen Vorgänge der Genese von Interessen in den Blick (Grotlüschen 2010). Ortfried Schäffter schließlich stellt die Erfahrung von Fremdheit in den Mittelpunkt (Schäffter 1997). Wir befragen diese drei Zugänge jeweils daraufhin, was sie zur Analyse der Genese von Anlässen des Lernens in der Klimakrise beitragen können.

3.1 Bearbeitung von Handlungsproblemen – Die subjektwissenschaftliche Lerntheorie nach Klaus Holzkamp

Anlässe zum Lernen ergeben sich in Klaus Holzkamps subjektwissenschaftlicher Lerntheorie (Holzkamp 1995) daraus, dass bei der bewussten Verfolgung selbstgewählter Ziele das Handeln nicht zum gewünschten Ergebnis kommt. Lernen wird notwendig, wenn „die Bewältigung der Problematik aufgrund bestimmter Behinderungen, Widersprüche, Dilemmata nicht im Zuge des jeweiligen Handlungsablaufs selbst […] möglich erscheint“ (Holzkamp 1995, S. 183). Lernhandeln begründet sich anlässlich solcher Handlungsproblematiken nicht notwendig immer, sondern nur in dem Fall, dass eine eingehende Befassung mit den spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen des Handelns von den Handelnden selbst als Möglichkeit wahrgenommen wird, diese Behinderungen zu überwinden. Dann werde eine „Lernhandlung ausgegliedert, quasi eine Lernschleife eingebaut“ (Holzkamp 1995, S. 183; Hervorhebungen im Original).

Soll die Frage untersucht werden, inwiefern und wie die Klimakrise zum Lernanlass wird, so gewinnen wir aus dieser Perspektive zunächst einmal die Möglichkeit, zwischen einer gesellschaftlich definierten Lernanforderung und einem subjektiv wahrgenommenen Lernanlass zu unterscheiden: „Lernanforderungen sind nicht eo ipso schon Lernhandlungen, sondern werden nur dann zu solchen, wenn ich sie bewußt als Lernproblematiken übernehmen kann“ (Holzkamp 1995, S. 185; Hervorhebungen im Original).

Werden Lernen und seine Anlässe in dieser Weise verstanden, so zeigt sich eine Lücke, in der in Kapitel 2 dargestellten argumentativen Ableitung individuellen Lernens aus gesellschaftlichen Problemlagen. Es bleiben die Fragen ungestellt und damit auch unbeantwortet, inwieweit, in welcher Weise und für wen aus der Klimakrise subjektiv relevante Handlungsprobleme erwachsen und in welchen Konstellationen diese Handlungsprobleme so wahrgenommen werden, dass sich das Einlegen einer Lernschleife als sinnvoller Umgang mit diesen Problemen erweist. Wird Holzkamps Konzept zu Grunde gelegt, so kann ein Anlass zum Lernen überhaupt erst dort entstehen, wo bereits intentional und begründet gehandelt wird und wo Probleme, die mit diesem Handeln verbunden sind, bewusst wahrgenommen werden. Es kann sich dabei nur das als Problem erweisen, was sich dem Erreichen des gewählten Ziels in den Weg stellt. Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern und wie es dazu kommt, dass Erwachsene die Klimafrage als ein Problem wahrnehmen, das die Verfolgung ihrer eigenen Handlungsziele fraglich werden lässt.

3.2 Mit Themen in Kontakt kommen – Die Theorie der Interessengenese nach Anke Grotlüschen

Das von Anke Grotlüschen anhand empirischer Beobachtungen entwickelte Konzept der Interessengenese (Grotlüschen 2010) nimmt die Frage in den Blick, wie Subjekte mit thematischen Gegenständen in Kontakt kommen und wie sich ihr Verhältnis zu den Gegenständen entwickelt. Dies steht im Zusammenhang mit einer Programmatik der Weiterentwicklung der Holzkamp’schen Perspektive zu einer „neo-subjektwissenschaftlichen Lerntheorie“ (Grotlüschen 2014), die auch die gesellschaftliche Bedingtheit und Gewordenheit von Subjekten mitberücksichtigt.

Mit dem Konzept der Interessengenese versucht Grotlüschen bereits diejenigen Prozesse der Auseinandersetzung von Subjekten mit Gegenständen systematisch mitzubeschreiben, in denen (noch) keine bewusste und intentionale Auseinandersetzung mit den Themen stattfindet. Konstellationen und Ereignisse werden damit nicht erst in dem Moment als potenzielle Lernanlässe betrachtet, in welchem sie bereits auf ein entwickeltes Interesse stoßen. Indem Interesse als ein „zyklisches Verhältnis eines Akteurs zu einem als relevant und attraktiv bewerteten Gegenstand“ (Grotlüschen 2010, S. 183) verstanden wird, können vielmehr auch diejenigen Momente eines eher diffusen Interesses in den Blick genommen werden, die am Beginn eines Prozesses der Interessengenese stehen. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass sich Interesse eingebettet in soziale Prozesse sowie im Horizont historischer und ökonomischer Lagen entwickelt (Grotlüschen und Krämer 2009).

Der Prozess der Interessengenese wird im Hinblick auf zwei Dimensionen konzeptualisiert, die auf zueinander orthogonalen Achsen ins Verhältnis gesetzt werden (s. Abb. 1). Im Hinblick auf die habituelle Dimension wird zwischen den Polen „Einflüsse“ und „Beteiligung“ unterschieden, im Hinblick auf die pragmatische Dimension zwischen den Polen „Berührung“ und „Distanz“.

Abb. 1
figure 1

Interessengenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen (Grotlüschen 2010, S. 291)

Ausgangspunkt und essenziell für die Interessengenese ist eine erste, externe Berührung mit dem Gegenstand. Durch die Berührung werden „interne Relevanzsysteme aktiviert […] und die Bedeutung der externen Gestände durch die handelnden Akteure festgelegt“ (Grotlüschen 2010, S. 214). Die Berührung, so arbeitet es Grotlüschen aus dem empirischen Material heraus, kann sich dabei pointiert (Berührung als Einzelereignis), kontinuierlich (unspezifische Erstberührung, aber immerwährende Berührung), diffus (Berührung nicht erinnerbar) oder abwägend (bewusste/reflektierte Entscheidung) ausgestalten (Grotlüschen 2010, S. 190–200). Momente der Berührung erfahren in der retrospektiven Betrachtung eine fast selbstverständliche „Kontinuitätszuschreibung“ (Grotlüschen und Krämer 2009, S. 26). Die Befragten können keinen Zeitpunkt, sondern vielmehr nur ein andauerndes Erleben beschreiben. Die Interessengenese beginnt damit vor der Bewusstwerdung (Grotlüschen und Krämer 2009).

Nach der Phase der Berührung vollzieht sich die Interessengenese in drei weiteren Phasen: In der Latenzphase ist das mögliche Interesse noch sehr fragil, es kann letztlich auch versanden (Grotlüschen 2010, S. 200). In der Expansionsphase kommt es zu einer Verstetigung und dadurch zur Spezialisierung. Hierfür bedarf es der Wahrnehmung von Beteiligungsmöglichkeiten. In der Phase der Kompetenz, in der sich die Interessen bereits stabilisiert haben, steht dann ein „oft erhebliches und differenziertes Wissen“ im Vordergrund, welches jedoch keineswegs gesättigt ist (Grotlüschen 2010, S. 209). In der Phase der Distanz lässt nach dem Ansteigen und Verstetigen das Interesse wieder nach.

Im Horizont dieser Betrachtungen zeigt sich, dass eine Analyse der Genese von Lernanlässen notwendig auch die soziale Genese von Anlasskonstellationen in den Blick nehmen muss, weil „[j]ede Berührung mit Interessengegenständen […] davon ab[hängt,] mit welchen Menschen und Ressourcen Subjekte umgeben sind – und jede Bewertung der Berührungsmomente […] davon ab[hängt], welche praktischen oder ästhetischen Maßstäbe sich das handelnde Subjekt im Herkunftsmilieu angeeignet hat“ (Grotlüschen 2010, S. 186).

Vor dem Hintergrund dieses Modells lässt sich die Frage, wie die Klimakrise zum Lernanlass wird, als Frage danach konkretisieren, wie und in welchen konkreten sozialen Zusammenhängen Erwachsene mit Problemen der Klimakrise in Kontakt geraten und welche Bedingungen für eine voranschreitende Interessengenese oder auch für eine thematische Abwendung in den jeweiligen Kontexten jeweils bestehen.

3.3 Irritierende Differenzwahrnehmung – Das relationale Modell des Umgangs mit Fremdheit nach Ortfried Schäffter

In der von Ortfried Schäffter vorgeschlagenen Fokussierung auf Erfahrungen von „Fremdheit als Lernanlaß“ (Schäffter 1997) verlagert sich der Schwerpunkt der Analyse noch stärker auf die sozialen Konstellationen, in denen sich Lernanlässe ergeben. Im Mittelpunkt stehen hier Relationen zwischen Kontexten, denen sich Erwachsene zugehörig fühlen, und zu solchen, die sie als fremd erfahren. Fremdheit ergibt sich dabei als eine Relation zum jeweils Eigenen. Im Mittelpunkt steht damit die „Positionsgebundenheit“ (Schäffter 1997, S. 93) Erwachsener, vor deren Hintergrund sich potenzielle Lernanlässe ergeben, sobald Erwachsene es mit einer Pluralität sozialer Kontexte und Positionen zu tun bekommen. Im Zuge der Erfahrung von Fremdheit werden „Differenzlinie[n]“ gezogen, „die unvergleichbare „Kontextierungen“ trenn[en]“ (Schäffter 1997, S. 94) und damit zugleich aufeinander beziehen. Die entstehenden Grenzlinien werden „als Berührungs‑, Kontakt- oder Reibungsflächen für Fremderfahrung genutzt“ (Schäffter 1997, S. 118). Dabei geht es nicht um Entgrenzung im Sinne einer Suche nach Gemeinsamkeiten, sondern darum, dass „sinnstiftende Unterscheidungen“ notwendigerweise bestehen bleiben, und als produktiv aufgefasst werden (Schäffter 1997, S. 119). Erst in der Erfahrung der Grenze wird ggf. ihre transitorische Überschreitung möglich.

Das dem betreffenden Erwachsenen aufgrund der jeweiligen sozialen Positionierung Fremde wird „als etwas Widerständiges und nicht nur in positivem Sinne Überraschendes erlebt“ (Schäffter 1997, S. 120). Diese Erfahrung induziert Irritationen, die zu einem „Mobilisierungsereignis“ werden können (Schäffter 1997, S. 122; Hervorhebungen im Original). Lernen stellt allerdings nur eine mögliche und keineswegs die „Normalform“ des Umgangs mit Irritationen dar, „sondern eine voraussetzungsvolle, höherstufige Sonderreaktion“ (Schäffter 1997, S. 122). Häufig werden vielmehr Irritationen entweder überhaupt nicht wahrgenommen (Normalisierungsstrategie) oder es wird sich auf das Erwartbare konzentriert, Abweichungen werden bagatellisiert oder durch die Zurichtung im Kontext des Bekannten banalisiert (Schäffter 1997, S. 121). Anlass zum Lernen – ausgelöst durch die Irritation – besteht erst dann, „wenn andere Reaktionen versagen“ (Schäffter 1997, S. 123) und damit „das vorausgesetzte normative Profil der Erwartungsstruktur nicht mehr greift“ (Schäffter 2001, S. 190). Die Irritation wird bewusst, wenn die Erfahrung von Nicht-Verstehen zugelassen wird. Das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen ist dabei noch unbestimmt. Je deutlicher jedoch durch den Lernanlass das Nicht-Wissen hervortritt, desto eher ergibt sich eine Suchbewegung, „an die sich sehr unterschiedliche Lernstrukturen anschließen“ (Schäffter 2001, S. 191).

Die Modellierung von Anlasskonstellationen des Lernens, die hier von Schäffter vorgeschlagen wird, lenkt den Blick auf die Bedeutung der Pluralität sozialer Kontexte, in denen je unterschiedliche Geltungshorizonte von Wissen als relevant gesetzt werden (vgl. auch Dinkelaker et al. 2020; Dinkelaker 2022b). Dieser Blick erweist sich für die Analyse der Konstitution von Lernanlässen in der Klimakrise als aufschlussreich, weil „Klimawandel“ ein Phänomen darstellt, das unterschiedlichste soziale und ökologische Kontexte überspannt und in welchem „geophysikalische Elemente und soziale, ökonomische und politische Prozesse und Institutionen ineinandergreifen“ (Stehr und Machin 2019, S. 9). Es befassen sich entsprechend nicht nur verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen mit dem Klimawandel. Er wird darüber hinaus auch in vielfältigen außerwissenschaftlichen Zusammenhängen verhandelt. Das bei der Bearbeitung des Klimawandels herangezogene Wissen stammt dabei nicht nur aus dieser Vielzahl von Entstehungskontexten, sondern wird auch über die Grenzen dieser Kontexte hinweg vermittelt. Bei jedem Übertritt über Kontextgrenzen wird damit Klimawissen zu einem potenziellen Anlass von Fremdheitserfahrung. Betrachten wir die Frage, wie die Klimakrise zum Lernanlass wird, gilt es also auch zu klären, wie die Bearbeitung von Problemen des Klimawandelns dazu führt, dass unterschiedliche Kontexte der Wissensgenerierung und -anwendung zueinander in ein Austauschverhältnis geraten.

4 Wie wird etwas zum Lernanlass II: Beispiele für die soziale Genese von Lernanlässen

Die Überlegungen aus dem vorangegangenen Kapitel legen es nahe: Sobald nicht einfach abstrakt und ohne konkrete thematische Bezüge über Lernanlässe gesprochen, sondern die Frage behandelt wird, inwiefern und wie eine spezifische Problemkonstellation zum Lernanlass wird, müssen auch die sozialen Kontexte mitbetrachtet werden, in denen etwas – hier die Klimakrise – als Thema aufgeworfen und zum Problem erhoben wird. Im Folgenden wollen wir dies anhand explorativer Beobachtungen aus drei unterschiedlichen sozialen Kontexten individuellen Handelns exemplarisch aufzeigen. Anhand dieser Beobachtungen fragen wir, wie es in diesen Kontexten jeweils dazu kommt, dass die Klimakrise zu einem Anlass individuellen Lernens wird.

Mit den hier vorgestellten empirischen Beispielen wird kein Anspruch auf eine erschöpfend-systematische empirische Analyse dieser Kontexte oder gar ein Anspruch auf eine vollständige Bestimmung der Kontexte des Lernens in der Klimakrise erhoben. Sie dienen vielmehr der Plausibilisierung des Arguments, dass eine empirische Analyse sozialer Kontexte notwendig ist, wenn die Genese von Lernanlässen untersucht werden soll und sie dienen der Veranschaulichung der großen Bandbreite von Kontexten, in denen die Klimakrise zum Anlass des Lernens werden kann.

4.1 Massenmediale Aufforderung zur klimaorientierten Selbsterziehung

Das erste Beispiel betrifft die Thematisierung von Orientierungen der alltäglichen Lebensführung in den Massenmedien. Sie wird durchzogen von der Erwartung, dass jede und jeder Einzelne angesichts der grundlegenden gesellschaftlichen Problemlage „Klimakrise“ dazu herausgefordert ist, alltägliche Praktiken wie Wohnen, Sich-Kleiden, Essen, Reisen oder Einkaufen anders zu gestalten. In dieser Erwartung schwingt die moralische Frage mit, inwieweit die Einzelnen auch bereit sind, eventuelle Einschränkungen der Lebensqualität in Kauf zu nehmen, die mit einer solchen Umstellung einhergehen (könnten) (Pritz 2018; Krug 2020). Zum Anlass der Adressierung Erwachsener als potenzielle (und potenziell auch widerständige) Lernende wird hier die Unterstellung, dass sich die gesellschaftliche Problemlage nur durch eine Fülle individueller Einzelanstrengungen klimaorientierter Selbsterziehung bewältigen lässt.

Die Klimakrise erscheint in dieser Thematisierungsweise als eine nicht-intendierte und für die jeweils Handelnden auch nicht unmittelbar wahrnehmbare Nebenfolge von Prioritätensetzungen der alltäglichen Lebensführung. Die problematischen Auswirkungen dieses Handelns treten erst im massenhaften Zusammenwirken zahlreicher Akteure, in zeitlicher Verzögerung und zudem an weit entfernten Orten auf. Sie werden damit nicht unmittelbar als Probleme erkennbar, die den individuellen Handlungsvollzug behindern. Die problematischen Aspekte des individuellen Handelns zeigen sich vielmehr erst im Zuge aufwendiger wissenschaftlicher Beobachtungen und Analysen, deren Ergebnisse wiederum in den Massenmedien thematisiert werden. Aus der Perspektive der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie ergeben sich damit subjektive Gründe, eine Lernschleife einzulegen, nur dann, wenn das globale Phänomen „Klimawandel“ als eine Schwierigkeit wahrgenommen wird, die sich der Verfolgung eigener Handlungsziele entgegenstellt. Solche Zusammenhänge zwischen je individuellem Handeln und kollektiven Nebenfolgen lassen sich allerdings überhaupt erst im Horizont des medial vermittelten Wissens über den Klimawandel und seine Ursachen herstellen. Woraus ergibt sich aber der Anlass, sich dieses Wissen anzueignen?

Die zahlreichen und vielfältigen Formate der medialen Vermittlung von Klimawissen lassen sich dahingehend unterscheiden, wie sie auf diese Frage eingehen und wie sie sie beantworten. Da mediale Vermittlungsangebote die je konkreten Lernanlässe ihrer Adressatinnen und Adressaten nur sehr eingeschränkt kennen können, müssen sie dabei auf typisierende Anlassunterstellungen zurückgreifen. Dies ist verbunden mit Annahmen über die je individuellen Perspektiven, in deren Horizont den Adressatinnen und Adressaten das globale Phänomen als ein lokales Handlungsproblem erscheint. Besonders anschaulich lassen sich solche Anlassthematisierungen anhand von Ratgeberliteratur herausarbeiten, die dieses Thema zum Gegenstand macht. Die Besonderheit des Formats Ratgeber besteht nämlich darin, dass sich in ihm mediale Vermittlung am Versprechen ausrichtet, lebenspraktische Probleme bearbeitbar zu machen (Dinkelaker 2022a). Daher lässt sich anhand von Ratgebern beobachten, welche konkreten Handlungskonstellationen aufgerufen werden, wenn Erwachsene im Zusammenhang mit der Klimafrage als Personen mit Lerninteressen adressiert werden.Footnote 1

Das „Klimasparbuch Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau“ wirbt beispielsweise damit, dass durch die in ihm enthaltenen Ratschläge und Gutscheine Geld und Energie eingespart werden kann (EVTZ Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau & oekom e. V. 2019, S. 3). Die Bearbeitung des kollektiven Problems, Energie zu sparen, wird hier verknüpft mit der Bearbeitung eines individuellen Problems: der Reduktion von Lebenshaltungskosten.

Das kleine Bändchen „Every Day For Future“ (Prima Klima 2019) stellt 100 Ideen für diejenigen vor, die – motiviert durch das Vorbild Greta Thunbergs – selbst etwas für das Klima tun wollen. Hier steht die antizipierende Erwartung einer zukünftigen individuellen Betroffenheit durch den Klimawandel im Vordergrund und die Möglichkeiten, durch schnell umsetzbare Lösungen direkt etwas für die Abwendung der drohenden Katastrophe unternehmen zu können.

„Der Klima-Knigge“ (Grießhammer 2007) verspricht seinen Leserinnen und Lesern, ihnen die Grundlagen einer den Klimaherausforderungen angemessenen alltäglichen Lebensführung zu vermitteln. Das Problem, das hier als Anlass der Lektüre unterstellt wird, besteht darin, dass die Leserinnen und Leser gerne als Personen wahrgenommen werden würden, die sich der kollektiven Herausforderung des Klimawandelns stellen, dass aber nicht gewusst wird, was es bei einem solchen klimaangemessenen Verhalten zu berücksichtigen gilt und an welchem Wissen sich ein solch angemessenes Handeln orientieren kann.

Der von der ehemaligen RTL-Moderatorin Janine Steeger verfasste autobiographisch ausgestaltete Ratgeber „Going Green“ schließlich wirbt mit der Beantwortung der Frage, „warum man nicht perfekt sein muss, um das Klima zu schützen“ (Steeger 2020). In ihm steht der Umgang mit dem Problem im Vordergrund, dass eine veränderte Lebensführung mit Herausforderungen im Umgang mit den Erwartungen des sozialen Umfelds und mit der Balancierung der eigenen Selbstsicht einhergeht.

Vorangegangene Berührungen mit dem Thema „Klima“ werden in allen Ratgebern bereits vorausgesetzt. Diese Berührungen werden zum Ausgangspunkt für die Darstellung neuer, den Leserinnen und Lesern bislang nicht bekannter Aspekte genommen. Die Ratgeber bieten sich so als Instanzen an, über die sich Interesse vertiefen lässt. Auch wenn es die Rhetorik des Rat-Gebens nahelegt, greifen sie dabei nicht einfach nur vorhandene Interessen auf, sondern legen potenziellen Leserinnen und Lesern auch eine mögliche Motivlage nahe, die diese – ggf. auch nur versuchsweise – für sich übernehmen können.

Im Vordergrund stehen damit eher Angebote der Identifikation mit Eigenem und nicht der Irritation durch Fremdes. Das in den Ratgebern durchaus dargestellte Neue und Andere wird vielmehr im Horizont des der Leserschaft unterstellten eigenen Erfahrungshintergrunds plausibilisiert. Gerade die Entproblematisierung von Differenz wird in dieser Konstellation medialer Wissensvermittlung zur Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit dem bislang Unbekannten.

Anhand der hier exemplarisch dargestellten Ratgeber wird deutlich, dass Angebote medialer Vermittlung von Klimawissen nicht nur auf manifeste Lernanlässe reagieren. Vielmehr ist ihr Angebot selbst als potenzieller Lernanlass in den Blick zu nehmen. Mit diesen medialen Angeboten der Wissensvermittlung und Selbstbeobachtung werden den Leserinnen und Lesern konkrete Vorschläge unterbreitet, wie sie ihre eigene Lebenssituation und ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Problemlage verstehen und diese zum Anlass ihres je individuellen Lernens (oder Nicht-Lernens) erheben können (Carvalho 2010). Dabei stellt die Pluralität von Wissensvermittlungsangeboten selbst ein wesentliches Moment dieser Lernanlassstruktur dar.

4.2 Kollektive Selbstpädagogisierung und öffentliche Fremdaufklärung in Klimainitiativen

Als zweites Beispiel dafür, dass es bei der Analyse von Prozessen der Konstitution von Lernanlässen soziale Bedingungen zu berücksichtigen gilt, dient uns ein Fall aus dem Kontext der sozialen Bewegungen (zum Lernen in sozialen Bewegungen vgl. u. a. Rodemann 2008; Naumann 2010; Trumann 2013; Thomsen 2020). Dieses Beispiel steht für Konstellationen, in denen nicht allein Anlässe für individuelles, sondern auch für kollektives Lernen thematisiert werden.

Die auf den Aufruf einer Einzelperson in Großbritannien aus dem Jahr 2007 zurückgehende, mittlerweile aber in zahlreichen Städten der Welt, auch im deutschsprachigen Raum, dezentral organisierte Transition-Town-Bewegung versteht sich als „ein selbstlernendes Netzwerk, das den Wandel zu einer lebensbejahenden, nachhaltigen und gerechten Gesellschaft mit Kopf, Herz und Hand angeht“ (Transition Netzwerk 2016, S. 1). Das Ziel ist es, einen „umfassenden Gesellschafts- und Kulturwandel“ (Transition Netzwerk 2016, S. 1) zu bewerkstelligen, für den sich jede und jeder individuell einbringt. Die Initiativen innerhalb der Bewegung reichen von Tauschläden über kritische Stadtspaziergänge und Gesprächsreihen bis hin zur Entwicklung von Zukunftsorten wie gemeinsamen Gärten und Küchen.Footnote 2

Anders als in der beschriebenen Konstellation der medialen Wissensvermittlung (s. Kapitel 4.1.) wird hier ein Problem in den Vordergrund gestellt, das einer kollektiven Lösung bedarf: die Herbeiführung eines gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Als Voraussetzung dafür wird wahrgenommen, dass entsprechende Weisen des Zusammenlebens etabliert und verstetigt werden. Daraus ergibt sich eine andere Art der Etablierung von Lernanlässen. Das beginnt damit, dass als Subjekt des Lernens ein „Wir“ benannt wird und dass dieses Kollektiv sich selbst als lernend adressiert (hierzu auch Proske 2002). Die in der Verfolgung dieses kollektiven Lernauftrags auftretenden, je individuellen Lernherausforderungen und -anlässe rücken dadurch zunächst in den Hintergrund. Betont wird vielmehr eine Anlassstruktur, die sich aus gemeinsamer Betroffenheit und gemeinsamem Engagement ergibt.

So entsteht die Fokussierung auf ungelöste Handlungsprobleme (wie lässt sich klimafreundlich leben), denen durch das gemeinsame Eintreten in kollektive Lernschleifen begegnet werden soll, wobei das Erproben neuer Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund steht. Durch die Vernetzung mit anderen – je lokal organisierten Initiativen – sollen Kreativität und Umsetzungsstärke erhöht werden.

Fremdheit wird im Kontext dieser Bewegung zuvorderst dort thematisch, wo Möglichkeiten gesucht werden, Menschen zu erreichen, die sich der Bewegung (bislang noch) nicht angeschlossen haben. Fremdheit wird so zunächst nicht zu einem Anlass des Lernens, sondern zu einem des Lehrens. Weil die Bewegung auf gesellschaftliche Verbreitung hin abzielt, tritt neben die pädagogische Selbst- auch eine Fremdadressierung. Mit dem Ziel „Aufklärungsarbeit“ zu leisten, werden die Projekte so ausgestaltet, dass sie öffentlich wahrnehmbar werden, etwa indem gut zugängliche Orte umgestaltet werden und niedrigschwellig zum Eintreten und Mitmachen eingeladen wird. Die Initiativen beobachten sich hier selbst im Hinblick darauf, wie ihre Aktionen zu einem Lernanlass Anderer werden können. Dabei berücksichtigen sie, für welche Handlungsprobleme Anderer sie Lösungsvorschläge unterbreiten können (z. B. durch die mobile Klimaküche als Cateringangebot), wie sie dafür sorgen können, dass Menschen mit der Thematik in Berührung kommen (u. a. Beschriftung von durch den Klimawandel gefährdeten Bäumen im öffentlichen Park) und wie sie Irritationen so gestalten können, dass an sie produktiv angeschlossen werden kann.

Der Bewegung liegt damit ein implizites Modell zunächst marginaler und dann fortschreitend verantwortlicher Beteiligung zu Grunde. Sie sucht nach Möglichkeiten, Menschen mit der von ihr bearbeiteten Thematik in Berührung zu bringen, die bislang noch nicht mit ihr in Kontakt waren. Sie lädt ein, sich zu engagieren und so das Interesse an der Thematik zunehmend zu differenzieren und zu vertiefen. Sie bedarf schließlich auch einer Beteiligung von Personen in der Phase entwickelter Kompetenz. Indem die in diesem Geschehen bearbeiteten Probleme als kollektive Lernherausforderungen thematisiert werden, werden diese unterschiedlichen Grade der Interessengenese in einen übergreifenden gemeinsamen Rahmen gestellt.

Sowohl für diejenigen, die sich als Mitglied dieser Bewegung verstehen, also auch für diejenigen, die mit ihren Angeboten in Kontakt treten, werden diese Thematisierungen kollektiver und individueller Lernanlässe zu einem Horizont der Selbstbeobachtung, aus dem sich je nach Identifikation oder Abgrenzung je individuelle Lernanlässe ergeben (können).

4.3 Rollenhandeln in Organisationen, die klimarelevante Problemstellungen bearbeiten

Ein drittes Beispiel dafür, wie der soziale Umgang mit der Klimakrise individuelle Lernanlässe induziert, betrifft das Handeln in Organisationen. Immer dann, wenn in Organisationen bezogen auf den Klimawandel Entscheidungen getroffen, vorbereitet und Ziele festgelegt werden, geraten Organisationsmitglieder mit klimarelevanten Problemstellungen in Berührung. Die jeweils in der Organisation übernommene Rolle und die damit verbundenen Aufgaben werden dann zu einem potenziellen Anlass des Lernens.

Als Beispiel kann hier das „Integrierte Kommunale Klimaschutzkonzept der Stadt Halle (Saale)“ (Stadt Halle (Saale) 2020) dienen.Footnote 3 Die Stadt Halle ist im Jahr 1992 Mitglied im „Klima-Bündnis“ geworden, einem Netzwerk aus Kreisen, Gemeinden, Bundesländern, NGOs und andere Organisationen mit Fokus auf lokale Maßnahmen für den globalen Klimaschutz. Sie hat sich damit zu einer kontinuierlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen vor Ort – orientiert an der Pariser Klimakonvention – verpflichtet. Für die Realisierung dieser Zielsetzung wurde – erstmals 2013 – ein kommunales Klimaschutzkonzept entwickelt und seitdem regelmäßig fortgeschrieben.

Dieses Konzept beinhaltet nicht nur Teilziele, die es bis zu bestimmten Zeitpunkten zu erreichen gilt (und deren Erreichung kontinuierlich überprüft wird), sondern benennt auch Maßnahmen für die Zielerreichung. Es werden insgesamt 52 Maßnahmen definiert, die den Feldern „Umsetzungsstrukturen“, „Stadtentwicklung“, „Private Haushalte“, „Unternehmen“, „Kommunale Einrichtungen“, „Energieversorgung“ und „Verkehr“ zugeordnet werden (vgl. Stadt Halle (Saale) 2020).

Wer bei der Stadt Halle angestellt ist oder bei einer ihrer Eigenbetriebe, kommt mit diesen Maßnahmen dann in Berührung, wenn ein Aspekt ihrer Umsetzung im eigenen Aufgabenbereich verortet ist. Je nachdem, an welcher Position jemand innerhalb des „Konzerns Stadt Halle“Footnote 4 verortet ist, können sich daraus sehr unterschiedliche Handlungsherausforderungen ergeben. So werden die leitenden Angestellten der stadteigenen Energieversorgungsbetriebe mit dem Klimaschutzkonzept in anderer Weise konfrontiert als die Belegschaft der stadteigenen Wohnungsgesellschaft. Der im eingerichteten „Dienstleistungszentrum Klimaschutz“ angestellte Mitarbeiter hat mit anderen Problemstrukturen umzugehen als die Stadträtin, die im Planungsprozess Entscheidungen mit zu verantworten hat. Immer dann, wenn die jeweils mit einer Aufgabe betrauten Organisationsmitglieder als Personen erscheinen, die noch nicht wissen, wie sie diese Aufgabe bearbeiten sollen und die entsprechenden Aufgaben nicht an andere Personen delegiert werden können, ergibt sich daraus ein Lernanlass (Dinkelaker 2009). Die betreffenden Personen werden damit konfrontiert, Leistungserwartungen und Kompetenzzuschreibungen miteinander auszutarieren und dabei neue wie alte Aspekte der Organisations- und Selbstwahrnehmung in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen.

Wie je im Einzelnen die Organisationsmitglieder im Horizont ihrer biographischen und lebensweltlichen Erfahrungshintergründe und im Kontext ihrer je aufgabenspezifischen Betroffenheit durch die Veränderungsziele auf diese Herausforderung reagieren und an welcher Stelle welche konkreten Lernanlässe für sie entstehen, ist durch diese organisationale Situierung selbst noch nicht determiniert. Das Konfrontiert-Sein mit entsprechenden Veränderungs- und Leistungsherausforderung wird aber zu einer gemeinsamen Grundlage des Umgangs mit Lernen und Wissen in dieser Organisation.

Ein wesentliches Merkmal des Klimaschutzkonzepts besteht beispielsweise darin, dass verschiedenste Akteure an der Planung und Umsetzung der Maßnahmen beteiligt sein sollen. So wird etwa dem Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern sowie der Kooperation mit Initiativen und weiteren Organisationen eine große Bedeutung zugemessen. Der konkrete Prozess der Erstellung und Fortschreibung des Konzepts liegt zudem gar nicht im „Konzern Stadt Halle“ selbst. Es wurde vielmehr ein Unternehmen beauftragt, das sich auf die Bewältigung solcher regionalen Klimaschutzkonzepte spezialisiert hat. Aus dieser Akteurskonstellation heraus ergeben sich zahlreiche Momente der Begegnung von Personen, die unterschiedlichen Kontexten der Generierung und Anwendung von Wissen zugehörig sind. Daraus resultiert ein erhöhtes Potenzial der Erfahrung von Fremdheit und Irritation.

Erkennbar wird anhand dieses Falls, dass sich der Kontakt mit klimarelevanten Themenstellungen – sowohl die Konfrontation mit Problemen der Umstellung auf ein klimaschonendes Wirtschaften als auch die Begegnung mit Neuen, damit potenziell fremden und ggf. auch irritierenden Sichtweisen – nicht notwendig aus persönlicher Einsicht in die oder aus subjektiven Betroffenheiten von der Klimaproblematik ergeben muss. Sie kann sich vielmehr auch aus der Mitgliedschaft in Organisationen und damit aus der Auseinandersetzung mit in Organisation jeweils übernommenen Rollen ergeben. Je nachdem, welche Rolle den Mitgliedern innerhalb der Organisation zugeschrieben wird, fällt diese Konfrontation thematisch verschieden aus. Um zu verstehen, wie die Klimakrise zu einem individuellen Lernanlass wird, muss daher auch beobachtet werden, wer in welcher Weise wie mit klimakrisenbedingten organisationalen Umstellungen konfrontiert ist und wie sich die betreffenden Personen im Horizont ihrer biographischen und lebensweltlichen Standorte auf die jeweils organisational angetragenen Themenstellungen beziehen.

4.4 Pluralität der sozialen Kontextualisierung von Lernanlässen

Im Überblick über die drei exemplarisch diskutierten Kontextkonstellationen lässt sich erkennen, dass sich Erwachsene in unterschiedlichen sozialen Kontexten je unterschiedlich auf die Klimakrise beziehen und auf sie bezogen werden. Die Art und Weise ihrer Situierung in den jeweiligen Kontexten prägt die Bedingungen, unter denen Anlass zum Lernen besteht. Deutlich wird damit, dass der Prozess der Entstehung von Lernanlässen nicht erst dort einsetzt, wo sich Erwachsene als einzelne Lernende auf die Klimakrise beziehen. Diesen Bezugnahmen geht vielmehr Kommunikation über die mit ihr verbundenen Problemstrukturen voraus. Im Sprechen und Schreiben über die Klimakrise wird diese auf die eine oder andere Weise interpretiert und sie wird in je spezifischer Weise auf die Personen bezogen, die mit ihr zu tun haben. Bei der Verfolgung der Frage, wie die Klimakrise zum Lernanlass wird, gilt es daher, diese Prozesse der Relationierung der Klimakrise zu spezifischen Personen(gruppen) bzw. der Adressierung spezifischer Personen(gruppen) im Horizont der Klimakrise mit zu untersuchen und daraufhin zu befragen, wie sie zum Anlass dafür werden, dass sich Erwachsene als Lernende (oder Nicht-Lernende) auf die Klimakrise beziehen.

5 Reflexion: Potenziale der analytischen Fokussierung von Lernanlässen

In diesem Beitrag haben wir gefragt, inwiefern es das Konzept der Lernanlässe erlaubt, das Verhältnis des Lernens Erwachsener zur Klimakrise analytisch differenzierter und empirisch fundierter in den Blick zu nehmen. In einem ersten Schritt haben wir aufgezeigt, dass in der bisherigen Thematisierung von Umweltbildung und „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ die Frage nach individuellen Lernanlässe keine ausreichende Berücksichtigung gefunden hat. Dann haben wir herausgearbeitet, dass es die in der erwachsenenpädagogischen Literatur diskutierten Konzeptualisierungen des Phänomens „Lernanlass“ erlauben, klimarelevantes Lernen aus den programmatischen Kontexten gesellschaftlicher Lernerwartungen herauszulösen und in den Kontext der je individuell pluralen Aneignung der Klimafrage zu stellen. Problemwahrnehmung, Interessengenese und Irritationserfahrungen wurden dabei als zentrale Aspekte sichtbar. Vor dem Hintergrund dieser Fokussierung auf die individuelle Genese von Lernanlässen wurde deutlich, dass ihre Rekonstruktion wiederum ohne eine Analyse der je spezifischen sozialen Situierungen unvollständig bleiben muss. Für wen etwas wann wie zum Problem wird, welche Möglichkeiten, Grenzen und Widerstände der Genese von Interesse sich ergeben, wo Erwachsene auf Irritationen stoßen und welche Möglichkeiten des Umgangs ihnen damit offenstehen, dies alles ist abhängig von den jeweils konkreten Thematisierungs- und Adressierungskonstellationen, in denen Erwachsene sich bewegen. Diese Konstellationen konstituieren damit die „Aneignungsverhältnisse“ (Kade 1993), in denen die Klimakrise zum Ausgangspunkt und Gegenstand von Lernen werden kann.

Die in diesem Beitrag zur Veranschaulichung herangezogenen Beispiele haben in diesem Zusammenhang einen illustrierenden Charakter. Über solche explorativen Erhebungen hinaus wäre es notwendig, in systematisch angelegten empirischen Untersuchungen die Frage weiterzuverfolgen, wie und in welchen konkreten Konstellationen die Klimakrise zum Anlasse des Lernens wird. Uns ging es in diesem Beitrag darum, eine entsprechende Perspektive zu begründen und damit zu plausibilisieren, dass in ihr sowohl die Struktur von Lernanlässen ihn ihrer subjektiven Bedeutsamkeit als auch die Strukturen der sozialen Genese spezifischer Anlasskonstellationen zu berücksichtigen sind. Eine solche Perspektive eröffnet nicht nur neue empirische Perspektiven darauf, wie es zum Lernen in der Klimakrise kommt. Sie schafft auch einen erweiterten Horizont für Überlegungen darüber, an welcher Stelle und wie eine erwachsenenpädagogische Begleitung dieses Lernens sinnvoll ansetzen kann.