1 Einleitung

Gesetze zur Bildungsfreistellung, zum Bildungsurlaub oder zur Bildungszeit existieren in Deutschland seit mehr als 40 Jahren.Footnote 1 1974 traten in Hamburg, 1975 in Niedersachsen und Bremen die ersten Bildungsfreistellungsgesetze in Kraft, gefolgt von weiteren Bundesländern in der Bundesrepublik. Nach der Wende wurden in Brandenburg (1993), Sachsen-Anhalt (1998) und Mecklenburg-Vorpommern (2001), Thüringen und Baden-Württemberg (2015) entsprechende Gesetze verabschiedet. In jedem Bundesland bis auf Bayern und Sachsen haben also sozialversicherungspflichtige Beschäftigte das Recht, sich jährlich fünf Tage zum Zwecke der beruflichen, politischen und, je nach Gesetz, kulturellen, allgemeinen oder gesundheitlichen Weiterbildung sowie für die Qualifizierung für ein Ehrenamt freistellen zu lassen.Footnote 2

Die Besonderheit der Regelungen liegt darin, dass die Berechtigten die Inhalte der Weiterbildung entsprechend ihren subjektiven Interessen frei wählen können und vom Arbeitgeber freigestellt werden müssen. Der Anspruch kann nur aufgeschoben werden, wenn dringende betriebliche Gründe dagegensprechen, er darf aber nicht endgültig abgelehnt werden. Einige Gesetze ermöglichen auch eine Kumulation der Zeitansprüche, wodurch innerhalb von zwei Jahren zehn Tage für die Bildungsfreistellung zur Verfügung stehen (Schmidt-Lauff 2018).

Die Etablierung der Bildungsfreistellungsgesetze in den 1970er-Jahren wurde auf der einen Seite wissenschaftlich-pädagogisch begründet, auf der anderen Seite politisch-ökonomisch (Görs 1978, S. 137). Die Gewerkschaften sahen im Bildungsurlaub eine Chance, die Bildungsungleichheit zu bekämpfen und auch bildungsferne Personen zu erreichen. Sie betonten das gesamtgesellschaftliche Interesse dieses bildungspolitischen Instruments für die Umsetzung von Chancengleichheit (ebd., S. 138). Bildungsurlaub sollte als „Initialzündung“ weitergehende Bildungsprozesse in Gang setzen (Strzelewicz 1970, S. 8).

Die Arbeitgeber lehnten v. a. die Möglichkeit der Teilnahme an politischen Bildungsveranstaltungen ab. Sie fürchteten, dass Betriebe auf diese Weise „zum Austragungsort konträrer Ideologien umfunktioniert werden“ und dass „Gegner der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf Kosten derer, die sie bekämpfen, geschult werden“ (zitiert in Görs 1978, S. 137). Weitere Argumente gegen die Bildungsfreistellung beziehen sich u. a. auf die geringe betriebliche Verwertbarkeit bzw. den geringen beruflichen Nutzen des Gelernten, die Behinderung von Arbeitsabläufen durch die Freistellung sowie auf niedrige Teilnahmequoten der in den Gesetzen genannten Zielgruppen.

Trotz aller Kritik an den Bildungsfreistellungsgesetzen hat sich im Laufe der Jahre aber dennoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass sie mit der Orientierung an den individuellen Bildungsbedürfnissen der Berechtigten durchaus ein Alleinstellungsmerkmal im Rahmen der Bildungsgesetzgebung für Erwachsene aufweisen. Sie können aus den gesetzlich anerkannten Weiterbildungsangeboten oder den Angeboten der anerkannten Träger Veranstaltungen frei auswählen.

Obwohl die Gesetze Möglichkeiten der Bildungsteilnahme jenseits von Qualifizierungszwängen eröffnen, nehmen seit ihrer Etablierung je nach Bundesland dennoch nur 0,5 bis höchstens zehn Prozent der Berechtigten die Freistellung in Anspruch (Schmidt-Lauff 2018, S. 24 f.). Die Gründe hierfür sind vielfältig, sie reichen von persönlichen Gründen wie fehlender Zeit, einem biographisch ungünstigen Zeitpunkt, geringen inhaltlichen Interessen oder persönlichen Nutzenerwartungen bis hin zu fehlender Unterstützung im Betrieb durch Vorgesetzte und Kolleginnen und Kollegen. Wissensdefizite über die gesetzlichen Möglichkeiten der Freistellung werden ebenfalls angeführt (ebd., S. 31).

Ausgehend von diesem widersprüchlichen Szenario führten die Autorinnen zwischen 2017 und 2021 eine subjektwissenschaftlich orientierte, qualitative Wirkungsstudie zur Mehrfachteilahme an Bildungsfreistellung durch (Zeuner und Pabst 2022). Grundlage der Studie waren Erhebungen zur Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung in den Bundesländern Freie und Hansestadt Hamburg und Rheinland-Pfalz.Footnote 3 Erkenntnisleitendes Interesse des Projekts mit dem Titel „Bildungsfreistellung: Hintergründe, Entwicklungen und Perspektiven. Strukturelle und biographische Aspekte zum Lernen im Lebenslauf“ war es zu erforschen, welche langfristigen, subjektiven, (bildungs-)biographischen Wirkungen und Effekte die Mehrfachteilnahme an Veranstaltungen der politischen und/oder beruflichen Bildung im Rahmen von Bildungsfreistellungsgesetzen eröffnet. Die Ergebnisse der Studie basieren u. a. auf der qualitativen Analyse von 27 narrativ-explorativen Interviews, in denen Befragte aus subjektiver Perspektive Wirkungen beschreiben, die sich für sie aus der wiederholten Teilnahme (i. d. R. zwischen drei und vierzig Mal) an politischen und/oder berufsbezogenen Veranstaltungen im Rahmen von Bildungsurlaub ergeben haben (siehe Tab. 1: Analyse auf der Mikroebene – Perspektive der Mehrfachteilnehmenden).

Tab. 1 Übersicht zu erkenntnisleitenden Interessen, Fragestellungen und Erhebungsmethoden der Analyseebenen

Darüber hinaus wurde gefragt, inwiefern die Ergebnisse im Sinne des subjektwissenschaftlichen Forschungszugangs Hinweise geben zu einer Möglichkeitsverallgemeinerung der Wirkungen und subjektiven Bedeutungen von Bildungsurlaub (Zeuner und Pabst 2022, 26,25,27,a, b, c). Diese Perspektive folgt der Annahme, dass subjektwissenschaftliche Forschungsergebnisse verallgemeinert werden können, ausgehend von der Handlungsrealisierung der Einzelnen im Hinblick auf gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten (Holzkamp 1985, S. 549).

Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die zugrundliegende Studie und die inhaltliche Einordnung der Fragestellung in den Forschungskontext zur Bildungsfreistellung (Kap. 1). Das zweite Kapitel referiert die Fragestellung der Studie (2.1), skizziert die methodische Herangehensweise und gibt Hinweise zur Auswertung der Daten (2.2).

Im Mittelpunkt des Beitrags steht in Kap. 3 die Darstellung wesentlicher Schlüsselkategorien, die in der Analyse der 27 leitfadengestützten explorativen Interviews mit Mehrfachteilnehmenden herausgearbeitet wurden. Sie umfassen Erkenntnisse in Bezug auf das Lernen als Erfahrungsprozess (3.1), auf Horizonterweiterung als Bildungsprozess (3.2) und auf biographische Transformationsprozesse (3.3).

Abschließend wird in Kap. 4 diskutiert, inwiefern es die aus subjektiver Perspektive erhobenen Daten erlauben, Schlüsse in Bezug auf die Wirksamkeit des bildungspolitischen Instruments Bildungsfreistellung im Sinne einer „Möglichkeitsverallgemeinerung“ zu ziehen. Es zeigt sich, dass die Teilnahme an Bildungsfreistellung nicht nur individuelle und subjektive Wirkungen zeitigt. Darüber hinaus könnte die Gesellschaft als Ganze von einer stärkeren Inanspruchnahme der Bildungsfreistellung profitieren, im Sinne einer Unterstützung des lebenslangen Lernens der Bevölkerung – und dies nicht nur bezogen auf die berufliche Weiterbildung, sondern auch auf die politische Bildung zur Unterstützung des demokratischen Gemeinwesens.

2 Überblick und Einordnung der Studie

Ausgangspunkt des Forschungsprojekts und der Forschungsfrage in Bezug auf die Mehrfachteilnehmenden war die von Arbeitgeberseite bis heute häufig geäußerte Annahme der Wirkungslosigkeit von Bildungsfreistellung aufgrund ihrer geringen Inanspruchnahmen und der relativen Kürze von fünf Tagen pro Jahr. Im Mittelpunkt der Studie stand daher die Frage, inwiefern die in den Gesetzen formulierten Zielsetzungen, bezogen auf die Bildungspolitik (Makroebene), auf die Träger, Organisationen und Einrichtungen (Mesoebene) und auf die Teilnehmenden erreicht werden (Zeuner und Pabst 2020c, 2022). Damit wurden vielfältige, den Gesetzen inhärente Wirkungsmöglichkeiten in den Blick genommen.

Bezogen auf die Teilnehmenden formulieren die Gesetze hohe Erwartungen hinsichtlich möglicher Lern- und Bildungseffekte. Im Rahmen ihrer politischen Partizipationsfähigkeit wird die Entwicklung von Kritik- und Urteilsfähigkeit sowie das Verstehen politischer Zusammenhänge antizipiert. Die Teilnahme an berufsbezogenen Freistellungsveranstaltungen soll zu einer kontinuierlichen Aktualisierung beruflicher Qualifikationen beitragen, einschließlich der Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Teilnehmenden Impulse für lebenslange Lernprozesse erhalten und zugleich ihre Lernfähigkeit und ihr Interesse an Lernen und Bildung steigern.

Bis 2017 lagen vielfältige Studien und Erhebungen zum Bildungsurlaub vor, die Grundlagenforschung, Evaluationsforschung und Arbeiten zu juristischen Fragestellungen umfassen. Methodisch finden sich Dokumentenanalysen sowie qualitative und quantitative Erhebungen. Schwerpunkte der Grundlagenforschung bilden Themenbereiche wie Angebots- und Programmplanung (Pohlmann 2018), Adressaten- und Zielgruppenforschung und Teilnahmeforschung. Hier ist besonders auf die Studie von Helmut Bremer zu verweisen, die Bildungsurlaubsangebote, Teilnahmemotivation und -hindernisse im Zusammenhang mit milieuspezifischen Aspekten untersuchte (Bremer 1999). Ebenfalls der Grundlagenforschung zuzurechnen sind die großen Modellversuche der 1980er-Jahre, die sich explizit auf die Lehr-Lernforschung im Bildungsurlaub konzentrierten (Kejcz et al. 1981). Umfangreiche Evaluationsstudien erfolgten in den letzten Jahren zum Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg (Pfeiffer 2019), zu den Bildungsurlaubsgesetzen im Land Bremen (Robak et al. 2015) sowie in regelmäßigem Abstand im Land Hessen (z. B. Frühwacht et al. 2007). Das Land Rheinland-Pfalz veröffentlicht alle zwei Jahre statistische Berichte zur Bildungsfreistellung (Christ 2021). Dagegen existieren nur wenige, fragmentarische und verstreute Ergebnisse zur Wirkung der in den Gesetzen formulierten Erwartungen (Frühwacht et al. 2007, S. 65). Eine aktuelle Untersuchung hierzu stellt die Dissertationsschrift von Lena Heidemann (2021) dar, die einen vorwiegend quantitativen Zugang wählte.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass die bisherigen Untersuchungen selten nach langfristigen Wirkungen fragen, die sich für die Teilnehmenden ergeben. Dieses Forschungsdefizit berücksichtigend, ordnet sich die vorgestellte Studie in den Kontext erziehungswissenschaftlicher Wirkungsforschung ein (Schneider 2011). Sie konzentriert sich auf die Befragung von Mehrfachteilnehmenden an Bildungsurlaub, um Aufschluss zu erhalten über subjektive Lern- und Bildungserfahrungen, die sie ihrer Teilnahme zuschreiben und den daraus erfolgten vielfältigen individuellen Wirkungen.

3 Fragestellung und methodisches Vorgehen der Studie

Im Folgenden werden zunächst die Fragestellung und die erkenntnisleitenden Interessen der Studie erläutert, wobei ihre Gesamtanlage berücksichtigt wird. Im zweiten Abschnitt (2.2) werden das methodische Vorgehen und v. a. die zentralen Ergebnisse der Gesamtstudie bzw. ihre Kategorisierung dargestellt.

3.1 Fragestellung

Insgesamt steht die subjektive Perspektive der Mehrfachteilnehmenden im Mittelpunkt der Studie. Die methodische Anlage der Untersuchung geschieht also vom Standpunkt des Subjekts aus (Markard 2015, S. 175). Um langfristige biographische Wirkungen der Mehrfachteilnahme an Bildungsurlaubsveranstaltungen zu rekonstruieren, wurde gefragt nach

  • subjektiven Begründungen für die mehrfache Teilnahme an Bildungsurlaub,

  • subjektiven und biographischen Bedeutungen, die die Interviewten ihrer Mehrfachteilnahme beimessen,

  • sowie langfristigen (bildungs-)biographischen Wirkungen.

Die grundlegende Forschungsfrage der Studie lautete:

Welche langfristigen, subjektiven, (bildungs-)biographischen Wirkungen und Effekte hat die Mehrfachteilnahme an Veranstaltungen der politischen und/oder beruflichen Bildung im Rahmen von Bildungsfreistellungsgesetzen?

Gleichzeitig wurde im Forschungsdesign berücksichtigt, dass die Teilnahme an Bildungsfreistellung nur im Kontext bildungspolitischer und organisatorischer Rahmenbedingungen erfolgen und dadurch Wirkungen zeitigen kann. Aus diesem Grund wurde eine Mehrebenen-Analyse durchgeführt, um durch die Betrachtung der Makro‑, Meso- und Mikroebene Wirkungszusammenhänge berücksichtigen zu können (Zeuner und Pabst 2020c).

Tab. 1 zeigt die jeweiligen erkenntnisleitenden Fragestellungen, die wichtigsten Untersuchungsaspekte sowie die angewandten Erhebungsmethoden zu den einzelnen Ebenen. So wurden u. a. in beiden untersuchten Bundesländern (Freie und Hansestadt Hamburg; Rheinland-Pfalz) Expertinnen und Experten der jeweiligen staatlichen Anerkennungsstellen für Bildungsfreistellungsangebote zu den Begründungen, Entwicklungen, Bedeutungen der Bildungsfreistellung bzw. des Bildungsurlaubs auf der landespolitischen Ebene befragt sowie zu jeweiligen rechtlichen Implementierungsformen und der Inanspruchnahme der Anerkennung von entsprechenden Bildungsangeboten (Makroebene). Des Weiteren wurden Interviews mit Expertinnen und Experten aus der Bildungspraxis auf der Träger- und Anbieterebene geführt. Ziel war es, u. a. Informationen zur Angebots- und Programmplanung sowie zu einrichtungsspezifischen Rahmenbedingungen zu erhalten, die die Organisation von entsprechenden Bildungsangeboten begünstigen oder behindern (Mesoebene).

Die interviewten Bildungsakteure unterstützten zudem die Ansprache von möglichen Mehrfachteilnehmenden, die für die Befragung auf der Mikroebene akquiriert wurden. Im Fokus dieser Interviews standen die subjektiven Erfahrungen und Begründungen für die mehrfache Teilnahme an Bildungsurlaubsveranstaltungen sowie die damit individuell verbundenen biographischen und bildungsbiographischen Bedeutungen (Mikroebene). Insgesamt wurden 27 Personen auf der Mikroebene befragt, zwei von ihnen hatten ihren Bildungsurlaubsanspruch erst ein- bzw. zweimal wahrgenommen. Neun der befragten Mehrfachteilnehmenden nahmen zusätzlich an einer der in Hamburg und Mainz durchgeführten Gruppendiskussionen teil. Die Gruppendiskussionen dienen der Validierung und Erweiterung der Befunde auf der Mikroebene und ergänzen das grundlegende empirische Material (weitere Informationen zum Erhebungsdesign: Zeuner und Pabst 2020a, 2022).

Mithilfe des in Tab. 1 dargestellten mehrperspektivischen, qualitativen Forschungsdesigns konnten Resultate bezogen auf alle drei Ebenen generiert werden (Zeuner und Pabst 2022). Dabei zeigt sich bspw. auf der Makroebene das Bedingungsgefüge in Bezug auf die bildungspolitisch umsetzbaren und rechtlich fixierten Möglichkeiten der Bildungsfreistellung und ihrer Weiterentwicklung auf Länderebene. Auf der Mesoebene der Bildungsakteure konzentrieren wir uns auf träger- und einrichtungsbezogene Rahmenbedingungen, die die Planung, Organisation und Durchführung von Bildungsfreistellungsangeboten beeinflussen. Hinzu kommen landesbezogene Strukturdaten, die einen Einblick in Stand und Entwicklung der Bildungsurlaubsangebote ermöglichen. Dieser Beitrag konzentriert sich jedoch auf Erkenntnisse auf der Mikroebene in Bezug auf den Bildungsurlaub als Möglichkeitsraum zur Wahrnehmung individueller Lern‑, Bildungs- und Transformationsprozesse.

Im Sinn eines Forschungsansatzes vom Standpunkt des Subjekts wurde davon ausgegangen, dass die Mehrfachteilnahme auf Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (Markard 2015, S. 173) zurückzuführen ist, die sich in unterschiedlichen und vielfältigen Wirkungen manifestieren können, in erweiterten Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf das Selbst und auf die Welt.

Mit der Ansprache von Mehrfachteilnehmenden wurde eine bewusste Positivauswahl getroffen. Angenommen wurde, dass Personen, die mindestens dreimal und häufiger an Bildungsurlaub teilgenommen haben, ihre Lern- und Bildungsinteressen bezogen auf dieses besondere Bildungsrecht benennen, begründen und reflektieren können. Dabei wurden weder unmittelbare und direkt erkennbare Ursache-Wirkungsketten zwischen Lernprozessen und Wirkungen unterstellt, noch sollten Gelerntes, kumuliertes Wissen oder gar Erfahrungen der Interviewpartnerinnen und -partner gemessen oder eingeschätzt werden.

Tab. 2 und 3 geben einen Überblick zu den soziodemographischen Merkmalen der befragten Personen (Tab. 2) und über ausgewählte Aspekte ihrer Teilnahme an Bildungsfreistellungsangeboten (Tab. 3).

Tab. 2 Soziodemographische Merkmale der befragten Mehrfachteilnehmenden
Tab. 3 Ausgewählte Aspekte zur Bildungsurlaubs‑/Bildungsfreistellungsteilnahme

3.2 Methodisches Vorgehen

Ausgangsperspektive der Studie ist ein subjektwissenschaftlicher Forschungsansatz, der sich an Klaus Holzkamp (1985) und Morus Markard (2015) orientiert. Wesentlich ist, dass in diesem Ansatz das Subjekt in seiner gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit unter Berücksichtigung seiner grundlegenden Handlungsfähigkeit in den Mittelpunkt der Forschung gestellt wird. Subjektwissenschaftliche Forschung als „emanzipatorische Forschung“ vom Standpunkt des Subjekts bedeutet dabei, „sich auf den Standpunkt der Leute zu stellen und sie dabei zu unterstützen, ihre Lage und damit ihre Handlungsfähigkeit zu verbessern“, indem Erkenntnisse für Veränderungsprozesse erzeugt werden (Allespach und Held 2015, S. 17).

Es wurde methodisch ein qualitativer Forschungszugang gewählt, der Kennzeichen und Grundlagen qualitativer Sozialforschung berücksichtigte, wie die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, das Prinzip der Offenheit und Gegenstandsangemessenheit der angewandten Methoden, das Verstehen als Erkenntnisprinzip und die Reflexivität im Forschungsprozess. Der Zugang orientiert sich an der Perspektive der am Forschungsprozess Beteiligten, an ihrem Alltagsgeschehen/Alltagswissen und deren Kontextualität, zeitlich-historisch wie auch gesellschaftlich-kulturell (Flick et al. 2019, S. 24). Mit unserem Zugang zielten wir auf eine sinnverstehende Rekonstruktion von subjektiven Sichtweisen und Bedeutungszuschreibungen sowie sozialen Bedingungsgefügen und Strukturen in Bezug auf die Mehrfachteilnahme an Bildungsurlaub/Bildungsfreistellung. Dem Anspruch der qualitativen Sozialforschung folgend, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“ (ebd., S. 14).

Für die Datenerhebung, die Datenanalyse und -interpretation wurde auf die Grounded Theory nach Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996) zurückgegriffen und ein zirkuläres Auswertungsverfahren angewandt. Die Interviews wurden transkribiert und kategorial in mehreren Schritten ausgewertet. Die Ergebnisse wurden vor dem Hintergrund theoretischer Rahmungen, der kritischen Bildungstheorie (Bernhard 2018), den transformativen Lerntheorien nach Jack Mezirow (2012) und Knud Illeris (2014) und der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie nach Klaus Holzkamp (1995) eingeordnet und interpretiert.

Da subjektwissenschaftliche Forschung vom Standpunkt des Subjekts nicht notwendigerweise auf eine Darstellung von Einzelfällen zielt, sollten mithilfe eines weiteren Analyseschritts verallgemeinerbare Befunde herausgearbeitet werden. Zwar zeigen die Interviews, auch aufgrund der Konstruktion des Leitfadens, zunächst subjektive Prämissen-Gründe-Zusammenhänge, mit denen die Subjekte ihre Mehrfachteilnahme erklären und ihrem Handeln Bedeutung zuweisen. Darüber hinaus war es aber Ziel der Untersuchung zu klären, ob solche Zusammenhänge auch anderen Menschen ähnliche Handlungsoptionen eröffnen könnten.

Deshalb bezieht sich subjektwissenschaftliche Geltung und Verallgemeinerung auf praktische Lebensvollzüge der Individuen in historisch-konkreten Konstellationen, auf subjektive Möglichkeitsräume oder Handlungsmöglichkeiten und nicht auf Merkmale. (Markard 2015, S. 181; Hervorh. i. O.)

In einem gewissen Sinn entspricht dieses Vorgehen dem der Verallgemeinerung und Generalisierung qualitativ-rekonstruierender Interpretationsverfahren, die ein methodisch kontrolliertes Fremdverstehen ermöglichen. Allerdings zielen diese häufig auf eine datenbasierte Typen- oder Kategorienbildung mit möglichst dichten Beschreibungen. Idealerweise münden diese in einer gegenstandsbezogenen Theorie (konzeptuelle Repräsentativität) (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 32 f.; Ecarius und Schäffer 2020, S. 10). Wir haben unsere Daten nach Kategorien ausgewertet, aber auf Typenbildungen verzichtet, denen bestimmende Merkmale einer Person zugrunde liegen. Denn

Gegenstand subjektwissenschaftlicher Forschung sind nicht Menschen oder „Subjekte“. Gegenstand subjektwissenschaftlicher Forschung ist vielmehr die Welt, wie die jeweiligen Menschen sie erfahren […]. (Markard 2015, S. 173)

Mit Holzkamp können Erzählungen über subjektiv rekonstruierte Wirkungen der Mehrfachteilnahme auch als „Möglichkeitsverallgemeinerung“ (Holzkamp 1985, S. 545) intersubjektiv erklärt und interpretiert werden. Damit zielte die Studie, wie Markard im Anschluss an Holzkamp (1985) beschreibt, darauf, „die subjektive Befindlichkeit bzw. (begrenzte) Handlungsmöglichkeit als ‚Verhältnis zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und meiner besonderen Weise ihrer Realisierung‘ (548) oder Einschränkung“ (Markard 2015, S. 181; Hervorh. i. O.) aufzuschlüsseln.

Im Folgenden werden ausgewählte Befunde der Studie im Sinne einer solchen Möglichkeitsverallgemeinerung gedeutet. Es wird gefragt, inwiefern sich Aussagen von Subjekten über ihre Befindlichkeiten, Begründungen, erweiterten Handlungsmöglichkeiten und deren Realisierungen, die sie auf Grundlage ihrer Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Bildungsfreistellung gewonnen haben, verallgemeinern lassen. Möglichkeiten der Verallgemeinerbarkeit bestehen darin, übergreifende Strukturen und Bedingungskonstellationen sowie Bedeutungs-Begründungsdiskurse herauszuarbeiten, die eine gewisse Allgemeingültigkeit für Handeln besitzen. Verändert wird also die Perspektive in Bezug auf die Analyse und Interpretation der Daten: Ausgehend von den Subjekten öffnet sich der Blick auf den Forschungsgegenstand Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung im Sinne der Ausgliederung eines „typischen Möglichkeitsraums“ (Holzkamp 1985, S. 551).

Darüber hinaus gibt die Berücksichtigung von Handlungskontexten der Mehrfachteilnehmenden in der Analyse wie z. B. das persönliche und das betriebliche Umfeld Aufschluss über Strukturen und Bedingungen, die auch bei anderen Personen eine wiederholte Inanspruchnahme von Bildungsfreistellung begünstigen, einschränken oder verhindern können.

4 Wirkungsrealisierungen durch die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung und Bildungsurlaub: Möglichkeitsverallgemeinerungen

Voraussetzung für die Betrachtung des Möglichkeitsraumes Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung ist die Existenz entsprechender Ländergesetze. Ihre Umsetzung bietet den notwendigen strukturellen und organisatorischen Handlungsrahmen, der den Individuen prinzipiell Handlungsoptionen und -zusammenhänge für Lern- und Bildungsprozesse eröffnet.

Die in den Interviews befragten Mehrfachteilnehmenden profitierten aus subjektiver Perspektive in vielfältiger Art und Weise von der Teilnahme an Bildungsfreistellung. Die Analyse der Daten führte u. a. zur Definition der wesentlichen Schlüsselkategorien Lernen als subjektiver Erfahrungsprozess, Horizonterweiterung als Bildungsprozess und biographische Transformationsprozesse. Veränderungen wurden reflektiert im Hinblick auf:

  • Einstellungen zum Lernen als subjektivem Erfahrungsprozess. Das heißt, durch die Mehrfachteilnahme veränderten die Teilnehmenden ihre häufig biographisch begründeten Auffassungen vom Lernen und ihre Haltungen zum Lernen. Bildungsfreistellungsveranstaltungen eröffneten aufgrund ihrer spezifischen didaktisch-methodischen Konzepte und vielfältigen Inhalte neue und andere Lernerfahrungen, wodurch die Teilnehmenden ihre Sichtweise auf individuelle wie kollektive Lernprozesse modifizierten oder transformierten.

  • Die positiven Lernerfahrungen begünstigen wiederum die kognitive Aneignung neuen Wissens. Grundlegend führten diese Prozesse aus Sicht der Befragten zu einer Horizonterweiterung im Sinne von Bildung. Einhergehend mit verbessertem Urteilsvermögen und Urteilskraft sowie Kritik- und Reflexionsfähigkeit.

  • Für viele der befragten Mehrfachteilnehmenden führte die Teilnahme an Bildungsfreistellung zu weitergehenden lebensbegleitenden bzw. lebensentfaltenden Lern- und Bildungsprozessen, die bei einigen Personen in biographische Transformationsprozesse mündeten.

Die Entwicklung der Schlüsselkategorien und ihre Differenzierung zeigt Tab. 4.

Tab. 4 Wirkungen der Mehrfachteilnahme an Bildungsurlaub/Bildungsfreistellung: Kategorienentwicklung (vereinfachtes Modell)

Die drei Schlüsselkategorien werden im Folgenden unter dem Aspekt der Möglichkeitsverallgemeinerung diskutiert. Die Teilnahme an Bildungsfreistellung eröffnete den Mehrfachteilnehmenden neue Handlungsoptionen und zeigte Möglichkeiten ihrer Realisierung. Diese stellen nach Holzkamp individuell begründete, „subjektiv notwendige Erscheinungsvarianten der Realisierung“ (1985, S. 549) dar.

4.1 Lernen als subjektiver Erfahrungsprozess

Eine grundlegende Erkenntnis zur Schlüsselkategorie Lernen als Erfahrungsprozess ist, dass bereits die erstmalige Teilnahme an Bildungsfreistellung – unabhängig von den jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkten – Einstellungen und Haltungen zum Lernen verändern kann und sich eine expansive Lernhaltung einstellt. Übereinstimmende Aussagen zu Erlebnissen, Erfahrungen, Einschätzungen und Erkenntnissen über die Besonderheiten von Bildungsurlaubsveranstaltungen können im Sinne von „Möglichkeitsverallgemeinerungen“ (Markard 2015, S. 181) wie folgt interpretiert werden:

  • Die Lernatmosphäre hebt sich positiv von schulischen Lernerfahrungen ab, die teilweise als langweilig oder auch als repressiv erinnert werden.

  • Lernen wird erlebt als wechselseitiger Prozess zwischen den Lernenden untereinander, den Lehrenden und geladenen Expertinnen und Experten. Die unterschiedlichen Möglichkeiten des Austausches werden als wertvolle Erfahrung gewertet.

  • Den methodisch-didaktisch auf Interaktion und Kommunikation angelegten Lernformen und den daraus entstehenden sozialen Beziehungen und Begegnungen wird eine besondere Bedeutung für subjektive Lernprozesse und Lernerfolge zugeschrieben.

  • Lernformate wie forschendes Lernen unterstützen die Mehrfachteilnehmenden dabei, expansiv eigene Lerninteressen zu entwickeln und zu verfolgen. Neue Aneignungs- und Vermittlungsformen führen zur Reflexion bisheriger Lernstrategien. Die Lernenden werden in die Lage versetzt, bisherige Lernpraktiken zu verändern.

  • Formen des non-formalen, nicht abschlussbezogenen Lernens entlasten lernungewohnte Personen und erlauben es ihnen, quasi unbeobachtet in neue Lernprozesse einzusteigen.

  • Lernen in Bildungsfreistellungsveranstaltungen wird als „Auszeit“ von beruflichen und familiären Verpflichtungen erlebt, wodurch sich Räume für Perspektivwechsel eröffnen.

  • Lernen in Internatsveranstaltungen hebt sich von Alltagsroutinen und -erfahrungen ab und ermöglicht den Teilnehmenden die Konzentration auf sich selbst und ihre subjektiven Lerninteressen.

Als bedeutsam erweisen sich auf der einen Seite die als spezifisch charakterisierten didaktisch-methodischen Ansätze von Bildungsurlaubsveranstaltungen und die in der Regel als entspannt und anregend beschriebene Lernatmosphäre auf der anderen Seite. Diese Erfahrung drückte jemand in einer der beiden Gruppendiskussionen folgendermaßen aus:

Es war wirklich der Kick-Off, weil ich gesehen habe, Lernen kann tatsächlich auch Spaß machen. Das hatte ich vorher nicht, nicht so sehr. Manchmal ja, aber in der Regel hatte ich wenig Lust am Lernen. Und das ist in diesen Seminaren ganz anders, Bildungsfreistellung. [Gr 01_215–218]Footnote 4

Diese Erfahrungen vertieften sich durch die mehrfache Teilnahme und eröffneten Reflexionsräume sowohl bezogen auf die eigene Person als auch bezogen auf neue Inhalte, die dann im Sinne expansiver Lernprozesse weiter erschlossen werden. Unterschieden wird zwischen Lernen als Wissensaneignung und Lernen als Reflexion, was als besonderer Erfahrungsprozess, als „anderes Lernen“ gewertet wird:

Ja, und es ist ja auch nochmal ein anderes Lernen. Also ich glaube, das Lernen „von ich lerne nur ein Wissen“ oder „ich muss lernen, in einem Zusammenhang das zu reflektieren und mich auszutauschen und zu überlegen, was bedeutet das eigentlich, wie setze ich das ein, wie bewerte ich diese Aussagen“. Das ist tatsächlich nochmal ein anderes Lernen und dafür muss man eine eigene Entwicklung haben, um das zu können. Das erarbeitet man sich langsam und das weiß ich nicht immer, wer wann was kann. Das ist ja eine Erfahrung. [Gr 02_1262–1267]

Durch das Prinzip der Teilnehmerorientierung und die Freiwilligkeit können Bildungsfreistellungsveranstaltungen neue Perspektiven auf das Lernen eröffnen. So stellt ein Interviewpartner fest: „Ja. Für mich ist es quasi kein stures Lernen“ [Mikro 17_33]; „Genau, das ist ein ganz lebendiges Lernen, ja“ [Mikro 17_56].

Ansätze des forschenden Lernens fördern Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung auch in der berufsbezogenen Bildung, indem Lernende Möglichkeiten bekommen, ein Problem zu analysieren, Lösungswege selbständig zu entwickeln und eigene Ideen umzusetzen: „[…] ich konnte ein eigenes Thema, das mir wichtig war ausprobieren. Eine PowerPoint-Präsentation erstellen zu dem Thema, das mir wichtig war“ [Mikro 25_210–212].

Aspekte wie Interaktion, Kommunikation und Begegnung erzeugen Interesse. Der Austausch unter- und miteinander erhält eine zwischenmenschliche Komponente, die auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung beruht. Diese als Begegnung charakterisierte Erfahrung wird von den Befragten häufig als Grund für die wiederholte Teilnahme angegeben.

Also ich finde auf jeden Fall, dass es ein gemeinschaftlicher Lernprozess ist, weil ja auch jeder andere Dinge mitbringt, andere Erfahrungen mitbringt, aus anderen Bereichen stammt. Das ist gerade ja eben, finde ich, das Interessante bei der Bildungsfreistellung, dass es eben nicht die Menschen am Arbeitsplatz sind. [Gr 01_628–631]

Diese Erfahrungen scheinen sich für die meisten Befragten immer wieder zu bestätigen und zu vertiefen. Die Teilnehmenden fühlen sich in ihren inhaltlichen Interessen ernstgenommen und erhalten Freiräume zum (Nach‑)Denken, erfahren Resonanz ihrer Gedanken durch andere. Sie werden angeregt, Fragen zu entwickeln und andere Ansichten, Denkweisen und Standpunkte zu erkennen und zu verstehen. Dies führt zum Hinterfragen eigener Auffassungen, möglicherweise zu Neuorientierungen und Neupositionierungen.

Lernen zu leben … Es geht ums Lernen zu leben und ich finde, da ist irgendwie ein bisschen was dran, also weil ich das Gefühl habe, das ist nie fertig, also es geht immer weiter. Und ich merke dann auch immer, Überzeugungen, die ich mal hatte, das kann ich … also was heißt über Bord schmeißen? Das war halt eine andere Zeit, aber jetzt sehe ich Dinge anders und ich würde die Sachen, die ich geschrieben habe, jetzt anders formulieren und ich habe das Gefühl, dass ich schon stetig voranschreite und manchmal bleibe ich stehen und dann sind Sachen wieder – geraten wieder aus dem Fokus und manchmal nähere ich mich Themenfeldern wieder an, mit denen ich es schon mal zu tun hatte und sehe die dann aus einem ganz anderen Blick. [Mikro 06_1104–1114]

Das jeweilige Lerngeschehen wurde von vielen Mehrfachteilnehmenden im Kontext ihrer aktuellen Lebenssituation verortet. Bestätigt werden Erfahrungen der Selbstwirksamkeit in Bezug auf die eigene Lernfähigkeit und damit die Hebung des Selbstwertgefühls.

Also meine Idee von: „Was kann ich noch? Kriege ich noch was in den Kopf rein?“ Kann ich quasi die Differenzen, die ich sehe, im Sinne von, „was will ich noch lernen, kriege ich das nochmal gebacken? Also kriege ich das hin, dass ich nochmal lernen?“ Und das war eine Ebene, also: „Ah ja, das geht noch“. [Mikro 25_166–170]

Im Sinne der Möglichkeitsverallgemeinerung nach Holzkamp ist davon auszugehen, dass prinzipiell jede und jeder Berechtigte, der an Bildungsfreistellung teilnimmt, entsprechende Erfahrungen machen könnte und damit subjektive Einstellungen und Haltungen zum Lernen positiv verändern könnte. Dass Lernprozesse im Rahmen der Bildungsfreistellung für die Teilnehmenden eine wichtige Rolle spielen würden, da sie grundlegend sind für die Aneignung von Wissen und Kenntnissen, war zu erwarten. Die Analyse der Interviews zeigt darüber hinaus, dass die Mehrfachteilnehmenden vor allen Dingen ihre subjektiven Einstellungen und Haltungen zum Lernen selbst verändern, wenn im Rahmen von Bildungsfreistellungsveranstaltungen Lernen als Erfahrungsprozess neu verortet wird. Werden die Lernerlebnisse durch Reflexion in Lernerfahrungen umgedeutet, wird dem Lernen eine neue, qualitativ andere Bedeutung zugesprochen. Die Mehrheit der von uns befragten Mehrfachteilnehmenden konstatiert in der Rückschau, ihr individuelles Lernhandeln in Bezug auf Lernzugänge und Lernstrategien modifiziert zu haben, was sich auch auf ihr berufliches Handeln positiv auswirkte.

Veränderte Sichtweisen auf das Lernen sind also sowohl ein Resultat als auch als eine Wirkung der Mehrfachteilnahme. Viele Interviewpartnerinnen und -partner schätzen die neuen, anderen Lernerfahrungen in den Bildungsfreistellungsveranstaltungen als grundlegend ein für ihre subjektive Bereitschaft, sich im Anschluss beruflich, politisch oder kulturell weiterzubilden und stärker als zuvor Lernen und Bildung als subjektive, lebensbegleitende Praxis zu entfalten und regelmäßig zu verfolgen. Das bereits in der Anfangszeit der Gesetze formulierte Ziel der Impulsgebung für Lern- und Bildungsprozesse kann also zumindest durch die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung durchaus erreicht werden.

4.2 Bildungsprozesse durch Bildungsfreistellung und Bildungsurlaub: Horizonterweiterung und die Entwicklung von Urteils- und Kritikfähigkeit

Horizonterweiterung wird von sehr vielen der befragten Interviewpartnerinnen und -partner als Ziel und zugleich als Ergebnis der Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung gewertet. Die Erwartungen beziehen sich zumeist auf die Vertiefung von Wissen, wobei es sowohl um die Aneignung konkreter, häufig berufsbezogener Inhalte geht, als auch eher um eine unbestimmte, vage Suche nach Wissen, Denkanstößen und Sinnsuche durch Orientierung. Diese konnten sowohl thematischen Interessen folgen, als auch stärker bezogen werden auf persönliche Entwicklungen, auf Selbstvergewisserung oder auf die Hinterfragung bisheriger Standpunkte. Besonders bei den Bildungsreisen im Rahmen der Freistellung werden im psychischen wie im physischen Sinn Grenzen überschritten und Horizonte erweitert. „Horizonterweiterung“ als Schlüsselkategorie wird für die Mehrfachteilnehmenden aus subjektiver Perspektive sowohl im konkreten als auch im übertragenen Sinn bedeutsam.

Die vielfältigen Erfahrungsaufschichtungen, die bei den Mehrfachteilnehmenden zu Veränderungen von Einstellungen, Haltungen, Denkmustern, Auffassungen und Urteilen führen können, werden als Bildungsprozesse interpretiert. Im Sinne einer Möglichkeitsverallgemeinerung ist zu fragen, welche generellen Bedeutungen diesen Prozessen zuzuschreiben sind.

Ausgangpunkt der Horizonterweiterung sind die beschriebenen subjektiven Einstellungen zum Lernen, die bereits durch eine erstmalige Teilnahme an Bildungsfreistellung positiv beeinflusst werden können. Hauptbegründungen für erste und auch weitere Teilnahmen beziehen sich auf die Erwartung kompensatorischer oder komplementärer Bildungsprozesse. Die Kompensation von Wissenslücken und -defiziten betrifft oft berufliche Inhaltsbereiche, aber auch der Erwerb oder die Verbesserung von Fremdsprachenkenntnissen oder Themen, die im Rahmen der politischen Weiterbildung angeboten werden, bekommen Relevanz.

Ja, ich würde gerne mehr persönlich mich weiterqualifizieren im Sprachbereich. Ich bin nur Realschüler, habe auch viele Jahre kein Englisch verwenden müssen im Beruf. Was dazu führt, und das merke ich halt auch teilweise jetzt in meinem Studiengang, dass ich bei englischsprachiger Literatur zum Beispiel schnell an sehr immense Grenzen komme. [Mikro 15_449–452]

Als komplementär werden Inhalte bezeichnet, die Interesse wecken oder für die bereits Interesse besteht, die aber aus biographischen und zeitlichen Gründen oder aufgrund fehlender Angebote bis zum Zeitpunkt der Teilnahme an Bildungsurlaub nicht verfolgt oder vertieft werden konnten.

Ja, komplementär und das erholt auch trotz der Anstrengung, also weil man eine ganz andere geistige Anforderung hat, ein ganz anderes … mit Neugier nochmal reingeht. Da ist eben halt keine Routine drin, sondern eigentlich ist das was hochgradig Spannendes. [Mikro 07_327–330]

Die subjektiven Begründungen der Befragten für die Teilnahme weisen darauf hin, dass Bildungsfreistellung eher in Ausnahmen im Hinblick auf konkrete berufliche Veränderungen oder Aufstiegsaspirationen wahrgenommen wird, also mit unmittelbaren Nutzenerwartungen verbunden wird. Zumeist werden Neugier oder eher unspezifische Bildungsinteressen angeführt, verbunden mit Erwartungen wie der Freiheit zum Lernen, Horizonterweiterung, (Selbst‑)Aufklärung, Selbstbestimmung, Autonomie, Urteils- und Kritikfähigkeit.

Also eigentlich ist das ja so, dass Arbeit, egal welche man macht oder wie […], eigentlich im begrenzten Maße einen begrenzten Anteil von sich selber anfordert, wo man eine Leistung erbringen muss. Aber es gibt ja viele Bereiche, die sozusagen eigentlich daneben liegen, wo man ja auch Interessen, Kapazitäten, Neugierde hat, die Arbeit nicht befriedigt, und das ist auch nicht die Aufgabe von Arbeit und das nochmal in einem anderen Bereich zu tun über den Bildungsurlaub, das finde ich ganz schön. [Mikro 07_318–325]

Horizonterweiterung bedeutet für die Mehrfachteilnehmenden die Erweiterung und die Vertiefung von Wissen durch die Auseinandersetzung mit vielfältigen Themen. Dieser Aneignungs- und Verständigungsprozess führt zu einem besseren Verständnis von Ursachen und Zusammenhängen politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen und damit zur erweiterten Urteils- und Kritikfähigkeit. Meinungen, Haltungen und Einstellungen werden im Abgleich mit anderen hinterfragt und es entwickelt sich eine größere Bereitschaft zur Überprüfung von Standpunkten, zu Neupositionierungen und zur Aufdeckung eigener Vorurteile.

Einige Befragte berichten über eine Relativierung bzw. Veränderung ihrer Weltbilder, besonders durch die Teilnahme an Studienreisen. Als Außenstehende werden ihnen durch Begegnungen während der Reise Innensichten in ein Land geboten, die zu Perspektiverweiterungen führen und damit nach eigener Einschätzung ihr Urteilsvermögen schärfen. Es wird über die Reflexion eigener Standpunkte in Relation zu neuen Informationen berichtet.

Das war so persönlich schon, ja, schon, dass ich der Meinung bin, dass ich durch die ganzen Seminare einfach, ja, toleranter und auch also offener geworden bin für andere Meinungen. Und, ja, auch einfach zu sehen, dass es zwar so sein kann, aber es kann halt auch anders sein. [Mikro 26_386–388]

Als Folge setzen sich einige der Mehrfachteilnehmenden im Nachhinein kritischer mit der öffentlichen (medialen) Berichterstattung über die besuchten Länder auseinandersetzen. Sie haben für sich (Lern‑)Strategien entwickelt, Fragwürdiges zu hinterfragen und sich über verschiedene Kanäle umfassender zu informieren.

Also ich bin sehr bereichert, habe mich eben sehr intensiv mit einem Thema und mit einer Gesellschaft auseinandergesetzt, kann eben hier im Nachhinein viele gesellschaftliche Dinge wieder neu und anders sehen und beurteilen. Kann die Nachrichten, oder was man in den Medien mitbekommt, auch einfach besser verorten. [Mikro 19_234–238]

Ausgehend von den als bereichernd erlebten individuellen Bildungsprozessen entfalteten einige der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner Initiativen als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, indem sie das Gelernte in unterschiedlichsten (Vortrags‑)Formaten weitergaben oder Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde und Bekannte zur Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen ermunterten.

Im Sinne der Möglichkeitsverallgemeinerung zeigt sich, dass Bildungsfreistellungsveranstaltungen den Teilnehmenden durch ihre besondere zeitliche Struktur, methodisch-didaktische Konzepte, die auf Kommunikation, Interaktion und Begegnung beruhen, sowie durch die vielfältigen frei wählbaren Inhalte Lern- und Bildungsräume jenseits des Gewohnten eröffnen. Perspektivwechsel unterschiedlichster Art führen zur Horizonterweiterung und damit zu Bildungsprozessen.

4.3 Transformationsprozesse durch die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung und Bildungsurlaub

Die mehrfache Teilnahme an Bildungsfreistellung kann darüber hinaus zu Transformationsprozessen führen, die sich zum einen auf subjektive Referenzrahmen („frames of references“) und Denkgewohnheiten („habits of mind“) im Sinne Mezirows beziehen können (2012, S. 82 f.). Damit stehen Transformationen in Bezug auf subjektive Einstellungen im Vordergrund, die bereits im Rahmen des vorherigen Abschnitts unter dem Aspekt der Horizonterweiterung diskutiert wurden. Zum anderen können sich biographische Transformationsprozesse ereignen, die im Sinne von Illeris (2014, S. 70) zum Wandel von Teilidentitäten oder der Kernidentität einer Person führen können und damit zu grundlegenden beruflichen und auch privaten Neuorientierungen und Veränderungen.

Die im Folgenden skizzierten möglichen biographischen Transformationsprozesse basieren zwar jeweils auf subjektiven Begründungszusammenhängen und Erfahrungen, es klingen aber verallgemeinerbare Strukturen an in Bezug auf inhärente Wirkungsmöglichkeiten durch die Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen. Zwei Aspekte werden für diesen Beitrag besonders herausgearbeitet:

  • die Veränderung von Selbstbildern und Selbstkonzepten, die Einstellungen und Haltungen in Bezug auf die subjektive Wahrnehmung der eigenen Identität beinhalten.

  • langfristige biographische Veränderungen und Wirkungen, die sich erstens auf eine Ablösung vom eigenen Herkunftsmilieu beziehen können. Zweitens zeigen sich biographische Transformationsprozesse im Zusammenhang beruflicher Entwicklungen, bei denen die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung einen unterstützenden Part einnimmt.

Die Modifikation von Haltungen und Einstellungen zum Lernen sowie die Erweiterung und Vertiefung von Wissen, einhergehend mit Perspektivwechseln, kann biographische Transformationsprozesse auslösen. Diese müssen von den Lernenden ursprünglich nicht intendiert gewesen sein, aber im Zusammentreffen bestimmter Konstellationen im Lebenslauf werden sie möglich. Biographische Transformationsprozesse werden häufig angestoßen durch Begegnungen mit Personen, die Mehrfachteilnehmende darin bestärkten, sich auf Lern- und Bildungsprozesse einzulassen, um ihre Potenziale weiterzuentwickeln oder besser auszuschöpfen. Die Veränderung von Selbstbildern und Selbstkonzepten wird häufig durch die Begegnung mit Lehrenden und anderen Lernenden in den Bildungsfreistellungsveranstaltungen ausgelöst.

Also ich, selbst wenn ich etwas an Themen mache, die in meinem beruflichen Kontext nicht umsetzbar sind als Faktisches, komme ich doch anders rein und begegne Menschen anders und damit ist es wirksam für mich als Identität, als Person. Und damit findet das auch in allen Bereichen eine Auswirkung, aber nicht eine, die ich ablesen oder normativ oder in Zahlen oder in irgendwas ausdrücken kann. Sondern sobald ich meinen Platz der Sichtweise oder mich als Person anders aufstelle, bin ich auch in gewisser Weise etwas anders geworden und das ist die Bereicherung und das hat Auswirkungen auf alles. [Mikro 07_420–429]

Darüber hinaus regen positive Erlebnisse emotionaler und kognitiver Art in Bildungsfreistellungsveranstaltungen zu kontinuierlichen Lern- und Bildungsprozessen an. In den Interviews finden sich einige Beispiele transformativer Lernprozesse aufgrund beruflicher Veränderungsaspirationen. Einerseits in antizipativer Absicht, bezogen auf die Erwartung interessanterer und bereichernder beruflicher Tätigkeiten, wie eine Interviewpartnerin berichtet, die im sozialen Bereich arbeitet:

Also ich hatte tatsächlich zwischendurch auch die Überlegung, vielleicht einfach mich beruflich zu erweitern oder zu verändern und dafür ist der Bildungsurlaub einfach super, dass man da auch mal schauen kann, ist das überhaupt ein Thema für mich oder nicht. […] Das ist ja im Arbeitsalltag, wenn man Vollzeit arbeitet, sonst gar nicht möglich eigentlich. Ich finde, dass es da auch eine gute Gelegenheit ist, den Bildungsurlaub dafür auch zu nutzen. [Mikro 12_180–191]

Andererseits werden auch reaktive Prozesse beschrieben, wenn aufgrund von Rationalisierungen Arbeitsplätze bedroht erscheinen oder sich Tätigkeitsanforderungen verändern.

So dass ich gesagt habe, okay, musst du doch schon mal ein bisschen gucken. A) würde ich gerne nochmal rauskommen, mich mit anderen Themen beschäftigen, auch wenn es halt irgendwann mal zu einer Entlassung oder Eigenkündigung oder so kommt. Dass man sich halt für den nachfolgenden Arbeitgeber ein bisschen attraktiver darstellt. [Mikro 16_577–581]

In beiden Konstellationen deuten sich biographische Transformationsprozesse an, da durch die Aussicht auf berufliche Neuorientierung auch die Frage der Identität einer Person einen anderen, neuen Stellenwert erhält.

Zum Zeitpunkt der Interviews wird über einen jeweiligen Status Quo der Transformation berichtet: Eine Person beschreibt ihren Transformationsprozess dabei als noch nicht abgeschlossen. Die Teilnahme an berufsbegleitenden Studiengängen sowie Überlegungen zu einer späteren Promotion weisen auf subjektive Wirkungsaspirationen hin, die sich sowohl auf die berufliche als auch auf die kognitive Weiterentwicklung beziehen. Transformationen werden beschrieben hinsichtlich des beruflichen Selbstverständnisses und der professionellen Identität. Realschulabschluss, Ausbildung zum Alten- und Intensivpfleger, berufsbegleitende Studien, zunächst im Gesundheitsmanagement, dann ein Bachelorstudium der Sozialen Arbeit, zum Zeitpunkt des Interviews ein entsprechendes Masterstudium belegen die Entwicklungen. Die Biographie dieser Person ist geprägt von Veränderungen, die sich ihm im Wesentlichen durch Bildungsprozesse eröffnen:

Und ich habe meine Profession gefunden. Vielleicht so, ne, also ich war auch vorher schon mit Leib und Seele Altenpfleger, das bin ich nach wie vor auch immer noch ein Stück weit. Gesundheitspädagogik ist so ein bisschen ähnlich wie Sozialpädagogik, aber doch ein Stück weit anders. Aber das Arbeitsfeld der sozialen Arbeit ist einfach so, dass ich für mich eine Berufung gefunden habe. So, und auch für die Profession stehe und mich da auch engagiere, durchaus auch nochmal in wissenschafts-professionellen Sicht, Sozialarbeit als Sozialarbeitswissenschaft tatsächlich auch anerkannt zu bekommen. [Mikro 15_580–586]

Bildungsurlaub wird von dem Interviewpartner regelmäßig genutzt, um zusätzliche Lernzeiten im Rahmen des berufsbegleitenden Studiums zu gewinnen. Darüber hinaus hatte der Bildungsurlaub für ihn im Rahmen des Studiums eine inhaltliche Bedeutung, da er sich durch die zur Verfügung stehende zusätzliche Zeit besser auf einen vertieften Austausch mit Dozentinnen und Dozenten sowie Mitstudierenden einlassen konnte. Das Interview weist auf eine weitere strukturelle bzw. organisatorische Bedeutung des Bildungsurlaubs hin: Er kann als wesentliche Supportstruktur genutzt werden, da je nach Gesetzeslage die fünf Tage Bildungszeit für die Teilnahme an Präsenzveranstaltungen oder zur Prüfungsvorbereitung anerkannt werden können.

Resümierend kann festgestellt werden, dass viele der befragten Mehrfachteilnehmenden im Nachhinein einen Zusammenhang zwischen der Teilnahme an Bildungsfreistellung und transformativen Lern- und Bildungsprozessen bestätigen. Sie stellen aber auch fest, dass diese häufig in vorgängige, begleitende oder weitergehende Lern- und Bildungsmöglichkeiten eingebunden sind bzw. waren. Damit kommen in der Regel vielfältige Bedingungsgefüge zum Tragen, die bestimmt werden von subjektiven Bedeutungszusammenhängen sowie sich strukturell, organisatorisch und zeitlich ergebenden Gelegenheiten.

5 Diskussion: Möglichkeitsverallgemeinerungen in Bezug auf die Wirkungen von Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung und Bildungsurlaub

Ziel des Beitrags war es, vor dem Hintergrund unserer breit angelegten qualitativen Studie zur Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung herauszuarbeiten, inwiefern die Ergebnisse, die auf den subjektiven Aussagen von 27 Teilnehmenden beruhen, verallgemeinert werden können. Dabei wird Bezug genommen auf Klaus Holzkamp (1985) bzw. Morus Markard (2015), die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, inwiefern es qualitative Daten erlauben, verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen und übergeordnete Erkenntnisse in Bezug auf einen bestimmten Möglichkeitsraum – hier die Bildungsfreistellung – zu generieren.

Ein wesentliches Ergebnis der Analyse und Interpretation unserer Interviews mit den Mehrfachteilnehmenden ist, dass sie die Bildungsfreistellungsveranstaltungen als einen Möglichkeitsraum würdigen, der ihnen vielfältige Optionen für unterschiedlichste reflektierende, erfahrungsbezogene und orientierende Lernprozesse eröffnet. Die meisten Befragten bestätigen subjektiv veränderte Perspektiven auf das Lernen als eine individuelle und kollektive Praxis, woraus gewandelte Einstellungen und Haltungen zum Lernen resultieren. Negativ konnotierte schulische und berufliche Lernerfahrungen wurden häufig revidiert. Es eröffneten sich neue Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die eigenen Lernprozesse. Die Befragten entwickeln in den Interviews durch ihre Reflexion der Mehrfachteilnahme nachvollziehbare Narrative über die lebensentfaltenden Lern- und Bildungsprozesse, die im Sinne Alheits (2010) als Biographizität interpretiert werden können.

Im Hinblick auf die Möglichkeit, durch die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung den Horizont in Bezug auf das eigene Denken und Handeln zu erweitern, geben die Interviews vielfältige Hinweise. Horizonterweiterung bezieht sich einerseits auf die Vertiefung des subjektiven Kritik- und Urteilsvermögens durch die Auseinandersetzung mit neuen Themen in der Interaktion und Begegnung mit anderen, durch Perspektiverweiterungen über bisherige subjektive Erfahrungen hinaus. Die neuen Erfahrungen führen zu erweiterten und vertieften inhaltlichen Interessen und expansiven Bildungsprozessen und damit im Sinne Holzkamps zu einem veränderten Weltaufschluss und zu Bildung. Andererseits bestätigen viele der Befragten einen individuellen Kompetenzzuwachs bezogen auf berufliche, aber auch gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten. Sie führen ihn zurück auf die Besonderheit des Lernraums Bildungsfreistellung, der ihnen Möglichkeiten des Probedenkens und -handelns eröffnete, ohne unter Erfolgszwang zu stehen.

Als weiteres Ergebnis der Auswertung der Interviews zeigt sich, dass die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung zu transformativen Lernprozessen führen kann. Diese werden einerseits wahrgenommen als Veränderung subjektiver Einstellungen und Haltungen, besonders bezogen auf politische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Darüber hinaus bestätigen einige der Interviewten biographische Transformationen, die sie unter anderem auf inhaltliche Anregungen durch die Teilnahme an Freistellungsveranstaltungen zurückführen. Als eine langfristige mögliche Auswirkung der Mehrfachteilnahme können sich einige der Interviewten auf dieser Grundlage auch eine berufliche Neuorientierung oder Neuverortung vorstellen. Die Freistellungsveranstaltungen haben bei ihnen durch Selbstreflexion zu einem veränderten Selbstbild und Selbstwertgefühl beigetragen, wodurch sich nicht nur theoretisch neue Perspektiven und Handlungsoptionen eröffnen, sondern sie auch den Mut entwickelten, diese weiterzuverfolgen.

Werden die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse kurz in den Kontext bisheriger Forschungsarbeiten zur Bildungsfreistellung gestellt, finden sich korrespondierende Erkenntnisse und Resultate. So zeigen sich Übereinstimmungen hinsichtlich der Motive für die Teilnahme an Bildungsfreistellung mit unserer Studie: Freiheit der Themenwahl, Kompensation verpasster Bildungschancen (Robak et al. 2015, S. 260 ff.); Horizonterweiterung; Verwertbarkeit für die eigene Arbeit; politisches Interesse; Abstand zum Arbeitsalltag (Frühwacht et al. 2007, S. 56 f.). Bezogen auf die Einschätzung des persönlichen Nutzens durch die Teilnahme werden die folgenden Aspekte benannt: persönliche Entwicklung; die Bewältigung neuer Lebensanforderungen; Horizonterweiterung; Entwicklung überfachlicher Kompetenzen; Weitergabe des Gelernten; politische Partizipation (Frühwacht et al. 2007, S. 65); Kompetenz- und Wissenszuwachs in beruflichen und gesellschaftlich-politischen Bereichen; berufliche Anwendungsbezüge; zeitökonomische und monetäre Aspekte (Pfeiffer 2019, S. 76 f.).

Darüber hinaus zeigt sich sowohl in unserer Studie, als auch in der Studie von Lena Heidemann, für die sie Daten aus der Evaluation zum Bildungsurlaub im Land Bremen (Robak et al. 2015) nutzt, dass Teilnahmeentscheidungen, Weiterbildungs- und Bildungsurlaubsaktivitäten sowie ausgewählte Lern-Verwertungsinteressen (Heidemann 2021, S. 338) zurückzuführen sind auf individuelle Merkmale, strukturelle Kontextfaktoren, „korrespondierende Gelegenheitsstrukturen“ sowie auf subjektive Begründungslogiken der Teilnehmenden (Heidemann 2021, S. 251). Heidemanns clusterbezogene Analyse anhand repräsentativer Daten über Teilnehmende ist in Bezug auf unsere Studie interessant, da sie bestimmte Aspekte und Befunde, die im Rahmen unserer qualitativen Erhebung und Interpretation der Daten vom Standpunkt des Subjekts aus untersucht wurden, spiegelt bzw. auf Grundlage einer größeren Datenlage bestätigt, komplementär ergänzt und in gewisser Weise validiert.

Unsere Erhebung zeigt, dass die vielfältigen Lernprozesse, die die lernenden Subjekte durch die Mehrfachteilnahme Bildungsfreistellungsveranstaltungen erleben und erfahren können, sich in reziproken Relationen Ursachen und Wirkungen spiegeln, die in ein vielfältiges Beziehungsgeflecht eingewoben werden. Zusammenhänge zwischen Wirkungsaspirationen und Wirkungsrealisierungen lassen sich nur selten als unmittelbare Ursache-Wirkungsketten interpretieren. Deutlich wird einerseits, dass Faktoren wie Sozialisationserfahrungen, Milieuzugehörigkeit, Lernerfahrungen, Lebens- Alltags- und Berufswelt die subjektiven Entwicklungen und Möglichkeiten von Bildungsprozessen wesentlich beeinflussen. Andererseits erweisen sich die didaktisch-methodischen sowie die inhaltlichen und zeitlichen Strukturen, innerhalb derer Bildungsfreistellung organisiert wird, als bedeutsam für eine allgemeine Zugänglichkeit zu Bildungsprozessen. Eine Teilnahme an Bildungsfreistellungsveranstaltungen eröffnet Möglichkeiten zur Entwicklung subjektiver Lerninteressen und expansiver Lernerfahrungen. Diese können damit im Sinne Holzkamps als „Erscheinungsvarianten der Realisierung allgemeiner gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten“ (1985, S. 549) gelten.

Bildungsfreistellung fungiert entsprechend den bildungspolitischen Intentionen der Gesetze als Impuls und Initialzündung für Bildungsprozesse. Die methodisch-didaktische Prämisse der Teilnehmerorientierung, die vielfältigen Möglichkeiten des ganzheitlichen Lernens und die Begegnung mit anderen werden als lernförderlich erlebt. Die zeitliche Struktur der fünftägigen Veranstaltungen eröffnet Möglichkeiten des vertieften Eintauchens in Themen und bietet Gelegenheiten für intensive inhaltliche Diskussionen. Viele Befragte bestätigen, dass sie durch die Mehrfachteilnahme an Bildungsfreistellung ihre Einstellungen und Haltungen reflektiert und verändert haben und sich daraus erweiterte Handlungsmöglichkeiten im privaten, gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld ergeben haben.

Unsere Interviews zeigen, dass sich diese Lern- und Bildungserfahrungen unabhängig von sozialen und biographischen Zusammenhängen ereignen können. Wir finden sie bspw. bei älteren Mehrfachteilnehmerinnen mit höheren Bildungs- und Berufsabschlüssen ebenso wie bei jungen Mehrfachteilnehmenden, die über eher niedrige und mittlere Bildungsabschlüsse verfügen und die ihre Herkunftsfamilien – nach eigenen Aussagen – als wenig bildungsaffin bezeichnen. Der Befragte, der zum ersten Mal an einer Bildungsfreistellungsveranstaltung teilgenommen hatte, stellt einen sehr positiven Kontrast seiner neuen Lernerfahrungen zu seinen bisher erlebten fest. Darüber hinaus würdigt er die Inhalte der Veranstaltung in Bezug auf seine eigenen beruflichen Anwendungskontexte als sehr hilfreich. Aufgrund dieser neuen, positiv konnotierten Lernerfahrungen erwägt er für die Zukunft eine weitere Inanspruchnahme der Bildungsfreistellung.

Die vergleichende Analyse der Interviews zeigt große Übereinstimmungen hinsichtlich wesentlicher Prämissen-Gründen-Zusammenhänge. Falls eine Person an Bildungsfreistellung teilnimmt, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie Lern- und Bildungserfahrungen wie die beschriebenen macht. Dass damit grundsätzliche Probleme nicht gelöst sind, wie die geringe Inanspruchnahme der Bildungsfreistellung durch die Berechtigten und die wenig erfolgreiche Ansprache bildungsferner Zielgruppen, die in den meisten Gesetzen als Ziel formuliert wird, ist uns bewusst. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen aber, dass bereits die erste, vor allem aber die mehrfache Teilnahme an Bildungsfreistellung Impulswirkungen entfalten kann, in denen Bildung als „Erschließung von Welt“ (Bernhard 2018, S. 138) konstitutiv wird. Sie wird bedeutsam für die Entwicklung der Menschen in Bezug auf ihre Identitäts- und Subjektwerdung. Bildungsprozesse im Rahmen des Bildungsurlaubs können zur Selbstbewusstwerdung, zur gesellschaftlichen und politischen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit beitragen, indem die Teilnehmenden ihre Urteils- und Kritikfähigkeit ausbilden. Zudem können sie zur kontinuierlichen Verbesserung beruflicher Qualifikationen beitragen. Die Aneignung von Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen bildet eine Grundlage für die Fähigkeit der Teilnehmenden, sich zu orientieren, sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen kritisch auseinanderzusetzen, Widersprüche zu erkennen, eigene Standpunkte zu entwickeln und handelnd einzugreifen. Zugleich trägt die mehrfache Teilnahme an Bildungsfreistellung zur Entwicklung der Persönlichkeit bei und kann transformative, lebensbegleitende und lebensentfaltende Lernprozesse in Gang setzen, wie das Zitat einer Mehrfachteilnehmerin verdeutlicht:

… ich bin mir nicht sicher, ob ich heute da wäre, wo ich bin, wenn ich nicht diesen Anstoß durch Weiterbildung, also durch Freistellung gekriegt hätte. [Mikro 25_771–772]